Georges Ohnet
Doktor Rameau – Erster Band
Georges Ohnet

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Drittes Kapitel.

Rameaus Rückkehr nach Paris gestaltete sich zu einem wahren Triumph. Stolz und glückstrahlend führte er seine junge Frau allerorten ein und suchte nun die Gesellschaft in demselben Maße, wie er sie früher vermieden hatte. Conchita, welche schon durch die Berühmtheit seines Namens zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit erhoben wurde, machte überall großen Eindruck und wurde vom ersten Tage an unter die unstreitigen Schönheiten gezählt. Ihr Auftreten war ruhig und einfach; sie verriet keinerlei Erregung bei ihren Erfolgen, die sie einzig dem Ruhm ihres Gatten zuzuschreiben schien und ihm als Huldigung darbrachte. Der beträchtliche Altersunterschied zwischen Rameau und ihr verlockte einige jugendliche Löwen der Gesellschaft, der jungen Frau den Hof zu machen, allein sie nahm ihren Ritterdienst und ihre Schmeicheleien mit solcher Gelassenheit auf, gestattete sich so wenig eine noch so leise Koketterie, daß die schmachtenden Jünglinge bald die Hoffnung aufgaben und sich sagten, daß Conchitas Tugend offenbar keiner Verführung zugänglich sei. Talvanne, der nicht ohne Sorge diese völlige Umgestaltung im Leben seines Freundes mit angesehen, atmete wieder freier und fing an wahrhaftig an Rameaus Glück zu glauben, ein Glück, in dem er auch sein eignes zu finden hoffte, denn alles, was der Doktor empfand und erfuhr, fand im treuen Herzen des Jugendfreundes frohen oder schmerzlichen Widerhall.

Im bunten Treiben dieses ersten Monats sah nun Rameau doch endlich selbst ein, daß die bescheidene Wohnung in der Rue de la Harpe ein unwürdiger Rahmen für das Leben, wie er es jetzt führen wollte, war, und kaufte rasch entschlossen das an der Ecke der Rue Saint Dominique und Avenue de Constantine gelegene elegante Haus des Marschalls Regnault de Saint Jean d'Angély, in dem er sich mit großer Pracht einrichtete. Frau Etchevarray samt der getreuen Rosalie fanden darin gleichfalls Raum, und dank der Sorgfalt dieser beiden wurde der Haushalt musterhaft geführt und gehalten. Jeden Sonnabend sah Rameau von nun an Gesellschaft bei sich, und seine Empfangstage zogen alles, was von Berühmtheiten und Größen in Paris aufzutreiben war, an. Es war dies die Glanzperiode im Leben des bedeutenden Mannes und zugleich die Zeit ungetrübten, inneren Glücks und voller Befriedigung.

Seine Frau und seine Freunde – wenn er diese um sich hatte, verlangte sein Herz nach nichts mehr, und jeden Tag, den Gott werden ließ, stellten sich gegen neun Uhr abends Talvanne und Münzel im »Hotel Rameau« ein, und in dem kleinen traulichen Salon wurde bis Mitternacht geplaudert, gespielt und musiziert. Münzel hatte entdeckt, daß Conchita eine bestrickend süße, zu Herzen gehende Stimme besaß, und war unermüdlich im Begleiten spanischer Volkslieder, die ihr aus Kinderzeiten im Ohr geblieben waren und die sie mit ungewöhnlichem Feuer und hinreißender Innigkeit vortrug. Saß dann der deutsche Maler allein am Flügel und gab er mit tiefer, echter Empfindung seinen Schubert oder Schumann wieder, so lauschten ihm alle in tiefem, andächtigem Schweigen, und wenn die letzten Akkorde in dem nur dämmerig erleuchteten Musikzimmer verhallten, blieb Conchita feuchten Auges oft noch lange still und stumm, ganz versunken in ihre musikalische Verzückung.

Im übrigen aber begegnete sie Münzel mit einer Zurückhaltung, die an Kälte streifte. Während sie mit Talvanne wie mit einem Jugendgespielen oder einem Verwandten lachte, plauderte und sich neckte, behandelte sie Münzel mit förmlicher Höflichkeit, ohne je einen vertraulichen Ton anzuschlagen; dieser blieb immer »Herr Münzel«, jener hieß kurzweg »Talvanne«. Diese Schattierungen in ihrem Benehmen waren Rameau gleich zu Anfang aufgefallen; er hatte Conchita darüber zur Rede gestellt, und die junge Frau hatte ihm mit großer Ruhe erwidert, daß des Malers ernstes, frostiges Wesen nicht wie das Talvannes dazu angethan sei, einen herzlichen, geschwisterlichen Verkehr zu pflegen, daß sie große Achtung und auch Freundschaft für den Deutschen empfinde, sich aber in seiner Nähe nicht so wohl und unbefangen fühle, wie bei dem Arzt. Derlei Dinge seien Gefühls- und nicht Willenssache und ließen sich nicht erzwingen.

Talvanne, der im Grund seines Herzens immer noch einen Rest Eifersucht gegen den Eindringling in seinen Freundesbund bewahrt hatte, freute sich nun um so mehr, in Conchitas Gunst der erste zu sein, und genoß seinen Sieg mit ungemeiner Selbstgefälligkeit, der Doktor aber, der Münzel so heftig in Schutz nahm gegen Conchita, mußte bald mehr darauf bedacht sein, sich selbst zur Wehr zu setzen, als für andre zu kämpfen.

Im Bewußtsein ihrer unbestrittenen Macht, im Gefühl, daß der Gatte ihr zu Füßen liege, und daß sie einen Wunsch nur aussprechen dürfe, um ihn erfüllt zu sehen, ward die junge Frau von Tag zu Tag kühner und verstieg sich zuletzt zu dem Traum, diejenigen Anschauungen Rameaus, welche zu den ersten und letzten Kämpfen zwischen ihnen Anlaß gegeben, umzugestalten. In ihrer hochfliegenden Phantasie malte sie es sich wunderbar schön aus, gegen dies Bollwerk des Materialismus Sturm zu laufen, diese Feste des Unglaubens zu brechen und die Anbetung, die der große Mann ihr weihte, zur höhern Ehre Gottes zu nützen.

Die Mutter, die sie über diesen Punkt ins Vertrauen zog, bestärkte sie keineswegs in ihren Plänen. Die Dankbarkeit gegen Rameau, dessen Uneigennützigkeit und Güte sie mit Bewunderung erfüllten, brachte bei ihr, wenn es galt, ihren Schwiegersohn zu entschuldigen und zu verteidigen, alle Skrupel der strenggläubigen Katholikin zum Schweigen; sie erfand Ausnahmegesetze zu seinen Gunsten, und wo ihr beschränkter Geist dafür nicht ausreichte, half ihr überströmendes Herz nach. Conchita aber steigerte sich mit der ganzen Heftigkeit des verzogenen Kindes immer mehr in ihre Ideen hinein und erging sich in weitläufigen und bitteren Auseinandersetzungen darüber, daß es ehrlos von ihr wäre, nicht wenigstens einen Versuch zur Rettung des Mannes, dem sie sich zu eigen gegeben, zu wagen.

»In diesem Fall heißt gleichgültig und unthätig bleiben,« rief sie, »ganz einfach, sich zur Mitschuldigen machen und ebenso tief in Sünde fallen, wie er! Denn er sündigt, Mutter, wenn du auch keine Ahnung davon zu haben scheinst oder vielmehr beide Augen zudrückst, um es nicht inne zu werden!«

»Mein Kind, dein Mann ist einfach die Vollkommenheit selber, und ich kann mir gar nicht vorstellen, was die Leute, die man heilig spricht, gethan haben können, daß sie besser sein sollen als dieser Ungläubige. Siehst du, Kind, es muß doch so sein, daß es verschiedene Arten gibt, dem lieben Gott wohlgefällig zu sein: die eine ist, daß man treulich seine Gebote erfüllt und ihn anbetet, wie er's verordnet hat, die andre ist, daß man sich mit ganzer Seele für seine Geschöpfe opfert und, statt in die Messe zu gehen, Wohlthaten übt . . . Ohne Zweifel wäre es am allerbesten, zu gleicher Zeit werkthätig zu helfen und fromm zu sein, aber man darf eben nicht allzu anspruchsvoll sein, und wenn man einen Mann hat, der so edel, selbstlos und tugendhaft ist wie der deine, kann man sich füglich zufrieden geben.«

»Aber, Mutter, er glaubt an nichts!«

»So sei du für euch beide fromm und gläubig! Der liebe Gott wird's dann schon recht verteilen in der Wagschale.«

Leider gelang es dieser lächelnden, gutmütigen Lebensweisheit ihrer Mutter nicht, Conchita zu beschwichtigen und sie mit ihres Gatten Seelenzustand auszusöhnen; sie versank in Schweigen, starrte finster vor sich hin und wurde die Vorstellung, daß ihres Mannes Unglauben auf sie beide das Verhängnis herabziehen könnte, nicht mehr los. Wie jene stolzen Gipfel, die sich in den Himmel hineinrecken, so mußte diesen geistigen Hochmut, welcher der Gottheit Trotz bot, am ehesten der Blitzstrahl treffen. Mit aller Glut ihrer Seele verlangte sie danach, nur ein einziges kleines Zeichen der Nachgiebigkeit, das auf ein Schmelzen dieses hoffärtigen Willens deuten würde, zu erlangen, und mit der gesteigerten Leidenschaftlichkeit einer Missionärin machte sie sich an ihr Werk. Sie betete mit einer Dauer und einer Inbrunst ohnegleichen und fühlte sich in halber Verzückung ihrem Siege nahe.

Das Mittel zum Zweck mußte die Koketterie liefern; sie suchte ihres Mannes Liebe zu verletzen, zu reizen, sie steigerte seine Leidenschaft, indem sie sich ihm entzog, und wußte ihn dann in der erhöhten Seligkeit des Besitzes weich zu stimmen. Sie war voller Launen, bald schwermütig ohne Ursache und dann plötzlich wieder ausgelassen heiter. Für Rameau war dies phantasievolle, bezaubernde Geschöpf einfach unwiderstehlich; er betete das entzückende Kind an, dessen wunderliche Einfälle und dessen Unberechenbarkeit die Mußestunden, die er sich nach der Arbeit gönnte, immer in unvorhergesehener, überraschender Weise ausfüllte. Der Tyrannei dieses geliebten Weibes unterwarf er sich nicht nur willig, sondern mit Entzücken, er kam jedem ihrer Wünsche, auch dem allerunvernünftigsten, zuvor und bestärkte in ihr die Gewißheit, daß nichts auf der Welt sei, was er nicht für ein Lächeln von ihren Lippen hingeben würde.

Es war Frühling geworden, und schon anfangs Mai kamen sommerlich warme Tage. Die Nächte waren mild und der Himmel heiter; das erste Grün und die ersten Blüten hauchten süßen Duft. Rameau war bei Tisch mit seiner Frau allein gewesen und sie machte ihm nach der Mahlzeit den Vorschlag, noch ein wenig spazieren zu gehen. Er war gern bereit, sie hängte sich an seinen Arm und so verließen sie dicht aneinander geschmiegt, das Haus und wandelten froh beflügelten Schrittes wie ein richtiges Liebespaar die Esplanade des Invalides entlang; am Quai angelangt, gingen sie über die Brücke de la Concorde und gerieten mitten in den großen Strom der Pariser Bevölkerung, die nach den Champs Elysées hinpilgert.

Aus den Gebüschgruppen, die mit Tausenden von Gasflämmchen und in Kugeln von Milchglas glimmenden Lämpchen beleuchtet waren, drangen die Klänge der Orchester und die Stimmen der wie wütend drauf los brüllenden Sänger; von der Seite des Industriepalastes her drangen aus einem Gartenkonzert Fanfaren von Jagdhörnern, die Wagen rollten flüchtig dahin, um sich in langer Reihe durch die Avenue hinauszubegeben nach dem Bois de Boulogne, wo jeder Kühlung und einen Atemzug reiner, frühlingsduftiger Luft hoffte. Einen Augenblick blieben Rameau und Conchita gefesselt von dem bunten Durcheinander, das an ihnen vorüberzog, und fast betäubt von dem tollen Lärm der festlichen Menge stehen, dann aber setzten sie langsamen Schrittes ihren Gang nach dem Innern der Stadt fort, wo die glänzenden Lichterreihen und die Pracht der Schaufenster sie anzogen.

Sie gingen durch die Rue Royale, sie immer zärtlich, hingebend am Arme ihres Mannes, er im wonnigen Gefühl, die vergötterte Frau in allem Reiz ihrer Schönheit und Jugend sein eigen zu nennen. So hatten sie den Madeleineplatz erreicht, der wie ein dunkler Fleck zwischen den in einem Lichtermeer erstrahlenden Boulevards lag, und von dem aus die Kirche in ihren feierlichen Linien eines griechischen Tempels schwarz und gewaltig in den abendlichen Himmel hineinragte. Sie traten vor bis ans Gitter, und da die Thür sich plötzlich aufthat, eröffnete sich ihnen der Einblick in die edle Halle mit dem lichterschimmernden, blumengeschmückten Chore.

»Der Marienmonat,« hauchte Conchita leise und schmerzlich, und, an der untersten Stufe stehend, den Blick fest auf die geweihten Kerzen geheftet, die aus der Tiefe der mächtigen Wölbung hervorleuchteten, schien sie ganz in Betrachtung versunken, wie von einer unwiderstehlichen Macht festgebannt.

»Wie schön das ist!« seufzte sie und schmiegte sich innig und liebkosend an ihren Gatten, der geduldig und ohne Hintergedanken darauf wartete, daß sie, die seine Gebieterin und Pfadfinderin war, ihre Schritte weiter lenken werde. Langsam und zögernd setzte sie sich denn auch wieder in Bewegung, aber statt sich wieder dem Boulevard zuzuwenden, schritt sie plötzlich, von einem heißen Verlangen ergriffen, dem sie noch keine bestimmte Form zu geben wagte, von dem sie aber ganz und gar beherrscht wurde, dem Gitter entlang, dem einsamen dunkeln Platz zu. An einem der Seiteneingänge zog sie ihren Mann durch die Gitterpforte, und nach wenigen Schritten befanden sie sich in der Nähe einer Thür.

»Wohin willst du denn?« fragte Rameau endlich, indem er dem leisen Druck ihres Armes Widerstand entgegensetzte.

»Hineingehen,« flüsterte sie halblaut und leidenschaftlich, »willst du nicht?« und dabei ruhte ihr Blick mit solcher Glut und Innigkeit auf ihm, daß der starke Mann im innersten Nerv erbebte.

»Sieh doch nur,« fuhr sie fort und drängte sich so dicht an ihn, daß die Berührung ihn warm und wonnig durchdrang, »keine Seele da, die Vorhalle ganz leer und die Kirche dunkel – es erfährt ja kein Mensch davon!«

»Ich selbst, mein Lieb,« sagte er mit einem Lächeln, aber merklich erblassend.

»Du selbst? Nun, du wirst doch ein bißchen Nachsicht mit dir haben?«

»Nachsicht soll man walten lassen gegen die andern, Strenge gegen sich.«

»O, bitte, bitte, mit mir nicht philosophieren! Sprich einfach mit mir, denn so liebe ich dich und liebe dich namenlos! Wirst du daran zu Grunde gehen, wenn du mit deiner Frau einmal durch eine Kirche gehst? Jetzt ist Marienmonat, da strömen Tausende herbei aus reiner Neugier, nur um die Pracht des Altarschmucks zu bewundern.«

»Diese Pracht tadle ich und sie stößt mich ab!«

»Dann überwinde deinen Widerwillen, um mir eine Freude zu machen.«

»Conchita – ich bitte dich, gehe allein! Ich will hier auf dich warten, und zwar ganz geduldig, ich verspreche es dir!«

Sie bog das Köpfchen zurück und wie Wildfeuer leuchtete es in ihren Augen auf.

»Es ist nie wohlgethan, einer jungen Frau zu sagen: gehe allein!«

Er zog die Augenbrauen zusammen und die berüchtigte Falte erschien plötzlich tief eingegraben und drohend auf seiner mächtigen Stirn.

»Conchita, spiele nicht mit meinem Herzen,« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Bist du es nicht, der mit dem meinigen spielt?«

Ihr Ton war ganz verändert; die Heftigkeit und Schärfe von vorhin war einer halb schelmischen Wehmut gewichen. Sie hing sich von neuem an seinen Arm, und so standen sie unter dem Sternenhimmel, neben der schwarz ins Helle hineinragenden Kirche, sich beinahe umschlungen haltend, und er fühlte das junge Herz, das ihm so namenlos teuer war, an seiner Brust pochen und sie wollte mit einem letzten verzweifelten Versuch diese stolze Feindseligkeit überwinden und besiegen. Sie hob sich auf den Zehen, und, leicht wie ein Hauch mit ihren Lippen das Ohr des Gottlosen berührend, flüsterte sie, als ob sie der tiefen Einsamkeit, die sie umgab, noch mißtraute, mit süßer, liebkosender Stimme: »Weißt du denn nicht mehr, daß du schon einmal mit mir eine Kirche betreten und im hellen Tageslicht dein Knie gebeugt und dein Haupt gesenkt hast? Ist dir denn dabei so Schlimmes widerfahren? Deine arme Conchita hast du dir damit errungen, dein Weib, das von jenem seligen Tage an nur für dich gelebt hat – wirst du nicht das winzige Opfer bringen, wirst du ihr nicht ein klein wenig nachgeben, um dir ihres Herzens heißesten, innigsten Dank zu verdienen?«

Rameau beugte sich herab zu ihr, deren Augen heller strahlten als alle Sterne; heiß wallte es in ihm auf, und seinen Arm um die Schultern des jungen Weibes legend, sah er sie an, als ob er sie mit seinem Blicke verzehren, aus ihrer Schönheit Vergessenheit trinken und aus der Liebestrunkenheit Mut schöpfen wolle – zum Verrat.

»Wenn du es denn willst, so komm!« sagte er kurz.

Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn, wie sie ihn nie zuvor geküßt; er aber sagte sich mit Bitterkeit, denn ganz kann ein so durchdringender Geist die eigne Klarheit nicht verleugnen: »So, jetzt bin ich bezahlt für den ersten Schritt auf der schiefen Ebene. Bis wohin wird sie mich bringen, wenn ich ihr nicht stärkeren Widerstand leiste?«

Von Conchita fortgezogen, betrat er das Innere der Kirche, die hier auf der Seite fast menschenleer war, weil die Masse der Gläubigen sich um den Hauptaltar drängte. Süß und betäubend war der Duft, den die an allen Altären angebrachten, im Hinwelken begriffenen Blumen aushauchten, geheimnisvoll bewegten sich schattenhafte Frauengestalten umher. Tiefes Schweigen herrschte, denn das Hochamt begann soeben. Alles drängte nach dem Chor hin. Conchita, die sehr ergriffen war, führte Rameau, dessen von keiner ehrfürchtigen Regung gedämpfter Schritt weithin von den Steinfliesen widerhallte, wortlos zu der Kapelle der Jungfrau, die von Gold strotzte und wo im hellen Kerzenschein unzählige Kränze und Sträuße prangten.

Unwillkürlich zögerte der Atheist, in dies helle Licht, mitten unter die Schar der Gläubigen zu treten, und blieb im Schatten einer Säule stehen. Lächelnd, mit einem Siegesblick, sank Conchita zu kurzem, inbrünstigem Gebet auf die Kniee und trat dann wieder zu ihrem Mann, an dessen Seite sie, ganz Auge und Ohr, stehen blieb.

Nach einem volltönenden Orgelvorspiel hatte ein Chor von hellen, jugendlichen Stimmen eingesetzt, und frisch und klar wie seraphische Klänge durchfluteten die reinen Töne das mächtige Gewölbe, bald vereinigten sich ihnen tiefere ernstere Stimmen, die Frauen sangen mit und alles klang herrlich zusammen zu Ruhm und Preis des Allerhöchsten. Ganz entflammt von ihrem Drange zu bekehren, den Glauben mitzuteilen, fühlte Conchita ihr Herz erbeben und wie von einem Himmelstau benetzt; es war ihr, als ob in diesen beseligenden Tonwellen die göttliche Gnade sich auf sie herabsenke, sie durchglühe und durchdringe und ihr ganzes Wesen mit einer Wonneempfindung, die nicht von dieser Welt, durchschauere. Hingerissen von der Macht ihres eignen Glaubens, berauscht von dem süßlichen Blumengeruch, aufs höchste erregt von den Gesängen, wollte sie sich leidenschaftlich und tyrannisch Rameaus Seele bemächtigen, ihn zu einer bedingungslosen Unterwerfung zwingen; sie glaubte auch ihn vorbereitet und weich gestimmt durch diese zauberisch schöne Form der Gottesverehrung, und auf die Statue der Jungfrau, die den lächelnden, fröhlichen Jesusknaben auf ihrem Arme hielt, deutend, flüsterte sie: »Ich will zur Madonna beten um ein Kind, gleich dem, das sie am Herzen hält . . . Stimme ein in mein Flehen, ach, nur indem du dein Knie beugst, dann bin ich sicher, Erhörung zu finden.«

Erbebend erkannte Rameau, mit welch gewaltiger Waffe sie kämpfte; ein Kind, sein und Conchitas Kind, ein lebendiges Zeugnis seiner Liebe zu dem Weib, das seines Herzens Wonne war, das Höchste, Herrlichste, was ihm das Leben noch bieten konnte, und dieses Zaubers bediente sie sich, um ihn zu einer feigen Handlung zu verleiten, durch die er sich in seinen eignen Augen entehren mußte. Der Blick, mit dem er die junge Frau maß, war nicht zornig, nur tief, tief traurig – ach, selbst wenn sie ihm wehe that, wenn sie ihn marterte, fand sein Herz Grund genug, sie zu verteidigen. Conchita aber, als sie ihn stumm und finster vor sich sah, beugte sich ganz zu ihm hin, und in der Idee, daß ein letzter gewaltiger Stoß ihr den Sieg sichern müsse, flehte sie: »Es ist ein so kleines, geringes, um was ich dich bitte! Nur ein wenig dein Haupt beugen sollst du, nur eines Gedankens mit mir sein, daß unser beider Sehnen sich in gemeinsamem Flehen zum Himmel erhebe . . . ich beschwöre dich, thu's! Thu' mir das zuliebe, und wenn es möglich, dich noch tiefer, noch inniger zu lieben, so wird mein Herz es vollbringen, ich werde dir als meinem Herrn und Meister dienen und die ganze Welt vergessen um deinetwillen.«

Langsam und schmerzlich schüttelte er das Haupt.

»Ich kann dein Begehr nicht erfüllen, Conchita: ich glaube nicht. Existiert die Gottheit, der du mich unterthan machen willst, so kann eine Huldigung, die ihr ohne Glauben, ohne Zustimmung meines Gewissens dargebracht wird, ihr nicht wohlgefällig sein, existiert sie nicht, so ist es eine lächerliche, eitle Komödie, zu der du mich nicht wirst veranlassen wollen.«

Er wollte weiter sprechen, aber Conchita, die ihn leichenblaß, mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen anstarrte, hatte, um solche Lästerung an heiliger Stätte abzuschneiden, ihre weiße Hand auf seinen Mund gedrückt. In glühender Leidenschaft preßten sich seine Lippen auf die kühlen Finger, Conchita aber zog sie hastig zurück, ihr war, als ob bei der Berührung des Ungläubigen eine höllische Glut sich ihren Adern mitgeteilt hätte. Er aber konnte, nachdem er den Damm, welchen er selbst gegen sein innerstes Denken errichtet gehabt, einmal gebrochen hatte, sich nicht mehr zum Schweigen bequemen; er ergriff seine Frau am Arm, zog sie in einen entlegenen, menschenleeren Winkel des mächtigen Baus, ließ sie neben einem Beichtstuhl sich niedersetzen und begann nun mit einer Beredsamkeit, die an Gewalt und Zauber mit den berauschenden, hinreißenden Orgeltönen und Gesängen, die wie eine sanfte Begleitung zu ihnen herüberdrangen, wetteiferte, seinerseits den Kampf gegen das Dunkel des Kirchenglaubens, das Ringen um diese Seele, die sich, wie er wohl fühlte, von ihm abzuwenden im Begriff stand.

»Verurteile mich nicht, ohne mich gehört zu haben, darum bitte ich dich, Conchita! Ich fühle, daß ich dir in diesem Augenblick Furcht und Entsetzen einflöße, und möchte dir doch Ruhe geben, möchte dich verstehen lehren, daß ich weder ungerecht noch böse bin. Wenn ein Wort genügte, dir den Willen zu thun, glaube mir, daß ich nicht zögern würde, dies Wort zu sprechen . . . Du weißt es ja, daß ich mich schon einmal deinem Willen gefügt, du weißt es, daß ich heute Abend dir zuliebe hier eingetreten bin, denke an meine Willigkeit, dir jeden Wunsch zu erfüllen, und nicht nur daran, daß ich dir jetzt eine Bitte abschlagen, dir Widerstand leisten muß . . . Welchen Wert hätte denn ein rein äußerliches Nachgeben für dich? Verlangt dich danach? O, ich bitte, ich beschwöre dich, wende dein Herz nicht ab von mir . . . stelle diesen Gott, der, wie du sagst, nur Güte und Liebe ist, nicht zwischen dich und mich, du liebst ihn wahr und warm, aber ich liebe dich noch viel heißer, viel leidenschaftlicher, du betest ihn an, aber ich vergöttre dich, ich lebe, atme nur im Anschauen deiner Schönheit . . . Liebe zu dir ist meine Religion, mein Glaube. Kannst du mir zum Vorwurf machen, daß ich keine andern Götter haben will neben dir, willst du mir ein Verbrechen daraus machen, daß ich anbetend auf den Knieen liege vor meiner süßen, beseligenden Gottheit . . .«

»Was du da sagst, ist schlecht und verderblich,« hauchte Conchita mit matter Stimme. »An die Stelle des allgegenwärtigen, unsichtbaren Gottes setzest du ein irdisches Geschöpf von Fleisch und Blut . . . Deine Gedanken und deine Worte sind die eines Heiden . . . nicht nur, daß du dich nicht bessern, nicht umkehren willst, suchst du auch mich ins Verderben zu ziehen.«

»Ich, dich?« rief Rameau mit funkelndem Auge, »ich sollte auch nur mit einem Hauch an deinen Glauben rühren? Nein! Nein! Gewissensfreiheit, sie habe ich mein lebenlang hoch und heilig gehalten, und ich sollte mir selber untreu werden, um ein Wesen zu quälen, das ich so namenlos vergöttere? Bete du ungestört, Conchita, ich selbst bitte dich darum, bete für dich, für deine Mutter, für mich . . . O, was gäbe ich nicht darum, wenn ich den Glauben hätte, der mir's möglich machte, mit dir zu beten . . . Allein der Glaube läßt sich nicht erzwingen . . . Glücklich die, denen er verliehen – ich beneide sie!«

»O dann, dann,« rief die junge Frau außer sich, indem sie in heftiges Weinen ausbrach, »dann versuche es doch zu glauben, erhebe deine Seele zum Himmel . . .«

»Der Himmel ist mir leer und öde, Conchita! Jedes Volk hat seine Götter hineingestellt, aber ach, es waren gebrechliche Götzenbilder, in denen sich nur menschliches Begehren und Beginnen verkörperte. Die Völker sind zerstoben und untergegangen, ein Glaube löste den andern ab, die Götter wandelten sich, der Himmel blieb leer!«

Der ernste Mann seufzte tief auf, schüttelte unwillig das Löwenhaupt, als ob er einen ungelegenen Gedanken verscheuchen wollte, und fuhr, die Hand seiner Frau in die seine nehmend, fort: »Laß diese Dinge nicht mehr zwischen uns zur Sprache kommen, Kind: du bereitest mir Schmerz damit, und ich muß dir wehe thun, und das macht mich sehr elend. Du wirst mich nicht bekehren und ich werde nie und nimmer den Versuch machen, dich zu mir herüberzuziehen, denn ich würde es für ein Verbrechen halten, an einem Glauben zu rütteln, der dir Halt und Hilfe im Leben ist. Vergib mir und zweifle deshalb, weil ich dir den Willen nicht thun kann, nicht an meiner Liebe – meine ganze Seele ist dein eigen.«

»Deine Seele?« fragte sie bitter, »hast du denn eine Seele?«

»Du hast Recht, Liebste,« versetzte Rameau lächelnd. »Sieh, wie der Aberglaube in der Sprache haftet! Ich glaube nicht, daß ich eine Seele habe, aber vom Vorhandensein des Herzens bin ich um so fester überzeugt, und jeder Schlag des meinigen gehört dir, und wenn ich annehmen könnte, daß ein sterbliches Wesen eine Seele habe, dann wärst du es, Conchita, denn du stehst mir über der Menschheit!«

Sie gab keine Antwort. Langsam verließen sie die Kirche, in welcher die Zeremonie noch fortdauerte, ohne daß Conchita derselben, nachdem sie erkannt, daß sie ihr zu ihrem frommen Werk nicht dienlich war, weitere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Fern und ferner klangen die kirchlichen Gesänge, schwächer wurde der Blumen- und Weihrauchduft, die Lichter glommen nur noch dunkel, ein weicher Luftzug strömte über sie hin und der dunkle Platz und der hell erleuchtete Boulevard lagen vor ihnen. Sie schritten die Stufen hinunter, und nachdem sie das Gitter hinter sich gelassen, zog Rameau den Arm seiner Frau wieder in den seinigen und wollte mit ihr leicht und elastisch, wie vorhin, da sie als selig liebendes Paar ihres Weges daher geflogen waren, weitergehen. Aber Conchita ging matt, gleichgültig und kalt neben ihm her; die Hoffnung, die sich belebt hatte, war dahin und zerstoben; kein siegesfroher Mut durchglühte mehr ihr Herz. In dem niederschlagenden Bewußtsein, die Schlacht verloren zu haben, unterlegen zu sein, verließ sie die Kirche und in ihr regte sich etwas wie Haß gegen den, der sie der erträumten Wonne des Triumphes beraubt.

Von diesem Tag an vollzog sich in ihrem inneren Leben eine große Wandlung. Mehr und mehr trat die Dankbarkeit, die sie für Rameau empfunden, in den Hintergrund und verblaßte, die zärtliche Bewunderung, die ihr Herz für den genialen Mann erfüllt, verschwand, und das Entsetzen, womit sein unerschütterlicher Atheismus sie erfüllte, erstickte jede andre Empfindung. Selbst sein Aeußeres machte ihr nicht mehr den nämlichen Eindruck wie zuvor, in seinen derben, aber stolzen Zügen schien ihr jetzt ein satanischer Hochmut zu liegen. Die gedankendurchfurchte Stirn gemahnte sie nun an den gefallenen Engel, in den dunkeln dichten Brauen, die an beiden Schläfen etwas in die Höhe standen, glaubte sie neuerdings das erschreckende Merkmal teuflischer Verderbtheit zu erkennen; mit einemmal fiel ihr auf, wie hart und herb seine Redeweise sei, und welch unsägliche Menschenverachtung in jedem seiner Worte liege.

Er, den sie bis jetzt mit inniger Zärtlichkeit wie einen teuern Vater geliebt hatte, verwandelte sich ihr plötzlich in ein unheimliches, gefahrdrohendes Wesen. Unruhig und besorgt ruhten ihre Blicke auf ihm und sie beobachtete ihn mit der den Frauen eignen Ausdauer und Unbefangenheit. Was dieser Mann auch sagen und thun mochte, es war bedeutend, echt, vollwertig, höchste Aufmerksamkeit und Achtung fordernd und verdienend, niemals hatten seine Liebesäußerungen etwas greisenhaft Lächerliches, immer und überall war er voll Feingefühl und die Vornehmheit seines Geistes offenbarte sich auch im geringsten Thun und Lassen. Der Löwe war alt, aber es war ein Löwe; die Mähne ergraute, aber sein Auge flammte und seine Kraft war ungebrochen.

Sie machte sich's zum Gesetz, in seiner Gegenwart kein Wort mehr zu äußern, das auch nur im entferntesten auf die Religion Bezug hätte; es war ihr, als ob darin eine Entweihung läge und der Zorn des Himmels dadurch wachgerufen werden müßte. In ihrem Innern aber gärte und kochte es und die Bitterkeit steigerte sich derart, daß sie sich nicht enthalten konnte, eines Abends mit Talvanne und Münzel das Gespräch auf den Unglauben ihres Freundes zu bringen. Es war im Sommer und man war heute nach Tisch ausnahmsweise nicht in den Garten gegangen, sondern im Salon beisammen geblieben. Ein erquickend frischer Luftstrom zog zu den offenstehenden Fenstern herein und Conchita ordnete an, daß man ohne Licht bleiben solle, um nicht Moskitos und Fledermäuse hereinzulocken. Rameau war in sein Arbeitszimmer gegangen, um Briefe zu schreiben; die beiden Herrn rauchten schweigend und Frau Etchevarray und Conchita saßen still dabei; niemand sprach. Nach einigen Minuten begann die junge Frau ganz unvermittelt, als ob etwas sie zwänge, dem letzten Glied einer langen Gedankenreihe Ausdruck zu geben: »Talvanne, Sie sind doch Katholik und Sie auch, Herr Münzel . . . und Sie beide sind gläubig?«

»Was mich betrifft, gnädige Frau,« versetzte der Irrenarzt, »so war es die Mutter, die mich erzog, und wie Sie wissen, ist der Einfluß der Frauen in bezug auf Religion ein weittragender.«

»Meinen Sie?« unterbrach ihn Conchita mit so bittrer Ironie im Ton, daß beide Männer überrascht aufblickten. »An den Einfluß der Frauen zu glauben, ist eitel Thorheit, meine Freunde – besonders in Religionssachen,« setzte sie herb und schneidend hinzu.

Talvanne fühlte, daß ein bedenklicher Punkt berührt war, und da ihm viel daran lag, es nicht zu einem erregten Wortgefecht kommen zu lassen, fuhr er heiter und gelassen fort: »Unser Münzel aber ist ein Deutscher, folglich von Natur ein Mystiker, als Sohn eines Musikers mit kirchlicher Musik großgewachsen und von heiligen Klängen umrauscht, blond und blauäugig, also zum Träumer geboren! Wenn der Glaube unter solchen Bedingungen nicht tief Wurzel gefaßt hätte, so müßte sein Gehirn geradezu aus Kieselsteinen bestehen . . . Ueberdies malt er lauter Heiligenbilder . . . das Handwerk macht den Mann!«

»Besuchen Sie die Messe?« fragte Frau Etchevarray beklommen.

»Ich? Niemals!« erwiderte Talvanne.

»Also sind Sie ebensowenig religiös wie mein Schwiegersohn?«

»Ihr Schwiegersohn, meine liebe Frau Etchevarray, hat seine besondre Religion: er glaubt an die Natur, und er ist auf seine Art frömmer als wir. Ihm ist die Arbeit Sakrament, und sein Gebet lautet: ›Gib mir die Kraft, deine Geheimnisse zu ergründen, Mutter Natur, auf daß ich meinesgleichen retten und ihre Leiden erleichtern könne – Amen‹.«

»Mein Schwiegersohn ist ein guter Mensch, das weiß ich,« setzte das Mütterlein hinzu, »und die Kirchenläufer sind dem Herrn nicht immer die Liebsten.«

»Da haben Sie ganz recht,« stimmte Münzel mit Wärme bei, »und Talvanne und ich sind sicherlich keinen Rameau wert. Eins schickt sich nicht für alle, und man darf von den Geistern, die hoch oben im reinen Aether kreisen, wo der Blick des Alltagsmenschen kaum hinreicht, nicht fordern, daß sie an der Erde kleben und kriechen und sich Gesetzen beugen, welche von Unwissenden geschaffen. Alle großen Erneuerer sind verkannt und gelästert worden: um ein kleines hätte die Inquisition Galilei auf den Scheiterhaufen geführt, und Kolumbus wurde in Ketten gelegt, weil man in der Entdeckung der Neuen Welt Ketzerei witterte. Weil sie ihrer Zeit vorangingen, sind alle großen Denker, alle berühmten Gelehrten Verfolgungen ausgesetzt gewesen, unser Freund aber steht so hoch über uns, daß wir uns ehrfürchtigen Sinnes enthalten müssen, ihn zu beurteilen . . . Mit bangem Herzen folgen wir dem kühnen, gewagten Flug seiner Gedanken, aber keiner von uns ist im stande, den Weg, den er einschlägt, zu verwerfen – wer weiß denn, ob er nicht recht hat?«

»Ich weiß es! Ich sage es!« rief Conchita mit bebender Stimme. »Des Menschen oberste Pflicht ist, seinem Schöpfer, seinem Herrn, seinem Gott zu gehorchen! Lehnt er sich dagegen auf, dann wehe ihm und wehe allen, die ihm angehören.«

Tiefes Schweigen trat auf diesen leidenschaftlichen Ausbruch ein, und Talvanne, der sich heftig nach der jungen Frau hingewendet hatte, versuchte, ihre Züge näher zu unterscheiden, allein vergebens, denn die tiefe Dunkelheit, die im Gemach herrschte, verbarg ihm die Totenblässe des schönen Gesichts, das Zucken der Lippen und die krampfhaften Bewegungen der schlanken Hände.

»Aber Kind,« bemerkte Frau Etchevarray nach einigen Sekunden, »wozu denn diese Aufregung, wie kommt's nur, daß du dich dermaßen steigerst?«

»Ich allein bin der Schuldige,« erklärte Münzel, »ich habe das Gespräch in dieses Fahrwasser gelenkt, wo man nie vor Sturm und Klippen gesichert ist, aber ich will den Geist der Eintracht schon beschwören.«

Er setzte sich an das dem Pianino gegenüberstehende Harmonium, und die Augen nach oben gerichtet, als ob er den tiefblauen Himmel suchte, fing er zu spielen an. Klar und voll erschallten die Orgelklänge, und die reine, einfach edle Melodie erklang zauberisch schön durch das abendliche Schweigen.

»Was ist denn das?« fragte Talvanne.

»Eine Motette von Porpora, Händels Nebenbuhler,« erwiderte der Künstler, und fuhr, ohne sein Spiel zu unterbrechen, nur dasselbe zur Begleitung seiner Worte herabdämpfend, fort: »Ich war zwanzig Jahre alt, als ich sie zum erstenmale hörte, und zwar im Dom zu Köln. Um Mittag war es, an einem Sonntag, als ich hineintrat und wunderbar ergriffen von dem goldnen Schimmer der ganz in Sonnenglut getauchten gemalten Scheiben in das dämmerige Schiff gelangte. Vom Altar her ertönte das Glöckchen und zeigte die Wandlung an, alles lag auf den Knieen und tiefe, heilige Andacht ruhte auf den anbetend geneigten Stirnen. Lautloses Schweigen herrschte und plötzlich ertönte aus der großen Stille die herrliche Melodie, die ich euch eben spiele, und die mich in Entzücken versetzte. Seither ist sie mir nicht mehr aus dem Ohr gekommen und immer empfinde ich es als Wohlthat und Freude, wenn ich in die Stimmung komme, sie zu spielen.«

»Wie hübsch!« sagte Conchita mit völlig veränderter Stimme.

Im selben Augenblick erschien Rameau und hinter ihm der Diener mit Licht, und Talvanne sah jetzt, daß die Augen der jungen Frau feucht waren und ihre Wangen höher gefärbt als sonst. Man schloß die Fenster, sprach von andern Dingen, und der Rest des Abends verlief ohne Störung oder besondre Vorfälle.

Bei Talvanne aber ließ Conchitas Bitterkeit und Heftigkeit eine peinliche Erinnerung und einen Keim des Mißtrauens zurück. Das Studium der Menschenseele war bei ihm Naturanlage wie Beruf, und er brachte diese Fähigkeit nun bei der jungen Frau zur Anwendung, beobachtete sie mit einer Ausdauer und Aufmerksamkeit, von der sie sich nichts träumen ließ, und eine Menge einzelner Züge, die ihm bis jetzt entgangen waren, drängten sich ihm plötzlich auf. Conchita hatte sich früher unausgesetzt beschäftigt, jetzt sah er nie mehr eine Arbeit in ihrer Hand, und auch mit Lesen füllte sie ihre Zeit nicht aus; unbeweglich saß sie den Winter über in ihrem kleinen Salon, den Sommer im Gartenhaus, regungslos wie eine schöne Odaliske, und trat man zu ihr, so bemerkte sie das nicht einmal, und man mußte sie erst anreden, um sie aus ihren Träumereien aufzurütteln. Was ging in ihr vor und worüber dachte sie mit solcher Ausschließlichkeit und Vertiefung nach?

Während des Tages ging sie sehr häufig, fast immer zur gleichen Stunde allein aus, und fragte man sie, wo sie gewesen, so erwiderte sie mit der selbstgewissen Ruhe einer Frau, die sich über jeden Verdacht erhaben weiß: »Ich bin spazierengegangen«, oder: »ich habe Besorgungen gemacht.«

»Spazierengegangen – wohin denn? Besorgungen gemacht – wozu?« dachte Talvanne, wenn er sie von einem solchen Ausgang noch einsilbiger, noch mehr in sich versunken als sonst, heimkommen sah. Um sich Aufklärung zu verschaffen, folgte er ihr eines Tages nach dem zweiten Frühstück in angemessener Entfernung. Er hatte ein gutes Stück Wegs zurückzulegen, denn sie führte ihn quer durch Paris bis zur Kirche St. Madeleine, wo sie die Stufen hinaufstieg und hineinging. Ueberrascht blieb er stehen, nahm eine Droschke und fuhr nach seiner Klinik in Vincennes. Ein paar Tage darauf wiederholte er den Versuch, lief ihr wieder nach, gelangte wieder vor die Madeleine und sah sie abermals langsam und gelassen die hohe Freitreppe hinaufsteigen.

Stutzig gemacht durch die regelmäßige Wiederholung dieser frommen Pilgerfahrt, und zu sehr Pariser, um hinter dieser gewissenhaften Religionserfüllung nicht ein Geheimnis zu suchen, blieb Talvanne nicht auf halbem Wege stehen, sondern trat eines Tages, nachdem er sie durch eine Seitenthür hatte hineingehen sehen, ebenfalls ein. Er sah sie von fern an den langen Reihen der Betstühle entlang schreiten, dann sich zur Seite wenden, und plötzlich hatte er sie aus den Augen verloren. Vorsichtig und geschickt verfolgte er ihre Spur und mit einem Mal ward er ihrer von neuem ansichtig, wie sie nach spanischem und süditalienischem Brauch förmlich hingegossen und fast den Boden mit der Stirn berührend in der Marienkapelle vor der Statue der Madonna mit dem Jesuskind in leidenschaftlicher Andacht auf den Knieen lag. Hinter demselben Beichtstuhl, wo einst jene folgenschweren Worte zwischen Rameau und seiner Frau gewechselt worden waren, verbarg sich Talvanne und wartete. Nach Verlauf einer starken Viertelstunde stand Conchita auf, ging hinaus und kehrte auf dem nämlichen Wege nach Hause zurück.

Der Freund, welcher ein Liebesabenteuer vermutet und gefürchtet hatte, atmete erleichtert auf, ließ jedoch in seiner Wachsamkeit keineswegs nach, aber so oft er sich auch auf die Lauer stellte, immer war es dieselbe Kirche, zu der die junge Frau ihre Schritte hinlenkte, immer derselbe Altar, vor dem sie ihre Andacht verrichtete. Was sie that, wußte er jetzt, und das war viel wert, nun brannte er aber darauf, auch die Gründe dieses Thuns zu entdecken.

»Ich bin Ihnen diese Woche zweimal begegnet, als sie aus der Madeleine heraustraten,« warf er eines Abends gleichgültig hin. »Die Kirche ist für Sie eigentlich ein bißchen entlegen, meine ich?«

Sie war sichtlich erschrocken; was ihm aber noch viel merkwürdiger vorkam, war, daß Rameau, der in eine Broschüre vertieft ein paar Schritte von ihnen entfernt saß, aufblickte und einen ängstlichen, besorgten Blick auf den Freund heftete. Mit erhöhter Farbe und funkelnden Augen gab Conchita die Antwort: »Gerade dort muß ich beten, dort muß ich mich in Demut niederwerfen, um das Unglück von unseren Häuptern zu wenden.«

»Das Unglück . . .« begann Talvanne, hatte jedoch nicht Zeit, seine Frage zu vollenden, denn der Doktor fuhr heftig auf, warf die Broschüre auf den Tisch und sagte barsch: »Laß doch Conchita zufrieden! Sie kann thun, wozu sie Lust hat, und dich geht es wahrhaftig nichts an!«

»Das ist unbedingt richtig! Mich geht es nichts an,« brummte der Psychiater. »Aber daß es ein so großes Verbrechen sei, zu fragen . . .«

»Genug davon – mehr als genug! Sprechen wir von etwas andrem.«

Und man sprach von etwas andrem, Conchita aber blieb geistesabwesend und düster gestimmt, und von Zeit zu Zeit ruhte ihr Blick mit einem Ausdruck förmlichen Entsetzens auf ihrem Gatten.

Was war vorgegangen? Was stand zwischen ihnen? Talvanne gab die Hoffnung, es herauszubringen, nicht auf, aber es wollte ihm vorkommen, als ob er bei der Entdeckung mehr auf einen Glücksfall als auf seinen Spürsinn zu rechnen habe.

Auch einem andern war der zerrissene Gemütszustand der jungen Frau keineswegs entgangen, und dieser andre war Münzel. Nachdem er bisher die Zurückhaltung und Kälte, womit Conchita ihn behandelte, mit Ruhe über sich hatte ergehen lassen, schien er sich's jetzt auf einmal in den Kopf gesetzt zu haben, ihre Vorurteile zu entwaffnen und zu überwinden. Er hatte seine phlegmatische Gelassenheit ganz abgeschüttelt und war im Gespräch von einer so ungewohnten Ergiebigkeit, daß Rameau ihn schon öfters damit geneckt und einmal mit dem etwas derben Humor, der ihm eigen, hingeworfen hatte: »Höre mal, Talvanne, mir kommt's vor, als ob Franz meiner Frau den Hof machte! Du weißt, daß ich keine Zeit habe aufzupassen, ich übertrage dir dies Amt.«

»Du kannst dich auf mich verlassen,« hatte Talvanne ernsthafter als nötig erwidert und Rameau hatte, trotz der mißbilligenden Blicke seiner Frau und Münzels sichtlichem Unbehagen, herzlich gelacht.

Man war nie mehr auf den Scherz zurückgekommen, aber der Arzt, welcher seinen Auftrag völlig ernst nahm, und der bei der jungen Frau schon lang auf dem Beobachtungsposten stand, fing nun an, auch den Maler aufs Korn zu nehmen. Bei der Vorstellung, daß Conchita Franz begünstigen könne, erwachte seine anfängliche Feindseligkeit gegen den Deutschen wieder mit voller Kraft. Talvannes Seele war krystallhell und rein, und er würde eher in den Tod gegangen sein, als daß er seinen Blick zu dem Weib seines Freundes erhoben hätte, allein die Annahme, daß ein andrer ihm vorgezogen, herzlicher behandelt werden könne als er, versetzte ihn in Wut, und er fühlte sich zur Eifersucht ganz ebensogut beanlagt und berechtigt wie der Gatte selbst. Auf diese junge Frau hatte er das Anrecht seiner Freundschaft, so gut wie einst auf Rameau, und jede Zuneigung, die sie einem andern als ihrem Freunde Talvanne schenkte, war in seinen Augen ein Raub, über den er Klage führen konnte und mußte.

Allein er beruhigte sich bei näherer Betrachtung der Dinge bald ganz und gar, denn Conchita schenkte Münzel nicht die geringste Aufmerksamkeit und war ausschließlich von der Sorge um ihre Mutter erfüllt, deren seit einigen Monaten tief erschütterte Gesundheit allerdings Anlaß zur Beunruhigung bot. Frau Etchevarray war nicht mehr als fünfzig Jahre alt, aber die Stürme, Kämpfe und Mühen des Lebens hatten ihre Kraft frühzeitig erschöpft und »die Säfte verdorben«, wie sie selbst auf jede Frage nach ihrem Befinden in traurigem Tone erwiderte. Sie verließ ihr Schlafzimmer kaum mehr, und obwohl Rameau sie mit ungemeinem Eifer und aufopfernder Sorgfalt ärztlich behandelte, mußte er doch erkennen und äußerte auch gegen Talvanne, daß die Maschine abgelaufen und daß man ihr, um sie zu weiterem Dienst tauglich zu machen, neue Räder müßte einsetzen können und zwar so wesentliche, wie unter andern das Herz.

Trotz des unbedingten Vertrauens, welches Conchita in ihres Mannes Unfehlbarkeit als Arzt setzte, erfüllte es sie stets mit Schauder, wenn sie ihn an das Krankenbett der Mutter treten sah, und es war, als ob sie seine Berührung für die Leidende fürchte. Hatte Rameau im Sinn, nach seiner Schwiegermutter zu sehen, so wußte ihn die junge Frau mit einem: »Sie schläft jetzt« abzuhalten, und sah ihn dann mit großer Erleichterung seinen Wagen besteigen und sich in das Hospital oder nach der Universität begeben. Talvanne dagegen wurde von Conchita fast mit Gewalt an das Lager der Kranken gezogen und immer aufs neue begehrte sie seinen Rat und seine Ansicht zu hören.

»Aber Sie wissen ja, daß ich nicht allgemeiner Arzt bin,« suchte er sich ihrem Drängen zu entziehen, »daß ich die Heilkunde gar nie ausgeübt habe. Ich bin eine Art von Narr, der andre Narren heilt und behandelt, und wer da der Vernünftigere ist, der Doktor oder der Patient, ist sehr die Frage.«

»Nur Ihre Gegenwart thut der Mama wohl,« sagte die junge Frau, ohne von ihrem Verlangen abzustehen. »Sie hat Sie lieb,« und eines Tages setzte sie hinzu: »Und Sie sind ein Christ. Das nimmt den bösen Einflüssen ihre Macht.«

Bei diesen Worten begann Talvanne über vieles ins klare zu kommen und er nahm die Lage der Dinge sehr ernst. Offenbar hatte sich zwischen Rameau und Conchita ein tiefer Zwiespalt aufgethan, dessen Ausgangspunkt des Doktors Ungläubigkeit war. Vermutlich hatte die junge Frau, getreu ihrem Auftreten bei der Frage der Trauung, auch noch weitere Nachgiebigkeit im Punkt der Religion von ihrem Gatten gefordert – wer weiß, ob sie nicht den Versuch gemacht, ihn zu bekehren! Im ersten Augenblick hatte der Gedanke etwas so drolliges, daß Talvanne hell auflachen mußte, bei näherer Betrachtung aber fand er darin den Keim so tiefgehender Schwierigkeiten, daß er sehr geneigt war, die Sache vollkommen tragisch aufzufassen. Der echt spanische Fanatismus im religiösen Empfinden Conchitas mußte, wo er mit Rameaus schroffem Freidenkertum sich berührte, Kämpfe erzeugen, die möglicherweise entsetzliche Folgen nach sich ziehen konnten. Schon jetzt, das wurde ihm mehr und mehr klar, machte die Frau ihren Mann für das Leiden ihrer Mutter verantwortlich, in welchem sie ein Strafgericht Gottes zu erblicken wähnte, ein Strafgericht, welches sie für ihr verwerfliches Zusammenleben mit einem Atheisten und die Lauheit ihrer Bestrebungen, ihn zum guten zu führen, treffen mußte.

Mit großem Scharfsinn wußte sich der erfahrene Psychiater zurechtzulegen, was zwischen dem ungleichen Paar vorgegangen sein mußte, und hielt damit den Schlüssel in Händen zu allem, was ihm bisher rätselhaft erschienen war. Die gesteigerte Wiederaufnahme ihrer kirchlichen Uebungen, Conchitas tiefe Verstimmung, ihre von Zeit zu Zeit hervorquellende Bitterkeit und im Gegensatz dazu Rameaus schroffes Abbrechen, sein sichtliches Unbehagen, ja seine Angst, wenn gewisse Dinge berührt wurden, alles verstand er jetzt, allein seine Achtung vor dem inneren Frieden des Freundes war zu groß, als daß er es gewagt hätte, ihn über diese Verhältnisse aufzuklären, und ebensowenig hielt er es für wünschenswert, die junge Frau zu vertraulichen Aeußerungen zu veranlassen. Schiedsrichter und Vermittler zwischen dem Kirchenglauben der einen und dem Unglauben des andern zu werden, war auch nicht ohne Gefahr; nahm er den Freund in Schutz, so war es um Conchitas Gunst geschehen und das ihm so liebe, friedliche Dasein in diesem Hause, das ihm längst zur Heimat geworden, konnte mit einem Schlage gefährdet werden. Die Selbstsucht des Epikuräers gebot also, sich jeder Einmischung zu enthalten.

Wäre sein Blick noch klarer und durchdringender gewesen, so hätte er sich sagen müssen, daß er diesem von Bitterkeit geschwellten Herzen Gelegenheit geben müsse, sich durch eine Aussprache Erleichterung zu schaffen, und daß er der jungen Frau damit vielleicht bis auf einen gewissen Grad den Frieden hatte zurückgeben können. Mit einem kühnen Eingriff in das Gemütsleben der Freunde hätte Talvanne jetzt noch alles retten können und denen, die er zu schonen so emsig beflissen war, viel Kampf und Leiden ersparen.

Als er eines Morgens wieder bei Rameau vorsprach, fiel ihm beim ersten Schritt ins Haus die bestürzte, beklommene Miene der Dienerschaft auf; er eilte rasch nach dem Arbeitszimmer des Doktors, den er trüben Blicks an seinem Schreibtisch beschäftigt fand.

»Was ist vorgefallen?« fragte Talvanne, »im ganzen Hause scheint Bestürzung zu herrschen?«

»Meine Schwiegermutter ist diesen Morgen um drei Uhr gestorben,« erwiderte Rameau, indem er sich erhob, mit ernster Stimme.

Ein Schweigen trat ein, als ob die kalte Hand des Todes auch diesen beiden Männern die Lippen versiegle. Talvanne trat ans Fenster, und geistesabwesend den Vögeln zuschauend, die im Garten ihr Wesen trieben, blieb er in Nachsinnen versunken. Dann streckte er dem Freund die Hand hin und sagte herzlich: »Du hast viel verloren! Diese Frau wußte deinen wahren Wert zu schätzen . . . es war ein treffliches Wesen. Aber sag mir doch, wie es so schnell mit ihr zu Ende gehen konnte? Gestern fühlte sie sich wohler, sprach ganz frei und dachte ans Aufstehen . . .«

»Das letzte Aufflackern, ehe die Kerze erlischt . . . Heute nacht wurde ich zu ihr gerufen und fand sie bewußtlos . . . es gelang mir, sie wieder zu beleben, aber gegen morgen trat eine zweite tiefe Ohnmacht ein und dann war nichts mehr zu machen – du weißt es ja, wir sind nicht Herrn über Leben und Tod.«

»Und deine Frau?« fragte Talvanne nicht ohne Bangen.

»Ist von einer erschreckenden, thränenlosen Ruhe, die mich ängstigt. Thue mir den Gefallen und gehe zu ihr; vielleicht gelingt es dir, dies starre Leid in Thränen zu verwandeln. Es wäre die größte Wohlthat für sie.«

»Ich gehe sofort.«

Talvanne eilte in den ersten Stock hinauf und betrat ohne anzuklopfen den Salon, in dem tiefes Dämmerlicht herrschte, weil die Rollvorhänge heute noch nicht aufgezogen worden waren. Beim Geräusch der Thür erhob sich eine Gestalt, aber Talvanne, der von dem Uebergang aus der draußen herrschenden Helle in diese Dunkelheit geblendet war, vermochte nicht zu unterscheiden, wer es war, und blieb regungslos stehen, bis Conchita mit dumpfer, fast erstickter Stimme in die Worte ausbrach: »Sie sehen, das Unheil hat nicht auf sich warten lassen!«

Jetzt erkannte er auch ihre Züge deutlich und sah sie in ihrem schwarzen Gewand, totenblaß aber mit leuchtenden Augen vor sich stehen.

»Kommen Sie,« sprach sie rasch, »Sie haben sie lieb gehabt und sie war Ihre Freundin . . . Sie ist glücklich, das werden Sie sehen . . . es ist, als ob sie im Schlummer lächle.«

Die junge Frau öffnete eine Seitenthür, die auf einen kleinen Vorplatz führte, und auf der andern Seite derselben that sich das zur Kapelle umgestaltete, von zahlreichen Kerzen feierlich erhellte Zimmer der Verstorbenen auf. So vertraut ihm der Anblick des Todes auch war, zögerte Talvanne doch einen Augenblick betroffen auf der Schwelle. Im Hintergrund des Raumes ruhte Conchitas Mutter, von Blumen umgeben, ein Kruzifix auf der Brust; die silberweißen Haare kaum von den weißen Betttüchern zu unterscheiden. Am Fußende des Lagers saß eine Armenschwester und las ihre Gebete; ohne die Augen vom Buch zu erheben, fuhr sie in ihrer Andachtsübung fort; man sah ihre Lippen sich murmelnd bewegen, ihr Gesicht aber war vollständig gleichgültig und teilnahmlos.

Conchita sank auf die Kniee und drückte ihre Lippen auf die kalte Hand der Mutter, dann erhob sie sich und sprach laut mit Ton und Stimme der Verzückung: »Ich konnte ihr die heiligen Sterbesakramente reichen lassen. Durch eine Fügung der göttlichen Barmherzigkeit hat sie das Bewußtsein wiedererlangt und ist im Stand der Gnade von hinnen gegangen. Jetzt steht sie am Throne Gottes, zu seinen Füßen, sie ist mein Schutz, sie spricht für mich, und ich weiß nun, daß wir uns dank ihrem Flehen eines Tages wiederfinden werden in der Himmelswonne für alle Ewigkeit.«

»Amen!« sprach die Schwester mit leiser, weicher Stimme, indem sie einen Augenblick ihr Gemurmel unterbrach, las aber dann sofort ihre Gebete weiter.

Talvanne hatte wortlos zugehört. Er gedachte des Tages, da auch er eine Mutter stumm und kalt vor sich hatte liegen sehen, und ein heißer Schmerzensquell, den er längst versiegt und vertrocknet gewähnt, stieg ihm feucht in die Augen. Langsam ließ er das Haupt auf die Brust sinken und machte das Zeichen des Kreuzes. Angesichts dieser schlichten kirchlichen Handlung, die der feste, ernste Mann so unbewußt und selbstverständlich vollzog, fühlte Conchita das Eis in ihrem Herzen schmelzen. Hastig ergriff sie Talvannes Hand, und als ob jeder andre Schmerz als der um den Verlust der Mutter in diesem Raum Entweihung wäre, zog sie ihn hinaus. Draußen aber rief sie unter Schluchzen und von Glaubensglut strahlend und in ihrer Verzweiflung wahrhaft erhaben: »Ach, wenn er mit mir beten, mit mir hätte glauben wollen, wie namenlos würde ich ihn geliebt haben!«



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