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Im Privatkontor Lerebourgs im ersten Stock der »Blauen Mütze« legte Victor Leclerc an der Hand der Muster vor dem Kaufmann Rechnung ab. Madame Lerebourg saß dabei auf einer Ottomane und stützte den Arm leicht auf das Samtpolster; mit halb geschlossenen Augen, als ob sie die Zahlen und Erklärungen der beiden Männer ein wenig schläfrig machten – um unter den gesenkten Augenlidern hervor nur immer wieder den hübschen Burschen anzulächeln, den sie so lieb hatte. Sie brauchte sich keinerlei Zurückhaltung aufzuerlegen; denn ihr Gatte saß mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch, während Victor Leclerc am Kamin lehnte, Zahl um Zahl und Erklärung um Erklärung von einem Blatt Papier ablas, gleichfalls nichts als nur Geschäft zu wissen schien – und dabei doch einen jeden ihrer süßen Blicke verliebt auffing. Er war am Abend vorher zurückgekommen und hatte Herrn Lerebourg gleich heute morgen überrascht und war nun schon seit zwei Stunden nichts als Genueser Samt, Grosgrain von Neapel, Glanzseide, Broché und Brokat . . . und über alles das hin dennoch jenes andere Spiel: so strahlend wie über Wolken!
»Ja, also, mein lieber Leclerc, Sie sind wahrhaftig Gold wert. Ich hätte mir keinen besseren Vertreter wünschen können . . . Sie haben ebensoviel Geschmack wie Geschick erwiesen. Daß Sie mir das Monopol der neuen Uniformpassementerien in Saint-Etienne ausgemacht haben, ist schlechtweg ein Meisterstück. Der General Murat, der sowieso schon über die Verfassung der Kavallerieoffiziersuniformen stöhnte, wird einfach hüpfen vor Freude! Und wissen Sie auch, was dabei für Sie für eine Provision abspringt?«
Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich. Aus den Händen von Emiliens Gatten auch noch Geld annehmen sollen . . .
»Bürger Lerebourg, die Angelegenheit aber regeln wir etwas später, wenn's Ihnen recht ist. Ich hab' augenblicklich weit mehr als ich brauche, und so wie ich zurzeit in der Welt herumgondele, wüßte ich wahrhaftig nicht, wo ich's hintun sollte!«
»Wie es Ihnen beliebt – selbstverständlich! Nur – zwischen Freunden sollen am allerwenigsten derartige Geschichten hängen; Sie verstehen mich? Ihre Maklerprozente werden ausgerechnet, und die Summe steht auf Heller und Pfennig in meiner Kasse jederzeit zu Ihrer Verfügung.«
»Heben Sie mir's nur auf, ja, bitte . . . Ich fahre ja doch gleich wieder für mehrere Wochen weg, und sowie ich dann zurückkomme, rechnen wir weiter ab . . .«
»Was! Sie wollen schon wieder abreisen?« fragte Madame Lerebourg.
»Gewiß, Bürgerin. Ich liege fortwährend auf allen Landstraßen von ganz Frankreich. Gestern aus dem Süden zurück – morgen nach dem Norden. Immer hübsch nach allen Himmelsrichtungen. Jetzt geht's nach Flandern – nach Brügge und Mecheln. Denn die Spitzen sind reif wie Kirschen . . .«
»Und werden Sie lange fortbleiben?«
»Ich weiß es noch nicht genau . . . Vielleicht fahr' ich von Flandern nach Köln und Mainz hinüber: Deutschland war uns durch Krieg lang genug verschlossen – jetzt muß endlich das Geschäft wieder gehen . . .«
»Was Sie rührig sind!« Emilie seufzte leis.
»Recht hat er! Wenn man so jung wie er ist, dann muß man sich rühren . . . Er wird sein Glück machen; eines Tages verheiraten wir ihn mit einem netten Mädchen . . . so 'ne hübsche Einheirat, weißt du . . . Ich hab' Freunde, die sich die Finger danach lecken werden, einen Mann von solch ausgezeichneten Charaktereigenschaften und so einen hübschen Jungen obenein zum Schwiegersohn zu haben!«
»Wohinein mischst du dich schon wieder, Mann?« Madame Lerebourg war ganz aufgeregt. »Du hättest Herrn Leclerc doch lieber erst einmal fragen sollen, ehe du ihn so mir nichts dir nichts verheiratest!«
»Aber ich denke ja gar nicht daran, mich zu verheiraten!« lachte der junge Mann. »Ich hab' ja gar keine Zeit dazu!«
»Na, na! wer weiß! Vielleicht haben Sie wo so 'ne kleine zarte Liebschaft –«
»Aber Bürger Lerebourg – wie könnte ich denn das, wo ich fast immerfort unterwegs bin? Nein, nein, ich bin so ledig wie ein kleines Kind, und die Frau, der ich einmal sage: ›Ich liebe dich‹, die darf dann auch völlig von mir überzeugt sein!«
So klar kamen ihm die Worte heraus: Emilie neigte das hübsche Gesicht, denn sie war schier ein wenig rot geworden. Lerebourg raffte derweil all die Muster auf dem Schreibtisch und auf den übrigen Möbeln zusammen und sagte dann zu dem jungen Mann:
»Wenn Sie mir jetzt, Leclerc, nur noch ein Viertelstündchen lassen wollten, daß ich mir einen Auszug mache, und dann gebe ich Ihnen all das wieder zurück . . . Es wäre übrigens gut, wenn Ihr Bote heute gleich wieder nach Lyon ginge . . .«
»Das soll geschehen. Und . . . ich warte gern so lange . . .«
»Meine Frau wird Ihnen Gesellschaft leisten.« Und das sagte der Kaufmann mit solchen vertrauenden Augen, daß Emilie unwillkürlich lächeln mußte.
Saint-Régeant verzog keine Miene. Aber als er Lerebourg dann mit gewichtigem Schritt die Wendeltreppe nach dem Laden hinuntergehen hörte, lag er vor Emilie auch schon auf den Knien, ergriff ihre Hand und preßte sie immer und immer wieder an seine Lippen. Die junge Frau, halb auf der Ottomane ausgestreckt, sah glücklich auf den hübschen Burschen zu ihren Füßen herab und entzog ihm auch ihre Hand nicht, obgleich sich seine weißen Zähne in das weiche Fleisch schier verbissen. Endlich hob ein Seufzer ihren Busen; sie streichelte mit der andern Hand seine Wange, sein Ohr, sein Haar – und richtete sich auf:
»Sie müssen vernünftig sein! Ich hab' Ihnen gern meine Hand gelassen, um Sie nach so langer Abwesenheit ein wenig zu entschädigen, aber damit genug.«
»Sie sind grausam, Emilie!« Saint-Régeant stand gleichfalls auf. »Ihr Gatte ist viel netter zu mir; der bezahlt mich für mein Fernsein sogar.«
Sie antwortete nicht gleich; sie sah ihn nur ängstlich an und verbarg ihre Angst auch nicht im mindesten.
»Ist es denn wahr, daß Sie sogleich wieder fortwollen?«
»Nein, mein süßes Lieb, ich bleibe . . . nur Herr Lerebourg darf nicht wissen, daß ich da bin. Wenn der wüßte, ich bin in Paris, ohne daß ich einmal hieher zu ihm käme, würde er vielleicht stutzig werden. Er muß also glauben, ich sei fort . . .«
»Dann sehe also auch ich Sie nicht?«
»Das kommt ganz darauf an.«
»Wieso?«
»Ich logiere mich am Ende dieser Woche wo ein, wo ich vor aller Überwachung absolut sicher bin. Wenn Sie mich besuchen wollen –«
»Was bilden Sie sich eigentlich ein?«
Er lächelte und sprach leise.
»Ich bilde mir überhaupt nichts anderes mehr ein als das; seit ich von Lyon abfuhr, lebe ich nur noch in der Erwartung: wann wirst du sie sehen?«
»Nun – eben jetzt sehen Sie mich doch!«
»Ja: unter den Augen Ihres ganzen Personals, und wo jeden Augenblick wer hereinkommen kann! Ihr Gatte nur ein Stockwerk weit von uns! Nein, Emilie, ich hab' mir's ganz anders ausgemalt, wie ich Sie wiedersehen würde! Dies kalte Zusammensein, wo ich Ihnen kaum die Hand drücken darf . . . das ist doch nicht die Stunde der Liebe, für die ich mein Leben hingeben möchte!«
»Pst!« Madame Lerebourg schloß ihm mit ihrer weißen Hand den Mund. »Sie sind nicht recht gescheit.«
»Nein, aber ich bin wahnsinnig, wenn ich an dich denke! Ich gehöre dir ganz – es ist keine Fiber an mir, die nicht nach dir verlangt! Emilie – –! Und du . . . du bist der reine Eiszapfen zu mir!«
»Ja? Weißt du das so gewiß? Wie denkst du dir meinen ›Besuch‹? Glaubst du, ich werfe mich dir an den Hals? Hältst du mich für so eine?«
»Emilie! Ich ertrag's nicht länger! Ich halt's einfach nicht mehr aus! Wenn du mich ein bißchen lieb hast . . .! Wer weiß, wie lang du mich noch hast –«
»Was heißt das!« Sie schrie es beinah. »O Gott, o Gott – du hast dich gewiß wieder in so fürchterliche Dinge eingelassen! Mir sagst du, du liebst mich und dächtest überhaupt nur noch an mich – dabei bist du mitten in dieser entsetzlichen Politik! Du bestürmst mich – und ich soll nicht einmal dies Allerselbstverständlichste von dir erreichen, daß du dein Leben nie, nie wieder aufs Spiel setzt und an derartigen verbrecherischen Anschlägen beteiligt bist?«
»Wie redest du auf einmal daher? Ist das noch die Bretagnerin und Royalistin? und verleugnest du plötzlich deine Abkunft, dein Blut? All die Deinigen sind für ihre Überzeugung in den Tod gegangen – und du willst, daß ich fahnenflüchtig werde? Ich will die Deinigen mit rächen, weil ich dich liebe und du mich liebst! Und du sollst mir nicht Klugheit predigen – sondern Mut!«
»Euer ganzes Unternehmen ist . . . sinnlos, verzeihe, daß ich dir das sage. Gegen Bonaparte ankämpfen – heißt gegen das Schicksal ankämpfen! Er selber ist das Schicksal. Er tritt alles nieder, was ihm in den Weg kommt. Euch auch. Und – dich.«
»So? Also weil er mächtig ist, ist das ein Grund, schön vor ihm zu ducken? Sein Glück ist nicht von Ewigkeit – er wird ebenfalls seinen Herrn und Meister finden. Das ist eine Bestie, der man zuleibe gehen muß, ehe man sie auf die ganze Menschheit losläßt!«
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn – er war plötzlich ganz blaß geworden – und schüttelte dann den Kopf:
»Wir sind nicht recht gescheit! Da haben wir nun wirklich einmal einen Augenblick für uns und unsere Liebe und statt dessen bekriegen wir uns wegen dieses kleinen Korsen! Deshalb könntest du mir schon eher einen Vorwurf machen!«
»Nun also, komm, setze dich zu mir.«
Und sie saßen beieinand, und er atmete den Duft aus ihren Kleidern; mit dem Knie berührten sie einander, und er legte leis den Arm um ihre Taille. Sie tauschten rasende Küsse aus, und er stammelte:
»Du wirst also kommen – ja, ja?«
Sie antwortete nicht; nur ihre Augen sagten Ja.
»Bei einer Modistin in der Rue du Dragon. In einem Versteck, wo mich keines Menschen Seele vermuten wird. Ich gebe dir die genaue Adresse und – das Erkennungswort. In drei Tagen wohn' ich dort. Ich muß ostentativ aus Paris abreisen und komme in einer unkenntlichen Maske zurück.«
»Das alles ist so grauenhaft! Wie soll ich denn das machen, daß man mich nicht bemerkt, daß man mir nicht nachgeht und so auch dir auf die Spur kommt?«
»Das laß mich nur machen. Es ist nicht die geringste Gefahr für dich – und mich. Glaub' mir doch!«
Da aber stoben sie auseinander. Denn Lerebourg kam die Treppe herauf und im nächsten Augenblick mit einer Liste in der Hand herein:
»Hier Ihre Aufstellung – auch gleich mit Ihren Prozenten. Heben Sie's gut auf.«
Saint-Régeant tat's in seine innere Rocktasche, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben. Er nahm Hut und Stock und verneigte sich artig vor Madame Lerebourg:
»Entschuldigen Sie mich, Bürgerin, wenn ich Sie jetzt verlasse. Ich habe noch massenhaft zu tun heut – und morgen reise ich ab. Ich werde mir gestatten, vielleicht ein paar Spitzen, die Ihrer würdig sind, an den Bürger Lerebourg zu schicken, die Sie von Ihrem Herrn Gemahl dann als von mir annehmen wollen –«
»Nanu, Leclerc, machen Sie keine Dummheiten, ja?« schalt Lerebourg kordial. »Ein junger Mann wie Sie muß sparsam sein. Vergessen Sie mir darüber bloß den feinen Fries nicht, von dem ich Ihnen sprach. Das ist viel wichtiger. Und dann – lassen Sie was von sich hören . . .«
»Das wird sehr schwer gehen! Aber ich will's immerhin versuchen . . .«
Er verneigte sich ein letztes Mal vor Emilie und ging dann mit Lerebourg zusammen nach dem Laden herab. Der alte Kunde der Fräuleins Zoé und Hermance saß – natürlich! – vor Krawatten und seidenen Handschuhen und schnitt den hübschen Verkäuferinnen auf recht altmodische Weise die Cour. Saint-Régeant kam ganz nahe an ihm vorüber und sagte gerade zu Lerebourg:
»Vor den ersten vierzehn Tagen werden Sie wohl keinen Brief von mir haben . . . Aus Deutschland erst. Nämlich ich komme über Straßburg und durch Elsaß zurück . . . Wenn Ihnen vielleicht mit ein paar Flaschen Kirschwasser gedient ist –«
»Ausgezeichnet! Die trinken wir dann mitsammen! Also nochmals Adieu . . . glückliche Reise!«
Ein Abschiedshändedruck – und Saint-Régeant bummelte mit größter Seelenruhe die Rue Saint-Honoré hinunter nach der Rue de l'Arbre-Sec und dem Gasthof »Zum roten Löwen«, wo er bei seiner Rückkehr nach Paris kühnlich wieder abgestiegen war. Braconneau war bei diesem völligen Verzicht auf jegliche Vorsichtsmaßregel derart baff gewesen, daß er sich wieder einmal ernstlich gefragt hatte, ob der junge Mann am Ende nicht doch das ganze Komplott gegen den Ersten Konsul fahren gelassen habe, um sich ausschließlich seiner Liebe zu der schönen Emilie hinzugeben. Aber dann hatte er sich wieder gesagt: wenn sich einer dermaßen harmlos aufspielt, dann steckt gerade das allergrößte Raffinement dahinter. Und also belauerte er den Pseudo-Leclerc grimmiger denn je. Fouché war mit dem Manöver in Lyon beim Herrn Marquis de Pommadère übrigens recht mäßig einverstanden gewesen:
»Sie sind 'n rechtes Schaf, Braconneau, damit Sie's endlich wissen! Madame Bonaparte beaffenmuttert ihre Adligen mehr als je, und es vergeht schon bald kein Tag mehr, daß sie nicht einem der Emigrierten die Rückkehr erwirkt – natürlich nur, damit die sogleich wieder Intrigen anspinnen, zumindest aber die politisch Unzufriedenen spielen. Das ganze Saint-Germainviertel ist bereits rekonstituiert; die Montmorencys, die Narbonnes, die Mortemarts – alle miteinander zurückgekehrt. Ja, ich glaube, wenn heute der Comte d'Artois sagte: ›Also gut, ich kandidiere nicht mehr‹, könnte er morgen schon zurückkommen, und man würde ihn sogar bitten, er soll sich absolut nicht genieren und so 'n bißchen Hof abhalten! . . . Jetzt passen Sie einmal auf, Braconneau: jetzt wird sich Pommadère beklagen, und Bonaparte mir an den Kopf werfen, ich solle mich lieber um die Philadelphisten und den General Moreau kümmern als um die Aristokraten, die bereits wieder kleine Heilige geworden sind!«
»Aber, Bürger-Minister, falls der General Moreau nicht wirklich geradeaus konspiriert, so opponiert er doch sicher sehr lebhaft gegen alles, was Konsularregierung heißt. Er hat eine richtige Partei im Senat für sich, und fast die halbe Armee ist ihm zugetan. Dem tut's gewiß heute noch leid, daß er im Brumaire mittun mußte. Und dann die Frauen – die Frauen, die er um sich hat! Seine Schwiegermutter, und dann Madame Moreau selber, die reden und reden auf ihn ein . . .«
»Das alles beweist mir noch lange nicht, daß er zu einem Komplott gegen die Regierung fähig wäre! Ein Mann wie er – ein zweiter Phokion! Aber den hält der Erste Konsul nun mal für den Schwarzen Mann –«
»Und dazu kommt dann Josephine, die sich mit Madame Hulot – ebenfalls einer Kreolin – zerkriegt hat –«
»Die schwarzen Weiber soll erst recht der Deibel holen! Ist es schon schwer, die Männer in Schach zu halten – wie erst, wenn die Weibstücke sich einmischen!«
»Sie wären wohl nicht sehr damit einverstanden, wenn ich nun Saint-Régeant etwas mehr aus den Augen ließe?«
»Lassen Sie sich das bloß nicht einfallen! Er ist der Pariser Agent von Georges – und das sagt genug. Er ist momentan das Werkzeug all der Chouans. Coster de Saint-Victor ist ja nach England . . . mag er dort bleiben! Das ist nämlich auch so ein verdächtiges Individuum . . . Also geben Sie mir gut auf Saint-Régeant und seine Freunde Obacht!«
»Meinen Sie Lerebourg?«
Fouché schlug ein Aktenbündel auf seinem Schreibtisch auseinander:
»Nein, den meine ich nicht! Das ist ein Naivus, der nur an Geschäfte denkt. Aber ein gewisser Limoëlan ist schon mehrfach mit Saint-Régeant zusammen gesehen worden; der soll auch bei den letzten Kämpfen um de Stofflet dabeigewesen sein . . . Er schien mit einemmal aus Paris verschwunden . . . Also recherchieren Sie . . . Zuletzt nannte er sich Buscaille . . .«
»Gut, ich werde auf der Post recherchieren und meine Meldung ans Schwarze Kabinett machen . . .«
»Ach! was ich noch sagen wollte! Gehen Sie nach 113 vom Palais Royal und sagen Sie Lescuyer, daß, wenn noch einmal ein Skandal wie der gestrige vorkommt, ich die Bude zumachen lasse.«
»Da hat eine Schwindlerbande die Lüster des Pharaosaals ausgelöscht und sich im Dustern über das Geld in der Bank und all der Spieler hergemacht.«
»Das Geld der Bank ist mir schnuppe, aber das Geld der Spieler muß respektiert werden . . . Die Leute wollen im Palais-Royal spielen und nicht einfach bestohlen werden!«
»Lescuyer hat mehr als der ganze Schaden betrug sogleich ersetzt . . .«
»Wenn schon! Mir ist's um die Sicherheit für die Spieler. Verstanden?«
»Bürger-Minister, ich kann die Kerle, die den Coup ausgeführt haben, binnen vierundzwanzig Stunden verhaften . . .«
»Kennen Sie sie?«
»Es waren fünf Mann. Zwei haben die Lichter ausgelöscht: ein gewisser Sergent und ein gewisser Villenois, beide von der Tuileriengeheimpolizei . . . Die drei anderen waren Professionsspieler, die momentan etwas klamm waren: ein Chevalier de la Rouillère, ein gewisser Leboucq und einer namens Faurie . . . Soll man sie einsperren?«
Ein Auge Fouchés verschwand fast ganz unter dem stark geröteten blinzelnden Augenlid. Er grinste etwas:
»Die drei, die Sie mir zuletzt nannten – laufen lassen! aber die zwei von der Privatpolizei des Ersten Konsuls stecken Sie ein. Und schicken Sie mir sogleich den Rapport!« .
»Zu Befehl – heute abend noch.«
Fouché machte eine Schreibtischschublade auf und gab Braconneau eine Handvoll Louis:
»Für Ihre Spesen.«
Und er entließ den Spitzel mit einem Kopfnicken und vertiefte sich neu in seine Arbeit.
Saint-Régeant, der ja nur noch so lange im »Roten Löwen« bleiben wollte, bis sich die Polizei, von der er sich von allen Seiten umgeben fühlte, etwas beruhigt haben würde, und er – wie der Blitz! – sein Logis wechseln könnte, brachte die meiste Zeit in seinem Zimmer auf seinem Bett zu und träumte. Ein wenig von dem blutigen Attentat, das er ausführen sollte – und sehr viel von Emilie, deren Küsse er noch auf seinen Lippen spürte. Er war leidenschaftlich verliebt – und das zum erstenmal in seinem Leben. In einer Art Halbschlaf sah er immer und immer wieder die junge Frau auf ihrer Ottomane vor sich, wie sie ihm zärtlich zulächelte. Herrgott! sie liebte ihn ja mehr als sie es mit Worten wahrhaben wollte; ihre Blicke waren lange nicht so geschämig wie ihre verhaltenen Worte! Und wie süß das wohl wäre . . . so wie Lerebourg selber es ihm vorgeschlagen hatte . . . als Kommis dort eintreten . . . und so wie die Luft stets um Emilien sein . . .! Restlos Victor Leclerc werden . . . und gar nicht mehr denken, in welch waghalsige Unternehmungen er sich vor etlichen Jahren gestürzt . . . um »Freiheit« und um »Leben« . . .! Der Dank, der ihm dafür von seiner Geliebten würde, wenn er das Komplott aufgäbe, vor dem sie ohnedem zitterte, wie ein kleiner Vogel in der Hand zittert . . . der Dank, der Dank, wenn er ein geruhiges, arbeitsames Leben . . . die Liebe, die Liebe . . .! Noch war's Zeit. Seine Vergangenheit war – heute noch! – auszulöschen wie ein Kerzenlicht. Noch war nichts Nicht-wieder-gut-zu-machendes geschehen; noch nicht – nein. Er hatte, wie so viele Tausend andere, die Revolution bekämpft – gut; und nun hatte die Revolution eben gesiegt – und er streckte die Waffen. Warum auch nicht? Er war nach Frankreich zurückgekommen . . . mit der ausdrücklichen Erlaubnis des Ersten Konsuls . . . er hatte es aus dem eigenen Munde Bonapartes, daß er nicht nur Generalabsolution, sondern auch noch eine Entschädigung erhalten würde . . . In dieser entscheidenden Stunde seines Lebens: ein Wort nur – und alles hatte sich für ihn gewandelt . . .! Was konnte ihm Cadoudal schon groß vorwerfen, wenn er von seinem Plan Abstand nahm? . . . eigentlich doch nur – Liebe!
Und das holde Traumgesicht Emilie lächelte und nickte ihm ermunternd zu . . . da fiel wie von außerhalb der Traumbühne ein riesiger, rauher Schatten herein . . . der Schatten Georges! Den Karabiner umgehängt . . . an der Spitze seiner Leute . . . drauf und dran! . . . auf die fliegenden Korps, die in der Bretagne streiften . . . Das letzte Häufchen Aufrührer, mit dem die royalistische Sache fiel und stand . . . einer immer gegen hundert . . . umzingelt . . . verraten . . . kein großer Krieg mehr . . . keine Armeen mehr . . . hinter Baum und Busch . . . wie aufgeriebene Banditen. Na ja, er hatte sie doch im Stich gelassen – er! er hatte mit dem Tyrannen eine Sache gemacht – um einer Schäferstunde willen! Und . . . was würde Emilie von ihm denken, wenn er so schnell verzichtete und so leicht aufgab? Wo blieb der Held, der er für sie gewesen? und würde er in ihren Augen nicht zum Hundsfott? War Liebe klug und Bequemlichkeit Liebe? Nein! nein! nein! nein! und er sprang mit beiden Beinen zugleich auf und stand erglühend da und wehrte mit verzweifelten Armen selbst die Schatten in seinem Zimmer ab, als wären sie ein Teil des verführerischen Kompromisses! Was war Liebe, wenn nicht Treue war? Er hatte den Zusammenhang dieser beiden Dinge nie so bis in alle Tiefen erahnt als in diesem Augenblick –
Da – drei Schläge – so wie ein Herz aussetzt und wieder weiterpocht! – gegen die Tür. Saint-Régeant öffnete: Limoëlan stand auf der Schwelle. Als Arbeiter verkleidet; das ganze Gesicht voller Gipsspritzer. Er kam herein, setzte sich, entdeckte ein Glas mit Wasser neben sich auf dem Kamin und trank's in einem Zuge aus.
»Ah, das tut wohl! Nämlich ich hab' vor fünf Minuten noch – um nicht erkannt zu werden – mit ein paar Gesellen reinen Fusel saufen müssen . . . und ich dachte wahrhaftig, es brennt mir die Gurgel durch! Na, aber da bist du ja glücklich von der Reise zurück, mein Lieber . . . Was is' nun?«
»Ja, also die Sache wird gedeichselt, wie ich dir sagte . . . Der große Augenblick ist da!«
»Vor allem hast du keine Sekunde mehr zu verlieren und mußt raus da aus dem Löwen! Du mußt unbedingt für einige Zeit verschwinden.«
»Ja. Ich kann keinen Schritt mehr aus dem Hause tun, ohne daß mir ein Spitzel auf den Fersen ist –«
»Ich habe Dachdeckerarbeit hier im Gasthof annehmen müssen, um überhaupt noch aus- und eingehen zu können . . . Und jetzt mußte ich mit den Herren Agenten von Fouché eins trinken . . . Die lauern in der Stampe da vorn an der Ecke . . .«
»Ich muß also genau so tun wie du. Morgen um dieselbe Zeit bringst du mir, bitte, so ein Arbeitergewand, daß ich genau wie ein Kollege von dir ausschau. Meinen Anzug behalte ich drunter an . . . Von deiner famosen Schminke da mußt du mir natürlich ebenfalls abgeben . . . Und dann ziehe ich los mit einem Faß oder Sack auf dem Buckel, damit man mein Gesicht nicht so sieht – auf Nimmerwiedersehen!«
»Und gehst geradeaus Rue du Dragon zur Modistin Mademoiselle Grandeau und sagst nur die zwei Erkennungsworte: Provence und Artois . . . Aber was red' ich denn da eigentlich für 'n Blech? Warum sollen wir denn bis morgen warten, wenn wir's heute ebensogut, ja besser haben können! . . . Wir haben ganz die gleiche Figur; du ziehst also meine Hose und meine Bluse an, setzt meine Mütze auf . . . der Sack steht draußen auf 'm Flur . . . Also zier' dich nicht und schminke dich gleich 'n bißchen nach mir –«
»Ja, und aber du?«
»Ich werde mich dafür ganz einfach als Saint-Régeant aufspielen . . . Ich gehe als erster aus dem Gasthof und locke die ganze Meute mit . . . Dann hast du freien Weg . . . In einer Stunde ist's dunkel, und du nimmst die Richtung nach der Seine zum Pont-Neuf hinunter . . . Da schmeißt du den ganzen Kram und die Kleider dazu ins Wasser und spazierst als Leclerc – fein, sag' ich dir! – nach deiner neuen Unterkunft Rue du Dragon . . . Morgen komme ich zu dir . . . Ist das nicht glänzend?«
»Glänzend! Also los!«
Saint-Régeant stieg mit seiner eleganten Fußbekleidung leichtlich in die über und über bedreckten »Appelkähne« Limoëlans. – Und nur die Arbeiterkleidung warf er an dem Pont-Neuf nicht ins Wasser, sondern machte sich ein bequemes Bündel daraus und nahm's unterm Arm mit nach der Rue du Dragon. Man konnte doch nie wissen, wozu so etwas wieder mal gut war! – Derweil aber waren die Herren von der Polizei dermaßen in ein Kartenspiel vertieft, daß sie nicht einmal Limoëlan folgten – vielleicht auch, zu ihrer Ehre sei's gesagt, weil er doch nicht ganz genau so aussah wie Saint-Régeant . . .
Das Haus Nummer 35 Rue du Dragon ein zweistöckiges Gebäude. Zu ebener Erde die Gläser und Flaschen eines Apothekers; im ersten Stock in Goldbuchstaben: »Virginie Grandeau – Modes«; darüber Mansarden. Eine mittelgroße Tür, durch die es in einen dunkeln und nach Schwefelwasserstoff riechenden Hausgang hineinging, stand tagsüber offen und hier befand sich eine leichte Gattertür, die, sowie sie Saint-Régeant aufstieß, leider nur eine laute Schelle in Bewegung setzte. Aber es kam Gott sei Dank niemand. Er tappte sich also durch den Hausgang bis zu einer engen Treppe hin, stolperte hinauf und sah sich oben dann vor einer braunen Tür, daran ein weiteres Blechschild: »Modes – Virginie Grandeau. Hüte und Haarputz.« Schlurfende Schritte: eine Frau in einer Leinenhaube und mit blauer Waschschürze öffnete:
»Der Bürger wünscht?« Das klang ziemlich verwundert.
»Ich möchte die Bürgerin Grandeau sprechen.«
»Ist es vielleicht wegen eines Haarputzes?«
»Ganz recht!« lächelte Saint-Régeant; – »es ist wegen eines Haarputzes.«
Die Alte murmelte etwas und führte Saint-Régeant in ein kleines Zimmer, das voller Tische war, und auf allen Tischen lagen Hüte. Einen Augenblick darauf trat eine Frau in den dreißiger Jahren ein; mager, blaß; und sah Saint-Régeant äußerst gespannt entgegen.
»Habe ich die Ehre, mit der Bürgerin Grandeau zu sprechen?«
»Ja, Bürger.«
»Ich soll Ihnen nämlich sagen: Provence und Artois.«
Bei diesen Worten hellte sich ihr Gesicht mit einem Male sehr auf:
»Ach, Sie sind's, also endlich . . . ich erwarte Sie bereits seit einer Woche . . . Sie haben sehr gut daran getan, daß Sie erst mit einbrechender Dunkelheit kamen. Meine Fräuleins sind bereits alle weg und auf die alte Mathurine ist vollkommener Verlaß . . .«
»Sie hat mich aber nicht gerade herzlich empfangen.«
»Sie ist furchtbar mißtrauisch. Ein Grund mehr zu Ihrer Sicherheit. Aber ich werde Sie gleich miteinander bekannt machen . . . Mathurine! komm einen Augenblick herein!«
Die Alte kam, schnitt eine Grimasse und knurrte:
»Also, der Herr, Fräulein, will einen Haarputz haben!«
»Nein, sondern der Herr sucht ein Versteck!«
»Einer von den Unsern?«
»Ja, Mathurine. Georges schickt ihn.«
»Dann sage ich nur: Herzlich willkommen!« sprach die Alte mit Ehrerbietung. »Dann muß der Herr aber schon so gut sein, damit ihn unsere Frauenzimmer nicht sehen, und unter Tag im Bischofswinkel bleiben.«
»O, das macht gar nichts,« versicherte Saint-Régeant. »Ich kann all und jede Bequemlichkeit entbehren. Ich habe – im Feld – schon härtere Tage gesehen . . .«
»Nun, ganz so schlimm ist's nicht und es soll Ihnen gewiß an nichts fehlen,« sprach Virginie, »nur sind Sie unter Tag etwas eingekastelt. Aber kommen Sie, ich zeige Ihnen sogleich Ihre Appartements . . .«
Sie gingen über einen Korridor nach der Küche. Dort öffnete die Modistin einen Wandschrank mit Tellern, Glasgeschirr und sonstigem Kochvorrat wie Zucker, Kaffee, Mehl; drückte mit dem Daumen an die Wand unterhalb einer Tragleiste; ein Ächzen – die ganze Rückwand drehte sich – und man sah in einen Verschlag hinein: sechs Fuß breit, neun Fuß lang. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle. Durch eine schmale Öffnung wohl auf einen Hinterhof hinaus kam Licht, das vielleicht früher einmal für die Küche bestimmt gewesen sein mochte. Nur ein Architekt konnte vermuten, wie der Verschlag eigentlich eingelassen war; denn zu der Wohnung der Modistin gehörte dies Stückchen Raum nicht mehr, sondern es nahm vielmehr vom Nachbarhause ein Endchen weg, und das Ganze war ein genialer Rest einer Rechnung, die bestimmt nicht aufgehen sollte, aus einer Zeit, da die beiden Häuser noch dem einen Besitzer und Erbauer gehörten. Während des Schreckenssystems hatte dies bißchen Mittelalter der realistischen Sache unbezahlbare Dienste geleistet; und der erste, der da gewohnt hatte, Monseigneur de Carbonnières, hatte es Bischofswinkel getauft. Danach hatte es noch vielen andern Proskibierten jeweils als Unterschlupf gedient, und nie war auch nur der leiseste Verdacht bis zu diesen Wächtern aus Porzellan und Glas, Pfeffer und Salz, Kaffee und Mehl vorgedrungen.
»Sie können Bücher haben und Schreibzeug, zur Zerstreuung und zur Arbeit. Große Schritte können Sie freilich nicht machen; und laut auftreten sollen Sie nun schon gar nicht. Der Nachbarn wegen, wenn auch die Mauer ziemlich dick ist. Von meiner Seite aus, von der Küche, haben Sie natürlich nichts zu fürchten . . . Sie sind den Tag über eingeschlossen und gehen nur zur Nacht aus, falls Sie müssen.«
»Und wenn mich jemand besuchen will?«
»Dafür ist das Schlüsselwort, und dann werd' ich das Nötige schon veranlassen.«
»Kann ich auch irgendwen benachrichtigen, daß ich in Sicherheit bin?«
»Mathurine oder ich befördern den Brief, wohin Sie wünschen.«
»O! ich bin Ihnen ja so dankbar!«
Und das kam so erlöst heraus, daß die Modistin lachend mit dem Finger drohte:
»Na, na, na, na! bloß keine jugendlichen Unvorsichtigkeiten! Sie wollen gewiß an keinen Mann schreiben! Auf die Art also helfen Sie uns, Sie zu verstecken!«
Der junge Mann verteidigte sich wie ein junger Löwe:
»Die, die ich meine, ist uns absolut ungefährlich! Die hätte mehr zu verlieren als ich, wenn sie aufkäme! Übrigens kann sie doch wohl zu einer Modistin gehen! Und Sie selber können zu ihr und ihr Bänder, Seide und Samt abkaufen!«
Virginie Grandeau setzte noch eine ernstere Miene auf als er selber und sagte klar und bestimmt:
»Also einmal will ich es Ihnen wohl hingehen lassen. Aber ein zweites Mal schon nicht mehr – ich rate Ihnen gut! Es ist im Interesse der ganzen Partei – da muß Ihr Traum denn doch ein wenig zurückstehen! Ich habe unsern Freunden schon manchen Dienst erwiesen und will es auch fernerhin. Dazu gehört vor allem, daß das Versteck geheim bleibt, und wir nicht alle miteinander auffliegen. Sie müssen sich also der ›Hausordnung‹ fügen oder Sie ziehen wieder aus. Eins von beiden. Verstanden?«
»Sehr wohl.«
»Gut! Sie haben wahrscheinlich noch nicht zu Abend gegessen – wie? Kommen Sie – bei Tisch können wir noch nähere Bekanntschaft miteinander schließen . . .«