Georges Ohnet
Nieder mit Bonaparte
Georges Ohnet

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7. Kapitel.

Der »Pavillon de Hanovre« war ein entzückender Bau im reinsten Stil des achtzehnten Jahrhunderts. Erbaut hatte ihn der Maréchal de Richelieu gleich nach dem deutschen Feldzug und aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit deutschem Gelde, daher hatte ihn der Pariser Volkswitz Pavillon de Hanovre getauft. Der Konvent dann hatte wohl das Richelieusche Palais demolieren lassen, der entzückende Rundbau aber war erhalten geblieben und an einen Ballunternehmer vermietet worden. – Nach dem Thermidor ging's hier eine Weile toll zu. Da fanden in diesem Pavillon die sogenannten Blutbälle statt. Je nachdem man entweder durchs Schafott oder bei den sonstigen Blutbädern während des Schreckenssystems irgendeinen teueren Verwandten verloren hatte, ging man hier »maskiert«: in der Todesart des Betreffenden gleichsam! Da hatten Damen zur Erinnerung, daß ihre Mütter guillotiniert worden waren, sich einen dünnen roten Streifen sinnig um den Hals geschminkt. Oder Stutzer zum Angedenken daran, daß ihre Väter in der Vendée an einer Kugel oder einem Bajonettstich draufgegangen waren, an ihrem Rock auf der Brust oder auf dem Rücken den blutbesudelten Eintritt des mörderischen Eisens oder Bleis liebevoll markiert. Ja, um's noch deutlicher zu machen, trugen manche Westen aus Menschenhaut, die noch alle Spuren der empfangenen Wunden aufwiesen. Teils war das einfach die fürchterlichste Reaktion auf all das Vorhergegangene, teils aber auch geschah's aus zynischen Rachegefühlen namentlich von seiten der Clychiens, was alles zusammen dann das blutige Gemetzel vor Saint-Roch im Gefolge hatte. – Bis das Konsulat kam und mit ihm ruhigere Zeitläufte und der Friede von Amiens; da dachte zwar die Pariser Gesellschaft erst recht und überhaupt nur noch an Zerstreuungen und Vergnügungen, aber doch nicht mehr in solchem Blutdunst, sondern in einer leichten Wolke duftenden Puders . . .

Das Publikum bei den Bällen im Pavillon de Hanovre bildete die Bourgeoisie, die sich für solch jahrelangen schrecklichen Unbestand nun einmal gründlich entschädigen wollte. Da wetteiferten die Inkroyabeln an Eleganz mit den glänzenden Offizieren der siegreichen Armee. Das drehte sich im Entrechat, Flic-Flac, Jetésbattus, und wie die Tänze alle hießen, und feurig stampften durch den Reigen des Zivils die Helden von Hohenlinden und Marengo. – Auf zehn Uhr ging's, als Bürger und Bürgerin Lerebourg in der großen Galerie im Erdgeschoß auftauchten. Emilie – in einer blendend schönen indischen Musselinrobe, die unterhalb des Busens ein blaßblaues Seidenband gürtete; tief ausgeschnitten und mit einem antiken Kameenkollier; das Haar griechisch geknotet und ein gleichfalls blaßblaues Seidenband durchgeflochten – erregte sogleich allgemeines Aufsehen. Ihr Gatte in blauem Rock, weißer Weste, gamsfarbenen Kniehosen und Stulpenstiefeln – ein einziges Lächeln der Zufriedenheit.

Der Tanz war bereits in vollem Gange. Emilie erspähte sogleich eine Plaudergruppe von Damen ihrer Bekanntschaft. Zwei Elegants um etliche junge Schönheiten herum machten ihr eiligst Platz. Der Mittelpunkt der Gruppe war die reiche Madame Letourneur, deren Gatte der Konkurrent Biennais', des Goldschmieds des Ersten Konsuls war. Ferner die Bürgerin Letellier, die Gemahlin eines bedeutenden Kriegslieferanten, und die Bürgerin Béjarride, deren Gemahl Armeerendant war. Ein glänzender Stab von jungen Offizieren umgab die herrlich blonde und ebenso geistreiche Bürgerin Junot. Endlich Madame Hamelin, die Kreolin, die schöne Häßliche genannt, die soeben am Arm des strahlenden Montrond auf die Gruppe zutrat. In einer Pause zwischen zwei Tänzen leuchteten die marmorweißen Schultern der Madame Tallien aus einem blühenden Dickicht männlicher Bewunderer auf. Aber dann drehte sich der ganze Saal sogleich wieder zu einem frischen Tanz, und die erhabene »Notre-Dame de Thermidor«, wie man sie nannte, war wieder im Gewühl verschwunden. – Dafür rief Herr Lerebourg dann mit einemmal:

»Da! da! der Bürger Leclerc!«

Saint-Régeant, im ganzen Glorienschein seiner Jugend, kam herzu, um Emilie zu begrüßen. Ein ziemlich verdächtig aussehendes, wenn auch glänzend angezogenes Individuum war bei ihm und knurrte ohne weiteres darauf los:

»Na, willst du mich deinen Freunden vielleicht endlich vorstellen, Leclerc?«

Dem jungen – Seidenwarenreisenden blieb also nicht viel anderes übrig:

»Bürger Limoëlan . . . ein Landsmann von mir. Ich traf ihn soeben hier – und das eigentlich höchst unerwartet, denn er huldigt sonst weit eher dem Spiel als dem Tanz . . .«

»Ja, ich bin wirklich rein zufällig hier . . . Nichtsdestoweniger kann ich mir nur dazu gratulieren, da ich ja nun das Glück hatte, Ihre werte Bekanntschaft zu machen, schöne Frau!«

Und zu Lerebourg gewendet:

»Sie müssen nämlich wissen, daß ich mich mit dem Spitzbuben Faypoult hier verabredet habe. Na, Sie kennen doch den Regierungskommissär, der das Königreich Neapel, kaum daß wir es erobert hatten, sofort derart unverschämt ausgeraubt hat . . . und meinen Sie, der Kerl bezahlt mich jetzt? Fällt ihm gar nicht ein!«

»Jaja,« lachte Lerebourg, »nehmen ist seliger als zurückgeben!«

Da spielte die Musik gerade einen deutschen Tanz auf; Saint-Régeant bot Emilien seinen Arm, und die beiden walzten dahin.

»Verflucht nochmal, Bürger Lerebourg –« sprach Limoëlan, »wollen wir nicht etwas raus aus dem Getu'? Kommen Sie mit ans Büfett! Da ist doch etwas Luft und – frische Kühlung!«

Emilie und Saint-Régeant hatten sich durch ein paar Säle durchgetanzt bis hinaus auf eine Galerie, die zu einem Wintergarten hergerichtet war. Dort hielten sie inne. So manches Pärchen flüchtete nach dieser heimlicheren Gegend und unter die exotischen Pflanzen. Hier stand ein runder Brunnen und sein Rand war eine Bank; ein Delphin ließ leise melodische Wasserkünste spielen – hier setzten sich die beiden. Sie waren ganz allein. Saint-Régeant ergriff die Hand Emiliens, und sie wehrte ihm nicht. Er führte die Hand Emiliens an seine Lippen; die junge Frau sprach sehr traurig:

»Sie fahren wirklich morgen schon?«

»Ja. Ich muß. Meine Geschäfte erfordern's.«

»Immer Ihre Geschäfte. Sie haben doch gar keine richtige Beschäftigung.«

»Gewiß. Sehr sogar. Aber ich bin bald wieder zurück.«

»Wann?«

»In acht Tagen.«

Da lächelte Madame Lerebourg wieder.

»Und dann bleiben Sie ganz hier?«

»Ja.«

»Und kommen wieder zu uns hin?«

»Das muß ich schon, weil ich mit Ihrem Herrn Gemahl doch abrechnen muß über die Kommissionen, die er mir mitgibt.«

Doch da scherzte sie schier:

»Sie halten mich wohl für ein rechtes Gänschen? Meinen Sie denn wirklich, ich glaube an Sie als Reiseonkel in Seide und Samt? – Herr Chevalier de Saint-Régeant!«

»Falsch! Ich bin immer noch Victor Leclerc, der Geschäftsfreund des Herrn Lerebourg. Oder glauben Sie, daß mich Ihr Mann als Saint-Régeant jemals eingeladen hätte? Für ihn bin ich wahrhaftig nur der Reiseonkel, der ihm einen Gefallen erwiesen hat, und werde es auch bleiben.«

»Aber für mich sind Sie doch der Herr de Saint-Régeant, und ich weiß bloß nicht, was Sie überhaupt dazu veranlaßt, sich für einen Falschen auszugeben . . . Das riecht sehr verdächtig nach Politik! . . . Also, bitte, bitte, Lieber, versprechen Sie mir, daß Sie Ihr Leben keinem politischen Abenteuer aussetzen!«

»Sie kleine herzige Törin, die Sie sind!« Saint-Résgeant umfaßte sie mit einem solch verliebten Blick, daß sie die Augen niederschlug. »Um Ihnen nah zu sein, ist meine Maskerade! . . . Einzig und allein Ihretwegen!«

»Und diese geheimnisvolle Vermittlung durch Madame Bonaparte, um Sie dem Ersten Konsul vorzustellen, nachdem mein Mann und ich weg waren? . . . Das lass' ich mir doch nicht von Ihnen ausreden! Da ist etwas im Gang!«

»Aber das leugne ich ja auch gar nicht. Ich habe irgendwie mit der Regierung zu tun, ich stehe irgendwie mit Bonaparte in Verbindung . . . Doch das kann Sie doch höchstens beruhigen! Wenn ich derart das Vertrauen des Ersten Konsuls genieße, dann hab' ich doch nichts zu fürchten . . . im geraden Gegenteil!«

»Das ist mir alles viel zu schleierhaft. Gott ja, ich bin ein armes dummes Geschöpf, das nichts davon versteht . . . mich kann man ja leicht täuschen . . .«

»Täuschen? Emilie! Ich – Sie?! Was denken Sie von mir! Ein jedes Wort kommt mir von Herzen . . . ich bete Sie wahrhaftig an!«

»Ich glaube Ihnen ja auch – wenn Sie so sprechen! Weder Ihre Stimme, noch Ihre Augen können lügen! – Und doch ist irgendwo eine List, eine Doppelzüngigkeit, und das macht mir so eine Angst . . .«

»Geliebte! solche Selbstquälerei! . . . Wozu darüber nachgrübeln, welches das Schicksal meines Lebens sein mag! . . . Zwischen uns beiden soll nur die Liebe sein . . . Und wenn eine ganze Welt dagegen aufstünde: mein Herz soll Ihnen gehören! Lassen Sie sich's daran genügen, es ist das Beste, das ich Ihnen zu bieten habe, und seien Sie mir dafür ein bißchen gut –«

Emilie standen die Augen voller Tränen.

»Als ob ich Ihnen nicht schon viel zu gut wäre! Sie haben mich schwach gemacht – ja, Sie! Aber Sie hatten ja auch all meine Jugenderinnerungen zu Bundesgenossen. Als ich Sie sah, war ich mit einemmal wieder daheim, in der Bretagne, bei meinen Eltern, meinen Freunden, bei allem, was ich verloren habe. Sie haben mich mit meinen eigenen Gedanken eingefangen und an Sie gebunden . . . Halten Sie mich nicht für eitel oder gar schlecht, daß ich Sie so schnell erhört habe. Mir konnte bis zu diesem Tag keine noch so feine Schmeichelei etwas anhaben, ich hätte um keinen Preis der Welt meinem Gatten so etwas antun mögen . . . Aber da kamen Sie mir in den Weg. Ein Schicksal. Und ich hatte es bis dahin nie empfunden, so grausam und so süß zugleich . . . Was soll jetzt aus mir werden? Mir gehört ja nichts mehr von mir, es ist ja alles Ihr eigen. So haben Sie, bitte, bitte, Mitleid mit mir und machen Sie mich nicht unglücklich . . .«

»Gott im Himmel! Geliebte Seele!« rief Saint-Régeant. »Ich und ein Leid über Sie bringen! Wo jeder Schlag meines Herzens Ihnen gehört!«

»Nein, nein – Ihnen glaube ich ja! Ihnen vertrau' ich ja! Aber ich sterbe vor Angst, daß Sie in Dinge verwickelt sind –«

»So halten doch auch Sie sich nur an Victor Leclerc! Alles was Sie mir da sagen, bleibt fort, wenn Sie nur ihn kennen . . . Wenn dann Saint-Régeant wirklich etwas passieren sollte, passiert's ihm allein, und Sie haben damit nichts zu tun –«

»Sie verstehen mich nicht! Ich hab' doch nicht soviel Angst für mich als – als für Sie!«

Unter einer hohen Fächerpalme war's, und sie waren schier ganz von ihr verdeckt. Alle Ballmusik – traumhaft fern. Da überflorten sich zwei Augenpaare, und vier Lippen bettelten und bebten einander entgegen. Saint-Régeant zog Emilie zärtlich an sich, und sie schmiegte sich liebevoll an ihn an . . . ein erster Kuß . . . Die junge Frau fand zuerst die Besinnung wieder, und sie entwand sich den Armen Saint-Régeants:

»Wir sind wahnsinnig, glaub' ich! Wir müssen doch wieder in den Saal zurück . . . und, mein Gott! vielleicht sucht man uns bereits!«

Von der andern Seite dieses Treibhauses klang Lachen her. Ein Schwarm junger Offiziere um Madame Hamelin, die mit einem Fächer aus Federn spielte, in deren Mitte ein kleiner Spiegel blitzte. – Saint-Régeant ging mit Emilie am Arm gemächlich an der Gruppe vorüber, und dann mischte sich das Paar wieder unter die Tanzenden. Herr Lerebourg saß mit Freunden und plauderte friedlich. Als er seiner Frau ansichtig wurde, erkundigte er sich vergnügt:

»Habt ihr fleißig getanzt?«

»Ja. Und durch die ganzen Säle durchpromeniert.«

Saint-Régeant verneigte sich vor Emilie und hielt sich dann absichtlich etwas abseits. Aber er mußte doch immer wieder zu ihr hinübersehen und war ganz berauscht von ihrer Lieblichkeit und Schönheit. Was war das für ein ungeheuerer Gegensatz: die schwarzen, blutigen Gedanken, die er in seinem Hirn wälzte – und der süße Liebestraum, der in sein Herz eingezogen war! Und gerade wie um es ihm noch erschreckender und wirklicher vor seine Augen hinzumalen, tauchte nun wieder die scheußliche Fratze dieses sogenannten Limoëlan auf. Einen Augenblick war es ihm, als müßte er zwischen der entzückenden Geliebten und diesem Parteigenossen auf der Stelle wählen, und er fuhr sich unwillkürlich mit der Hand über die Stirn, so entsetzlich klar ward ihm die fürchterliche Alternative. Aber dann gab es für ihn auch schon wieder kein Überlegen mehr, er verbeugte sich noch einmal vor Emilie, schob seinen Arm in den Limoëlans und ging mit diesem fort. – Der Saal mit dem Büfett war fast leer. Sie nahmen an einem Marmortischchen Platz und bestellten zwei Bavaroises. Die Büfettdame war in eifriger Unterhaltung mit einem kleinen greisenhaften, sehr gepuderten Männchen – demselben, der in der »Blauen Mütze« den Damen Hermance und Zoé immer so artige Dinge zu sagen verstand. Er schien von den beiden Gästen übrigens keinerlei Notiz zu nehmen, wandte ihnen ganz ungeniert den Rücken zu und raspelte sein Süßholz mit der Kassiererin weiter. – Währenddem sprach Limoëlan zu Saint-Régeant mit Flüsterstimme:

»Ich hab' heut abend Georges abgeschubst. Picot und ich haben ihn erst bis nach Montrouge begleitet, und von da fuhr er mit der Post weiter . . . In vier Tagen ist er in Vannes. Nun hast du nur noch Carbon und mich da. Zu deinem Befehl, heißt das. Aber, sag', was willst du eigentlich machen?«

»Vorläufig – nichts. Wir müssen uns nur hübsch dünne machen. Verschwinden. Die Polizei ist uns auf der Spur . . . Lavernières, dem Coster sich so sehr zu Dank verpflichtet glaubte, ist es beinah gelungen, in unser Geheimkomitee einzudringen – nun hat ihn Valoris entlarvt. Der Kerl war ein Agent von Fouché, und als solcher übrigens einer, der der Polizei des Ersten Konsuls sowohl wie der des Präfekten Dubois gerade entgegengearbeitet hat . . . Unter dieser Maske Laverniéres verbarg sich ein gewisser Férussac, der im Süden spioniert hat. Und sehr wahrscheinlich verbirgt sich hinter diesem Férussac noch ein ganz anderer Spitzel. Lauter Masken, sag' ich dir . . . Wir haben also Grund genug, der ganzen Welt zu mißtrauen, und wenn wir uns etwa schreiben – nur unter falschem Namen, hörst du?«

»Donnerwetter – verbrichst du da aber neuartige Ratschläge! . . . Mein lieber Freund, mißtraue lieber etwas weniger der Polizei – und desto mehr aber der Liebe, das sag' ich dir, so ein Weibstück ist noch neugieriger als ein Spion. Das sind die gefährlichsten. Also nimm dich bloß in acht . . .«

»Wie kommst du darauf?«

»Ganz einfach: ich hab' dich heute abend mit einer reizenden, ja geradezu verführerischen Bürgerin zusammen gesehen!«

»Das ist eine Bretagnerin so gut wie wir. Aus altem Adel. Untauglich schlechterdings zu irgendeinem Verrat.«

»Da haben wir's ja. Das oberste Gesetz eines jeden Verschwörers soll sein: trau' schau wem! Und einem Frauenzimmer schon gar nicht! . . . Das hat schon Stammvater Adam damals eingesehen, daß nur die Eva das Luderchen war. Und all unsere Parteiführer, die sich mit Frauen eingelassen haben, sind vor die Hunde gegangen. Also laß dir's gesagt sein, mein lieber Freund, entweder brich mit dem reizenden Wesen oder laß die Finger von der Politik und widme dich ausschließlich der süßen Liebe.«

»Da brauchst du bei mir gar keine Angst zu haben. Gar keine! Übrigens fahr' ich morgen von hier fort. Mit Befehlen von den Prinzen an die Royalistenkomitees des Südens; da kann doch von keiner Liebe die Rede sein. Außer dir weiß kein Mensch, zu welchem Zweck ich eigentlich reise . . . Der Herr Lerebourg glaubt absolut, ich reise für ihn in Seide und Samt nach Lyon . . . da möcht' ich denn doch die Spürnase sehn, die bei meinen Besuchen da unten auch nur das leiseste finden könnte. Denn ich werde wirklich nur Fabrikanten aufsuchen . . . so, und nun gehen wir. Ich treffe mich in meinem Gasthaus nämlich noch mit Carbon.«

Saint-Régeant stand auf. Limoëlan klopfte mit einer Silbermünze mehrmals auf die Marmorplatte und zahlte.

»Ich kann dich ja bis zum Roten Löwen begleiten.«

»Wenn du willst. Ich verabschiede mich nur noch bei Madame Lerebourg und bin gleich wieder da.«

Sie gingen nach dem Tanzsaal zurück und steuerten auf die Gruppe zu, in deren Mitte Emilie residierte. Oberst Dorsenne, einer der ausgezeichnetsten Offiziere der ganzen Armee, bemühte sich in liebenswürdigster Weise um sie; aber die Stirn der schönen Kaufmannsgattin war und blieb bewölkt, und die Schatten lichteten sich erst, als Saint-Régeant wieder auftauchte. – Oberst Dorsenne maß den Störenfried ziemlich von oben herab, aber da traf ihn ein so fester freier Blick aus den hellen Augen Saint-Régeants, daß er lieber doch nicht mit ihm anbandelte.

»Ich möchte mich von Ihnen verabschieden, Bürger Lerebourg, und auch Ihnen, Bürgerin, für einige Zeit Lebewohl sagen,« wandte Saint-Régeant sich an Emilie. »Sowie ich wieder zurück bin, werde ich mir sogleich die Freiheit nehmen, Sie wieder aufzusuchen, um so mehr, als ich mit Ihrem Gemahl dann abzurechnen habe.«

»Schreiben Sie mir nur sofort von Lyon Ihre Adresse,« sprach Lerebourg. »Für den Fall, daß ich Sie um noch etwas zu bitten oder auch noch ein neues Geschäft für Sie hätte.«

»Aber selbstverständlich.«

Er tauschte einen Händedruck mit dem Gatten. Der Gemahlin aber küßte er die Hand – und zwar mit einer fast allzu aristokratischen Anmut. So daß, als er fort war, Dorsenne sich nicht enthalten konnte zu sagen:

»Diese Ladenjünglinge nehmen sich neuerdings Manieren heraus – als ob sie hohe Herren aus dem ancien régime wären.«

»Das ist nun schon einmal so, Herr Oberst,« bemerkte Lerebourg. »Alles ist umgekehrt. Die kleinen Leute spielen sich als große Herren auf, und die allerbedeutendsten Männer sehen beinah' nach nichts aus.«

»Donnerwetter ja! Aber wir werden die Dinge schon jedes wieder an seinen ordentlichen Platz stellen; verlassen Sie sich darauf!« Der Oberst hatte Locken in die Stirn frisiert wie eine Frau. »Und zwar durch unsern Waffenruhm! Nämlich, Bürger Lerebourg, ein Erster Konsul, das ist gut, aber noch zu wenig. Entweder Konsul auf Lebenszeit oder gar – Kaiser!«

»Pst! Nicht so laut, werter Herr Oberst!« mahnte Lerebourg mit einiger Besorgnis. »Wenn Sie wer hörte!«

»Wenn mich wer hörte? Ach, Sie meinen, daß jemand was dagegen haben könnte? Dieser Jakobiner Moreau oder jener Royalist Pichegru vielleicht? Da pfeif' ich drauf! Wir sind in der Armee dreißigtausend solcher Burschen wie ich, und all die dreißigtausend schreien lieber heut als morgen laut aus, was ich Ihnen soeben im Vertrauen gesagt habe. Ich mein', man hätt' es im Brumaire gesehen, daß wir uns von den Advokatenmännchen nichts bieten lassen! Diese Schwärmer soll überhaupt alle miteinander der Teufel holen! Was brauchen wir uns lange den Kopf zerbrechen: Bonaparte heißt die Losung! Basta!«

Der Oberst sprang auf, schlug die Hacken zusammen und verneigte sich vor Emilie:

»Reizende Dame, würden Sie mir die hohe Ehre erweisen und diesen Kontertanz mit mir tanzen?«

»Ich danke Ihnen bestens, Herr Oberst – aber ich bin müde und ich denk', wir wollen gehen . . .«

»Freilich! Seit dieser Geck gegangen ist,« knirschte Dorsenne zwischen den Zähnen, »gefällt's Madame auch nicht mehr! Na, und ihr Gatte, das ist . . . 'n Esel!«

Er empfahl sich Madame Lerebourg und – ging wo anders auf Eroberungen aus.


Saint-Régeant und Limoëlan gingen zusammen durch die Rue de Port-Mahon; als sie aber in die Rue Saint-Augustin kamen und von da in das Gäßchengewirr der Butte des Moulins hinein wollten, sah Saint-Régeant sich verstohlen um und sagte dann leise zu seinem Begleiter:

»Wir werden verfolgt. Schau nicht um und laß dir überhaupt nichts anmerken, aber komm ein bißchen rascher.«

Sie waren ja beide junge gelenkige Leute; so rannten sie nun an die hundert Schritt und befanden sich damit auch schon längst außer Hörweite ihres Verfolgers. Darauf bogen sie jäh in die Rue Sainte-Anne ein, versteckten sich da im Schatten eines tiefen Haustores – und kaum zwei Minuten später kam ihnen jemand schnell nachgegangen und eilte an ihnen vorüber, ohne sie gesehen zu haben.

»Wir haben wirklich all und jede Vorsicht nötig,« meinte Limoëlan. »Und du tätest auch klüger, wenn du überhaupt nicht mehr nach dem Roten Löwen hingingst. Wir haben die Polizei auf dem Rücken . . . Wenn ich bloß wüßte, welche!«

»Nur die des verfluchten Fouché! Weil all unsere Freunde, ja selbst die Prinzen sich in Vertraulichkeiten mit diesem Hund einlassen! Er sieht nämlich schon derart verräterisch aus, daß man ihm unwillkürlich zutraut, er könne einem selber nur wieder auch was verraten! Dabei arbeitet der Kerl einzig in seine eigene Tasche. Sollte mich übrigens sehr wundern, wenn der nicht eines schönen Tages doch noch vor einer Mauer und mit einem Dutzend Kugeln in den Gedärmen endigt! Der Erste Konsul verabscheut ihn geradezu . . .«

»Der Renegat! Der Königsmörder! Der infamste von allen!«

»Ein scheußlicher Patron – ja! Und dabei hat er alle für sich!«

»Man liebt ihn sogar!«

»Es findet eben ein jeder Topf seinen Deckel!«

Währenddem waren sie vor den Tuilerien an der Rue Saint-Nicaise angekommen.

»Sieh dir mal ein bißchen die Lage an,« sprach Saint-Régeant. »Hier muß Bonaparte immer vorüber, wenn er aus den Tuilerien kommt. Wenn da einmal ein entschlossener Mann an der Ecke der Rue de Rohan etwa in einem Hinterhalt steht und auf den Wagen des Ersten Konsuls abdrückt – doch eigentlich eine Kleinigkeit! Und wenn der Mann gar eine ordentliche Waffe so'n bißchen mit Splitter und Hagel hätte, eine Blunderbüchse mit Kugeln gepfropft zum Beispiel . . . na, was sagst du dazu?«

»Die Idee ist nicht so übel.«

»Sowie ich von der Reise zurück bin, sprechen wir uns darüber nochmal, mein Lieber. Du könntest bis dahin übrigens ein paarmal hier vorbeikommen und bereits etwas die Entfernungen berechnen, die Umgebung studieren, die kleinen Läden hier ausforschen und auch gleich ein wenig zusehen, ob hier vielleicht möblierte Zimmer zu vermieten sind . . . Man soll nichts außer acht lassen und alles vorher ein wenig berechnen, wenn man vielleicht sein Leben aufs Spiel setzt, um einen so fürchterlichen Feind unschädlich zu machen . . .«

»Selbstverständlich!« antwortete Limoëlan. »Verlaß dich nur auf mich. Übrigens, hier trennen wir uns wohl, und deine Befehle weiß ich ja nun, und weiter ist ja wohl nichts mehr nötig.«

Ein Händedruck – und Saint-Régeant schlug die Richtung nach dem Palais-Royal ein, während Limoëlan in dem Irrgarten der kleinen Gassen und Gäßchen verschwand. Kaum aber daß sie sich getrennt hatten, löste sich sachte ein Schatten von der Häuserwand los und im Schein einer Straßenlaterne war's – der Lebegreis aus dem Pavillon de Hanovre und der schäkernde Kunde der Fräuleins Hermance und Zoé. Er sah dem davongehenden Saint-Régeant nach und murmelte:

»Was mögen die bloß geredet haben, während sie den Platz so sehr beaugenscheinigten? Das ist sehr unangenehm, daß ich sie nicht deutlich verstehen konnte!«

Er folgte Saint-Régeant in einer Entfernung von hundert Schritt. Aber nun war das Verfolgen leicht, denn der junge Mann suchte keinerlei Deckung mehr, sondern ging geradeaus nach der Rue de l'Arbre Sec nach Hause. Zwei Uhr morgens war's, als er im Roten Löwen ankam. Das Haus lag dunkel und still da. Saint-Régeant trat beim Hausknecht ein; der schlief auf seinen Fäusten als Kissen, die halb heruntergeschraubte Lampe neben sich. Saint-Régeant ließ ihn auch ruhig schlafen, nahm nur einen Schlüssel und Handleuchter und ging hinauf.

Der gepuderte Lebegreis, der sicher war, ihn morgen in der Früh' da wieder anzutreffen, wo er ihn heut verließ – nämlich vorm Roten Löwen – ging nun gleichfalls nach Haus. Die Rue de l'Arbre-Sec hinab bis zum Kai, über den Pont-Neuf und den Platz Dauphine nach einem Haus, das einem ganz gewissen Braconneau gehörte. Da schminkte er sich in seiner Schauspielergarderobe erst einmal ordentlich ab, hing die ganze Rolle an den bestimmten Haken und ward nun endlich einmal er selber. Ging ins Speisezimmer, kramte im Büfett, fand etwas Kalbsbraten, Brot, leistete sich eine Flasche Wein und nachtmahlte so beschaulich wie ein Bürger, der aus dem Theater nach Hause kommt. Dann holte er sich eine Pfeife und pflanzte sich gedankenvoll, wie es schien, in einen Lehnstuhl; und nach einer Viertelstunde ungefähr, nachdem er die Pfeife ausgeraucht hatte, sprach er:

»Genug für heute. Morgen seh' ich vielleicht schon klarer.«

Er suchte sein Schlafzimmer auf und legte sich nieder. – Mit dem ersten Morgengrauen aber tat er, so wie er es gewohnt war, schon wieder die Augen auf. Sprang aus dem Bett, zog die Jalousien hoch und bot dem schmeichlerischen Frühwind sein mageres, braunes, wahres Gesicht dar, von dem sich so wenige Leute rühmen konnten, es jemals gesehen zu haben. Dann wieder in sein An- und Verkleidekabinett, und binnen einer Stunde war er neu jener Bourgeois mit hochrotem Gesicht und roten Haaren, vierschrötig und munter zugleich, wie er sich meist dem Polizeiminister präsentierte. Er ging durch das Speisezimmer nach dem Korridor und äugte durch einen heimlichen Spalt zur Tür hinaus, ob niemand auf der Treppe sei. Alles leer und ruhig. So verließ er das Haus und strebte hurtig dem Roten Löwen zu. Trat da ins Privatkontor des Gasthofsbesitzers und erkundigte sich mit stark provençalischem Akzent:

»Der Bürger Leclerc da? Nein?«

»Der Bürger Leclerc wohnt nicht mehr hier.«

»Nanu! Seit wann?«

»Seit heute.«

»Ausgezogen. Ja?«

»Abgereist.«

»Abgereist? Wohin!«

»Nach Lyon. In Geschäften.«

»Und wann will er wiederkommen?«

»Das hat er nicht gesagt. Aber das kann lange dauern. Er hat jedenfalls seine Rechnung bezahlt und seine ganzen Sachen mitgenommen.«

»Wie kann ich ihn nun bloß erreichen?«

»Indem Sie ihm hierher schreiben. Die Briefe werden ihm nach Lyon nachgeschickt.«

»Sie haben also die Adresse? Ja?«

»Gewiß. Aber ich darf sie niemand sagen. Seiner Gläubiger wegen.«

»Ui – der Schuft!«

»Was heißt da Schuft? Solange man jung ist, Bürger, und aufs Vergnügen aus, gibt man leicht mehr aus als man hat. Und da heißt's dann: Geldverleiher.«

»Aber hören Sie: ich bin keiner von der Sorte. Mir können Sie also dreist –«

»Ich glaube es Ihnen aufs Wort, aber – ich habe meine Befehle.«

»So. So so! Alsdann werde ich ihm eben schreiben. Auf Wiedersehen, Bürger.«

Damit ging er. Aber er war denn doch einigermaßen baff. Daß ihm Saint-Régeant mit einer solchen Schnelligkeit entwischte, mußte ihm der sicherste Beweis dafür sein, daß der junge Mann sehr wohl auf seiner Hut war. Valoris – kein Zweifel – hatte ihn gewarnt. Indes wenn die Royalisten nun auch Lavernières zur Genüge kannten, so kannten sie doch nicht Braconneau! Und in seiner neuen Maske hatte der Fouchésche Agent keine Angst vorm Entdecktwerden . . . Er schlenderte also durch ein paar Straßen und hielt sich in einem fort sein eigenes schauderöses Pech vor – und vergaß aber dabei doch nicht, die Augen beständig auf der Lauer zu halten, da er ja – so wie jeder tüchtige Polizeimensch es muß – auf irgendeinen glücklichen Zufall rechnete. Und als ob ihn ein geheimer Instinkt dabei geleitet hätte, stand er mit einemmal vor der großen Posthalterei, wo gerade eine Diligence fertig zum Abfahren war. Das ganze Gepäck bereits aufgeladen, und die Passagiere mitten im Abschiednehmen, Grüßeausrichten, Sichempfehlenlassen und Küssetauschen. Der Beamte, der die Abfahrt leitete, rief soeben: »Bürger Leclerc!« Und da niemand antwortete, ein zweites Mal: »Ist der Bürger Leclerc nicht da?« Endlich antwortete eine Stimme aus dem Wagen: »Hier ist er ja! Er sitzt bereits!« »Meinetwegen –« brummte der Beamte mit der Passagierliste, »aber eigentlich sollte keiner Platz nehmen, bis ich ihn aufgerufen habe! Die zuerst Eingeschriebenen haben die Wahl der Plätze –«

»Aber Sie hören doch, daß sich kein Mensch darüber aufhält als nur Sie selber!« wieder die Stimme aus dem Wagen.

Der Beamte wandte sich an den Postillion und ging mit diesem das Frachtgut und das Gepäck durch; da fühlte er, wie ihn wer am Rockärmel zupfte. Er drehte sich um und sah einen rotgesichtigen Biedermann, der sehr gut aufgelegt zu sein schien.

»Sie wünschen, Bürger?«

»Na, ein Plätzchen wünscht' ich halt . . . Wenn vielleicht noch vorn eins frei wär' . . .«

»Wohin?«

»Nach Chalon.«

»Ein Platz neben dem Postillion ist noch frei.«

»Also, den nehm' ich!«

»Auf welchen Namen?«

»Evariste Neufmoulin, Weinreisender, Rue Saint-Victor 17 . . .«

»Steigen Sie auf . . . Aber haben Sie kein Gepäck?«

»Das folgt nach!«

Behende schwang sich der Polizist unter Zuhilfenahme des Lederriemens, der eigens zum Aufsteigen da war, auf seinen hohen Sitzplatz hinauf. Ein Blick dabei ins Innere der Kutsche sagte ihm: Saint-Régeant war da; saß in der einen Ecke an der Tür. Darauf dankte er dem Gott aller Polizeispitzel, der ihn die Spur doch hatte wieder finden lassen, und ahmte von seinem hohen Sitz täuschend das Abschiedsstückchen eines Posthorns nach.

»Na, Sie sind mir schon der Rechte!« schrie der Postillion und lachte laut, kam gleichfalls nun heraufgeklettert und griff zum Horn und blies sein Liedel eigentlich nicht viel schallender als es vordem schon der Tausendkünstler Evariste Neufmoulin ohne jeden Apparat getan.

Der unförmige Kasten setzte sich rumpelnd in Bewegung.

Saint-Régeant saß neben einer alten Dame und einem Infanterieoffizier gegenüber. Er hatte natürlich keine Ahnung, daß ihm in letzter Minute doch noch ein Fouchéscher Geheimer mit auf die Reise gegeben war. Er sah vielmehr mit geschlossenen Augen in einer Art Halbschlaf – immer nur das Bild der schönen Madame Lerebourg vor seiner Seele. Und war recht traurig und betrübt, die, die er liebte, in dem Augenblick verlassen zu müssen, in dem es doch das Süßeste der Welt gewesen wär, ihr nahe zu sein und zu bleiben. Denn er liebte sie. Liebte sie, schon seit ihn das erstemal ein rein politisches Interesse in ihr Haus geführt hatte. Er war ja wohl zuerst als Verschwörer hingegangen, der seine Beziehungen zum Haus Lerebourg nur für seine Intrigen ausnützen wollte. Aber er hatte sich auf der Stelle verliebt und sah all sein Glück nur noch in der vergötterten Frau vereinigt. Er fühlte sich sogleich nicht nur durch ihre Schönheit zu ihr hingezogen, sondern ebensosehr durch gemeinsame Abstammung und mächtige Bande des gleichen Blutes. Sie war so wie er vom Adel, und ja sogar ein und dasselbe politische Glaubensbekenntnis hatten sie. Ihr war das revolutionäre Regime, das sich durch Bonaparte nur einigermaßen leidlich gestaltet hatte und woran nun die Laxheit der Mehrzahl der Franzosen ein Genügen fand, ebenfalls noch lange nicht gut genug – im Vergleich mit der einstigen Monarchie. Sie hatte die Greueltaten eines Carrier in Nantes gleichfalls nicht vergessen! denn wer vergäße so etwas je? Sie hatte Mord und Tod und Krieg und Laster mit ihren eigenen Augen mit angesehen – und um nur aus der bedrohlichen Nähe all der Schrecken fortzukommen, dem Bürger Lerebourg ihre Hand und ihr Jawort gegeben! Sie teilte von Kind an die Meinungen dieses ihres Landsmannes, den ihr der Zufall über den Weg geschickt hatte – was Wunder, daß sie nun auch seine Liebe teilte! Sie hätte es ihm auch gar nicht zu verbergen vermocht; er wußte es ohnehin, daß er der völlige Herr über all ihre Gedanken war . . . So mußte er es auch wissen, daß, wie er nun in dieser fünfspännigen Diligence am frühen Morgen zum Tor hinausfuhr, eine in ihrer Kammer in der Rue Saint-Honoré an ihn dachte . . .

Und er verharrte gern so – in dieser leichten, dunkellichten, bittersüßen Schlaftrunkenheit – bis Villeneuve-Saint-Georges. Da aber ging der Weg mit einemmal lang – steil hinauf, und die Fahrt verlangsamte sich sehr. Der Postillion war bereits abgestiegen, um es den Rossen leichter zu machen, und selbstverständlich auch Evariste Neufmoulin. Nun drückten auch die Reisenden im Innern des Wagens die Absicht aus, sich die Beine etwas zu vertreten, und wie das Gefährt wieder einmal hielt, um die Pferde etwas verschnaufen zu lassen, sprangen auch der Offizier und Saint-Régeant ab. Die Straße war staubig, indes die Luft war frisch, und am blauen Himmel weideten Lämmerwölkchen. So ging sich's angenehm neben dem Fahrweg her, ein wenig im Gras. Der Weinreisende erklärte:

»Bis wir da oben auf dem Berg sind, werden wir einen netten Hunger haben . . . Das ist der Gesundheit nicht gerade zuträglich, soviel Morgenluft auf den nüchternen Magen . . . Eine gute Tasse Kaffee, denk' ich, und ein paar belegte Brötchen könnten wir uns bei der nächsten Umspann schon leisten, was?«

»Ein Viertelstündchen noch,« meinte der Postillion.

»Na, dann ist's recht!«

»Das Mittagessen können Sie in Melun haben!«

»Ja, aber eh wir nach Melun kommen, müssen wir doch erst noch über Lieursaint, wo vor drei Jahren die Lyoner Post überfallen wurde!«

»Sie brauchen keine Angst zu haben,« sprach der Offizier. »Wenn sich von dem Gesindel einer zu zeigen wagt, kann er was erleben! Ich hab' nicht umsonst meine Pistolen bei mir!«

»Verflucht noch eins! Hoffentlich sind sie nicht geladen?« rief Neufmoulin mit allen Anzeichen der Angst. »Ich kenne nichts Beunruhigenderes für die armen Mitreisenden und nichts Ungefährlicheres für die Herren Diebe als gerade sowas!«

»Haben Sie einen Zweifel an meiner Courage?« schrie der Offizier und rollte fürchterlich mit den Augen.

»I wo! Ich denke gar nicht dran! Aber wenn so ein Schießeisen losgeht, geht's meistens dahin, wohin es nicht soll . . . Und wenn die Herren Wegelagerer uns etwa im Sénarter Wald gerade angreifen, dann verstehen sie in solchen Dingen am allerwenigsten einen Spaß!«

»Dann verteidigt man sich eben bis zum Tod!«

»Postillion!« schrie Neufmoulin, »Sie müssen den Herrn auf der Stelle entwaffnen! Denn ich seh' schon, der ist imstande und schießt wirklich! Sich verteidigen! Ja, denken Sie denn im Ernst an sowas? Ich appelliere in diesem Falle an alle die Herren Mitreisenden!«

Und er wandte sich mit diesen Worten so unmittelbar und ausgerechnet an Saint-Régeant, daß dem nichts anderes übrig blieb, als ihm zu antworten:

»Der Herr ist Offizier. Und was er sagt und auch tun will, zeugt höchstens von seiner Tapferkeit. Ich bin ganz der Meinung wie der Herr.«

»Das heißt mit andern Worten: aber ich bin ein Feigling – nicht?«

»Mein lieber Herr,« versetzte Saint-Régeant gelassen. »Ich will damit gar nichts Ähnliches behauptet haben . . . Sie fragten mich; nun gut – ich habe Ihnen geantwortet . . . Im allgemeinen ist mir diese ganze Unterhaltung lästig; sie interessiert mich nicht im mindesten . . .«

»Na, na, fressen Sie mich nur nicht gleich bei lebendigem Leibe auf . . . oder darf ich mir zuvor doch noch die Frage erlauben: Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?«

»Das dürfte kein großes Geheimnis sein. Mein Name steht auf der Liste; also fragen Sie gefälligst den Postillion. Oder wenn Sie's gar nicht länger mehr erwarten können: Victor Leclerc. Reisender. Seide und Samt.«

»Das ist ja ausgezeichnet!« schrie Neufmoulin. »Dann sind wir ja Kollegen! Nämlich ich bin Weinreisender. Also nichts für ungut, Bürger! Ich bin man zuweilen etwas aufgeregt, das geb' ich gerne zu, aber sonst bin ich eine Seele von einem Menschen –«

Er bot seine breite Rechte: Saint-Régeant legte kaum zwei Finger hinein . . .

»Aber nun scheint's an der Zeit, wieder ein bißchen aufzusitzen! . . . Hupp – la! . . . Und nun, mein lieber Freund und Gönner Postillion, etwas Trab, wenn ich bitten darf! Trätätätä tätä tätä!«

Und er ahmte mit seinen Lippen wieder das Posthorn nach. – In Villeneuve spielte Neufmoulin den Damen gegenüber den Kavalier und wollte es sich absolut nicht nehmen lassen, die belegten ›Bröter‹, wie er sagte, für die ganze Reisegesellschaft zu ›schmeißen‹. Er schien überhaupt ein Biedermann, etwas zudringlich zwar, doch nicht gerade unangenehm. Saint-Régeant aber wollte er um jeden Preis zu sich vorne auf den Kutschbock haben:

»Die Landschaft, so vom Juchhe aus gesehen, ist einfach wunderbar – glauben Sie mir's doch!«

Indes, der junge Mann lehnte – wenn auch immer höflich – ab. Er hätte während der Fahrt noch mit seinen Notizbüchern zu tun und würde gewiß bis Montereau damit nicht fertig. Doch in Melun bereits beim Mittag wurde er von der Heiterkeit dieses ulkigen Hauses angesteckt, und als es auf die Nacht zuging, waren es die im Wagen Sitzenden ihrerseits (und nicht zuletzt auch Saint-Régeant), die dem Weinreisenden vor der Kälte der Nacht nun ein Plätzchen bei sich anboten. Neufmoulin nahm das auch gerne an und setzte sich zwischen die alte Dame und Saint-Régeant, denn die wären beide ohnehin so dünn, und so kam man ohne Unfall bis Chalon. Von dort fuhren Neufmoulin und Saint-Régeant per Schiff weiter, und als sie erst gar in Lyon anlangten, waren sie – allem Anschein nach – die besten Freunde von der Welt.

 


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