Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Jedenfalls ist die Montagsgesellschaft nicht schuld daran, daß das Buch nicht begonnen wird.
Die Gutsbesitzer der nächsten Nähe kannte Herr Röhrle, und hier war keine junge Dame tätig, weiter hinaus in das flache Land war er ohne Beziehungen. An der einzigen Schule in Au im Winkel war nur eine Lehrerin, die Handarbeitslehrerin, eine Witwe. Aber wie gut, daß Viktor gerade zur Montagsgesellschaft gekommen ist, als Gast ihn einzuführen ist eine Kleinigkeit. Dort war gewiß jemand zu finden, vielleicht der Herr Major, ein großer Jäger, der fernhin alle Wälder, alle Riedbrüche und alle Menschen kannte. Da werde ich auch erfahren, wo das alles hinauswill, dachte Ernst und zwinkerte mit den Augen.
Von dem alten Fräulein bis an die Hinkelsgasse begleitet zu einem Abschiede von Viktor, der nicht lange dauern sollte, und von Ernst »hoffentlich nicht für immer,« wie beide sagten, suchten die drei ihren Weg durch das alte, giebelreiche, für diese jungen Augen malerisch unvergleichlich herrliche Städtchen zum »Rappen«. Auf dem Marktplatze mit seinem rauschenden Brunnen und dem alten Steinbilde der Justitia über den sprudelnden Röhren stutzten beide Freunde vor einem mächtigen blauen Firmenschilde mit großen goldnen Buchstaben: Kilian Fürchtegott Kibitz. Röhrle entging der Eindruck nicht, den dieser Name auf die beiden jungen Männer machte, und er sagte: »Sie kennen den Namen gewiß von Allgäuers Haus in Haßlach her. Das ist sein Bruder hier, unser größter Kaufmann (in Gedanken vollendete er den Satz: und einziger Wucherer).« Viktor bejahte einfach, Ernst aber sagte: »Den Haßlacher Kibitz kennen wir, sehen Sie seinem Bruder hier auf die Finger, er trägt Ihnen sonst diese schönen, alten Häuser ab, um Au im Winkel zu ›heben‹!« Röhrle schwieg, er kannte die Brüder.
Der »Rappen« war bald erreicht – ein Haus, wie es in Au aussehen mußte: eine spitzbogige Tür und steinerne Wendeltreppen und uralte Holzvertäfelungen. »Zum Bücherschreiben,« sagte Ernst, als die Freunde hinter dem Wirt, einem Bacchus in gesticktem Wams und mit einer grünen Quastenmütze, die Treppe hinaufstiegen in das Zimmer, das sich Viktor für die Nacht nahm. Bis die Bürste das ihre getan hatte, war die Montagsgesellschaft vollzählig versammelt, um das zu tun, was sie schon unzählige Montage getan hatte, einen Vortrag anzuhören oder die Ernteaussichten zu erwägen, die teils an die so hinfällige Apfelblüte, teils an die Sonnen- und Regenaussichten für die Weinberge verknüpft waren, oder zu kegeln. Als die Freunde kamen und der einführende Präzeptor seines Amtes waltete, hörte man alle wissenswerten Namen und hörte sie nicht, die Montagsgesellschaft verbeugte sich vor einem jungen Manne, in dessen Namen ein a vorkam, und verbeugte sich vor einem i, und a und i hörten unerhörte Laute und lernten innerhalb der nächsten zwei Stunden, daß die Träger dieser unverständlichen Familiennamen ein Herr Major in Pension waren – Viktor namentlich begrüßte die Anwesenheit dieses Mitgliedes mit großer innerer Beruhigung – und ein Herr Oberpfarrer, ein behaglich-ernster Mann, und ein Kammerrat Käslein, vermutlich hochfürstlich Au-im-Winkelischer Kammerrat, und ein Herr Fabricius, der offenbar ganz vortrefflich ohne Titel auskam und wie ein Fabrikant oder Weingutsbesitzer aussah und rheinischen Accent hatte, und endlich ein Oberpräzeptor Amthauer vom Pädagogium, ein lebendiger Herr, an Kleiderweite und weltlicher Sicherheit Röhrles Gegenfüßler, in allem andern sein gutgesinnter Kollege, ein großer Schnupfer, dessen Dose im Gegensatz zu ihrem behäbigen Herrn das Reisefieber hatte, denn sie wanderte fast unaufhörlich.
Es war schon vor Eintritt der Fremden ein Gespräch im Gange gewesen, dessen Gegenstand offenbar alle Herren sehr interessierte, denn man fuhr darin fort, sobald die Plätze alle wieder eingenommen waren, ohne übrigens die drei neuen Ankömmlinge über den Gegenstand zu unterrichten.
»Nun ist er den Kibitzkrallen entronnen,« sagte der Mojor, »ich habe es von ihm selbst, das Gut ist nun wieder frei, und alles in schönster Ordnung. Ich bin froh für alle, für ihn und seine Kinder. Und alles aus eigner Kraft – Respekt davor!«
»Wie kam er nur an diesen Kibitz?« fragte der Kammerrat.
»Ja, wie machen's die Leute, wenn ihnen das Wasser bis an die Kehle steigt?« sagte Fabricius; »zu ihren Freunden kommen sie nicht!«
»Für die Gemütsart dieses hinterhältigen Gesellen ist eine Geschichte aus seiner Jugend ganz bezeichnend,« warf Amthauer ein, und fuhr dann sehr bereitwillig fort, als er merkte, daß man ihm gern zuhören werde. »Mein Schwiegervater hat sie mit ihm erlebt, bei ihm war nämlich Kibitz als Lehrling. Nun – mein Schwiegervater hatte kleine Liebhabereien, er war so was von einem Original, er hatte sich über seinem Magazin ein flaches Dach anlegen lassen – Dächer, Schornsteine, Rauch und Rußregen, soviel man wünschte, natürlich. Aber er freute sich an seiner Wand von Feuerbohnen und dem wilden Wein, der sich redliche Mühe gab, ohne es weit zu bringen. Die meiste Freude aber hatte der alte Herr an einem Springbrunnen. Das Reservoir ward oder wird noch heute von dem Brunnen unten im Hofe gespeist; man stellt den Wasserlauf unten ab, und dann steigt beim Pumpen das Wasser in einer Blechröhre bis in den dritten Stock in das Reservoir. Einmal also will der Schwiegervater wieder seine Freude an der Wasserkunst haben, unten pumpt die gute Mutter, er selbst ist oben in einem kleinen Zimmer, von dem aus man unmittelbar das Dach betreten konnte. Er merkt, daß kein Wasser in das Reservoir läuft, aber auch keins unten in den Trog, dagegen sieht er den Kibitz auf dem Gange des ersten Stocks in den Hof hinunterschauen und wie ein Rumpelstilzchen händereibend von einem Fuß auf den andern tanzen und vor sich hinkrähen: ›Pumpe nur! pumpe nur!‹ Der Heimtücker hatte oben abgestellt. Nun, was nachher geschah, weiß der Kibitz heute noch – wenn es ginge, möchte er mir jeden Schlag zurückgeben, den er damals bekommen hat – aber es geht nicht,« schloß Amthauer und schnupfte sehr hörbar.
»Das sieht diesem Kilian Fürchtegott sehr ähnlich,« sagte Fabricius. »Nun, diesmal hat er sein Opfer unerwartet früh freilassen müssen: da hat alles gearbeitet in dem Hause nach dem Grundsatz: Arbeit ist das reinlichste Geschäft. Da gab es keine Vornehmtuerei, die Söhne haben angegriffen, selbst die Tochter hat geholfen und ist zwei Jahre Erzieherin in Marienborn gewesen.«
»Und er ist die Frömmigkeit, die Klarheit und die Arbeitsfreude selbst,« sagte der Oberpfarrer. »Darf ich Ihnen erzählen, wie ich ihn und seine freundliche Frau kennen lernte? Es war zu einer Zeit, wo ich noch nicht wußte, daß ich je in dieses Land kommen und ihm noch so oft begegnen sollte. Ich war damals Badegast in Misdroy und benutzte eine Vergnügungsfahrt des kleinen Dampfers Neptun, um mir eine Jugendsehnsucht, den Anblick der Insel Rügen, zu erfüllen. Auf dem Verdeck zog mich auf der Hinfahrt eine Gruppe von Reisenden an, vielleicht weil in ihr Deutschland in seinen größten Gegensätzen vertreten war. Vor allem zog mich unter diesen Fremden ein Paar an. Der Mann konnte Forstmann, Landwirt oder Verwaltungsbeamter sein, Adlicher oder ein im guten Sinne kraftbewußter Bürgerlicher; er war breit, elastisch, von raschem, klarem Blick, die Sprache entschieden, er konnte Mitte der zwanzig, ebenso gut auch Mitte der dreißig sein, so luftgebräunte und von der Arbeit herausgearbeitete Persönlichkeiten bestimmt man schwer im Alter; er erinnerte mich an den Herzog Georg in Lessings Leipziger Disputation. Seine Begleiterin hielt ich zuerst für ein rasch und schlank aufgeschossenes Mädchen von sechzehn Jahren; sie hielt sich nicht besonders, die Kleider – sie trug einen gelben, rotpunktierten Bauernrock – fielen nur um sie herum, ihr Gang hatte etwas müdes; nun, um ihretwillen war ja das Paar wohl auch an der See. Sie wurde auf der Hinfahrt leicht seekrank. Sobald ihr Begleiter das merkte, nahm er sie, ohne ein Wort zu sagen, rasch wie ein Kind auf, schlug sorgfältig das Kleid um ihre Füße und trug sie in die Kajüte hinunter: das alles so selbstverständlich, ohne verlegnes, entschuldigendes Lächeln, als machte das die ganze Welt so. Richtig, sie ist seine Tochter, dachte ich. Auf der Rückfahrt sah ich die beiden wieder; wie wir eben an der geheimnisvollen Greifswalder Oie vorüberfuhren, trat sie einmal an ihn heran und schlug ihn leicht auf die Schulter, als er gerade mit den andern Herren Karten spielte. Er drehte sich herum, sah sie fragend an, lächelte nicht, war nicht empfindlich wegen der Unterbrechung, folgte ihrer ausgestreckten Hand, sah die Kirche auf der Oie an, nickte und sah dann aufmerksam in seine Karten. Nein, dachte ich, seine Tochter ist sie nicht, sie muß seine Schwester sein. Gegen Abend kamen wir auf die Höhe von Swinemünde, die See ward in dem Maße, wie die Sonne sich neigte, immer schöner. Auf weite Strecken hin lag sie glänzend wie ein Metallspiegel da; wo kleine Triften die Oberfläche kräuselten, sprang ein Silberblick um den andern auf. Schweigend sammelten sich alle Reisenden auf dem rechten Bord des Schiffes, um das Ufer zu sehen: das Meer, die Molen, der Leuchtturm und der Waldsaum lagen in einer friedlichen, lautlosen, weißen Beleuchtung da. Mein Auge forschte nach den Fremden; sie standen nicht weit von mir, ich sah, wie sie eben ihren Arm mit einer zärtlichen Bewegung unter seinen schob. Sollte dies Kind seine Frau sein? dachte ich fast erschrocken. In Misdroy holte uns ein Boot ab, ich saß neben der jungen Fremden, ich hörte ihre tiefe, charaktervolle Stimme und sah ein Auge, das von Leben wußte, und ich sah deutlich, es waren Frauenaugen, sie war seine Frau. Als wir nahe am Ufer hinfuhren, um die Lände zu gewinnen, glitten die kleinen Fischerwohnungen, wie sie für die Gäste so freundlich hergerichtet sind, an uns vorüber. Da sagte die junge Frau erstaunt-entrüstet, nicht scheltend: ›Emanuel, in unserm Schlafzimmer ist ja der Laden vor!‹ Mit der Landung verlor ich das Paar aus den Augen.«
»Ja, ja,« riefen die Zuhörer, »so sind sie heute noch, wenig Worte und ausharrende Liebe!«
»Nun hören Sie weiter! Wie ich hier meine erste Predigt hielt, ward ich durch ein Funkeln ein wenig abgezogen, und wie ich nach der Ursache hinsah, erkannte ich sofort die Brosche, die die junge Frau auf dem Neptun getragen hatte, ein großes Goldstück, ich wußte, es war ein Fünfzig-Frankenstück in wundervoller Fassung.«
Viktor sprang halb auf, alle Blicke richteten sich auf ihn, aber er setzte sich schnell und sah den Oberpfarrer gespannt an.
Aber ehe dieser sagen konnte, was er etwa noch zu sagen hatte, rief Fabricius aus: »Die Geschichte dieser Brosche kenne ich genau. Ist sie einem der Herren etwa bekannt? Nein! Ich dachte es mir. Mir hat sie seine Mutter erzählt und er hat sie mir bestätigt. Ich denke, mein Freund wird nichts dagegen haben, wenn ich sie erzähle. Statt des Vortrags, der für heute fällig wäre – Fabricius sah den Oberpräzeptor an, und dieser bot ihm für den leisen Stich die Dose an – haben wir zwei und machen damit auf unsre Gäste einen guten Eindruck. Viktor sah verlegen drein, er nahm an, der feine, klug aussehende Rheinländer sei ihm schon auf der Spur. Aber das war nur sein böses Gewissen!
»Als er etwa fünfundzwanzig Jahre alt war,« begann Fabricius, »und seinem Vater in der Bewirtschaftung des Gutes so geholfen hatte, wie wir wissen, daß er anfassen kann, bekam er einmal Lust wie andre, ein wenig die Welt zu sehen. Der alte Herr hatte strenge Grundsätze. Die wissenschaftliche Ausbildung hatte er seinem Sohne gegönnt, wie es sich gehörte, aber in den Ferien hatte er ihn immer zu Hause behalten, und nun wollte dieser Vogel einmal fliegen. Es kamen schöne Septembertage, der Sohn hielt um die Erlaubnis zu einer mehrwöchigen Wanderung an, der alte Herr sagte: ›Die Zeiten sind schwer, wir Landwirte müssen jeden Kreuzer zusammenhalten.‹ Der Sohn wendete ein, er habe ein paar Gulden zusammengespart, die Reise solle den Vater nichts kosten. Die Mutter legte sich ins Mittel, endlich sagte der alte Herr: ›Nun denn, dann packe und gehe, gehe gleich, wohin du willst, aber mit Gott!‹ Unser Freund war in weniger als einer Viertelstunde reisefertig, und der Abschied zwischen diesen schweigsamen Menschen wird nicht viel Worte gekostet haben. Als der Sohn aber durch den Garten ging, um von dort die Landstraße zu erreichen, erschien sein Vater oben am Fenster und warf dem Sohne, ohne ein Wort zu sagen, ein Fünfzigfrankenstück in Gold herab und winkte ihm einen Gruß nach.«
»Nein, das war nicht rauh,« unterbrach Fabricius seine Erzählung, da eine Bewegung im Zuhörerkreise das Verfahren des alten Herrn zu verurteilen schien; der alte Herr war ein edler, stolzer Charakter; er machte den Seinen nicht alles leicht, das ist wahr. Aber hören Sie einmal den Sohn von seinem Vater reden! Und er hat an der Stelle, wo er das Goldstück aushob, einen kleinen Denkstein errichtet mit der Inschrift des Tages. Sie sehen, wie er das ansah!«
»Nun wohl, der junge Mann ging über Haßlach auf das Gebirge zu, er kannte es von Jugend auf und hatte sich vorgenommen, einmal die Lande hinter Ihrem schönen Bergland kennen zu lernen und womöglich dabei das goldne Füchslein von der Reise wieder mit nach Hause zu bringen. Wie er hinter Marienborn das Gebirge hinaufstieg, traf er auf eine Reisegesellschaft, Vater, Tochter, Söhne, die sich das Kloster angesehen und dort gezeichnet hatten und nun über den Gebirgskamm hinüber zu ihrem Gepäck gelangen wollten, das ihnen die Post oder die Bahn dort schon irgendwo abgesetzt hatte. Sie waren des Wegs unkundig, und als nun unser Freund daherkam, so einfach gekleidet und so braun gebrannt, wie es für uns natürlich ist, die mit dem Acker oder dem Weinberg zu tun haben, so rief ihn der ältere Herr an: ›He, junger Mann – sind Sie vielleicht ortskundig?‹«
»Der junge Mann merkte sofort, daß man ihn für einen Bauernburschen oder Waldhüter halte, und wie er den stillen Humor seines Vaters auch hatte, nahm er sich vor, das zu sein, wofür man ihn hielt. Er gab alle Auskunft und erklärte sich dann auch bereit, die Gesellschaft zu führen. Diese hatte es nicht zu bereuen, und er auch nicht. Er konnte die Berge benennen und wußte, wohin die Kirchtürme gehörten, die ferne auftauchten und verschwanden; er kannte die Pflanzen so ausgezeichnet, daß der Vater der jungen Leute ihn einmal fragte: ›Sie haben gewiß Schullehrer werden wollen?‹ Er aber hatte noch mehr von seiner Führung; wie er heute noch auf die Menschen aufmerksam ist, und seine stille Art ja nur die Stille eines geschlossenen Bienenstocks ist, hinter dessen Wänden die schönste Arbeit verrichtet wird, so achtete er auf die Leute, die er führte, hörte auf ihre Gespräche, ohne zu verraten, daß er sehr gut mitreden könne, und sah, daß er auf Menschen gestoßen war, wie er sie schätzte.«
»Er gefiel auch den Fremden, und sie fragten ihn am Ziele dieses Reisetags, ob er sie nicht durch das ganze Gebirge führen wolle. Er sagte zu, obgleich ihm sein eignes Reiseziel nun weit entrückt wurde. Er nahm in den Dörfern und Städtchen, wo sie übernachteten, nicht im Hotel seine Wohnung, sondern in kleinen Wirtschaften; er saß abseits bei den Rasten und in den Hotelgärten abseits zu seinem bescheidnen Mahle, er beherrschte sein gescheites Auge, daß es nicht verriet, wie sehr er an allen Gesprächen ebenbürtig Anteil nehmen konnte und innerlich nahm.«
»Herr Amthauer lächelt und denkt, jetzt kommt das große Warum! Ja, er wollte, durch nichts gestört und unbefangen, das schweigend durcherleben, was ihm hier geworden war: er hatte seine ganze Neigung auf das junge Mädchen gesetzt, sobald er einmal, als sie eine Auskunft von ihm forderte, gesehen hatte, daß ihr Auge von einer Seele sprach, die liebzuhaben, deren Wert zu erkennen und der zu dienen das Glück seines Lebens ausmachen müsse. So gelang es ihm, eine Woche die zarte Gestalt zu sehen, unauffällig ihr zu Dienst zu sein und allen ein Gefährte zu werden, der langsam in diesen Kreis hineinwuchs, man wußte nicht wie. Auch dem jungen Mädchen war der schweigsame, ernste, taktvolle Führer lieb geworden. Wenn es von ihm hieß, sobald man sich ohne ihn sprach: Schade um ihn, in einer Stadt wäre der kluge, anstellige und eigentlich über seinen Stand feine junge Mensch doch etwas ganz andres geworden, so hatte sie das Gefühl, er sei etwas, eine Kraft von eignem Werte.«
»Nach siebentägiger Wanderung ward die große Bahnlinie erreicht, auf der die Reisenden den Rückweg in die Heimat antreten wollten. Der Führer erhielt den bescheidnen Lohn, den er auf ihre Frage genannt hatte, lehnte jeden Kreuzer darüber bestimmt ab und nahm dann so Abschied, daß man nachher sagte: Auf dem Lande sind die Menschen eben doch noch viel ursprünglicher und anhänglicher als in der Stadt!«
»Unser junger Mann hatte dann seine einsame Fußwanderung wieder aufgenommen, er hatte die Straße so gewählt, daß er den Zug noch einmal sehen konnte, der ihm die Geliebte entführte. Die Reisenden hatten inzwischen einen Bekannten getroffen, der aus Haßlach stammte, und den sie in der Sommerfrische vor wenigen Wochen kennen gelernt hatten; sie plauderten lebhaft mit ihm und tauschten alle Erlebnisse seit der Trennung aus. Plötzlich rief der neue Ankömmling bei einem Blick hinaus in das Freie: ›Ach, da ist ja der junge Herrenhäuser, wie kommt der hierher?‹ Fast gleichzeitig hatte das junge Fräulein gerufen: ›Sieh, Vater, unser Führer, er winkt!‹ – › Wer ist das?‹ sagte der Haßlacher. – › Wer ist das?‹ sagte der alte Herr. – ›Das ist ein Gutsbesitzer, er wohnt drei Stunden von Haßlach, ich kenne ihn von Kind auf.‹ – ›O nein, das ist ein junger Bauer, er hat uns diese Woche durch das ganze Gebirge geführt!‹«
»Nun beide hatten Recht. Er brachte das Goldstück nach Hause zurück und sagte, wozu er es bestimmt habe. Als die Landarbeit im Vorwinter zu ruhen anfing, reisten Vater und Sohn nach der Heimat des jungen Fräuleins, und der Herr Oberpfarrer hat damals das junge Paar wohl so ein, zwei Jahre nach seiner Verheiratung kennen gelernt, sie werden damals wohl schon auf dem Wiegandshäuserhof gewohnt haben.«
»Es werden ihnen auf dem Wiegandshäuserhof heute die Ohren geklingelt haben,« sagte der Kammerrat mit einem Blick, als hätte er alle die Mitteilungen zu machen gehabt, und eine Schlacht für den Mann geschlagen, der dem Kibitz entronnen war.
»Wo liegt der Hof?« fragte der Präzeptor Röhrle, und er erhielt von vier Stimmen die gleiche Antwort: »Er liegt fünf Stunden von hier, mitten zwischen katholischen Dörfern, am nächsten bei Remchingen.« – »Man sieht wieder einmal, daß der Herr Präzeptor besser im Himmel bewandert ist als auf der Erde,« sagte der Major mit scherzhafter Mißbilligung. »Wären Sie Jäger, wie sich's gehörte, so kennten Sie den Hof, denn wer Bekassinen schießen will, muß sie dort suchen.«
Röhrle wollte dann noch die weitere Frage tun, die ihm eigentlich schon lange auf den Lippen gelegen hatte: »Von wem habt ihr denn eigentlich gesprochen?« aber ein bittender Blick Viktors verriet ihm, daß Viktor aus allem, was seither erzählt worden war, die Antwort auf die Frage erhalten hatte, wegen deren er nach Au im Winkel und zu ihm gekommen war, und er schwieg.
Mit dem Schlage sieben ging diese denkwürdige Sitzung der Montagsgesellschaft zu Ende.
Die nächste Stunde aber trennte die Freunde. Ernst rief seine Pflicht zurück; er nahm anders Abschied als in frühern Zeilen, er ging ungern von dem Freunde fort und empfand es stark, daß Viktors Wesen eine erziehende Gewalt über ihn ausüben werde, der er sich nicht entziehen dürfe. Trotzdem war das letzte Wort, das er noch weit aus dem Postwagen vorgebogen dem Freunde zurief, ein Scherzwort: »Wie war das doch mit der goldnen Brosche, Viktor?« Viktor aber konnte dem Wagen nur noch nachrufen: »Gedulde dich noch eine kleine Weile!«
Als er bald darnach sein Zimmer betrat, das Herz voll unruhig wogender Gedanken, fand er einen großen Bogen Papier, den offenbar Ernst bei dem Umordnen seines kleinen Gepäcks zurückgelassen hatte. Viktor erinnerte sich, es war der Bogen, in den die Pläne des neuen Schulhauses in Haßlach eingeschlagen gewesen waren. Er trug mit Bleistift geschrieben den Entwurf zu einem Midasaufsatze Säuerlichs. Viktor nahm das Blatt an sich, um es den wartenden Freunden zu zeigen.