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Vielleicht, daß eine Ortsveränderung hilft?
Viktor klopfte zehn Minuten vor sieben an die Tür von Numero 22 und zog sich rücksichtsvoll in das Frühstückszimmer des Hotels zurück, als von innen keine Stimme antwortete. Hier besah er sich zuerst die Bilder fremder Hotels, dann fünf Minuten später die Fahrpläne der großen Seedampferlinien, nach einer weitern Viertelstunde warf er einen Blick in die Zeitung, die zunächst zur Hand lag und bestellte sich schließlich, um sich das Recht auf die offenbar bevorstehende Wartezeit in diesem Raume zu erkaufen, ein Frühstück, dessen er nicht mehr bedurfte, und nahm dann, während er langsam etwas davon genoß, Goethes Gedichte in einer kleinen Ausgabe aus seiner Reisetasche und suchte die rätselvolle Legende von der Frau des indischen Brahmanen auf, in der das liebende Herz des Dichters die tiefe Hiobsklage über die Last anstimmt, die der Mensch von Anbeginn an trägt. Darüber verstrich nun unbemerkt eine lange Zeit, bis Ernst erschien und Viktors Pünktlichkeit und unvergleichliche Zuverlässigkeit rühmte. Dann verging wieder eine geraume Zeit, bis sich Ernst, behaglich frühstückend und behaglich plaudernd, für die Anstrengungen des Wochenanfangs »hinreichend gekräftigt« erklärte, und so kam es, daß Ernsts Bemerkung: »Nur gescheite Menschen verstehen mit einander zu schweigen, Servaz, nur dumme Menschen meinen, es müsse immer geredet werden, aber was zu arg ist, ist zu arg!« noch sehr nahe bei Haßlach gesprochen wurde, während zehn deutliche Glockenschläge über die beiden jungen Wandrer hinzitterten.
»An welchem Kapitel deines Buches arbeitest du eben innerlich?« fuhr Ernst dann mit solch karrikierter Bescheidenheit fort, daß Viktor lachen und bekennen mußte, er habe eben wirklich an seinem Buche gearbeitet, und das schöne Kornfeld, an dem sie eben vorübergegangen seien, habe ihn auf alte Erinnerungen und neue Pläne gebracht.
»Ist dir die Woge des Kornfelds noch immer das Bild des Menschen, und das ganze Kornfeld das Bild der Welt, das Einzelne, die Woge ein flüchtiger Augenblick, und das Ganze, das Kornfeld, noch immer das allein Beachtenswerte und Wirkliche?« forschte Ernst mit einem Pathos, das er zu gern noch mit dem sonoren Zusatz des Namens jenes Philosophen verstärkt hätte, dessen Bild einst das Studentenstübchen Viktors geschmückt hatte, wenn er sich nur auf ihn hätte besinnen können.
»Das Kornfeld erinnerte mich an Spinoza –«
»Richtig, Spinoza hieß er, der Kornfeldmann,« unterbrach Ernst.
»– Und Spinoza erinnerte mich an die Stunde, in der die Freundschaft mit Franz begann, und dieser an einen Jungen mit einer Ziege, und der Junge an die Midaskinder –«
»– und so wären wir denn via Kornfeld und Bonifaz glücklich wieder bei Philipp Säuerlich angelangt,« setzte Ernst mit heiterer Miene den Satz fort.
»Nein und ja! Aber nun will ich dir doch erzählen, wie das mit Franz war, oder habe ich es dir früher etwa schon erzählt?«
»Nein, Servaz, nein, nein und abermal nein. Du wolltest nie um deine Philosophien gefragt werden, und ungefragt sagtest du nichts: ergel! – wie jener Philosoph seine Reden schloß, der die Leute begrub, vermutlich um sie los zu sein.«
»Nun, so erzähle ich es dir heute. Alles hat seine Zeit, und denke, du wärst wieder wie ein rechter Sonnenstrahl in meine Haßlacher Tage gekommen, wie du früher zu mir kamst, und hättest mir Lust gemacht, dir von mir zu erzählen.«
Ernst faßte Viktors Hand und sah den Freund voll Liebe an, mit jener Liebe, die er sonst am liebsten hinter harmlosen Sarkasmen verbarg. »Nicht war, Bonifaz ist auch ein Endenburger?« fragte er.
»Ja, Franz ist auch ein Endenburger Kind. Ich kannte ihn natürlich, ehe wir mit einander bekannt wurden; er hatte im Endenburger Gymnasium einen großen Namen, weil er ›Philosophie trieb‹, und der Sekundaner sah diesen Primaner, dem der Sprung über den großen Graben vom Unvollkommnen und Unreifen hinüber zur Vollendung schon so früh gelungen zu sein schien, mit unbeschreiblichem Respekt an.«
»So hast du mich nie angesehen,« unterbrach Ernst den Freund und schüttelte mißbilligend das übermütige Haupt.
Ein guter, herzlicher Blick Viktors ward ihm dafür zur Antwort, und dieser fuhr fort: »Die zwei Jahre, in denen ich ihn dann kaum mehr sah, als wenn die Ferien den Studenten nach Endenburg brachten, waren für mich sehr merkwürdige Jahre. Ganz ohne Schuld des Elternhauses war ich in meinem religiösen Leben gleichgiltig geworden, ja als sich die historischen Zweifel, die ein schlechter Religionsunterricht in den obern Klassen erweckt hatte, den Durst der Übermüdung in naturwissenschaftlichen Werken löschten, so führte das zu einem Bruche mit der Weltanschauung, und mit einer Mischung von idealer Entschlossenheit und von Grauen sah ich mich gezwungen, mich einen Materialisten zu nennen. Ich hatte so ein rechtes Jugendleid darum, daß ich meinen Glauben an das Gute und Schöne an nichts Festes, Unwandelbares und gewissermaßen Heilig-Unentrinnbares anknüpfen konnte. Der lieben Mutter wagte ich mich nicht anzuvertrauen, ihr hätte meine neue Überzeugung zu weh getan; der Vater hätte mich zu sehr verstanden und mit mir um mich geklagt, statt mich zu leiten.
Da hörte ich, Franz sei gekommen, um sich auf die erste Prüfung ein halbes Jahr zu Hause vorzubereiten. Er war gegen mich immer besonders freundlich gewesen, und ich faßte mir ein Herz, ihn aufzusuchen, damit er mich anhöre und mir ein Licht auf meinen Weg werfe. Es war ein kalter Abend im Vorwinter, die Burgstraße, in der er wohnte, war leer, ein häßlicher Nordwind fegte altes Laub und Halme vorüber. Um in sein Stübchen zu gelangen, mußte ich über einen unbeleuchteten Hof und eine steile, hölzerne Treppe hinauf, die an der Außenwand gedeckt zum ersten Stocke lief, und deren letzte Stufe die Schwelle seiner Tür war. Vor den Schauern des Abends und vor innerer Unruhe war mir fast der Mut zum Anklopfen geschwunden. Dennoch trat ich ein. Seine kleine Stube war behaglich erwärmt. Er saß, aus einer langen Pfeife rauchend, vor einem mächtigen Folianten der Basler Ausgabe des Augustin. Ich kam ihm willkommen, das sah ich gleich. Und so schloß er mir den Mund auf. Während ich sprach, nickte er manchmal mit dem buschiggelockten Kopfe und rauchte still weiter. Als ich schwieg, sagte er wie ein Bruder herzlich: ›Steht es so mit dir?‹ Er sagte es wie einer, mit dem es auch ›so gestanden‹ hatte. Dann fügte er hinzu: ›Du mußt Spinoza lesen!‹ Mit wenigen Worten begann er hierauf die Weltanschauung Spinozas zu entwickeln, und mein Herz ward voll Glück, denn eine Welt voll Zusammenhang stand vor mir.
Das war ein folgenreicher Besuch; er machte, wenn ich das Wort von meinem bescheidnen Leben gebrauchen darf, in mir Epoche. Der Gott meiner Kindheit war, so schien es mir damals, unwiderruflich gestorben, aber hier erhielt ich ihn glaubenswürdiger und schöner zurück: nun war alles Gott, dies Ganze war wirklich, aber das Einzelne, das heute kam und morgen ging, der bunte Schein der Einzeldinge war ein lieblicher Trug; auf der Oberfläche der unwandelbaren Weltgesetzlichkeit spielte ein Wellenspiel, das im Werden verging. Ein Gedanke – wie traurig und wie herrlich war er mir! Und nun die Eingliederung meines eignen kleinen Willens in den großen Weltwillen, und das Sicheinsfühlen mit der Schönheit und Heiligkeit dieses Hefen Atemzuges, der das Leben einer ganzen Welt hob und senkte – es war ein Jauchzen, mit dem ich mich in diese heilige Flut warf, um in ihr aufzugehen.«
»Solche Dinge redetet ihr,« unterbrach Ernst, »wenn ich zu euch kam, als wir drei dann zur Gilde gehörten. Ich verstand euch nicht, aber das Herz schlug auch mir.«
»Ja,« bestätigte Viktor, das waren Stunden in Franzens Zimmer, denn bei ihm lag nach wie vor die wunderbare Anziehungskraft, und sein kleines Heim war ein Haus zum Magnetberg, das waren Stunden, deren Andenken, Wirkung und Bann, in meinem Leben wenigstens, nicht mehr aufhören kann. Wenn man ihn zum rechten Reden brachte, dann trat die schöne Redlichkeit, die den Zauber vornehmer Kindlichkeit über ihn und alle seine Worte verbreitete, hervor, er hatte den Ernst, der nichts zum Spiele macht, er hatte den hinreißenden Schwung der Gedanken und Empfindungen, die in dem Zuhörer, der etwa sonst nur ein schwächliches ethisches Wünschen hatte, dieses Wünschen und matte Wollen zum Willen und zum Glauben an die Realität des Guten steigerte. So lange man ihn hörte, war man ein Glaubender.«
»Das hinderte uns aber nicht,« sagte Ernst in gutmütiger Ironie, »eine Unterbrechung im Gespräch durch den Eintritt andrer als den gesetzmäßigen Stundenschlag anzusehen, der Erhebung und Genuß regelt.«
Viktor schwieg.
Ernst fuhr fort: »Übrigens war es vielleicht der Zeichner und Maler in mir, daß ich mit eurer Verachtung der Welle und der Anbetung des Kornfeldes nicht recht gleichen Schritt halten konnte. Mir ist eben wie dem Atheisten – der ich aber nicht bin,« fügte er lächelnd hinzu – »das sinnenfällige Einzelne allein das Wirkliche und Anziehende, und eure Welteinheit, euer Kornfeld ist mir wie jenem ein Nichts.«
»Es mögen bei mir ähnliche Gründe gewesen sein; genug, ich überwand diesen Spinozismus noch in den Universitätsjahren, aber Spinozas einsame, rührende Gestalt, seine Treue gegen das sittliche Weltgesetz, wie er es verstand, hat den Primaner einst bezwungen und mir etwas in die Seele gepflanzt, das sich mit tausend Wurzeln nun in mir ausgebreitet hat, ich will nicht denken wie er, aber sein wie er.«
»Und nun kommt der Junge mit der Ziege,« befahl Ernst.
»Ja, nun kommt er! Ich ging als Student einmal allein das Böstenbachtal hinauf. Oben, wo es sich ganz verengt – du erinnerst dich, wo das Bauernhaus am Bache steht, und die Straße so am Dache herführt, daß das Heu mit dem Karren unmittelbar vom Wege auf den Heuboden gefahren werden kann –, war ein Quell, der dem Hofe gegenüber aus der felsigen, mit Efeu reichlich bezognen Straßenböschung hervorbrach. Er fiel ganz krystallklar durch eine hölzerne Rinne in einen steinernen Brunnentrog. An dem Troge stand ein Knabe, um zu schöpfen. Als er meine Schritte hörte, sah er mir entgegen und stand leicht an die steinerne Kufe gelehnt wie ein vollkommnes Bild. Das schwarze Haar lag ungeordnet und doch voll Anmut über der wohlgeformten Stirn, und aus dem hübschen, gebräunten Gesicht brach ein offner, fast blitzender Blick. Die Haltung des Körpers, die Stellung der Füße, alles war von solch unbewußter Schönheit, daß ich ihn mit Entzücken ansehen mußte. Um die eine Hand hatte er ein Seil gewunden, um seine Ziege nicht loszulassen, und diese zerrte nun heftig an ihm und stieg an der Böschung herauf, um Brombeerranken zu sich herunterzureißen. Ich war so dankbar, daß ich diesen Anblick hatte haben dürfen, daß ich im Weiterwandern wiederholt die Bitte in meinem Herzen bewegte: Gott, segne meine Augen. Was ohne Worte mein Herz heftig ergriff, war die Sehnsucht, daß mir nichts Schönes, keine Herrlichkeit des wirklichen Lebens entgehen möge, an der meine Straße je vorüberführe.
Und über diesen Gedanken ward meine Seele einer leidenschaftlichen Liebe zu dem seither aus philosophischen Gründen so übersehenen Einzelnen inne, daß ich erkannte: für mich war nach meiner innersten Natur nur das Einzelne wirklich und schön und liebenswert –«
»– und mit dem Kornfeld war es aus –«
Viktor beachtete diese Unterbrechung nicht und fuhr fort: »Ja, ich erkannte die tiefe, unbarmherzige Fühllosigkeit jener Lehre gegenüber dem so wertvollen und einzigartigem Geschicke des Menschen. Es war mir länger nicht mehr möglich, zu tun, als ob der Mensch nur so eine arme Welle wäre, die sich ohnmächtig aus dem Meere des Seins erhebt, sie weiß nicht wie, und sich in ihm verlierend wieder auslöst, daß niemand ihren Ort je wieder erkennt. Und wie mir nun der unbeschreibliche Wert des einzelnen Menschen, jedes einzelnen Menschen, die Kraft seiner Gefühle oder der Jammer seiner Sünde als Wirksamkeiten, deren Spur in Ewigkeit nicht mehr auszulöschen ist, wieder aufging, da ward ich in dieser neuen Liebe – nenne es, mein Ernst, mit mir, ohne zu lächeln –, in dieser Mutterliebe zu den Menschen der Anwesenheit des lebendigen Gottes so inne, daß ich in dem lebendigen, seufzenden, sündigenden, sehnenden, liebenden Menschen für mich den Beweis auf immer gewann, daß sie nicht wären, wäre nicht der lebendige Gott.«
Ernst faßte still die Hand des Freundes, wie das Landmädchen die Hand ihres Liebsten ergreift, und ließ sie eine lange Weile lang nicht mehr los.
Viktor fuhr fort: »Bald darnach kam der Winter. Damals tat ich etwas, das auch Franz nicht erfuhr, du bist der erste, der es hört. Zur Kirche war ich nun lange nicht mehr gegangen, aber jetzt hungerte mich darnach. Da entschloß ich mich zu einem ersten Kirchgange, an den ich bis zur Todesstunde denken will. Ganz abseits von der Universitätsstadt liegt ja das Michelchen, die alte Kapelle über einem verlassenen kleinen Friedhofe. Dorthin ging ich spät abends bei einem funkelnden Sternenhimmel, der Schnee lag schon hoch. Ich erkletterte die Mauer und ging auf ihr hin bis zum Kirchlein. Dort sprang ich hinab und kniete dann auf der Schwelle vor der verschlossenen Kapellenpforte und erlebte gute Gedanken; was man Gebet nennt, war es nicht, aber es war ein einziges Wallen und Strömen freundlich-frommer Gesichte und Gedanken. Auf dem Rückwege zu meiner Klause, über die verschneiten Straßen, über die kaum noch ein später Gast ging, faßte ich den Entschluß, einmal ein Buch von dem einzelnen Menschen zu schreiben, oder genauer, ein Buch von Menschenaugen, von dem, was da herausschaut, und dem, was demzufolge da hineinschaut, ein Buch von der geheimen Liebe und Gegenliebe zwischen Seele und Welt, ein Buch von den Midaskindern –«
»Das stiehlt dir aber jetzt der Säuerlich!«
»O nein, Ernst; ihn zwingt sein Auge einstweilen noch, anders zu sehen als ich, er schreibt von ganz andern Dingen, als die mich berühren!«
»Und wie weit bist du nun, Viktor?«
Viktor errötete leicht und sagte: »Ich habe mit dem Schreiben noch gar nicht angefangen, aber sobald ich wieder in Haßlach bin, soll es rasch an die Arbeit gehen. Mir ist manchmal, wie wenn mein Buch schon fertig vor mir läge; ich brauche eigentlich nur das niederzuschreiben, was ich seit zwei und einer halben Woche erlebt habe.«
»Und dann kommt das Buch heraus bei Cotta, in klein Oktav, und auf dem Widmungsblatte steht: ›Meinen geliebten Gilderichen, vor allem meinem insonderheit geliebten Ernst Pankratius Windisch!‹«
»Nein, Ernst! Ich weiß, wem ich das Buch widme, und weiß es nicht.«
Eben wollte Ernst sagen: »Herr, dunkel ist der Rede Sinn!« da schnitt ihm der sich ganz unerwartet auftuende Blick auf Au im Winkel das Wort ab. Von Berggehängen herab und aus einer breiten Schlucht heraus zog sich ein altes Städtchen in die Ebne. Breite Türme einer alten Zeit stiegen inmitten der Mauerreste hinaus, und schlanke Türme einer jungen Zeit prangten über den Schieferdächern der Kirchen. Ein Wald blühender Apfelbäume zog durch die Felder und Gärten und Gärtchen bis an die Schlucht, die an ihrem Teil den Stadtgarten vertrat, und dann stiegen die blühenden Bäume wieder von der Schlucht herauf zu der Mauer, die hier das Städtchen begrenzte. Aus der Mauer funkelten kleine Fenster, und über der Mauer ragten kleine Schornsteine empor, und dünne Rauchwölkchen stiegen von den bescheidnen Herden der Hinkelsgässer empor, die sich ihre Häuslein an die Stadtmauer geklebt hatten und Wäsche oben auf dem breiten Mauerrande trockneten, auf dem die Armbrustschützen vor Alters hinter den Zinnen hinausgeschaut und die befiederten Bolzen hinüber in die Gärten und Baumstücke gesendet hatten, wo der Feind gedeckt heranschlich.
»Hier sind wir am Untertor,« sagte Ernst als der Ortskundige, nachdem die Freunde im Anblick der Stadt in langem Schweigen verharrt hatten. Das kleine Häuschen jenseits der Brücke steht außerhalb des alten Tores und ist das letzte, oder wenn man will, das erste Haus von Au im Winkel. Und dort jenseits der Häuser die gedrückten Türme mit dem geschwungnen Schieferdache – das ist das alte Schloß.«
»Ein Schloß hier? Ist's heute noch bewohnt?« fragte Viktor.
»Ja, es wohnt der Nachkomme der ehemaligen regierenden Fürsten darin, selbst noch ein Fürst, und sein Städtchen ehrt ihn noch, wie es seinen Vätern gehorchte. Auch an Titeln fehlt es nicht und auch nicht an einer seltsamen alten Garde, die die Ehrenposten am Schlosse besetzt, und ein kleines Pädagogium ist in dem Städtchen, trotz der Nähe Haßlachs, und die ehrenhaften Bürger gehen in Pantoffeln zum Abendtrunk, und die Frauen und Mädchen sitzen auf Bänken vor den Türen, bis der Wächter vom Stadtturme zehn bläst. Dann kommen die Männer mit Laternlein von den Herbergen zurück, und Au im Winkel schließt die Augen und träumt von seinen Apfelernten und den Mostfäßlein im Keller.«
»Ich glaube fast, ich hätte hierher gehen müssen, in dies heimelige Stück Geschichte und Natur, um mein Buch zu schreiben,« sagte Viktor lächelnd zu Ernst, während sie die Brücke überschritten, »deine Beschreibung macht mir Lust, hier zu bleiben.«
»Hier würde Gott deine Augen segnen,« sagte Ernst mit herzlichem Tone, ganz ohne die Schelmerei, die sonst hinter seinen Worten lauerte, dem Schönen gegenüber stand er auf festem Boden.
»Sieh nur, er segnet eben unser beider Augen,« sagte Viktor halblaut. Vor dem Hause über der Brücke saß ein hellblondes Mädchen von etwa zehn Jahren aus der Treppe, neben ihr kniete ein jüngeres Schwesterchen und sah gespannt dem zu, was die ältere Schwester tat; vor dieser stand ein lichtblonder Knabe von etwa sechs Jahren, augenscheinlich der Bruder der zwei Mädchen, und hielt geduldig still, damit die Schwester ihm aus den langen, weichen Haaren einen Zopf flechten könne, und das geschah mit einem glücklichen Lächeln. Als der Knabe die Fremden sah, ward er um seiner Knabenwürde willen ein wenig verlegen, aber eine Frauenstimme rief ihm vom Fenster neben der Haustreppe zu: »Spiel ist Spiel, Reinhold, du mußt dich nicht genieren.«
Die Freunde entdeckten die Sprecherin über den Fuchsiastöcken des Fenstersteins und zwischen den Rebenranken, die das ganze Haus überspannen, und grüßten; Viktor sah sich fast wie einen Eindringling an, der mit einem freundlichen Worte Abbitte tun müsse, deshalb sagte er zu dem alten Fräulein: »Da nisten ja liebe Schwälbchen an Ihrem Hause und bringen ihm Glück!«
»Ja, mein junger Herr,« gab sie zur Antwort, »es sind Nachbarkinder, und sie sind gern bei uns. »Nicht, Gertrud,« sagte sie neckend zu der Ältesten, »ihr seid gern bei uns, bei unsern Aprikosen, Trauben, Äpfeln und bei dem Herrn Präzeptor –«
»Und bei Ihnen, Jungfer Röhrle!« rief die helle Stimme des Knaben.
»Ah, mein Fräulein, erlauben Sie eine Frage, beeilte sich nun der praktische Ernst zu sagen, »stehen wir etwa hier vor dem Hause des Herrn Präzeptors Röhrle?«
»Sie stehen vor ihm,« sagte das Fräulein und verschwand dann sofort. Gleich darnach öffnete sie die Haustür; auf der Schwelle erschien eine zierliche Gestalt in einem schlichten grauen Kleide und einem neuen Kragen, der die Arme bis zu den Ellbogen bedeckte. Das schmale Gesicht war schon sehr faltenreich, aber keine Falte veränderte den gescheiten und freundlichen Ausdruck des Gesichts.
»Treten Sie ein, meine Herren,« sagte das Fräulein mit einer etwas zeremoniellen Handbewegung, die zu ihrer Jugendzeit, aber auch zu den alten Türmen und zu der Residenz paßte.
Die Freunde folgten der Einladung halb zögernd; Viktor dachte an die bestaubten Kleider, Ernst an die Abfahrt des Postwagens, mit dem er sein nächstes Ziel in später Nachtstunde erreichen sollte. Über beides beruhigte das Fräulein, und so folgten sie der wiederholten auffordernden Handbewegung, indem sie mit Vorsicht an den regungslos dasitzenden und sie anstarrenden Kindern vorüber die Stufen der Vortreppe hinaufgingen.
Sie sahen sich in ein helles, wohlgeordnetes Wohnzimmer hineingeführt, in dem nichts neu war; die Stühle hatten eine alte Form, der Sofaüberzug war aus aller Mode, alle Gelüste eines Antiquitätenjägers hätte die Kommode aufgestachelt, und selbst der Vogelbauer war noch ein Geschenk des Urgroßvaters an die Urgroßmutter. »Nehmen Sie Platz,« sagte das Fräulein mit gutherzigem Eifer.
»Aber wir stören!«
»O, Sie derangieren mich gar nicht! Wir Untertörer sind auf Besuch aus, wie der Kibitz auf Kunden, denn wir wohnen am andern Ende der Welt; bis zur Kirche habe ich zehn Minuten und bis zur Base Schlemperlein eine Viertelstunde, da sieht man sich eben nur alle Jubeljahr einmal. Und Sie suchten meinen Bruder?«
»Ja,« sagte Viktor, »ich bin von Herrn Allgäuer in Haßlach wegen einer Auskunft an ihn gewiesen.«
»Das finde ich eben aber wirklich ganz scharmant!« rief das kleine Fräulein, »daß Sie da gleich vor die rechte Tür kommen! Und vom lieben Herrn Allgäuer! Drum eben fanden Sie uns gleich: kinderlieb, gottlieb, unslieb!«
Bei diesen Worten sah sie die Freunde unaussprechlich freundlich an und nickte, daß die Schlüssel am Schlüsselringe im Gürtel klirrten.
»Nun! der Bruder kommt in wenigen Minuten aus dem Pädagogium, um vier Uhr ist sein Unterricht heute aus. Sind Sie morgen noch da, so steht Ihnen sein freier Nachmittag zu Diensten. Heute geht er um fünf Uhr in die Montagsgesellschaft. Da schlagen Sie drei Fliegen mit einer Klappe: Sie finden dort Ihr Hotel, den Postwagen und die Kapazität von Au im Winkel.«
Während dieser Worte hatte sie eine alte, ganz verblaßte, reine gelbe Kaffeedecke über den Tisch ausgebreitet, eine ebenso alte gelblackierte Zuckerdose aus Blech aufgestellt, frisches Brot zurechtgelegt und immer im Ordnen behaglich und zutraulich weitergeplaudert.
»Hätten Sie in der Stadt nach uns gefragt, wissen Sie, was man da gesagt hätte, wenn Sie an die rechten Leute gekommen wären, und die fehlen bei uns nicht, Gott sei's geklagt: die hätten gesagt: ›Der Herr Meschänterle wohnt am Untertor!‹ Jetzt ärgert's mich ja nicht mehr, Gott sei Dank; wenn man in dem Alter ist, wo die Nasen avancieren und die Wangen retirieren, da läßt, man die Leute reden, was sie wollen. Aber wie ich jung war, hat's mir doch immer einen Stich gegeben. Wie es hinauskam, weiß ich nicht, denn so was hängt man nicht an die große Glocke, per se – gut, ich nannte meinen lieben Bruder Herr Meschänterle, weil er mich Jungfer Charmänterle nannte. Die Neckerei schwirrte eben zum offnen Fenster hinaus, und was fliegen soll, fliegt, sagte der Bauer, als er die Mücke nicht fangen konnte.«
Zwischen diesen Reden hantierte das Fräulein Charmänterle aufs zierlichste an dem Tische. und zwischen Tisch und Küche, daß Viktor ihr mit fröhlichen Augen zusah. Statt zwei Tassen kamen vier auf den Tisch, Tassen mit alten Formen und alter Bemalung, und die silbernen Löffel dabei, Löffelchen wie für eine Puppenküche, stritten mit den Tassen um den Altersvortritt.
Endlich kam zu all dem Alten, Harmlosen, Feinen und Feierlich-Anmutigen der Hausbesitzer selbst, der Herr Präzeptor Röhrle, eine feine, gleichmäßige Gestalt, auch schon ein ergrauender Mann. Er trat still ins Zimmer und ging mit ruhig fragendem Blicke schweigend auf die Fremden zu. Allgäuers Name rief ein frohes Lächeln auf dem Gesichte des alten Herrn hervor, und er hieß Viktor und Ernst herzlich willkommen. Was sie zusammen sprachen, blieb Viktor nicht so sehr in der Erinnerung, als wie die zwei Geschwister mit einander lebten, sich verstanden, einander mit Handreichung zuvorkamen. Viktor glaubte zu merken, daß sich hier über ein Leben, das an Entbehrung und innern Leiden für beide vieles gebracht haben mochte, die Zärtlichkeit ausgebreitet hatte, die zugleich tief erinnerungsreich, der Gegenwart froh und der Zukunft sicher ist, und so nur alte Leute mit einander verbinden kann.