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Rodins großer Garten in Meudon birgt in seinem unteren Teil ein kleines Atelierhaus, »la houlette« genannt. Drei Säle liegen übereinander. In dem untersten stehen Abgüsse von Bilderwerken der 84 französischen Kathedralen. Liebliche Madonnen, die im Halbschatten träumerisch lächeln. Hier hat Rodin die Reste dieser geliebten Monumente versammelt, deren tägliche Verstümmelung durch die Hand des Restaurators ihm tief ins Herz schnitt. Als der Krieg uns so grausam trennte, leuchtete wie ein Fanal einer seiner letzten Aussprüche über die Schlachtfelder zu mir hinüber: Man hatte ihn gebeten, einen Protest gegen die Deutschen und gegen die Zerstörung der Kathedrale von »Reims« zu unterschreiben. Da soll er mit der Bemerkung abgelehnt haben, er unterschreibe nicht, denn die Restaurierungen bedrohten die französischen Kathedralen mit schlimmerer Zerstörung als die Granaten. In dem mittleren Saal der »houlette« hatte er Abgüsse seiner Werke gestellt, die dem Zwitschern der Vögel im Garten zu lauschen schienen. In dem oberen Raum aber hingen hunderte jener leichten, unnachahmlichen Zeichnungen. Entrückte Visionen, in denen doch wiederum sein Auge schaffend und zusammenfassend immer die entscheidenden Augenblicke festhält. Da sind die Tänze der »Cambodgiennes«, der exotischen Tänzerinnen, in denen die ureigene Bewegung dieser Völker lebt, die durch Angst und 86 Scham noch nicht verdeckt ist. Da umschlingen sich Frauen wie Pflanzen im Urwald, und die Reinheit des ersten Schöpfungstages durchzieht diese leichten Visionen, die wie das erwachende Kinderauge das Blau des Himmels anzublicken scheinen. In diesen Räumen ruhte sich Rodin einmal von seiner Arbeit aus. Er schreibt von dort: »Ich führe mein Leben in dem kleinen unteren Haus in Meudon seit zwei Monaten. Ich mache eine Kur der Einsamkeit durch und bin ganz allein in diesem großen Zimmer. Ich empfange niemanden. Ich lese etwas, wenn ich aufwache mitten in der Nacht. Der langsam erwachende Tag dringt herein, auch die Nebel, und die Schönheit des Herbstes erfüllt mich und regt mich an.« Dann kam noch ein Brief vor unserer Ankunft in Paris: »Vielleicht machen wir die Büste in zwei Abschnitten, alles hängt von der Arbeit ab, denn man muß immer mit einigen Zeitverlusten rechnen, entweder durch Sie oder durch mich. Und dann die Ermüdung für Sie . . .« Wir wohnten zuerst in Paris, und die Sitzungen begannen in dem Atelier der »Rue de l'Université«. Doch Rodin merkte Ermüdung in meinen Zügen. »Sie müssen in Meudon schlafen, dort haben Sie am Abend die schöne 87 Ruhe, die den Geist erfrischt. Sie können in einem kleinem Haus, das ich besitze, wohnen.« So zogen wir in die »houlette«, Rodin hatte große Empirebetten mitten unter die Abgüsse des »Penseur« und der »Bourgeois de Calais« stellen lassen. Die vielen Fenster des Saals umflossen grünseidene Vorhänge. Etwas vom Zauber des alten Frankreich wehte über diesen alten Möbeln und verband sie mit der zeitlosen Gewalt der Bildwerke. Eine grauhaarige Französin wirkte darin wie eine Märchengestalt, und ich höre noch immer den Ton, mit dem sie freundlich fragend sagte: »Un petit poulet ce soir, Madame?« Im übrigen war »Monsieur Rodin« für sie der gute Geist, der alles bestimmte. Hier vor dem Haus lagen auch die Schwäne auf dem Rasen unter den hohen Fliederbüschen: »Ce sont des miniatures persanes,« sagte Rodin einmal, als sie sich auf dem lilafarbenen Hintergrund wendeten und streckten und den Hals stolz hoben, während ihre großen Flügel hin und her wogten. Am ersten Morgen unserer Ankunft sah ich, wie eine Antike auf dem taufrischen Gras aufgestellt wurde. Das war der Willkommengruß Rodins. Die Schwäne lagerten sich um die Statue wie zu einer heiligen Handlung. Durch den 88 ganzen Garten ging es wie ein Aufblicken. Denn auch die Pflanzen schienen an dem Ereignis teilzunehmen. Während in der Morgensonne der attische Marmor im goldenen Glanze strahlte, beugten sich die Fliederzweige über ihn und strömten ihren Duft auf die marmornen Glieder aus.
Die Fahrten nach Paris am Morgen gestaltete Rodin nun wie ein Fest. Im kleinen Wagen kam er mich abholen, denn er wollte die Eisenbahnen vermeiden. Wir fuhren langsam in den Frühling hinein. Auf den Kastanienbäumen standen die Blüten wie Kerzen. Sanfte, silbrige Wolken, wie sie wohl nur der Pariser Himmel kennt, zogen mit uns. Nun ging es durch das Bois de Boulogne, erst durch die große Einsamkeit, bis wie Frühlingsblüten die bunten Kleider und Wagen in der »Allée des Acacias« aufleuchteten. Alle Erscheinungen der Natur begrüßte Rodin freudig. Ich entsinne mich noch einer langen Fahrt im Regen, die er absichtlich verlängerte. »Car on voit si bien aujourd'hui la douceur du paysage.« An dem Tage sprachen wir viel von seiner Sehnsucht, wirkliche, vollwertige Schüler zu haben, denn mit Recht empfand er den großen Mangel an Tiefe und Kraft in den meisten seiner Nachahmer, die oft 89 nur den äußeren Schwung wiederzugeben vermochten. Daher kommt es auch, daß aus den Ateliers viele Gruppen fälschlich unter seinem Namen verbreitet werden, die nur Rodins äußere Gebärde darstellen.
Einmal hielten wir uns in der »Bagatelle« auf, diesem bezaubernden kleinen Palais, das der Graf d'Artois für Marie Antoinette erbauen ließ. Dort war in diesem Frühjahr eine Ausstellung von Frauenbüsten, darunter auch frühere Werke Rodins. In einer Vitrine stand eine Vase, die er in seiner Jugend für die Sèvre Manufaktur gearbeitet hatte. In der zarten Grazie der Porzellangöttinnen war noch nicht die Macht der späteren Jahre fühlbar. Welch besonders lieblicher Morgen schaute durch die hohen Glastüren herein, die auf weite grüne Wiesen blickten. In dem Jahre trugen alle Frauen von Paris große Blumenbüsche auf ihren Hüten. Zu Scharen strömten sie herein und erschienen in ihren leuchtenden Farben wie ein Frühlingsgruß. »Die Kunst im täglichen Leben ist nur noch in den Toiletten der Frauen zu finden«, sagte Rodin.
Oftmals verfiel er auch auf den weiteren Fahrten durchs Bois de Boulogne trotz der uns immer neu 90 beglückenden Pracht der werdenden Natur in Melancholien und düsteres Sinnen: »Nous sommes mal orientés« wiederholte er dann immer wieder und klagte über den Mangel an Verständnis bei den öffentlichen Behörden. Dann aber konnte ihn der Anblick eines blühenden Baumes wieder so beglücken, daß er alles vergaß. Im Atelier der Rue de l'Université jedoch stand der Ernst des Schaffens über ihm. Hier wurde alles Ablenkende abgestreift. In den ersten Sitzungen nahm er genau Maß. Er hielt nichts von der vagen Inspiration. Alles mußte bis ins Letzte seine Richtigkeit haben und durchgedacht werden. »Car ce n'est pas l'inspiration qu'il faut, c'est le travail.« Immer wiederholte er diesen Satz, den ich nach langen Jahren auch in einem seiner Briefe an einen begabten Bildhauer wiederfand. Eine Starrheit durfte in der Sitzung aber nicht aufkommen, sie sollte das Leben selber darstellen. Wie in Ardenza bat er mich zu spielen, jetzt meistens den Orpheus von Gluck, dessen langsame, düstere Chöre ihn besonders anregten. Wie beglückt war er dann mitten im Schaffen, wenn der Reigen der Seligen die dunkle Spannung löste. Manchmal überwältigte ihn die Gewalt seiner Ergriffenheit, und er mußte in 91 seiner Arbeit anhalten. Dann hallten die gewaltigen Töne von Gluck und Beethoven durch den Raum. Auf der »porte de l'enfer« zogen die Scharen der Verdammten. Ihre Seufzer schienen so ihren Ausdruck zu finden. Auch aus den Dichtern mußte ich ihm wieder vorlesen. So die Gedichte von Madame de Noailles, deren Schwung und Glanz uns bezauberte. Sie nennt sie selber »éblouissements«. Immer war um Rodin die große Bewegung, die beiseite schleudert, um neu zu schaffen, und man fühlte in diesen Stunden der Arbeit, wie jede Luftwelle um ihn zitterte. Diese lang ausholende, letzte Intensität, die mir vor kurzem besonders in den späten Werken Michel Angelos begegnete, war auch sein Gesetz. Die Furcht vor diesem Äußersten wohnt im Herzen des Sterblichen. Auch im Dante ist der Welt diese Gewalt erschienen, die bis in die tiefsten Abgründe der Hölle und des Himmels vorzudringen vermag. In diesem großen, unerbittlichen Mut reichen sich die Wenigen, die gewagt haben, einander über die Jahrhunderte hinweg die Hand. Ermüdung war für Rodin gleichbedeutend mit Erstarrung und Leblosigkeit. Wenn er oder ich eine Spur dieses Nachlassens der Kräfte zeigte, 92 betrachtete er die Arbeit in dieser Stunde als nutzlos. Eine Stelle am Hals ist bei der Marmorbüste aus diesem Grunde unausgeführt geblieben, weil die Biegung des Nackens nicht Nachdenklichkeit zeigt, sondern diese »fatigue« die Leere für ihn bedeutete. Auch in seinen Briefen kommt er oft auf den quälenden Zustand zeitweiliger Erschöpfung zu sprechen. »Manchmal scheint es mir, als säße ich in einem Automobil, das den Raum zermalmt und alles vernichtet, ich gleite und rutsche, mein Wille wird immer vergewaltigt. Ich habe etwas aufzubauen begonnen, das meine Kraft übersteigt. Ich bin müde und kann mich doch der schweren Last nicht entziehen, die ich trage. Ich scheine glücklich, aber die schönen Wege, die mein Gefährt zurücklegt, wandeln sich wieder in Schmerzen um, die über mein Vermögen gehn.« Und dann die fast kindliche Bitte (der Brief ist wieder nach Ardenza geschrieben): »Sagen Sie mir die Stunde und den Tag Ihres Spaziergangs nach der Kapelle von Monte Nero und stellen Sie eine kleine Kerze für mich unter die Madonna, denn dort hat meine Seele, haben meine Augen sich mit so viel Weite und Licht erfüllt. In die Villa zurückgekehrt singen und spielen Sie Gluck und 93 Beethoven. Grüßen Sie Apollo, den König des Meeres, wie wir es taten. Während dieser Zeit werde ich meinen Stein auf die andere Schulter laden, und meine alte Phantasie wird das italienische Leben neu erschauen.« In den Ateliersitzungen kam er immer wieder auf die Ardenzaer Zeit zurück, und einmal sank er beim Klang eins der so oft gehörten Andantes von Beethoven in die Knie. »Enfin j'ai retrouvé cette grande émotion.« Denn Beethoven war immer wieder eine Quelle des Lebens für ihn, wie er auch einmal schreibt: »Ich werde etwas Schönes von Beethoven schicken. Ein Stück, das mir während der Angriffe auf meinen Balzac von einem Unbekannten geschickt wurde und das mich getröstet hat.«
Doch gab es in der Rue de l'Université auch herbe Stunden, während der er mit der Materie rang. In immer mehr kleine Facetten wollte er die einzelnen Flächen auflösen. Wenn er in dieser Stimmung war, gestalteten sich unsere Gespräche herb und abgerissen. Auch bei mir entstand der Widerspruch und das sich aufbäumende Element. Wir wandelten im Schatten, der uns zu neuem Licht und neuen Ergebnissen führen sollte. Oft verließen wir das Atelier 94 erst am Nachmittag nach flüchtiger Mahlzeit auf einem Marmorblock.
Ich möchte Rodin in neuem Aufschwung wieder aus einem Brief sprechen lassen: »Die schönen Dinge sind natürlich und geben mir alles. Die Bäume, die Seelen, die so schön und hoch wie die Bäume sind. Wie herrlich ist es, einen Gedanken zu haben, der das ganze Weltall erfreut. Die unzerstörbare Schönheit ist auch in den Seelen unserer Freunde, denn ich sehe sie äußerlich unaufhörlich und ahne sie im Innern.«