Helene Nostitz
Rodin
Helene Nostitz

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Lucca

Des öfteren führte uns der Weg in das nahe Lucca oder Pisa. Es gibt in jeder Stadt eine Stelle, wo man den Geist des Ortes am stärksten fühlt, wo sie sich darstellt in ihrem tiefeigensten Charakter. In Lucca ist dies ein sonniger, klarer Platz mit einem einfachen weißen Brunnen. Einige kleine Löwenköpfe speien emsig das Wasser. In der Mitte des Beckens aber erhebt sich eine marmorne Lilie, die mühelos einen klaren Strahl zum Himmel sendet. Nicht weit ab lächelt segnend über einem gemauerten Tor eine liebliche Terracotta-Madonna mit dem Kinde, von den Sonnenstrahlen umspielt. Die ganze Helligkeit ist überragt vom Dunkel des mächtigen Doms. Auf diesem Platz spürt man Luccas Geist und fühlt darüber hinaus den Geist der heiteren Renaissance sich 52 lebensprühend und sorglos wie diese Lilie unter dem Schatten der großen Kirche entwickeln – der weisen Kirche, die all die lieblichen Gebilde sich nutzbar zu machen wußte und Natur und Kunst in das Geheimnis ihrer Welt hineinzog.

Lune Psyché. Aquarell

Als ich mit Rodin auf dem Platz stand, der in der Mittagssonne leuchtete, sagte er: »Die Städte Italiens schlummern, es ist schön, sich über ihren Traum zu beugen und ihren Schlaf zu betrachten.« Wir stiegen dann zu dem merkwürdigen Turm hinauf, auf dessen Dach hohe Bäume gewachsen sind und den Ausblick auf die hüglige Landschaft umrahmen. Da sprachen wir über Goethe. »Er hat«, meinte Rodin, »die Kunst beherrscht, aber nicht Beethoven verstanden, der sich hülfesuchend an ihn gewandt hatte – Beethoven, der der Welt die Bacchus-Schale gereicht hat und noch immer reicht. Nie hat er Italien sehen können, aber wie hätte er dieses Land geliebt.« Wir wanderten dann durch viele Kirchen, wo sich antike und christliche Kunst treffen. Rodin machte darauf aufmerksam, wie auf dem antiken Sarkophag zuerst die Gestalt vereinzelt und verlassen gewesen, späterhin dann die Gruppe gekommen sei und wie man in den christlichen Scenen noch Bewegungen 53 der früheren Musen finde. Eine berühmte Figur von Quercia wurde nicht von ihm bejaht: Die Lieblichkeit dieser jungen Frau mit dem Rosenkranz, zu deren Füßen ein kleiner Hund liegt, konnte ihn nicht überzeugen. Wenn er solch ein Urteil aussprach, tat er es wie unter einer höheren Macht stehend und erwartete keine Widerrede. Und als wir nun in dem kleinen Wagen weiter fuhren, verstummte er immer mehr und lehnte alle weiteren Eindrücke ab: »Man muß Enthaltsamkeit im Sehen üben.« In der Bahn zeigte ich ihm ein Gedicht von Maeterlinck, das der Madonna gewidmet ist. »Jedem, der weint und leidet, öffne ich an der Brust der Gestirne meine Hände voll Mitleid und Liebe. Die Schuld derer, die lieben, wird nicht dauern, und die Seele, die geliebt hat, stirbt nicht« – so ungefähr singen die tiefgefühlten Verse, die ich für Rodin abschreiben mußte. Während die kleine Bahn durch die schon abendliche Landschaft fuhr, in der die Feuerfliegen ihren nächtlichen Tanz begannen, las er immer wieder diese Zeilen, und später schreibt er darüber noch in einem Brief: »Oft ziehe ich aus meinem Notizbuch den Gesang an die Madonna.« 54

 


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