Richard Nordhausen
Das Gespenst
Richard Nordhausen

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V.

»Hast du's deinem Vater nun gesagt?« fragte Heinrich, als er am Abend zurückgekommen war, seine Frau. »Du darfst es nun aber nicht länger aufschieben. Jede Stunde ist jetzt wichtig, wichtiger, als du ahnst. Wenn mir niemand hilft, nicht einmal du – ich weiß nicht, Mieze, was ich dann tue. Ich bin verzweifelt. Ich kann nicht mehr aus noch ein,«

Marianne sah ihn mit starren Blicken an. In ihrem Hirn wälzte sie Tag und Nacht finstere Gedanken, und alle klangen aus in einen Akkord, in die Klage um ihr verlorenes Glück. Ihren Vater, der nicht aus streng rechtlichen Beweggründen, sondern aus niedriger, greisenhafter Eifersucht seines Bruders Kind in die Fremde, ins Verderben gestoßen hatte; ihren Mann, dem es mit des Vaters Hilfe gelungen war, sie zu dieser freudlosen, kühlen Ehe zu überreden – wie sie die beiden nun haßte! Jeder von ihnen heischte sein gerüttelt Maß von den Freuden des Lebens, war nicht gesonnen, heldenhaft Verzicht zu leisten; jeder suchte Unterstützung und Trost bei ihr, die doch wahrlich keinen Grund hatte, ihnen dankbar zu sein. Und sie selbst sollte vom Paradiese ausgeschlossen bleiben. War ihr Rechtstitel auf Glück minder gültig als der dieser beiden? Und war keine Verschiebung der Verhältnisse denkbar, die ihr den Weg zum Glücke bahnte?

Alle diese Vorstellungen und Wünsche schwebten schattenhaft durch ihre Seele, während Heinrich zu ihr sprach. Und seine Worte: »Ich weiß nicht, was ich dann tue« erweckten, weit entfernt davon, sie zu erschrecken und anzuspornen, eine verbrecherische Hoffnung in ihr – eine Hoffnung, deren sie sich in der nächsten Sekunde freilich bitterlich schämte. Aber sie fühlte jetzt klarer als vorher, daß eine fremde Macht von ihrem Innenleben Besitz ergriffen hatte, und daß allzubald ihre Empfindungen beherrschen würde, was sich heut' erst schüchtern und heimlich regte. Ein Gefühl wie Furcht vor sich selbst überlief sie, und sie zwang sich, dem Gatten ein freundliches Gesicht zu zeigen.

»Papa ist in furchtbarer Laune. Es hat ihm jemand Mitteilungen über seine Braut gemacht, die ihn aufs äußerste verstimmen – ich hab' ihn nie so gesehen, und ich wagt' es nicht, ihm zu alledem auch noch von deinem Mißgeschick zu erzählen.«

»Diese Schauspielerin? Hab' ich's nicht gesagt!« rief Heinrich mit schlecht verhohlener Schadenfreude, »Ich wußte, daß sie dem alten – na, entschuldige – daß sie deinem Vater Malheur bringen würde. Diese Art Frauenzimmer – – ach, wie ist das alles ekelhaft.«

»Du warst doch anfangs sehr einverstanden mit Papas Wahl!«

»Anfangs, anfangs! Ich tat so, um den Frieden nicht zu stören. Aber angenehm kann es uns doch wahrhaftig nicht sein, daß sich neue Erben eindrängen! Und dann lag vor Beginn des Streiks die Sache noch anders als jetzt. Dein Vater ist an dem ganzen Unglück schuld. Er hat sich schon lange nicht mehr so um die Fabrik bekümmert, wie's seine Pflicht gewesen wäre. Das Weib, das vermaledeite, steckte ihm eben im Sinn. Gott, er kann mir ja eigentlich leid tun, er ist so sehr in sie vernarrt, und ich wollte ja ganz gern alle Arbeit auf mich nehmen, wenn er mir nur plein pouvoir gäbe. Aber so ist man wie ein Schuljunge. Hätt' ich die Breslauer Geschichte damals mit ihm besprechen können – aber dazu war ja keine Aussicht. Und so riskierte ich's dann auf eigene Faust, und nun – nun sitzen wir da. Und nicht einmal jetzt hat er Zeit und Laune für so wichtige Fragen.«

»Du bist sehr ungerecht. Du trägst doch allein alle Schuld.«

»Nicht wahr! Jawohl, klage mich nur an, verhimmele deinen Vater! Ich habe meine Pflicht zu jeder Stunde getan, und wenn ich in Breslau selbständig vorging, so geschah's doch nicht meinetwegen, sondern dem Geschäft zuliebe ... Nun gut, wenn du zu feige bist, sag' ich's ihm selber. Einmal muß Klarheit geschaffen werden. Und was kann er mir denn schließlich anhaben – du bist ja seine Tochter!«

Als Lasser aber mit finsterer Miene ins Zimmer getreten war und sich nach kurzem Gruß abseits in eine Ecke gesetzt hatte, anscheinend um seine Zeitung zu lesen, in Wahrheit jedoch, um finsteren Gedanken ungestört nachhängen zu können, verlor Martiensen allen kecken Mut und begnügte sich damit, dann und wann eine gleichgültige Frage an seine Frau zu richten. Marianne musterte verstohlen die beiden Männer, die Heiterlinge, die nun unter kleinen, fast lächerlichen Sorgen zusammenbrachen und es so wenig verstanden oder verstehen wollten, sich zu bezwingen. Und sie dachte, wie doch so überlegen das Weib in dieser Beziehung ist, wie es zerschmetternden Schmerz und alle Lebensfreude vergiftenden Kummer geduldig zu tragen und zu verbergen weiß. Bis der Tag kommt, da es unter der Last zusammenbricht ...

»Im Geschäft ist nichts von Bedeutung vorgefallen?« erkundigte sich Lasser endlich gleichgültig.

»Nein. Die Breslauer mahnten durch eingeschriebenen Brief und Telegramm. Sie sind in tödlicher Verlegenheit. Sie schreiben, es ginge doch sie nichts an, daß wir Streik oder sonst etwas hätten; dergleichen Lohnzwistigkeiten zu schlichten wäre Sache der Fabrikanten, die Kunden dürften nicht darunter leiden.«

»So? Sehr schlau. Uns ist es auch egal. Wenn sie in dem Ton reden, gerade nicht. Sie sollen sich ihre Maschinen bauen lassen, wo sie wollen.«

»Der schöne Auftrag –«

»'s ist um manchen Muttersohn schade. Zwingen können sie uns ja zum Glück nicht. Sehen Sie, Martiensen, das ist das Gute, wenn man sich nie zu etwas Bindendem verpflichtet; kein Mensch, und hätte er die schärfsten Augen, kann auch nur einen halben Meter weit in die Zukunft schauen.«

Martiensen schwieg. Es gärte und kochte in ihm, all die aufgespeicherte Wut rang nach Ausdruck, wollte sich entladen, aber er war doch nicht mutig genug zur Rebellion. Und so versuchte er denn, sich auf einem anderen Gebiete an seinem Schwiegervater zu rächen, ihn an einer Stelle zu treffen, wo er leicht verwundbar war. Selbst diesen stillen und gutmütigen Menschen hatte die Aufregung der letzten Wochen und die nagende Qual, die ohnmächtiges Ankämpfen gegen Schicksalsmächte verursacht, so in seinem Wesen verändert, daß es ihm Freude bereitete, zu kränken und anderen ähnliche Pein zu schaffen, wie er selbst erduldete.

»Wie geht es Fräulein Minden?« erkundigte er sich ganz unvermittelt, mit auffälligem Interesse. »Ich habe sie lange nicht gesehen.«

Der Fabrikant fixierte seinen Schwiegersohn einen Moment lang sehr scharf, worauf er sich an Marianne wandte. »So verschwiegen könnt ihr Weiber doch gar nicht sein. Du hast doch zweifellos Heinrich schon erzählt –.«

Es machte ihr Vergnügen, die Verstimmung zwischen beiden Männern zu schüren. »Gewiß hab' ich ihm alles erzählt.«

»Und warum fragen Sie mich dann, Herr Martiensen? Ich finde solche Scherze sehr unpassend, um nicht zu sagen, albern.«

»Herr Lasser!« Heinrich war aufgesprungen. Marianne folgte der Entwicklung des Kampfes mit gespannter Aufmerksamkeit.

»Was beliebt? Ich hoffe, daß Sie ein anderes Mal zu berücksichtigen wissen, was Sie mir schuldig sind. Es steht Ihnen wahrhaftig schlecht zu Gesichte, an der Verdrießlichkeit, die mich betroffen hat, noch Ihren Spott zu üben. Wenn Sie das nicht selbst erkennen –«

Heinrichs Kampflust war schon wieder verflogen. Er empfand, wie unverantwortlich töricht er handelte, wenn er den Alten reizte, und er wußte zu gut, wie lange Lasser Beleidigungen nachtrug. »Sie haben mich ganz mißverstanden,« beeilte er sich zu erwidern. »Es lag mir daran, aus Ihrem eigenen Munde zu hören, was Marianne nur obenhin angedeutet hatte. Es ist doch selbstverständlich, daß ich lebhaften Anteil an Ihrem ... hm.«

Es war gut, daß Martiensen nicht das höhnisch verächtliche Lächeln sah, daß die Züge seiner Frau verzerrte.

»Ihr Interesse ist mir angenehm, aber Sie würden mich doch recht verbinden, wenn Sie sich um meine persönlichen Angelegenheiten weniger genau kümmern wollten«, unterbrach Lasser seinen Teilhaber. »Es genügt, wenn sich einer ärgert. Und ich bin wirklich nicht in der Laune, diese unerquickliche Affäre noch einmal breitzutreten« –

Man hörte Stimmen im Entree und auf der Treppe, wie flüsternde Unterhaltung einer größeren Anzahl Männer. Lasser blickte auf seinen großen Chronometer und sagte zu Marianne, die ihn erstaunt fragend ansah: »Ich vergaß ganz, euch davon in Kenntnis zu setzen – die Arbeiter haben mich um eine Unterredung gebeten, und ich habe sie ihnen für diese Stunde bewilligt – weil ich tags über außerm Hause zu tun hatte.«

»Die Arbeiter?« Marianne fühlte, wie ihr das Blut siedend heiß in die Wangen stieg; ihr Herz pochte plötzlich so laut und ein Schwindel überkam sie, daß sie sich wie erschöpft an die Wand lehnte. Nun würde auch er kommen, unerwartet ...

Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel und strich ihr glänzendes blondes Haar zurecht. Heinrich, der sie beobachtete und sich von der Überraschung wieder erholt hatte, lachte belustigt auf. »Du machst Toilette für die Kerle, Mieze? Sieh mal einer an! Die werden sich ja kolossal geehrt fühlen.«

Marianne erwiderte nichts, denn sie mußte mit Recht befürchten, sich durch ihre fieberhafte Erregtheit zu verraten. Sie machte den Versuch, in Heinrichs Lachen einzustimmen, und als der Vater bemerkte, daß die bevorstehenden Verhandlungen ihre Gegenwart wohl kaum erforderten, neigte sie nur leicht das Haupt und begab sich ins Nebenzimmer.

Und da löste sich die furchtbare Spannung ihrer Seele. Sie sank vorm Diwan zusammen, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte in sich hinein. Minuten vergingen so. Drinnen ward Stimmenlärm laut, verworrenes Reden, ein fast leidenschaftliches Durcheinander. Sie lauschte. Zwar vermochte sie Reinholds Stimme nicht zu erkennen, aber sie glaubte doch Gewißheit zu haben, daß er sich unter der Schar befand, sich nun mit dem Vater auseinandersetzen würde. Und durch die nächtige Finsternis ihres Herzens schwebte wie ein bunter Falter ein froher Gedanke ...


»Sie haben Ihren Führer zu Hause gelassen,« redete der Fabrikherr die Deputation an, deren Mitglieder ihm sämtlich als tüchtige und verständige Arbeiter gut bekannt waren. Es tat ihm wohl, schien ihm ein Zeichen von Ehrerbietung, daß man gerade die älteren Leute gesandt hatte, nicht die leicht erregbaren und zu Ausschreitungen geneigten jüngeren. »Ich hoffe, Sie werden sich überhaupt von den Verhetzern freimachen oder haben es schon getan – dann soll's uns nicht schwer fallen, zu einer Einigung zu kommen. Na also, Pfeiffer, schießen Sie los. Was haben Sie uns zu sagen?«

»Diss' vor allen Dingen, daß der Kowalski sich geweigert hat, mitzugehen, und wir haben ihn doch sehr darum gebeten – wir könnten das alles ebensogut erledigen wie er, meente er, und wären daderzu mit Ihnen besser bekannt und mit die inneren Verhältnisse. Er hat ja so unrecht nich, und überhaupt, der weeß, wat er will. Een Verhetzer is er nich. Er sagt ooch, det Sie uff unsere Bedingungen eingehen werden.«

»rsaquo;Eingehenrlsaquo; wäre das richtige Wort, aber so oft ich in meinem Leben auch schon eingegangen bin, diesmal nicht«, spaßte Lasser. »Das muß ja ein Allerweltsmensch sein, Ihr Kowalski. Schlimm genug, daß meine Arbeiter sich aufwiegeln lassen, so vernünftige Kerle wie Sie, und noch schlimmer, daß Sie sich ein wildfremdes Subjekt zum Führer wählen,«

»Da drüber wollen wir uns man lieber nich unterhalten, Herr Lasser,« entgegnete der Sprecher unter dem beifälligen Gemurmel seiner Freunde. »Die Sache is die. Wir können es ja noch ganz jut 'ne hübsche Weile lang aushalten, der Kowalski hat Jeld genug beschafft. Aber sehen Sie, Herr Lasser, man will ja doch schließlich ooch nich am Ende een Vierteljahr lang uff de Bärenhaut liegen und sich von andere ernähren lassen. Denen hacken die paar Jroschen ooch nich so dicke, na, und überhaupt –«

»Also?«

»Nu läßt Ihnen Genosse Kowalski also diss' bestellen, und meine Kollejen sind Zeugen. Sie willigen vom nächsten Montag ab in die verlangte Lohnerhöhung, maßrejeln keenen von uns, und die Fabrikordnung muß von 'ne Kommission revidiert werden, wodrin sie beede und zwee von uns Jewählte und een Schiedsmann sitzen. Nich wahr, so sagte er doch.«

»Jenau so«, erklärte sein Nebenmann.

Lasser lachte abermals, während Heinrich in nervöser Unruhe hin und her lief.

»Leute,« sagte er hastig, »nehmt doch Vernunft an. Auf solche Bedingungen können wir doch nicht eingehen. Was den Lohn anbelangt, so wollen wir ja unser Möglichstes tun –«

»Ich bitte doch, Herr Sozius!« unterbrach ihn Lasser. »Nichts wollen wir tun. Gar nichts. Entweder, sie unterwerfen sich, in allen Punkten, oder die Fabrik bleibt geschlossen. Damit basta. Es ist 'ne Frechheit, mir solche Bedingungen ... na, ich will mich nicht ärgern. Dafür ist die Sache doch viel zu komisch.«

»So unjefehr hat uns Kowalski jesagt, det Sie zuerst reden würden«, fuhr der Alte siegesgewiß fort. »Aber nachher ... Paul, wie hat der Kowalski jesagt? Du hast ja'n bessern Kopp als ick dafor. Sag' et du Herrn Lasser, aber Wort für Wort, verstehste.«

»Dem Herrn Lasser nicht, dem Herrn Martiensen sollen wir's sagen,« erwiderte der Angeredete, ein klug blickendes und sehr gewählt sprechendes Männchen. »Kowalski meint, Herr Martiensen würde schon wissen, weshalb Sie nachgeben müßten – wegen des Geschäftes mit Breslau. Weiter nichts.«

Die Arbeiter beobachteten gespannt den Eindruck, den die Worte ihres Redners auf die Fabrikherren machten; sie erwarteten ganz offenbar mit fast abergläubischer Bestimmtheit zerschmetternde Wirkung davon. Und in der Tat, sie sollten sich in ihrer Hoffnung nicht betrogen sehen. Martiensen taumelte, als hätt' er aus dem Hinterhalte einen Schuß ins Herz empfangen; leichenblaß war sein Gesicht, und nur einige unverständliche Laute rangen sich aus seiner Kehle. Konrad Lasser blickte seinen Mitarbeiter verständnislos an. Pfeiffer aber rieb sich vergnügt die derben Hände, und seine Genossen flüsterten miteinander.

»Was soll das heißen?« fragte der Fabrikant neugierig. »Wollen Sie mir nicht erklären, Herr Sozius –«

»Gehen Sie auf einen Augenblick hinaus«, wandte sich Martiensen, der mit Mühe seine Haltung wieder gewonnen hatte, an die Werkleute. »Lassen Sie uns einen Augenblick allein.« Er wischte den Schweiß von der glühenden Stirne. »Gehen sie. Wir – wir wollen über eine Antwort beraten.«

»Was ist das?« fragte Konrad erschrocken. »Mein Gott, was haben –«

»Gehen Sie, gehen Sie doch!« drängte Martiensen den letzten, Zögernden zur Tür hinaus.

Der Mann gehorchte schweigend, siegessicher. – –

Zehn Minuten später war der Streik beendet, sämtliche Forderungen der Ausständigen waren bewilligt. Kowalski hatte recht behalten.


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