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Der Philister als der Stifter der Religion der Zukunft – das ist der neue Glaube in seiner eindrucksvollsten Gestalt; der zum Schwärmer gewordene Philister – das ist das unerhörte Phänomen, das unsere deutsche Gegenwart auszeichnet. Bewahren wir uns aber vorläufig auch in Hinsicht auf diese Schwärmerei einen Grad von Vorsicht: hat doch kein anderer als David Strauß uns solche Vorsicht in folgenden weisen Sätzen angeraten, bei denen wir freilich zunächst nicht an Strauß, sondern an den Stifter des Christentums denken sollen, (S. 80) »wir wissen: es hat edle, hat geistvolle Schwärmer gegeben, ein Schwärmer kann anregen, erheben, kann auch historisch sehr nachhaltig wirken; aber zum Lebensführer werden wir ihn nicht wählen wollen. Er wird uns auf Abwege führen, wenn wir seinen Einfluß nicht unter die Kontrolle der Vernunft stellen.« Wir wissen noch mehr, es kann auch geistlose Schwärmer geben, Schwärmer, die nicht anregen, nicht erheben und die sich doch Aussicht machen, als Lebensführer historisch sehr nachhaltig zu wirken und die Zukunft zu beherrschen: um wieviel mehr sind wir aufgefordert, ihre Schwärmerei unter die Kontrolle der Vernunft zu stellen. Lichtenberg meint sogar: »es gibt Schwärmer ohne Fähigkeit, und dann sind sie wirklich gefährliche Leute.« Einstweilen begehren wir, dieser Vernunft-Kontrolle halber, nur eine ehrliche Antwort auf drei Fragen. Erstens: wie denkt sich der Neugläubige seinen Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Mut, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens: wie schreibt er seine Bücher? Strauß, der Bekenner, soll uns die erste und zweite Frage, Strauß, der Schriftsteller, die dritte beantworten.
Der Himmel des Neugläubigen muß natürlich ein Himmel auf Erden sein: denn der christliche »Ausblick auf ein unsterbliches, himmlisches Leben« ist, samt den anderen Tröstungen für den, der »nur mit einem Fuße« auf dem Straußschen Standpunkt steht, »unrettbar dahingefallen« (S. 364). Es will etwas besagen, wenn sich eine Religion ihren Himmel so oder so ausmalt: und sollte es wahr sein, daß das Christentum keine andere himmlische Beschäftigung kennt als Musizieren und Singen, so mag dies freilich für den Straußschen Philister keine tröstliche Aussicht sein. Es gibt aber in dem Bekenntnisbuche eine paradiesische Seite, die Seite 294: dieses Pergamen laß dir vor allem entrollen, beglücktester Philister! Da steigt der ganze Himmel zu dir nieder. »Wir wollen nur noch andeuten, wie wir es treiben«, sagt Strauß, »schon lange Jahre her getrieben haben. Neben unserem Berufe – denn wir gehören den verschiedensten Berufsarten an, sind keineswegs bloß Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbetreibende und Gutsbesitzer, und noch einmal, wie schon gesagt, wir sind unserer nicht wenige, sondern viele Tausende und nicht die Schlechtesten in allen Landen – neben unserem Berufe, sage ich, suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschlichkeit: wir haben während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem großen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unsrer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständnis dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere Naturkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen Hilfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den Schriften unserer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unserer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig läßt. So leben wir, so wandeln wir beglückt.«
Das ist unser Mann, jauchzt der Philister, der dies liest: denn so leben wir wirklich, so leben wir alle Tage. Und wie schön er die Dinge zu umschreiben weiß! Was kann er zum Beispiel unter den geschichtlichen Studien, mit denen wir dem Verständnisse der politischen Lage nachhelfen, mehr verstehen, als die Zeitungslektüre, was unter dem lebendigen Anteil an der Aufrichtung des deutschen Staates, als unsere täglichen Besuche im Bierhaus? und sollte nicht ein Spaziergang im zoologischen Garten das gemeinte »gemeinverständliche Hilfsmittel« sein, durch das wir unsere Naturkenntnis erweitern? Und zum Schluß – Theater und Konzert, von denen wir »Anregungen für Phantasie und Humor« mit nach Hause bringen, die »nichts zu wünschen übrig lassen« – wie würdig und witzig er das Bedenkliche sagt! Das ist unser Mann; denn sein Himmel ist unser Himmel!
So jauchzt der Philister: und wenn wir nicht so zufrieden sind wie er, so liegt es daran, daß wir noch mehr zu wissen wünschten. Scaliger pflegte zu sagen: »was geht es uns an, ob Montaigne roten oder weißen Wein getrunken hat!« Aber wie würden wir in diesem wichtigeren Falle eine solche ausdrückliche Erklärung schätzen! Wie, wenn wir auch noch erführen, wieviel Pfeifen der Philister täglich nach der Ordnung des neuen Glaubens raucht, und ob ihm die Spenersche oder die National-Zeitung sympathischer bei dem Kaffee ist. Ungestilltes Verlangen unserer Wißbegierde! Nur in einem Punkte werden wir näher unterrichtet, und glücklicherweise betrifft dieser Unterricht den Himmel im Himmel, nämlich jene kleinen ästhetischen Privatzimmerchen, die den großen Dichtern und Musikern geweiht sind, und in denen der Philister sich »erbaut«, in denen sogar, nach seinem Geständnis, »alle seine Flecken hinweggetilgt und abgewaschen werden (S. 363); so daß wir jene Privatzimmerchen als kleine Lustrations-Badeanstalten zu betrachten hätten. »Doch das ist nur für flüchtige Augenblicke, es geschieht und gilt nur im Reiche der Phantasie; sobald wir in die rauhe Wirklichkeit und das enge Leben zurückkehren, fällt auch die alte Not von allen Seiten uns an« – so seufzt unser Magister. Benutzen wir aber die flüchtigen Augenblicke, die wir in jenen Zimmerchen weilen dürfen; die Zeit reicht gerade aus, das Idealbild des Philisters, das heißt den Philister, dem alle Flecken abgewaschen sind und der jetzt ganz und gar reiner Philistertypus ist, von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. In allem Ernste, lehrreich ist das, was sich hier bietet: möge keiner, der überhaupt dem Bekenntnisbuche zum Opfer gefallen ist, diese beiden Zugaben mit den Überschriften »von unseren großen Dichtern« und »von unseren großen Musikern«, ungelesen aus den Händen fallen lassen. Hier spannt sich der Regenbogen des neuen Bundes aus, und wer an ihm nicht seine Freude hat, »dem ist überhaupt nicht zu helfen«, der ist, wie Strauß bei einer anderen Gelegenheit sagt, aber auch hier sagen könnte, »für unseren Standpunkt noch nicht reif«. Wir sind eben im Himmel des Himmels. Der begeisterte Perieget schickt sich an, uns herumzuführen und entschuldigt sich, wenn er aus allzugroßem Vergnügen an alle dem Herrlichen wohl etwas zu viel reden werde. »Sollte ich vielleicht«, sagt er uns, »redseliger werden, als bei dieser Gelegenheit passend gefunden wird, so möge der Leser es mir zu Gute halten; wessen das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Nur dessen sei er vorher noch versichert, daß, was er demnächst lesen wird, nicht etwa aus älteren Aufzeichnungen besteht, die ich hier einschalte, sondern daß es für den gegenwärtigen Zweck und für diese Stelle geschrieben ist« (S. 296). Dies Bekenntnis setzt uns einen Augenblick in Erstaunen. Was kann es uns angehen, ob die schönen Kapitelchen neu geschrieben sind! Ja, wenn es aufs Schreiben ankäme! Im Vertrauen, ich wollte, sie wären ein Vierteljahrhundert früher geschrieben, dann wüßte ich doch, warum mir die Gedanken so verblichen vorkommen und warum sie den Geruch modernder Altertümer an sich haben. Aber, daß etwas im Jahre 1872 geschrieben wird, und im Jahre 1872 auch schon moderig riecht, bleibt mir bedenklich. Nehmen wir einmal an, daß jemand bei diesen Kapiteln und ihrem Geruche einschliefe – wovon würde er wohl träumen? Ein Freund hat mir's verraten, denn er hat es erlebt. Erträumte von einem Wachsfigurenkabinett: die Klassiker standen da, aus Wachs und Perlen zierlich nachgemacht. Sie bewegten Arme und Augen, und eine Schraube im Innern knarrte dazu. Etwas Unheimliches sah er da, eine mit Bändchen und vergilbtem Papier behängte unförmige Figur, der ein Zettel aus dem Munde hing, auf welchem »Lessing« stand; der Freund will näher hinzutreten und gewahrt das Schrecklichste: es ist die homerische Chimära, von vorne Strauß, von hinten Gervinus, in der Mitte Chimära – in summa Lessing. Diese Entdeckung erpreßte ihm einen Angstschrei, er erwachte und las nicht weiter. Warum haben Sie doch, Herr Magister, so moderige Kapitelchen geschrieben!
Einiges Neue lernen wir zwar aus ihnen, zum Beispiel, daß man durch Gervinus wisse, wie und warum Goethe kein dramatisches Talent gewesen sei, daß Goethe im zweiten Teile des Faust nur ein allegorisch-schemenhaftes Produkt hervorgebracht habe, daß der Wallenstein ein Macbeth sei, der zugleich Hamlet ist, daß der Straußsche Leser aus den Wanderjahren die Novellen herausklaubt, wie ungezogene Kinder die Rosinen und Mandeln aus einem zähen Kuchenteig, daß ohne das Drastische und Packende auf der Bühne keine volle Wirkung erreicht werde, und daß Schiller aus Kant wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei. Das ist freilich alles neu und auffallend, aber es gefällt uns nicht, ob es gleich auffällt; und so gewiß es neu ist, so gewiß wird es nie alt werden, weil es nie jung war, sondern als Großonkel-Einfall aus dem Mutterleibe kam. Auf was für Gedanken kommen doch die Seligen neuen Stils in ihrem ästhetischen Himmelreich! Und warum haben sie nicht wenigstens einiges vergessen, wenn es nun einmal so unästhetisch, so irdisch vergänglich ist und noch dazu den Stempel des Albernen so sichtlich trägt, wie zum Beispiel einige Lehrmeinungen des Gervinus! Fast scheint es aber, als ob die bescheidene Größe eines Strauß und die unbescheidene Minimität des Gervinus nur zu gut sich miteinander vertragen wollten: und Heil dann allen jenen Seligen, Heil auch uns Unseligen, wenn dieser unbezweifelte Kunstrichter seinen angelernten Enthusiasmus und seinen Mietpferde-Galopp, von dem mit geziemender Deutlichkeit der ehrliche Grillparzer geredet hat, nun auch wieder weiter lehrt, und bald der ganze Himmel unter dem Hufschlag jenes galoppierenden Enthusiasmus wiederklingt! Dann wird es doch wenigstens etwas lebhafter und lauter zugehen als jetzt, wo uns die schleichende Filzsocken-Begeisterung unseres himmlischen Führers und die laulichte Beredsamkeit seines Mundes auf die Dauer müde und ekel machen. Ich möchte wissen, wie ein Halleluja aus Straußens Munde klänge: ich glaube, man muß genau hinhören, sonst kann man glauben, eine höfliche Entschuldigung oder eine geflüsterte Galanterie zu hören. Ich weiß davon ein belehrendes und abschreckendes Beispiel zu erzählen. Strauß hat es einem seiner Widersacher schwer übelgenommen, daß er von seinen Reverenzen vor Lessing redet – der Unglückliche hatte sich eben verhört –; Strauß freilich behauptet, das müsse ein Stumpfsinniger sein, der seinen einfachen Worten über Lessing in Nr. 90 nicht anfühle, daß sie warm aus dem Herzen kommen. Ich zweifle nun an dieser Wärme durchaus nicht; im Gegenteil hat diese Wärme für Lessing bei Strauß mir immer etwas Verdächtiges gehabt; dieselbe verdächtige Wärme für Lessing finde ich, bis zur Erhitzung gesteigert, bei Gervinus; ja im ganzen ist keiner der großen deutschen Schriftsteller bei den kleinen deutschen Schriftstellern so populär wie Lessing; und doch sollen sie keinen Dank dafür haben: denn was loben sie eigentlich an Lessing? Einmal seine Universalität: er ist Kritiker und Dichter, Archäolog und Philosoph, Dramaturg und Theolog. Sodann »diese Einheit des Schriftstellers und des Menschen, des Kopfes und des Herzens«. Das letztere zeichnet jeden großen Schriftsteller, mitunter selbst den kleinen aus, im Grunde verträgt sich sogar der enge Kopf zum Erschrecken gut mit einem engen Herzen. Und das erstere, jene Universalität, ist an sich gar keine Auszeichnung, zumal sie in dem Falle Lessings nur eine Not war. Vielmehr ist gerade dies das Wunderbare an jenen Lessing-Enthusiasten, daß sie eben für jene verzehrende Not, die ihn durch das Leben und zu dieser »Universalität« trieb, keinen Blick haben, kein Gefühl, daß ein solcher Mensch wie eine Flamme zu geschwind abbrannte, keine Entrüstung dafür, daß die gemeinste Enge und Armseligkeit aller seiner Umgebungen und namentlich seiner gelehrten Zeitgenossen so ein zart erglühendes Wesen trübte, quälte, erstickte, ja daß eben jene gelobte Universalität ein tiefes Mitleid erzeugen sollte. »Bedauert doch«, ruft uns Goethe zu, »den außerordentlichen Menschen, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben, daß er immerfort polemisch wirken mußte.« Wie, ihr, meine guten Philister, dürftet ohne Scham an diesen Lessing denken, der gerade an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zugrunde ging, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmanns Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befreien, bei den Jesuiten um Hilfe betteln ging und dessen schmählicher Übertritt nicht ihn, sondern euch geschändet hat? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen, ohne zu erröten? Seht sein Bild euch an! Das funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödlich gerötete Wange, das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches, göttliches Spielzeug, das durch euch zerbrochen wurde. Und nehmt noch Goethes Freundschaft aus diesem verkümmerten, zu Tode gehetzten Leben heraus, an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller erlöschen zu machen! Bei keinem Lebenswerk eurer großen Genien habt ihr mitgeholfen, und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, daß keinem mehr geholfen werde? Aber bei jedem wart ihr jener »Widerstand der stumpfen Welt«, den Goethe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für jeden wart ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaften Selbstsüchtigen: trotz euch schufen sie jene ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe, und Dank euch sanken sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen gebrochen oder betäubt, dahin. Und euch sollte es jetzt, tamquam re bene gesta, erlaubt sein, solche Männer zu loben! und dazu mit Worten, aus denen ersichtlich ist, an wen ihr im Grunde bei diesem Lobe denkt, und die deshalb »so warm aus dem Herzen dringen«, daß einer freilich stumpfsinnig sein muß, um nicht zu merken, wem die Reverenzen eigentlich erwiesen werden. Wahrhaftig, wir brauchen einen Lessing, rief schon Goethe, und wehe allen eitlen Magistern und dem ganzen ästhetischen Himmelreich, wenn erst der junge Tiger, dessen unruhige Kraft überall in schwellenden Muskeln und im Blick des Auges sichtbar wird, auf Raub ausgeht.