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Die beiden vorliegenden Schriften sammt dem letzten Abschnitt aus dem Nachlaß sind in den Zwischenzeiten von meines Bruders trübstem Gesundheitszustand geschrieben. Schon im Frühjahr 1878, nach der Vollendung des I. Bandes von Menschliches, Allzumenschliches hatte er den Entschluß gefaßt, seine Professur an der Universität Basel aufzugeben; aber beide Freunde, Erwin Rohde sowohl als Karl von Gersdorff, legten so eifrig direkt und indirekt durch Andere gegen diesen Entschluß Protest ein, daß er sich noch einmal überreden ließ, in seinem Amte zu verbleiben. Auch begann er das Sommersemester 1878, nachdem er sich vier Wochen in Baden-Baden erholt hatte, mit einem recht guten Gesundheitszustand, sodaß er noch einmal frischen Muth faßte, mit Hilfe einer veränderten Lebensweise seine beiden Pflichten, sein Amt und seine eigenste, höhere Aufgabe mit einander durchzuführen. Es hatte sich erwiesen, daß das Klima von Basel besonders ungeeignet für ihn war; so wollte er sich dort nur ein Absteigequartier nehmen, die Woche über seine Collegien halten und alle Sonnabende in die so leicht zu erreichende Höhenluft der Schweizer Berge entfliehen. Bis Ende November 1878 hat ihm auch diese Lebensweise recht wohlgethan. Während dieser Zeit ist die erste Schrift dieses Bandes »Vermischte Meinungen und Sprüche« zum größten Theil entstanden, welcher er noch eine Nachlese von Aphorismen hinzufügte, die er den Niederschriften aus Sorrent und Rosenlauibad entnahm. Das Manuskript wurde von der trefflichen Freundin Frau Marie Baumgartner in Lörrach für den Druck abgeschrieben und von meinem Bruder geordnet und nachgeprüft. War es nun wiederum die Übermüdung seiner Augen oder hatte er sich sonst überarbeitet – kurzum, gegen Weihnachten wurde er wieder so von Schmerzen der Augen und des Kopfes gequält, daß er von nun an den festen Entschluß faßte, sich von Basel loszulösen. Eine Osterreise mit Aufenthalt in Genf brachte keine Erleichterung; und im Frühjahr 1879, bei Anfang des Sommersemesters, befiel ihn ein solcher Zustand der Schwäche, daß sein Arzt die höchste Besorgniß hatte und Jedermann glaubte, daß es mit seinem Leben bald zu Ende gehen müßte. Ich war damals in Naumburg bei meiner Mutter und wurde schnell zu ihm gerufen. Wir verließen Basel sogleich, um in der Nähe von Bern, Schloß Bremgarten, einen Höhenluftkurort, aufzusuchen. So elend wie damals habe ich meinen theuern Bruder nie gesehen; er entschloß sich auch, sein Abschiedsgesuch bei der Erziehungsbehörde einzureichen:
»Der Zustand meiner Gesundheit, dessentwegen ich mich schon mehrere Male mit einem Gesuch an Sie wenden mußte, läßt mich heute den letzten Schritt thun und die Bitte aussprechen, aus meiner bisherigen Stellung als Lehrer an der Universität ausscheiden zu dürfen. Die inzwischen immer noch gewachsene äußerste Schmerzhaftigkeit meines Kopfes, die immer größer gewordene Einbuße an Zeit, welche ich durch die zwei- bis sechstägigen Anfälle erleide, die von Neuem (durch Herrn Schieß) festgestellte erhebliche Abnahme meines Sehvermögens, welche mir kaum noch zwanzig Minuten erlaubt ohne Schmerzen zu lesen und zu schreiben – dies Alles zusammen drängt mich einzugestehen, daß ich meinen akademischen Pflichten nicht mehr genügen, ja ihnen überhaupt von nun an nicht mehr nachkommen kann, nachdem ich schon in den letzten Jahren mir manche Unregelmäßigkeit in der Erfüllung dieser Pflichten, jedesmal zu meinem großen Leidwesen, nachsehen mußte. Es würde zum Nachtheile unserer Universität und der philologischen Studien an ihr ausschlagen, wenn ich noch länger eine Stellung bekleiden müßte, der ich jetzt nicht mehr gewachsen bin; auch habe ich keine Aussicht mehr in kürzerer Zeit auf eine Besserung in dem chronisch gewordenen Zustande meines Kopfleidens rechnen zu dürfen, da ich nun seit Jahren Versuche über Versuche zu seiner Beseitigung gemacht und mein Leben auf das Strengste danach geregelt habe, unter Entsagungen jeder Art – umsonst, wie ich mir heute eingestehen muß, wo ich den Glauben nicht mehr habe, meinem Leiden noch lange widerstehen zu können. So bleibt mir nur übrig, unter Hinweis auf § 20 des Universitäts-Gesetzes mit tiefem Bedauern den Wunsch meiner Entlassung auszusprechen, zugleich mit dem Dank für die vielen Beweise wohlwollender Nachsicht, welche die hohe Behörde mir vom Tage meiner Berufung an bis heute gegeben hat.« Die Regierung antwortete sehr herzlich bedauernd, doch ist das Schreiben verloren gegangen, sodaß ich nur einem aus Basel mir zugesandten Entwurf das Folgende entnehmen kann:
»Indem wir Ihnen die Urkunde zustellen, womit der Regierungsrath Ihrem Entlassungsgesuche Folge giebt, sprechen wir unsererseits unsern wärmsten Dank aus für die treue Hingebung, womit Sie an unserer Universität und am Pädagogium gewirkt haben, so lange und so weit Ihnen dies nur immer möglich war. Wir geben auch der Hoffnung Raum, daß das Leiden, das zu unserm großen Bedauern Ihrer äußeren Thätigkeit für einstweilen ein Ziel gesetzt hat, in nicht allzulanger Zeit der stillen Wirkung der Zeit und der Ruhe weichen werde. Möge Ihre Geduld nicht auf eine allzu harte Probe gestellt werden!«
Übrigens erholte sich mein Bruder merkwürdig schnell von diesem Zustand äußerster Hinfälligkeit; nach vier Wochen hatte er sich bereits so weit gekräftigt, daß er sich allein nach dem Engadin begeben konnte, während ich nach Basel gieng, um den ganzen Haushalt aufzulösen. Dabei muß ich mich noch jetzt verwundern, welches außerordentliche Vertrauen mir mein Bruder in Hinsicht auf seine Manuskripte damals bewiesen hat. Während des einen Tages, den wir noch zusammen in Basel verbrachten, ehe wir nach dem Luftkurort reisten, gab er mir noch Anweisungen, wie ich mit seiner Bibliothek und seinen Büchern verfahren sollte. Einen Theil seiner Bücher hatte er bereits verschenkt und verkauft, aber die Hauptmasse seiner Bibliothek war noch vorhanden und sollte in Kisten eingepackt bei Freunden eingestellt werden, mit Ausnahme von zwei gefüllten Koffern, die er auf die Reise mitnehmen wollte. Ganz schrecklich war mir, was er über seine Manuskripte bestimmte! Er hatte die Gewohnheit die Vorarbeiten zu seinen Schriften in feste Hefte zu schreiben; von diesen hatte er nun zwei Haufen gemacht, der eine sollte eingepackt, der andere verbrannt werden. »Was soll ich noch mit diesen Heften, ich bin nächstens entweder blind oder todt«, meinte er (während der schlimmen Leidenszeit war die Sehkraft sehr herabgesunken). Diese Bücher mit seiner lieben Handschrift verbrennen zu sollen, war mir ein unfaßbarer Gedanke. »Fritz«, sagte ich zögernd, »wie kann man diese festen Hefte verbrennen?« »Mit den Deckeln geht es natürlich nicht,« sagte er, nahm ein Federmesser und schnitt innen die Bänder durch, die das Heft mit dem Deckel verbanden. Zum Glück hatte er eines der Hefte ergriffen, in welchem Etwas stand von dem er zuvor gesagt hatte, daß es aufbewahrt werden sollte. »Siehst Du, Fritz, da wäre nun gleich etwas Falsches verbrannt worden,« meinte ich, »laß mich das Ganze erst noch einmal aussuchen«. Schließlich überließ er Alles, wie er sagte: »meiner Liebe und Klugheit«. Natürlich habe ich keine Zeile verbrannt, sondern alles von ihm zur Vernichtung Bestimmte sorgfältig eingepackt und nach Naumburg geschickt. Um den Vernichtungseifer meines Bruders zu verstehen, muß man sich vorstellen, wie grenzenlos unangenehm es ihm war, wenn Andere außer mir Einsicht in seine Manuskripte nahmen; selbst Prof. Overbeck, der sich damals zur Durchsicht seiner Papiere anbot, und welchem er sonst großes Vertrauen zeigte, wies er ziemlich schroff zurück. Es wäre ihm lieber gewesen Alles zu verbrennen, als diese Niederschriften in Anderer Hände zu wissen.
Von Schloß Bremgarten gieng er zunächst nach Wiesen und Ende Juni nach St. Moritz im Engadin. Zum ersten Mal leuchteten der Glanz des Engadiner Himmels, die edeln heroischen Linien seiner Landschaft, die ganze Farbenpracht seiner Seen und seiner blüthenübersäten Wiesen und Abhänge in seine Leidenszeit hinein. Wie tief er davon entzückt war, wie er sich dieser Umgebung innigst verwandt fühlte, sagen zwei Aphorismen N. 295 u. 338 aus der zweiten Schrift dieses Bandes, dem »Wanderer und sein Schatten«, die er damals verfaßte und welche die ganze Höhenluft seiner Stimmungen aufgenommen hat. Er schrieb damals: »Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrainsche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler hätten es erfunden. Das Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich Nichts davon.« Mein Bruder pflegte später zu sagen: »Das Engadin hat mich dem Leben wiedergegeben«. Jedenfalls fand ich ihn im September, als ich in Chur mit ihm zusammentraf, zu meiner freudigsten Verwunderung außerordentlich erholt. Er war frisch und elastisch, hatte seine gesunde Gesichtsfarbe und stramme stattliche Haltung wiedergewonnen, sodaß ich meinem Erstaunen und Glück gar nicht genug Worte verleihen konnte. Wir wurden von der Zuversicht erfüllt, daß er wieder ganz gesund werden könnte; es waren schöne Tage, die wir in diesem Glauben verlebten!
Zunächst kam freilich im Winter 1879/80, den er von Ende Oktober bis Anfang Februar in Naumburg verlebte, der schlimmste Rückfall seines Leidens, und als »der Wanderer und sein Schatten« am Schluß des Jahres 1879 veröffentlicht wurde, glaubte mein Bruder in der That, daß er nun bald vom Leben scheiden müßte; er nahm fast von allen Freunden in seinen Briefen Abschied. Im Februar 1880 aber raffte er sich mit ungeheurer Energie empor, verließ den düsteren niederdrückenden Norden und eilte dem Süden, der Genesung und den höchsten Werken seiner Schaffenskraft entgegen. Er begann einen hartnäckigen Kampf mit der Krankheit, die ihn zu vernichten drohte – und mit herrlichem Erfolg! Dadurch, daß er seine Kräfte nicht mehr zu zersplittern brauchte und seine Augen nicht mehr bei den Vorbereitungen zu den Collegien abzumühen hatte, war es ihm möglich seine alte Gesundheit wiederzugewinnen und trotzdem die ungeheuern Vorarbeiten zu seinen Hauptwerken zu bewältigen. Oh wie dankbar müssen wir sein für die folgenden neun Jahre intensiven Schaffens, denn während dieser Zeit war es ihm möglich sein höchstes Ideal aufzustellen und uns zu zeigen, was er wirklich war, nämlich einer der ganz großen Philosophen und Gesetzgeber, die in ihrer Wirkung unermeßlich sind, da sie der Menschheit ein neues Ziel geben. –
Im Jahr 1886 fügte mein Bruder der neuen Ausgabe von den »Vermischten Meinungen und Sprüchen« und dem »Wanderer und sein Schatten«, die vorzügliche Vorrede hinzu, die uns von seiner inneren Entwicklung in jenen Jahren und darüber hinaus ein so deutliches Bild giebt. Auch hier steht gewissermaßen im Mittelpunkt sein Erlebniß mit Richard Wagner, und man könnte mit Leo Berg die Behauptung aufstellen, daß mein Bruder niemals über dieses Erlebniß hinweggekommen ist. Vielleicht könnte ich gerade hier in diesem Bande, wo auch die hinzugefügten Aufzeichnungen des Nachlasses allein dieses Verhältniß behandeln, eine Andeutung geben, warum es in dem Leben meines Bruders von solcher Bedeutung gewesen ist. Von frühester Jugend an war in meinem Bruder jene höchste Sehnsucht vorhanden nach einem vollkommenen Wesen, das er verehren konnte, und wenn er in »Also sprach Zarathustra« über die höchsten Exemplare der Menschheit klagt: »Wahrlich, auch den Größten fand ich – allzumenschlich«, so drückt er darin die tiefe Enttäuschung aus, die er den Verehrtesten gegenüber empfunden haben mag, besonders aber in Hinsicht auf Richard Wagner. Das soll aber kein Vorwurf gegen Richard Wagner sein, denn der Fehler lag auf der Seite meines Bruders, der ihn in einem zu verklärten Lichte sah. Man höre z. B. die ergreifenden Worte, die er im August 1869 an Freiherrn von Gersdorff über Wagner schreibt. »In ihm herrscht eine so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabner Lebensernst, daß ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle.« Einem solchen Bilde konnte die Wirklichkeit auf die Dauer nicht entsprechen.
Aber gerade diese Enttäuschungen haben ihn veranlaßt, auf das Tiefste über das Problem der höheren Typen der Menschheit nachzudenken. Daran hat er sein ganzes Leben gearbeitet und selbst in den Jahren der Entstehung von »Menschliches, Allzumenschliches«, die man wohl eine Zeit der Skepsis nennen könnte, hat er, wie auf Seite 57 des vorliegenden Bandes steht, versucht an seinem Ideal, dem »schönen Menschenbilde« fortzudichten, um jene Fälle zu suchen und zu finden, »wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft«.
Weimar, April 1906.
Elisabeth Förster-Nietzsche.