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Die literarische Entstehung und die Veröffentlichung von Ecce homo.

Am 4. November 1888 war Ecce homo nach Nietzsches eigener Aussage vollendet. Obwohl der Druck der »Götzendämmerung« noch nicht abgeschlossen war, bot Nietzsche es seinem Verleger C. G. Naumann am 6. November mit folgendem Schreiben an: »Geehrter Herr Verleger! Wundern Sie sich jetzt über nichts mehr bei mir! zum Beispiel, daß wir sobald die Götzen-Dämmerung in jedem Sinn erledigt ist, sofort einen neuen Druck beginnen müssen. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, noch eine Schrift nötig zu haben, eine im höchsten Grade vorbereitende Schrift, um nach Jahresfrist ungefähr mit dem ersten Buche der Umwertung hervortreten zu können. Es muß eine wirkliche Spannung geschaffen sein, – im andern Falle geht es wie beim Zarathustra. Nun war ich die letzten Wochen auf das Allerglücklichste inspiriert, dank einem unvergleichlichen Wohlbefinden, das einzig in meinem Leben dasteht, dank insgleichen einem wunderbaren Herbst und dem delikatesten Entgegenkommen, das ich in Turin gefunden habe. So habe ich eine extrem schwere Aufgabe – nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansichten, bruchstückweise, soweit es dazu erforderlich war, mein Leben zu erzählen – zwischen dem 15. Oktober und 4. November gelöst« (Neue Rundschau 1907, Bd. II. S. 1379). Am 13. November schreibt Nietzsche an Gast: »Besagtes Manuskript hat bereits den Krebsgang nach der Druckerei angetreten« (Br. IV, 417). Also ist es in der Woche vom 6. bis zum 13. November nach Leipzig gesandt worden.

Am 15. November schickt die Firma eine von Nietzsche gewünschte Probeseite an ihn.

Am 19. November antwortet Nietzsche über die Frage der Ausstattung: »Die Probe-Seite gefällt mir nicht. Ich finde die Seite der zwei letzten Schriften, mit dem Strich, nicht nur bei weitem eleganter, sondern auch leichter lesbar. Der Satz wird durch die breiteren Spatien für das Auge schwer überschaubar: und darin vor allem liegt eine Gefahr für das Verstandenwerden. Bleiben wir also bei der Seite der Götzen-Dämmerung, bleiben wir auch beim Strich. –

Ein zweiter Punkt, über den ich zu Ihnen reden will, wie ich vor mir rede, ist die Frage der Ausstattung resp. Papier. In der Voraussicht einer vielleicht sogar excessiven Berühmtheit meines Namens in einer nicht allzulangen Zeit, bin ich mir selber einige Respekts-Rücksichten schuldig, bei denen materielle Erwägungen nicht in Betracht kommen dürfen. Mein Wille ist also, daß wir dasselbe Papier auch für › Ecce homo‹ festhalten – daß wir aber, sowohl für Götzen-Dämmerung als für die neue Schrift die gleichen Preise feststellen wie für den ›Fall Wagner‹. –

Später – wer weiß? werden wir einmal auch Geld verdienen: ich wage nicht anzudeuten, in welchem Maße die Umwertung gelesen werden wird. Einstweilen liegt Alles daran, daß man sich ein Jahr zum Mindesten überall mit mir beschäftigt« (Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1382).

In einem Brief an Brandes vom 20. November ist zum ersten Mal von Nachträgen für Ecce homo die Rede: »Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, daß Sie selber an einer entscheidenden Stelle des Buchs auftreten – ich schrieb sie eben –« Br. III, S. 322). Auch die Korrespondenz mit dem Verlag aus der darauffolgenden Zeit handelt vielfach von Nachträgen. Am 26. November schreibt Nietzsche an C. G. Naumann: »Anbei ein Nachtrag zum E. h.« (Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1383). Auf einer Kopie eines Briefes von Nietzsche von der Hand seiner Schwester findet sich die Notiz: »Zettel: ›Anbei ein Nachtrag zum E. h., – es wird noch mehr kommen.‹« Und darunter: »Antwort von C. G. Naumann, Karte 29. November 1888: ›Nachträge zum Ecce homo sind noch nicht angekommen.‹« (Der Zettel Nietzsches und die Karte des Verlags sind in der Urschrift verlegt worden, waren aber 1894 noch vorhanden und wurden von der Firma C. G. Naumann vorgelegt). Weiteren Aufschluß über Nachträge gibt eine Karte Nietzsches vom 27. November: »Ich werde Sie bitten müssen, den zweiten Teil des Ms. mir noch einmal zurückzuschicken, da ich Einiges selbst noch hineinlegen will. Es könnte sonst Confusion geben. Also die ganze zweite Hälfte des Ms. von dem Abschnitt an, der als Überschrift hat: Also sprach Zarathustra. Ich nehme an, daß dies im Druck keinen Augenblick Verzögerung macht, da ich das Ms. unmittelbar zurückschicke« (Neue Rundschau Bd. II, S. 1383). Darnach wollte Nietzsche im zweiten Teil noch Einfügungen machen. Er erhält diesen zweiten Teil des Ms. auch zurück, fordert aber auf einer Karte (vermutlich am 1. Dezember) die Rücksendung des ganzen Manuskripts, vor allem auch der Nachträge der zweiten Hälfte, die anscheinend noch nicht bei dem Verlag eingetroffen waren. »Soeben kam das Ms. in meine Hände; da aber demselben die zugehörigen Nachträge nicht beiliegen, so wäre meine Arbeit daran umsonst, es würde eine große Confusion abgeben. Unter diesen Umständen bitte ich mir das ganze Ms. noch einmal zurück, von Anfang an, selbst wenn schon etwas gedruckt sein sollte; ebenfalls alles später Geschickte. Ich will Ihnen ein Ms. liefern so gut wie das letzte, auf die Gefahr hin, daß ich noch eine Woche den Abschreiber mache. Zeit zu verlieren ist ja nicht dabei; aber einen Monat früher oder später ist einerlei ...« (Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1383 f.). Entsprechend heißt es in einem Brief an Gast vom 2. Dezember: »Druckbogen werden jetzt wohl noch ausbleiben: ich habe gestern das ganze Manuskript noch einmal zurückverlangt« (Br. IV, 425). Am 6. Dezember ist Nietzsche mit der Einfügung der Nachträge fertig; er meldet an diesem Tag telegraphisch an den Verlag: »MS. zurück. Alles umgearbeitet«, und schreibt auf einem Zettel, der vermutlich dem Ms. beigelegt wurde: »Hiermit kommt das Ms. zurück: es ist jetzt alles in vollkommener Ordnung; auch wird nichts meinerseits geändert. Ich verhandle aber wegen einer französischen und englischen Übersetzung, die zu gleicher Zeit erscheinen müßten.« Und an Gast schreibt Nietzsche am 9. Dezember: »Das › Ecce homo‹ ist vorgestern an C. G. Naumann abgegangen, nachdem ich es, zur letzten Gewissens-Beruhigung, noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort auf die Goldwage gelegt habe« (Br. IV, 426).

Betreffs des Zeitpunktes der Veröffentlichung wechseln die Entschließungen Nietzsches ab zwischen der »Götzen-Dämmerung«, der inzwischen entstandenen Abhandlung »Nietzsche contra Wagner« und » Ecce homo«. Das Hin und Her des Entschlusses ist wesentlich bedingt durch den Wechsel im Stand der Übersetzungsfrage. Am 15. Dezember (Vermerk des Empfängers) schreibt Nietzsche an den Verleger bei der Ankündigung von »Nietzsche contra Wagner«: »Mein Wunsch wäre, daß wir diese kleine Sache sofort absolvieren. Ich gewinne dadurch auch noch Zeit, die Übersetzer-Frage in Bezug auf Ecce homo, die bis jetzt wenig Chance hat, neu aufzunehmen. Zum Mindesten möchte ich eine französische Übersetzung, aber ein Meisterstück von Übersetzung haben« (Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1386). Ebenso an Gast am 16. Dezember: »Ich habe gestern ein Manuskript an C. G. Naumann geschickt, welches zunächst, also vor Ecce homo, absolviert werden muß. Ich finde die Übersetzer für › Ecce‹ nicht: ich muß einige Monate den Druck noch hinausschieben. Zuletzt eilt es nicht« (Br. IV, 431). Inzwischen war aber der erste Druckbogen von Ecce am 15. Dezember (Stempelvermerk auf der Korrektur) an Nietzsche abgegangen. Daher schreibt er am 17. Dezember an den Verlag: »Wir wollen 2 Bogen vom Ecce homo drucken und einige Abzüge auf gutem Papier davon machen, damit ich meinen französischen und englischen Übersetzern resp. Verlegern einen deutlichen Begriff davon geben kann, welcher Art das Werk ist. Diese Abzüge bitte ich mir hierher aus – ... Wenn die zwei Bogen erledigt sind, gehen wir an Nietzsche contra Wagner. Einige Wochen werden noch hingehen, ehe alle die Präliminarien mit Übersetzern und Verlegern in Paris und London erledigt sind.« Der erste Druckbogen erhielt am 18. Dezember das »druckfertig«, der zweite wurde am 18. Dezember an Nietzsche gesandt (laut eigenhändiger Angabe Nietzsches auf dem Bogen). Über die Proben, die an die Übersetzer gesandt werden sollen, gibt Nietzsche am 18. Dezember (laut Poststempel) veränderte Anweisung: »Alles wohl erwogen, scheint mir für den angedeuteten Zweck nützlicher, statt des zweiten Bogens das Titelblatt, das Vorwort und das Inhalts-Verzeichnis zu drucken. Das zusammen gibt dann eine deutliche Vorstellung.«

Am 20. Dezember (Poststempel) entschließt sich Nietzsche, doch Ecce homo vor Nietzsche contra Wagner zu veröffentlichen. »Eine neue Erwägung überzeugt mich, daß Wir durchaus Ecce homo erst fertig drucken müssen, und daß nachher erst Nietzsche contra Wagner an die Reihe kommt«. An demselben Tag schickt er noch eine Depesche an den Verleger: » Ecce vorwärts. Nietzsche« und eine zweite Karte betreffs der Übernahme des »Intermezzo« aus Nietzsche contra Wagner in Ecce homo: »Ich habe ein einzelnes Blatt, mit der Überschrift Intermezzo, an Sie abgesandt, mit der Bitte, es in N. contra W. einzulegen. Jetzt wollen wir es lieber, wie es ursprünglich bestimmt war, in Ecce einlegen.« Auch an Gast berichtet Nietzsche von der Änderung seines Entschlusses und der Übernahme anderer Stücke in Ecce homo: »Die Schrift ›N. contra W.‹ wollen wir nicht drucken. Das » Ecce« enthält alles Entscheidende auch über diese Beziehung. Die Partie, welche, unter Anderm, auch den maestro Pietro Gasti bedenkt, ist bereits in » Ecce« eingetragen. Vielleicht nehme ich auch das Lied Zarathustra's – es heißt »Von der Armut des Reichsten« – noch hinein. Als Zwischenspiel zwischen zwei Hauptabschnitten« (Br. IV, 434).

Am 27. Dezember dagegen sehen wir Nietzsche wieder entschlossen, Nietzsche contra Wagner vor Ecce homo zu veröffentlichen. Er schreibt an den Verleger: »Alles erwogen, wollen wir im Jahre 1889 die Götzen-Dämmerung und Nietzsche contra Wagner herausgeben. [–]. Ecce homo, das, sobald es fertig ist, in die Hände der Übersetzer überzugehen hat, könnte keinesfalls vor 1890 fertig sein, um in drei Sprachen zugleich zu erscheinen«. An Dr. Fuchs, 27. Dezember: »Zunächst wird ›Nietzsche contra Wagner‹ herauskommen: wenn alles gerät, auch noch französisch« (Br. I, 539). Am 29. Dezember an den Verleger: »Mich bestens für Ihre soeben erhaltene Mitteilung bedankend, möchte ich Sie bitten, die Fortsetzung der Drucklegung des Ecce anzuordnen, sobald »Nietzsche contra Wagner« fertig ist. Einstweilen kommt » Ecce« auch für Übersetzungspläne noch nicht in Betracht« (Neue Rundschau, 1907, Bd. II. S. 1389 f.). Zugleich gibt Nietzsche seine Absicht kund, den Dionysos-Dithyrambus »Ruhm und Ewigkeit« als Schlußgedicht dem Ecce homo anzufügen: »Ein Rest von Ms., lauter extreme wesentliche Sachen, darunter das Gedicht, mit dem › Ecce homo ‹ schließen soll, ein non plus ultra von Höhe und Erfindung – ist heute eingeschrieben an Sie abgegangen« (Neue Rundschau, 1907, Bd. II, S. 1390). Am 30. Dezember (Poststempel) ordnet Nietzsche an, einen Satz in dem »Intermezzo« zu Wagners Siegfried-Idyll und Liszts Orchestrierung einzufügen. Am 1. Januar 1889 (Poststempel) bittet sich Nietzsche die Rücksendung des Schlußgedichts von Ecce homo aus: »ich muß mir das Gedicht noch einmal ausbitten, das den Schluß vom Ecce homo macht: es heißt Ruhm und Ewigkeit, – ich habe es erst zu allerletzt geschickt.« Dann folgt eine Depesche am 2. Januar: »Manuskript der zwei Schlußgedichte«. Ein nicht abgesandter Zettel, der wahrscheinlich von demselben Tage stammt, gibt die Erläuterung dazu: »Die Ereignisse haben die kleine Schrift Nietzsche contra Wagner vollständig überholt: senden Sie mir umgehend das Gedicht, das den Schluß macht, ebenso wie das letztgesandte Gedicht »Ruhm und Ewigkeit«. Vorwärts mit Ecce!« Nietzsche wollte also die beiden Schlußgedichte, das zu Nietzsche contra Wagner »Von der Armut des Reichsten« und das zu Ecce homo »Ruhm und Ewigkeit« zuletzt wieder zurückhaben, ob zur endgültigen Zurückziehung oder nur zur Umarbeitung, läßt sich natürlich nicht sagen. Jedenfalls scheint er in den letzten Tagen vor Eintritt der Katastrophe doch wieder zu der Absicht zurückgekehrt zu sein, Ecce homo vor Nietzsche contra Wagner zu veröffentlichen.

Nach der Erkrankung wurde die Sorge für Nietzsches geistiges Vermächtnis von seiner Mutter in die Hände von Prof. Overbeck in Basel gelegt. Er hat in eingehendem Briefwechsel mit Peter Gast, dem langjährigen Beistand Nietzsches bei der Drucklegung seiner Werke, die Frage verhandelt, ob man Ecce homo veröffentlichen solle oder nicht. Aus den Briefen Overbecks an Gast vom 15./1., 27./1., 4./2., 9./2., 23./2. 1889 (Neue Rundschau 1906 Bd. I, S. 26 ff.) geht hervor, daß Prof. Overbeck Gast allmählich zur vorläufigen Sistierung des Drucks und zur Aufgabe der Veröffentlichung überredet hat. Dieses Resultat der Verhandlungen teilte Overbeck am 8. März dem Verleger Naumann mit: »Wir sind mit Herrn K. [Köselitz, d. i. Peter Gast] übereingekommen, jetzt vom Druck von Ecce homo abzusehen. Ich ersuche Sie daher, den Satz der ersten zwei Bogen auseinanderzunehmen.« Daraufhin wurde, wie eine Randnotiz auf der Karte Overbecks besagt, der »Zettel abgeschlossen und der Satz auseinandergenommen«. Peter Gast behielt das Manuskript einstweilen in seiner Obhut, fertigte im Frühjahr 1889 eine Abschrift an und übergab 1893 das Original Frau Förster-Nietzsche nach ihrer Rückkehr aus Paraguay. Frau Förster-Nietzsche sah zunächst auch von einer Veröffentlichung des Ecce homo ab, da Nietzsches Mutter angab, Overbeck habe es auf einen zuletzt ausgesprochenen Wunsch Nietzsches aus dem Druck zurückgezogen. Sie benutzte aber einzelne Teile daraus für die Biographie ihres Bruders, insonderheit solche, die zum Verständnis der Werke Nietzsches nötig waren. Im Jahre 1908 wurde, da sich ergeben hatte, daß eine Anweisung Nietzsches, das Werk aus dem Druck zurückzuziehen, nicht vorlag, eine Liebhaberausgabe in beschränkter Anzahl veranstaltet, die von dem verstorbenen Prof. Raoul Richter besorgt wurde, von Henry van de Velde ihre Ausstattung erhielt und im Insel-Verlag in Leipzig erschien. Die hier gegebene Darstellung der Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte von Ecce homo beruht hauptsächlich auf den Angaben, die Richter im Nachwort zu seiner Ausgabe gemacht hat. Als dann 1911 die Neuausgabe des »Willens zur Macht«, in den Werken Nietzsches erschien, fügte man auch Ecce homo in Band XV ein. Unsrer Ausgabe ist der Text dieses Bandes zu Grunde gelegt worden.

Dr. Richard Oehler.


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