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Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?... Dass dies Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist, muss Dem um so erstaunlicher erscheinen, der die entgegen wirkende Kraft, die der Vergesslichkeit, vollauf zu würdigen weiss. Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn »Einverseelung« nennen) ebenso wenig in's Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte »Einverleibung« abspielt. Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen (denn unser Organismus ist oligarchisch eingerichtet) – das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin gleichsam, einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etiquette: womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit. Der Mensch, in dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen –) er wird mit Nichts »fertig«... Eben dieses nothwendig vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt, hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll: somit keineswegs bloss ein passivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks, nicht bloss die Indigestion an einem ein Mal verpfändeten Wort, mit dem man nicht wieder fertig wird, sondern ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches Gedächtniss des Willens: so dass zwischen das ursprüngliche »ich will« »ich werde thun« und die eigentliche Entladung des Willens, seinen Akt, unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt. Was setzt das aber Alles voraus! Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben, das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst berechenbar, regelmässig, nothwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich als Zukunft gut sagen zu können!
Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen. Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir »Sittlichkeit der Sitte« genannt worden ist (vergl. Morgenröthe S. 7. 13. 16) – die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen an's Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn »autonom« und »sittlich« schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Freigewordne, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverain – wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gut sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt – er »verdient« alles Dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwendig in die Hand gegeben ist? Der »freie« Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein Werthmaass: von sich aus nach den Andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er; und eben so nothwendig als er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die welche versprechen dürfen) ehrt, – also Jedermann, der wie ein Souverain verspricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der auszeichnet, wenn er vertraut, der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst »gegen das Schicksal« aufrecht zu halten –: eben so nothwendig wird er seinen Fusstritt für die schmächtigen Windhunde bereit halten, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und seine Zuchtruthe für den Lügner, der sein Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde hat. Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt: – wie wird er ihn heissen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort dafür bei sich nöthig hat? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveraine Mensch heisst ihn sein Gewissen...
Sein Gewissen?... Es lässt sich voraus errathen, dass der Begriff »Gewissen«, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht: – wie lange musste diese Frucht herb und sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn, – Niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiss auch Alles am Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im Wachsen war! – »Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?«... Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. »Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss« – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist: die Vergangenheit, die längste tiefste härteste Vergangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir »ernst« werden. Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth. In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik hierher: ein paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar, »fix« gemacht werden, zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese »fixen Ideen« – und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideen aus der Concurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie »unvergesslich« zu machen. Je schlechter die Menschheit »bei Gedächtniss« war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maassstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Begierde gegenwärtig zu erhalten. Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-Tag-hineinleberisch; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein »Volk von Denkern« heranzuzüchten (will sagen: das Volk Europa's, unter dem auch heute noch das Maximum von Zutrauen, Ernst, Geschmacklosigkeit und Sachlichkeit zu finden ist und das mit diesen Eigenschaften ein Anrecht darauf hat, alle Art von Mandarinen Europa's heran zu züchten). Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtniss gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit Herr zu werden: man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen (– schon die Sage lässt den Mühlstein auf das Haupt des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Erfindung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe!), das Werfen mit dem Pfahle, das Zerreissen- oder Zertretenlassen durch Pferde (das »Viertheilen«), das Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein (noch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert), das beliebte Schinden (»Riemenschneiden«), das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust; auch wohl dass man den Übelthäter mit Honig bestrich und bei brennender Sonne den Fliegen überliess. Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs »ich will nicht« im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, – und wirklich! mit Hülfe dieser Art von Gedächtniss kam man endlich »zur Vernunft«! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller »guten Dinge«!...
Aber wie ist denn jene andre »düstre Sache«, das Bewusstsein der Schuld, das ganze »schlechte Gewissen« auf die Welt gekommen? – Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück. Nochmals gesagt – oder habe ich's noch gar nicht gesagt? – sie taugen nichts. Eine fünf Spannen lange eigne, bloss »moderne« Erfahrung; kein Wissen, kein Wille zum Wissen des Vergangnen; noch weniger ein historischer Instinkt, ein hier gerade nöthiges »zweites Gesicht« – und dennoch Geschichte der Moral treiben: das muss billigerweise mit Ergebnissen enden, die zur Wahrheit in einem nicht bloss spröden Verhältnisse stehn. Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff »Schuld« seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff »Schulden« genommen hat? Oder dass die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat? – und dies bis zu dem Grade, dass es vielmehr immer erst einer hohen Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Thier »Mensch« anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen »absichtlich« »fahrlässig« »zufällig« »zurechnungsfähig« und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zu Stande gekommen ist, hat herhalten müssen, »der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können« ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen sei: – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt, – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifizirt durch die Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers. Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verrathen: in dem Vertragsverhältniss zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt »Rechtssubjekte« giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.
Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse weckt allerdings, wie es nach dem Voraus-Bemerkten von vornherein zu erwarten steht, gegen die ältere Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei Verdacht und Widerstand. Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, Dem, der verspricht, ein Gedächtniss zu machen; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch »besitzt«, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, – es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden als der Grösse der Schuld angemessen schien: – und es gab frühzeitig und überall von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Theil entsetzlich in's Kleine und Kleinste gehende Abschätzungen, zu Recht bestehende Abschätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen. Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer, grösser rechnender, römischerer Rechtsauffassung, wenn die Zwölftafel-Gesetzgebung Rom's dekretierte, es sei gleichgültig, wie viel oder wie wenig die Gläubiger in einem solchen Falle herunterschnitten »si plus minusve secuerunt, ne fraude esto«. Machen wir uns die Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar: sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust »de faire le mal pour le plaisir de le faire«, der Genuss in der Vergewaltigung: als welcher Genuss um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht, und leicht ihm als köstlichster Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der »Strafe« am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil: endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein »Unter-sich« verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die »Obrigkeit« übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit. –
In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt »Schuld«, »Gewissen«, »Pflicht«, »Heiligkeit der Pflicht« ihren Entstehungsheerd, – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, dass jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe? (selbst beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit...) Hier ebenfalls ist jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-Verhäkelung »Schuld und Leid« zuerst eingehäkelt worden. Nochmals gefragt: in wiefern kann Leiden eine Ausgleichung von »Schulden« sein? Insofern Leiden-machen im höchsten Grade wohl that, insofern der Geschädigte für den Nachtheil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachtheil, einen ausserordentlichen Gegen-Genuss eintauschte: das Leiden-machen, – ein eigentliches Fest, Etwas, das, wie gesagt, um so höher im Preise stand, je mehr es dem Range und der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers widersprach. Dies vermuthungsweise gesprochen: denn solchen unterirdischen Dingen ist schwer auf den Grund zu sehn, abgesehn davon, dass es peinlich ist; und wer hier den Begriff der »Rache« plump dazwischen wirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und verdunkelt, als leichter gemacht (– Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück: »wie kann Leiden-machen eine Genugthuung sein?«). Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartüfferie zahmer Hausthiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Grausamkeit die grosse Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist; wie naiv andrerseits, wie unschuldig ihr Bedürfniss nach Grausamkeit auftritt, wie grundsätzlich gerade die »uninteressirte Bosheit« (oder, mit Spinoza zu reden, die sympathia malevolens) von ihr als normale Eigenschaft des Menschen angesetzt wird –: somit als Etwas, zu dem das Gewissen herzhaft Ja sagt! Für ein tieferes Auge wäre vielleicht auch jetzt noch genug von dieser ältesten und gründlichsten Festfreude des Menschen wahrzunehmen; in »Jenseits von Gut und Böse« S. 117 ff. (früher schon in der »Morgenröthe« S. 17. 68. 102) habe ich mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und »Vergöttlichung« der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht). Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, dass man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste grössten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wusste, insgleichen keinen vornehmen Haushalt ohne Wesen, an denen man unbedenklich seine Bosheit und grausame Neckerei auslassen konnte (– man erinnere sich etwa Don Quixote's am Hofe der Herzogin: wir lesen heute den ganzen Don Quixote mit einem bittren Geschmack auf der Zunge, fast mit einer Tortur und würden damit seinem Urheber und dessen Zeitgenossen sehr fremd, sehr dunkel sein, – sie lasen ihn mit allerbestem Gewissen als das heiterste der Bücher, sie lachten sich an ihm fast zu Tod). Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden: denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam »vorspielen«. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches! –
– Mit diesen Gedanken, nebenbei gesagt, bin ich durchaus nicht Willens, unsren Pessimisten zu neuem Wasser auf ihre misstönigen und knarrenden Mühlen des Lebensüberdrusses zu verhelfen; im Gegentheil soll ausdrücklich bezeugt sein, dass damals, als die Menschheit sich ihrer Grausamkeit noch nicht schämte, das Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessimisten giebt. Die Verdüsterung des Himmels über dem Menschen hat immer im Verhältniss dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor dem Menschen gewachsen ist. Der müde pessimistische Blick, das Misstrauen zum Räthsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die Abzeichen der bösesten Zeitalter des Menschengeschlechts: sie treten vielmehr erst an das Tageslicht, als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der Sumpf da ist, zu dem sie gehören, – ich meine die krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung, vermöge deren das Gethier »Mensch« sich schliesslich aller seiner Instinkte schämen lernt. Auf dem Wege zum »Engel« (um hier nicht ein härteres Wort zu gebrauchen) hat sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm nicht nur die Freude und Unschuld des Thiers widerlich, sondern das Leben selbst unschmackhaft geworden ist: – so dass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innocenz dem Dritten missbilligend den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht (»unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und Koth«). Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten gegen das Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes Fragezeichen, thut man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das Leiden-machen nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder zum Leben sah. Vielleicht that damals – den Zärtlingen zum Trost gesagt – der Schmerz noch nicht so weh wie heute; wenigstens wird ein Arzt so schliessen dürfen, der Neger (diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen –) bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat, welche auch den bestorganisirten Europäer fast zur Verzweiflung bringen; – bei Negern thun sie dies nicht. (Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit scheint in der That ausserordentlich und fast plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder Zehn-Millionen der Übercultur hinter sich hat; und ich für meine Person zweifle nicht, dass, gegen Eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen.) Vielleicht ist es sogar erlaubt, die Möglichkeit zuzulassen, dass auch jene Lust an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu sein brauchte: nur bedürfte sie, im Verhältniss dazu, wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer gewissen Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich in's Imaginative und Seelische übersetzt auftreten und geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, dass von ihnen her auch dem zartesten hypokritischen Gewissen kein Verdacht kommt (das »tragische Mitleiden« ist ein solcher Name; ein andrer ist »les nostalgies de la croix«). Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens: aber weder für den Christen, der in das Leiden eine ganze geheime Heils-Maschinerie hineininterpretirt hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten, der alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf Leiden-Macher auszulegen verstand, gab es überhaupt ein solches sinnloses Leiden. Damit das verborgne, unentdeckte, zeugenlose Leiden aus der Welt geschafft und ehrlich negirt werden konnte, war man damals beinahe dazu genöthigt, Götter zu erfinden und Zwischenwesen aller Höhe und Tiefe, kurz Etwas, das auch im Verborgnen schweift, das auch im Dunklen sieht und das sich nicht leicht ein interessantes schmerzhaftes Schauspiel entgehen lässt. Mit Hülfe solcher Erfindungen nämlich verstand sich damals das Leben auf das Kunststück, auf das es sich immer verstanden hat, sich selbst zu rechtfertigen, sein »Übel« zu rechtfertigen; jetzt bedürfte es vielleicht dazu andrer Hülfs-Erfindungen (zum Beispiel Leben als Räthsel, Leben als Erkenntnissproblem). »Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut«: so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls – und wirklich, war es nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde grausamer Schauspiele gedacht – oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein! man mag hierüber etwa mit Calvin und Luther zu Rathe gehn. Gewiss ist jedenfalls, dass noch die Griechen ihren Göttern keine angenehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die Schicksale der Menschen niederblicken liess? Welchen letzten Sinn hatten im Grunde trojanische Kriege und ähnliche tragische Furchtbarkeiten? Man kann gar nicht daran zweifeln: sie waren als Festspiele für die Götter gemeint: und, insofern der Dichter darin mehr als die übrigen Menschen »göttlich« geartet ist, wohl auch als Festspiele für die Dichter... Nicht anders dachten sich später die Moral-Philosophen Griechenlands die Augen Gottes noch auf das moralische Ringen, auf den Heroismus und die Selbstquälerei des Tugendhaften herabblicken: der »Herakles der Pflicht« war auf einer Bühne, er wusste sich auch darauf; die Tugend ohne Zeugen war für dies Schauspieler-Volk etwas ganz Undenkbares. Sollte nicht jene so verwegene, so verhängnissvolle Philosophen-Erfindung, welche damals zuerst für Europa gemacht wurde, die vom »freien Willen«, von der absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen, nicht vor Allem gemacht sein, um sich ein Recht zu der Vorstellung zu schaffen, dass das Interesse der Götter am Menschen, an der menschlichen Tugend sich nie erschöpfen könne? Auf dieser Erden-Bühne sollte es niemals an wirklich Neuem, an wirklich unerhörten Spannungen, Verwicklungen, Katastrophen gebrechen: eine vollkommen deterministisch gedachte Welt würde für Götter errathbar und folglich in Kürze auch ermüdend gewesen sein, – Grund genug für diese Freunde der Götter, die Philosophen, ihren Göttern eine solche deterministische Welt nicht zuzumuthen! Die ganze antike Menschheit ist voll von zarten Rücksichten auf »den Zuschauer«, als eine wesentlich öffentliche, wesentlich augenfällige Welt, die sich das Glück nicht ohne Schauspiele und Feste zu denken wusste. – Und, wie schon gesagt, auch an der grossen Strafe ist so viel Festliches!...
Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch« (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das »abschätzende Thier an sich«. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Verhältniss zu ähnlichen Complexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt: und mit jener plumpen Consequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an »jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden« – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller »Gutmüthigkeit«, aller »Billigkeit«, alles »guten Willens«, aller »Objektivität« auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu »verständigen« – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. –
Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile! wir unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch ausserhalb, der »Friedlose«, ausgesetzt ist – ein Deutscher versteht, was »Elend«, êlend ursprünglich besagen will –, wie man sich gerade in Hinsicht auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten der Gemeinde verpfändet und verpflichtet hat. Was wird im andren Fall geschehn? Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein »Brecher«, ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in Bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vortheile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stösst ihn von sich, – und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die »Strafe« ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen den gehassten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist; also das Kriegsrecht und Siegesfest des vae victis! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit: – woraus es sich erklärt, dass der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die Formen hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt.
Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übelthäter wird nicht mehr »friedlos gelegt« und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos an ihm auslassen, – vielmehr wird von nun an der Übelthäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von Seiten des Ganzen vertheidigt und in Schutz genommen. Der Compromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übelthat Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisiren und einer weiteren oder gar allgemeinen Betheiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche, Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio); vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgend einem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maasse, den Verbrecher und seine That von einander zu isoliren – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder an's Licht. Der »Gläubiger« ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Maass seines Reichthums, wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. »Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!«... Die Gerechtigkeit, welche damit anhob »Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden«, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts.
– Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz andren Boden zu suchen, – nämlich auf dem des Ressentiment. Den Psychologen voran in's Ohr gesagt, gesetzt dass sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu studieren: diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten, übrigens so wie sie immer geblüht hat, im Verborgnen, dem Veilchen gleich, wenn schon mit andrem Duft. Und wie aus Gleichem nothwendig immer Gleiches hervorgehn muss, so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie schon öfter dagewesen sind – vergleiche oben Seite 30 –, die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen. An Letzterem selbst würde ich am wenigsten Anstoss nehmen: es schiene mir sogar in Hinsicht auf das ganze biologische Problem (in Bezug auf welches der Werth jener Affekte bisher unterschätzt worden ist) ein Verdienst. Worauf ich allein aufmerksam mache, ist der Umstand, dass es der Geist des Ressentiment selbst ist, aus dem diese neue Nuance von wissenschaftlicher Billigkeit (zu Gunsten von Hass, Neid, Missgunst, Argwohn, Rancune, Rache) herauswächst. Diese »wissenschaftliche Billigkeit« nämlich pausirt sofort und macht Accenten tödtlicher Feindschaft und Voreingenommenheit Platz, sobald es sich um eine andre Gruppe von Affekten handelt, die, wie mich dünkt, von einem noch viel höheren biologischen Werthe sind, als jene reaktiven, und folglich erst recht verdienten, wissenschaftlich abgeschätzt und hochgeschätzt zu werden: nämlich die eigentlich aktiven Affekte, wie Herrschsucht, Habsucht und dergleichen. (E. Dühring, Werth des Lebens; Cursus der Philosophie; im Grunde überall.) So viel gegen diese Tendenz im Allgemeinen: was aber gar den einzelnen Satz Dühring's angeht, dass die Heimat der Gerechtigkeit auf dem Boden des reaktiven Gefühls zu suchen sei, so muss man ihm, der Wahrheit zu Liebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz entgegenstellen: der letzte Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des reaktiven Gefühls! Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig: Gerecht-sein ist immer ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden, – sogar Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll. Gewiss ist durchschnittlich, dass selbst bei den rechtschaffensten Personen schon eine kleine Dosis von Angriff, Bosheit, Insinuation genügt, um ihnen das Blut in die Augen und die Billigkeit aus den Augen zu jagen. Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das freiere Auge, das bessere Gewissen auf seiner Seite gehabt: umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Erfindung des »schlechten Gewissens« auf dem Gewissen hat, – der Mensch des Ressentiment! Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um: in welcher Sphäre ist denn bisher überhaupt die ganze Handhabung des Rechts, auch das eigentliche Bedürfniss nach Recht auf Erden heimisch gewesen? Etwa in der Sphäre der reaktiven Menschen? Ganz und gar nicht: vielmehr in der der Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven. Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden – zum Verdruss des genannten Agitator's sei es gesagt (der selber einmal über sich das Bekenntniss ablegt: »die Rachelehre hat sich als der rothe Gerechtigkeitsfaden durch alle meine Arbeiten und Anstrengungen hindurchgezogen«) – den Kampf gerade wider die reaktiven Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen. überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiment ein Ende zu machen, indem sie theils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht, theils an Stelle der Rache ihrerseits den Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung setzt, theils Ausgleiche erfindet, vorschlägt, unter Umständen aufnöthigt, theils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für alle Mal gewiesen ist. Das Entscheidenste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist – ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: indem sie nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten Schaden ab und erreicht damit auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht, allein gelten lässt –: von nun an wird das Auge für eine immer unpersönlichere Abschätzung der That eingeübt, sogar das Auge des Geschädigten selbst (obschon dies am allerletzten, wie voran bemerkt wurde). – Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an »Recht« und »Unrecht« (und nicht, wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an). An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinns, an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts »Unrechtes« sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, grössere Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring's, dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. –
Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinander fallen oder fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in Eins. Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben haben –: sie machen irgend einen »Zweck« in der Strafe ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der »Zweck im Rechte« ist aber zu allerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden: vielmehr giebt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen sein sollte, – dass nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige »Sinn« und »Zweck« nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss. Wenn man die Nützlichkeit von irgend welchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag, – denn von Alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines »Dings«, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. »Entwicklung« eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der »Sinn« ist es aber noch mehr... Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der »Sinn« der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen: auch das theilweise Unnützlichwerden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehn von Sinn und Zweckmässigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines »Fortschritts« bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt... – Ich hebe diesen Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik hervor, um so mehr als er im Grunde dem gerade herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack entgegen geht, welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens. Die demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, der moderne Misarchismus (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmählich dermaassen in's Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, dass er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften eindringt, eindringen darf; ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen Aktivität, eskamotirt hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die »Anpassung« in den Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität, ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an äussere Umstände definirt (Herbert Spencer). Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht; damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die »Anpassung« folgt; damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint. Man erinnert sich, was Huxley Spencern zum Vorwurf gemacht hat, – seinen »administrativen Nihilismus«: aber es handelt sich noch um mehr als um's »Administriren«...
– Man hat also, um zur Sache, nämlich zur Strafe zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden: einmal das relativ Dauerhafte an ihr, den Brauch, den Akt, das »Drama«, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das Flüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne Weiteres vorausgesetzt, per analogiam, gemäss dem eben entwickelten Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik, dass die Prozedur selbst etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, dass letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem anderen Sinne übliche) Prozedur hineingelegt, hineingedeutet worden ist, kurz, dass es nicht so steht, wie unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher annahmen, welche sich allesammt die Prozedur erfunden dachten zum Zweck der Strafe, so wie man sich ehemals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Greifens. Was nun jenes andre Element an der Strafe betrifft, das flüssige, ihren »Sinn«, so stellt in einem sehr späten Zustande der Cultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff »Strafe« in der That gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von »Sinnen«: die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, krystallisirt sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysiren und, was man hervorheben muss, ganz und gar undefinirbar ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.) In einem früheren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von »Sinnen« noch löslicher, auch noch verschiebbarer; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verändern und sich demgemäss umordnen, so dass bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen hervortritt und dominirt, ja unter Umständen Ein Element (etwa der Zweck der Abschreckung) den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint. Um wenigstens eine Vorstellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträglich, wie accidentiell »der Sinn« der Strafe ist und wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann: so stehe hier das Schema, das sich mir selbst auf Grund eines verhältnissmässig kleinen und zufälligen Materials ergeben hat. Strafe als Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compensation). Strafe als Isolirung einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als Furchteinflössen vor Denen, welche die Strafe bestimmen und exekutiren. Strafe als eine Art Ausgleich für die Vortheile, welche der Verbrecher bis dahin genossen hat (zum Beispiel wenn er als Bergwerkssklave nutzbar gemacht wird). Strafe als Ausscheidung eines entartenden Elementes (unter Umständen eines ganzen Zweigs, wie nach chinesischem Rechte: somit als Mittel zur Reinerhaltung der Rasse oder zur Festhaltung eines socialen Typus). Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfnen Feindes. Strafe als ein Gedächtnissmachen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die sogenannte »Besserung«, sei es für die Zeugen der Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen Seitens der Macht, welche den Übelthäter vor den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als Compromiss mit dem Naturzustand der Rache, sofern letzterer durch mächtige Geschlechter noch aufrecht erhalten und als Privilegium in Anspruch genommen wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaassregel gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen, als einen Empörer, Verräther und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand giebt. –
Diese Liste ist gewiss nicht vollständig; ersichtlich ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen. Um so eher darf man von ihr eine vermeintliche Nützlichkeit in Abzug bringen, die allerdings im populären Bewusstsein als ihre wesentlichste gilt, – der Glaube an die Strafe, der heute aus mehreren Gründen wackelt, findet gerade an ihr immer noch seine kräftigste Stütze. Die Strafe soll den Werth haben, das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche »schlechtes Gewissen«, »Gewissensbiss« genannt wird. Aber damit vergreift man sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psychologie: und wie viel mehr für die längste Geschichte des Menschen, seine Vorgeschichte! Der ächte Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äusserst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht: – darin kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urtheil ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben. In's Grosse gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie concentrirt; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft. Wenn es vorkommt, dass sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostration und Selbsterniedrigung zu Wege bringt, so ist ein solches Ergebniss sicherlich noch weniger erquicklich als die durchschnittliche Wirkung der Strafe: als welche sich durch einen trocknen düsteren Ernst charakterisirt. Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urtheilen, dass gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten worden ist, – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an denen sich die strafende Gewalt ausliess. Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art seiner Handlung, an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und durchtriebne Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen Arten der Strafe sich ausprägt, – Alles somit von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und verurtheilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das »schlechte Gewissen«, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation, ist nicht auf diesem Boden gewachsen, – in der That drückte sich im Bewusstsein der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit hindurch Nichts davon aus, dass man mit einem »Schuldigen« zu thun habe. Sondern mit einem Schaden-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Verhängniss. Und Der selber, über den nachher die Strafe, wiederum wie ein Stück Verhängniss, herfiel, hatte dabei keine andre »innere Pein«, als wie beim plötzlichen Eintreten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden Felsblockes, gegen den es keinen Kampf mehr giebt.
Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewusstsein (zum Verdruss seiner Ausleger, welche sich ordentlich darum bemühen, ihn an dieser Stelle misszuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer), als er eines Nachmittags, wer weiss, an was für einer Erinnerung sich reibend, der Frage nachhieng, was eigentlich für ihn selbst von dem berühmten morsus conscientiae übrig geblieben sei – er, der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines »freien« Gottes gegen jene Lästerer vertheidigt hatte, deren Behauptung dahin gieng, Gott wirke Alles sub ratione boni (»das aber hiesse Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die grösste aller Ungereimtheiten« –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens dalag: was war damit aus dem morsus conscientiae geworden? »Der Gegensatz des gaudium, sagte er sich endlich, – eine Traurigkeit, begleitet von der Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist.« Eth. III propos. XVIII schol. I. II. Nicht anders als Spinoza haben die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter Jahrtausende lang in Betreff ihres »Vergehens« empfunden: »hier ist Etwas unvermuthet schief gegangen«, nicht: »das hätte ich nicht thun sollen« –, sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen uns Westländer im Vortheil sind. Wenn es damals eine Kritik der That gab, so war es die Klugheit, die an der That Kritik übte: ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor Allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, misstrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der Einsicht, dass man für Vieles ein-für-alle-Mal zu schwach sei, in einer Art Verbesserung der Selbstbeurtheilung. Das, was durch die Strafe im Grossen erreicht werden kann, bei Mensch und Thier, ist die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden: damit zähmt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht »besser«, – man dürfte mit mehr Recht noch das Gegentheil behaupten. (»Schaden macht klug«, sagt das Volk: soweit er klug macht, macht er auch schlecht. Glücklicher Weise macht er oft genug dumm.)
An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den Ursprung des »schlechten Gewissens« zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen: sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wasserthieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es diesen der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepassten Halbthieren, – mit Einem Male waren alle ihre Instinkte entwerthet und »ausgehängt«. Sie sollten nunmehr auf den Füssen gehn und »sich selber tragen«, wo sie bisher vom Wasser getragen wurden: eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr »Bewusstsein«, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ! Ich glaube, dass niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist, – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des »schlechten Gewissens«. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man »zähmen« will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildniss schaffen musste – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des »schlechten Gewissens«. Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der That, es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfieng und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist, – ein Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als dass es sich sinnlos-unvermerkt auf irgend einem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte! Der Mensch zählt seitdem mit unter den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das »grosse Kind« des Heraklit, heisse es Zeus oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei...
Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens gehört erstens, dass jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängniss, gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein Ressentiment gab. Zweitens aber, dass die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde, – dass der älteste »Staat« demgemäss als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das Wort »Staat«: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt ja der »Staat« auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem »Vertrage« beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur »Herr« ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu »anders«, um selbst auch nur gehasst zu werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler, die es giebt: – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein »Sinn« in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist. Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im »Werke«, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss. Sie sind es nicht, bei denen das »schlechte Gewissen« gewachsen ist, das versteht sich von vornherein, – aber es würde nicht ohne sie gewachsen sein, dieses hässliche Gewächs, es würde fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer Hammerschläge, ihrer Künstler-Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens aus der Sichtbarkeit geschafft und gleichsam latent gemacht worden wäre. Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in's Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.
Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen deshalb schon gering zu denken, weil es von vornherein hässlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im »Labyrinth der Brust«, um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissen schafft und negative Ideale baut, eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist – und nicht, wie in jenem grösseren und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen. Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze aktivische »schlechte Gewissen« hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an's Licht gebracht und vielleicht überhaupt erst die Schönheit... Was wäre denn »schön«, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewusstsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Hässliche zu sich selbst gesagt hätte: »ich bin hässlich«?... Zum Mindesten wird nach diesem Winke das Räthsel weniger räthselhaft sein, in wiefern in widersprüchlichen Begriffen, wie Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstopferung ein Ideal, eine Schönheit angedeutet sein kann; und Eins weiss man hinfort, ich zweifle nicht daran –, welcher Art nämlich von Anfang an die Lust ist, die der Selbstlose, der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfindet: diese Lust gehört zur Grausamkeit. – Soviel vorläufig zur Herkunft des »Unegoistischen« als eines moralischen Werthes und zur Absteckung des Bodens, aus dem dieser Werth gewachsen ist: erst das schlechte Gewissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung giebt die Voraussetzung ab für den Werth des Unegoistischen. –
Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf ihren furchtbarsten und sublimsten Gipfel gekommen ist: – wir werden sehn, was damit eigentlich erst seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber bedarf es eines langen Athems, – und zunächst müssen wir noch einmal zu einem früheren Gesichtspunkte zurück. Das privatrechtliche Verhältniss des Schuldners zu seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die Rede war, ist noch einmal, und zwar in einer historisch überaus merkwürdigen und bedenklichen Weise in ein Verhältniss hineininterpretirt worden, worin es uns modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist: nämlich in das Verhältniss der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren. Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere und in Sonderheit gegen die früheste, geschlecht-begründende eine juristische Verpflichtung an (und keineswegs eine blosse Gefühls-Verbindlichkeit: man dürfte diese letztere sogar nicht ohne Grund für die längste Dauer des menschlichen Geschlechts überhaupt in Abrede stellen). Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, – und dass man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vortheile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es giebt kein »Umsonst« für jene rohen und »seelenarmen« Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor Allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle –: giebt man ihnen je genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst: von Zeit zu Zeit erzwingt er eine grosse Ablösung in Bausch und Bogen, irgend etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den »Gläubiger« (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle). Die Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das Bewusstsein von Schulden gegen ihn nimmt nach dieser Art von Logik nothwendig genau in dem Maasse zu, in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger, geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt! Jeder Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle elenden Zufälle, alle Anzeichen von Entartung, von heraufkommender Auflösung vermindern vielmehr immer auch die Furcht vor dem Geiste seines Begründers und geben eine immer geringere Vorstellung von seiner Klugheit, Vorsorglichkeit und Macht-Gegenwart. Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende gelangt: so müssen schliesslich die Ahnherrn der mächtigsten Geschlechter durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst in's Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein: – der Ahnherr wird zuletzt nothwendig in einen Gott transfigurirt. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der Furcht!... Und wem es nöthig scheinen sollte hinzuzufügen: »aber auch aus der Pietät!« dürfte schwerlich damit für jene längste Zeit des Menschengeschlechts Recht behalten, für seine Urzeit. Um so mehr freilich für die mittlere Zeit, in der die vornehmen Geschlechter sich herausbilden: – als welche in der That ihren Urhebern, den Ahnherren (Heroen, Göttern) alle die Eigenschaften mit Zins zurückgegeben haben, die inzwischen in ihnen selbst offenbar geworden sind, die vornehmen Eigenschaften. Wir werden auf die Veradligung und Veredelung der Götter (die freilich durchaus nicht deren »Heiligung« ist) später noch einen Blick werfen: führen wir jetzt nur den Gang dieser ganzen Schuldbewusstseins-Entwicklung vorläufig zu Ende.
Das Bewusstsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen Organisationsform der »Gemeinschaft« keineswegs zum Abschluss gekommen; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie sie die Begriffe »gut und schlecht« von dem Geschlechts-Adel (sammt dessen psychologischem Grundhange, Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erbschaft der Geschlechts- und Stammgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen. (Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und Hörigen-Bevölkerungen, welche sich an den Götter-Cultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch Unterwürfigkeit und mimicry, angepasst haben: von ihnen aus fliesst dann diese Erbschaft nach allen Seiten über.) Das Schuldgefühl gegen die Gottheit hat mehrere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar immer fort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottesbegriff und das Gottesgefühl auf Erden gewachsen und in die Höhe getragen worden ist. (Die ganze Geschichte des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens, Sich-verschmelzens, Alles was der endgültigen Rangordnung aller Volks-Elemente in jeder grossen Rassen-Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem Genealogien-Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Kämpfen, Siegen und Versöhnungen ab; der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgend welchem Monotheismus den Weg.) Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht. Angenommen, dass wir nachgerade in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, so dürfte man mit keiner kleinen Wahrscheinlichkeit aus dem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott ableiten, dass es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins gäbe; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zu einander. –
Dies vorläufig im Kurzen und Groben über den Zusammenhang der Begriffe »Schuld«, »Pflicht« mit religiösen Voraussetzungen: ich habe absichtlich die eigentliche Moralisirung dieser Begriffe (die Zurückschiebung derselben in's Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher bei Seite gelassen und am Schluss des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisirung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr nothwendig zu Ende gienge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern »Gläubiger«, an Gott. Der Thatbestand weicht davon in einer furchtbaren Weise ab. Mit der Moralisirung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurückschiebung in's schlechte Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die Richtung der eben beschriebenen Entwicklung umzukehren, mindestens ihre Bewegung stillzustellen: jetzt soll gerade die Aussicht auf eine endgültige Ablösung ein-für-alle-Mal sich pessimistisch zuschliessen, jetzt soll der Blick trostlos vor einer ehernen Unmöglichkeit abprallen, zurückprallen, jetzt sollen jene Begriffe »Schuld« und »Pflicht« sich rückwärts wenden – gegen wen denn? Man kann nicht zweifeln: zunächst gegen den »Schuldner«, in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaassen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der »ewigen Strafe«) concipirt ist –; endlich aber sogar gegen den »Gläubiger«, denke man dabei nun an die causa prima des Menschen, an den Anfang des menschlichen Geschlechts, an seinen Ahnherrn, der nunmehr mit einem Fluche behaftet wird (»Adam«, »Erbsünde«, »Unfreiheit des Willens«) oder an die Natur, aus deren Schooss der Mensch entsteht und in die nunmehr das böse Princip hineingelegt wird (»Verteufelung der Natur«) oder an das Dasein überhaupt, das als unwerth an sich übrig bleibt (nihilistische Abkehr von ihm, Verlangen in's Nichts oder Verlangen in seinen »Gegensatz«, in ein Anderssein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir mit Einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich des Christenthums: Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!...
Man wird bereits errathen haben, was eigentlich mit dem Allen und unter dem Allen geschehen ist: jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den »Staat« Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehe zu thun, nachdem der natürlichere Ausweg dieses Wehe-thun-wollens verstopft war, – dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug. Er ergreift in »Gott« die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den »Herrn«, den »Vater«, den Urahn und Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch »Gott« und »Teufel«, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein Wille, den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficiren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von »fixen Ideen« ein für alle Mal den Ausweg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal aufzurichten – das des »heiligen Gottes« –, um Angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreiflich gewiss zu sein. Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen ihr, welche Widernatur, welche Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, Bestie der That zu sein!... Dies Alles ist interessant bis zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen düsteren entnervenden Traurigkeit, dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet hat: – und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür! –) wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der Liebe geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst... Im Menschen ist so viel Entsetzliches!... Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!...
Dies genüge ein für alle Mal über die Herkunft des »heiligen Gottes«. – Dass an sich die Conception von Göttern nicht nothwendig zu dieser Verschlechterung der Phantasie führen muss, deren Vergegenwärtigung wir uns für einen Augenblick nicht erlassen durften, dass es vornehmere Arten giebt, sich der Erdichtung von Göttern zu bedienen, als zu dieser Selbstkreuzigung und Selbstschändung des Menschen, in der die letzten Jahrtausende Europa's ihre Meisterschaft gehabt haben, – das lässt sich zum Glück aus jedem Blick noch abnehmen, den man auf die griechischen Götter wirft, diese Wiederspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das Thier im Menschen sich vergöttlicht fühlte und nicht sich selbst zerriss, nicht gegen sich selber wüthete! Diese Griechen haben sich die längste Zeit ihrer Götter bedient, gerade um sich das »schlechte Gewissen« vom Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh bleiben zu dürfen: also in einem umgekehrten Verstande als das Christenthum Gebrauch von seinem Gotte gemacht hat. Sie giengen darin sehr weit, diese prachtvollen und löwenmüthigen Kindsköpfe; und keine geringere Autorität als die des homerischen Zeus selbst giebt es ihnen hier und da zu verstehn, dass sie es sich zu leicht machen. »Wunder! sagt er einmal – es handelt sich um den Fall des Ägisthos, um einen sehr schlimmen Fall –
»Wunder, wie sehr doch klagen die Sterblichen wider die Götter!
»Nur von uns sei Böses, vermeinen sie; aber sie selber
»Schaffen durch Unverstand, auch gegen Geschick, sich das Elend.«
Doch hört und sieht man hier zugleich, auch dieser olympische Zuschauer und Richter ist ferne davon, ihnen deshalb gram zu sein und böse von ihnen zu denken: »was sie thöricht sind!« so denkt er bei den Unthaten der Sterblichen, – und »Thorheit«, »Unverstand«, ein wenig »Störung im Kopfe«, so viel haben auch die Griechen der stärksten, tapfersten Zeit selbst bei sich zugelassen als Grund von vielem Schlimmen und Verhängnissvollen: – Thorheit, nicht Sünde! versteht ihr das?... Selbst aber diese Störung im Kopfe war ein Problem – »ja, wie ist sie auch nur möglich? woher mag sie eigentlich gekommen sein, bei Köpfen, wie wir sie haben, wir Menschen der edlen Abkunft, des Glücks, der Wohlgerathenheit, der besten Gesellschaft, der Vornehmheit, der Tugend?« – so fragte sich Jahrhunderte lang der vornehme Grieche angesichts jedes ihm unverständlichen Greuels und Frevels, mit dem sich Einer von seines Gleichen befleckt hatte. »Es muss ihn wohl ein Gott bethört haben«, sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd... Dieser Ausweg ist typisch für Griechen... Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen – damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es vornehmer ist, die Schuld...
– Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl. »Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen?« so fragt man mich vielleicht... Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer sich auf Erden die Aufrichtung jedes Ideals bezahlt gemacht hat? Wie viel Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wie viel Lüge geheiligt, wie viel Gewissen verstört, wie viel »Gott« jedes Mal geopfert werden musste? Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligthum zerbrochen werden: das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfüllt ist!... Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? – nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden?... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, so bald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!... Es bedürfte zu jenem Ziele einer andren Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Muthwillens der Erkenntniss, welcher zur grossen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser grossen Gesundheit!... Ist diese gerade heute auch nur möglich?... Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei –: während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an's Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen...
– Aber was rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich bin, – was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen...