Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1881]

[Dokument: Manuskript]

11 [1]

Gleichgültig sch gegen Lob und Tadel machen; Recepte dafür. Dagegen einen Kreis sich stiften, der um unsere Ziele und Maaßstäbe weiß und der Lob und Tadel für uns bedeutet.

11 [2]

Den Begriff der Ernährung erweitern; sein Leben nicht falsch anlegen, wie es die thun, welche bloß ihre Erhaltung im Auge haben.

Wir müssen unser Leben nicht uns durch die Hand schlüpfen lassen, durch ein "Ziel" – sondern die Früchte aller Jahreszeiten von uns einernten.

Wir wollen nach den Andern, nach allem, was außer uns ist, trachten als nach unserer Nahrung. Oft auch sind es die Früchte, welche gerade für unser Jahr reif geworden sind. – Muß man denn immer nur den Egoismus des Räubers oder Diebes haben.? Warum nicht den des Gärtners? Freude an der Pflege der Andern, wie der eines Gartens!

11 [3]

Ehemals glaubte man, in der Alchymie, mit moralischen Begriffen (Verwandtschaft Freundschaft Trieb usw.) alles zu erklären. Das Reich der Moral wird immer kleiner.

Ein einzelnes Medikament (z. B. Chinin) und seine " moralischen" Wirkungen zum Beispiel gebrauchen!

11 [4]

La Rochef<oucauld> irrt sich nur darin, daß er die Motive, welche er für die wahren hält, niedriger taxirt als die anderen angeblichen: d.h. er glaubt im Grunde noch an die andern und nimmt den Maaßstab daher: er setzt den Menschen herab, indem er ihn gewisser Motive für unfähig hält.

11 [5]

Unser Instinkt der Triebe greift in jedem Falle nach dem nächsten ihm Angenehmen: aber nicht nach dem Nützlichen. Freilich ist in unzähligen Fällen (namentlich wegen der Zuchtwahl) das dem Triebe Angenehme eben auch das Nützliche! – Der Mensch, hochmüthig auch wo er Gründen und Zwecken nachspürt, macht im Moralischen die Augen zu vor dem Angenehmen: er gerade will, daß seine Handlungen als Consequenz der vernünftigen Absicht auf dauernden Nutzen erscheinen: er verachtet das Momentan-Angenehme -: obschon gerade dies der Hebel aller seiner Kräfte ist.

Das Kunststück des glücklichen Lebens ist, die Lage zu finden, in der das Momentan-Angenehme auch das dauernd Nützlichste ist, wo die Sinne und der Geschmack dasselbe gut heißen, was die Vernunft und Vorsicht gut heißt.

11 [6]

Die Lebensweise der Frauen, welche im Wesentlichen ernährt werden und nicht arbeiten, könnte sofort in eine philosophische Existenz umgewandelt werden! Aber man sehe sie vor einem Schauladen voller Putz und Wäsche!

11 [7]

Hauptgedanke! Nicht die Natur täuscht uns, die Individuen und fördert ihre Zwecke durch unsre Hintergehung: sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen d. h. falschen Maaßen zurecht; wir wollen damit Recht haben und folglich muß "die Natur" als Betrügerin erscheinen. In Wahrheit giebt es keine individuellen Wahrheiten, sondern lauter individuelle Irrthümer – das Individuum selber ist ein Irrthum. Alles was in uns vorgeht, ist an sich etwas Anderes, was wir nicht wissen: wir legen die Absicht und die Hintergehung und die Moral erst in die Natur hinein. – Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren Lebens-systeme", deren jeder von uns eins ist – man wirft beides in eins, während "das Individuum" nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urtheilen und Irrthümern ist, ein Glaube, ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt, eine "Einheit", die nicht Stand hält. Wir sind Knospen an Einem Baume – was wissen wir von dem, was im Interesse des Baumes aus uns werden kann! Aber wir haben ein Bewußtsein, als ob wir Alles sein wollten und sollten, eine Phantasterei von "Ich" und allem "Nicht-Ich ". Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrthum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Über mich" und " dich" hinaus! Kosmisch empfinden!

11 [8]

Der Egoismus als der allgemeine "Größenwahn" – ebenso abzuleiten – physiologisch.

11 [9]

Die bösen aber unentbehrlichen Triebe ebenso zu züchten, wie den der Verstellung (in der Kunst) also unschädlich. Die Parallele zur "Kunst" zu suchen!

11 [10]

Das Erkennenwollen der Dinge, wie sie sind – das allein ist der gute Hang: nicht das Hinsehen nach, Anderen und das Sehen mit anderen Augen – das wäre ja nur ein Ortswechsel des egoistischen Sehens! Wir wollen uns von der großen Grundverrücktheit heilen, alles nach uns zu messen: Selbstliebe ist ein falscher zu enger Ausdruck; Selbsthaß und alle Affekte sind fortwährend thätig mit diesem kurzen Sprunge; als ob alles zu uns hinstrebe. Man geht durch die Gassen und meint, jedes Auge gelte uns: und was wäre es, wenn ein Auge und ein Wort uns wirklich gilt! – nicht mehr, als es uns angeht, wenn der Blick und das Wort einem Zweiten gilt – wir sollten persönlich eben so gleichgültig sein können! Vermehrung der Gleichgültigkeit! Und dazu Übung, mit anderen Augen sehen: Übung, ohne Menschliche Beziehungen, also sachlich zu sehen! Den Menschen-Größenwahn kuriren! Woher kommt er? Von der Furcht: alle geistige Kraft mußte immer schnell zum persönlich-Sehen zurückspringen. Es ist schon das thierische Leiden. Die höchste Selbstsucht hat ihren Gegensatz nicht in der Liebe zum Andern!! Sondern im neutralen sachlichen Sehen! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem "Angenehmen" und Unangenehmen " Wahre" ist die höchste – darum Seltenste bisher!

11 [11]

Man muß den Menschen Muth zu einer neuen großen Verachtung machen z. B. der Reichen, der Beamten usw. Jede unpersönliche Form des Lebens muß als gemein und verächtlich gelten.

11 [12]

Das was einer zweckbewußten Handlung vorhergeht, im Bewußtsein z. B. das Bild des Kauens dem Kauen, ist gänzlich unbestimmt: und wenn ich es wissenschaftlich genauer mache, so ist dies auf die Handlung selber ohne Einfluß. Eine Unzahl von einzelnen Bewegungen werden vollzogen, von denen wir vorher gar nichts wissen, und die Klugheit der Zunge z. B. ist viel größer als die Klugheit unseres Bewußtseins überhaupt. Ich leugne, daß diese Bewegungen durch unseren Willen hervorgebracht werden; sie spielen sich ab, und bleiben uns unbekannt – auch ihren Prozeß vermögen wir nur in Symbolen (des Tastsinns Hörens Sehens von Farben) und in einzelnen Stücken und Momenten zu fassen – sein Wesen, eben so wie der fortdauernde Verlauf bleiben uns fremd. Vielleicht stellt die Phantasie dem wirklichen Verlaufe und Wesen etwas entgegen, eine Erdichtung, die wir gewohnt sind als das Wesen zu nehmen.

11 [13]

Wir hören wenig und unsicher, wenn wir eine Sprache nicht verstehen, die um uns gesprochen wird. Ebenso bei einer Musik, die uns fremd ist, wie die chinesische. Das Gut hören ist also wohl ein fortwährendes Errathen und Ausfüllen der wenigen wirklich wahrgenommenen Empfindungen. Verstehen ist ein erstaunlich schnelles entgegenkommendes Phantasiren und Schließen: aus zwei Worten errathen wir den Satz (beim Lesen): aus einem Vokal und 2 Consonanten ein Wort beim Hören, ja viele Worte hören wir nicht, denken sie aber als gehört. – Was wirklich geschehen ist, ist nach unserem Augenschein schwer zu sagen; – denn wir haben fortwährend dabei gedichtet und geschlossen. Ich habe öfter beim Sprechen mit Personen ihren Gesichtsausdruck so deutlich vor mir, wie ihn meine Augen nicht wahrnehmen können: es ist eine Fiktion zu ihren Worten, die Auslegung in Gebärden des Gesichts.

Ich vermuthe, daß wir nur sehen, was wir kennen; unser Auge ist in der Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung: – der größte Teil des Bildes ist nicht Sinneneindruck, sondern Phantasie-Erzeugniß. Es werden nur kleine Anlässe und Motive aus den Sinnen genommen und dies wird dann ausgedichtet. Die Phantasie ist an Stelle des " Unbewußten" zu setzen: es sind nicht unbewußte Schlüsse als vielmehr hingeworfene Möglichkeiten, welche die Phantasie giebt (wenn z. B. Sousreliefs in Reliefs für den Betrachter umschlagen).

Unsere "Außenwelt" ist ein Phantasie-Produkt wobei frühere Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar nicht exakt dem mechanischen wirklichen Vorgang, sondern unserem individuellen Zustande. – –

11 [14]

Das Ich – nicht zu verwechseln mit dem organischen Einheitsgefühle. –

11 [15]

Unklar listig gewaltsam und von früher her verwöhnt, durch geringe und servile Umgebung. – er hält die Unklarheit über alle Principien aufrecht, um sich bald so bald so seinem Vortheile gemäß zu stellen.

11 [16]

Angebliche Zweckmäßigkeit der Natur – bei der Selbstsucht, dem Geschlechtstrieb, wo man sagt, sie benutze das Individuum, bei der Lichtausströmung der Sonne usw. – alles Erdichtungen! Es ist vielleicht die letzte Form einer Gottes-Vorstellung – aber dieser Gott ist nicht sehr klug und sehr unbarmherzig. Leopardi hat die böse Stiefmutter Natur, Schopenhauer den "Willen". – Vielleicht kann man mit solchen anscheinenden Zweckthätigkeiten die Zweckthätigkeit des Menschen aufhellen. Es wird etwas erreicht, und das was erreicht wird und das was dazu alles geschieht, ist von dem Bilde, welches vorher im Kopfe des Wollenden ist, total verschieden – es führt keine Brücke hinüber. "Ich esse, um mich zu sättigen" – aber was weiß ich von dem, was Sättigung ist! In Wahrheit wird die Sättigung erreicht, aber nicht gewollt – die momentane Lustempfindung bei jedem Bissen, so lange Hunger da ist, ist das Motiv: nicht die Absicht "um", sondern ein Versuch bei jedem Bissen, ob er noch schmeckt. Unsere Handlungen sind Versuche, ob dieser oder jener Trieb daran seine Freude habe, bis in's Verwickeltste hinein, spielende Äußerungen des Dranges nach Thätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke mißdeuten und falsch verstehen. Wir bewegen unsere Fangarme – und dieser oder jener Trieb findet in dem, was wir fangen, seine Beute und macht uns glauben, wir hätten beabsichtigt, ihn zu befriedigen.

11 [17]

Sein schlechter Charakter folgt ihm auf die höchsten Gipfel seines Genie's. –

11 [18]

Umfang der dichterischen Kraft: wir können nichts thun, ohne nicht vorher ein freies Bild davon zu entwerfen – (ob wir freilich nicht wissen, wie sich dies Bild zur Handlung verhält, die Handlung ist etwas Wesentlich-Anderes und verläuft in uns unzugänglich en Regionen). Dies Bild ist sehr allgemein, ein Schema – wir meinen, es sei nicht nur die Richtschnur, sondern die bewegende Kraft selber. Zahllose Bilder haben keine Aktivität nach sich, davon sehen wir ab: die Fälle, wo sich hernach etwas begiebt, was "Wir gewollt" haben, bleiben im Gedächtniß. – Aller unserer Entwicklung läuft ein Idealbild voraus, das Erzeugniß der Phantasie: die wirkliche Entwicklung ist uns unbekannt. Wir müssen dies Bild machen. Die Geschichte des Menschen und der Menschheit verläuft unbekannt, aber die Idealbilder und deren Geschichte scheint uns die Entwicklung selber. Die Wissenschaft kann sie nicht schaffen, aber die Wissenschaft ist eine Haupt nahrung für diesen Trieb: wir scheuen auf die Dauer alles Unsichere Erlogene, diese Furcht und dieser Ekel fördern die Wissenschaft. Jener dichterische Trieb soll errathen, nicht phantasiren, aus wirklichen Elementen etwas Unbekanntes errathen: er braucht die Wissenschaft d. h. die Summe des Sicheren und Wahrscheinlichen, um mit diesem Material dichten zu können. Dieser Vorgang ist schon im Sehen . Es ist eine freie Produktion in allen Sinnen, der größte Theil der sinnlichen Wahrnehmung ist errathen. Alle wissenschaftlichen Bücher langweilen, die diesem errathen wollenden Triebe kein Futter geben: das Sichere thut uns nicht wohl, wenn es nicht Nahrung für jenen Trieb sein will!

11 [19]

Vielleicht lassen sich alle moralischen Triebe auf das Haben-wollen und Halten-wollen zurückführen. Der Begriff des Habens verfeinert sich immer, wir begreifen immer mehr, wie schwierig es ist zu haben und wie sich das scheinbare Besitzthum immer noch uns zu entziehen weiß – so treiben wir das Haben in's Feinere: bis zuletzt das völlige Erkennen des Dinges die Voraussetzung ist, um es zu erstreben: oft genügt uns das völlige Erkennen schon als Besitz, es hat keinen Schlupfwinkel mehr vor uns und kann uns nicht mehr entlaufen. Insofern wäre Erkenntniß die letzte Stufe der Moralität. Frühere sind z. B.: ein Ding sich zurecht phantasiren und nun zu glauben, daß man es ganz besitze, wie der Liebende mit der Geliebten, der Vater mit dem Kinde: welcher Genuß nun am Besitz! – aber uns genügt da der Schein. Wir denken uns die Dinge, die wir erreichen können, so, daß ihr Besitz uns höchst werthvoll erscheint: wir machen den Feind, über den wir zu siegen hoffen, für unseren Stolz zurecht: und ebenso das geliebte Weib und Kind. Wir haben zuerst eine ungefähre Berechnung was wir alles überhaupt erbeuten können – und nun ist unsere Phantasie thätig, diese zukünftigen Besitzthümer uns äußerst werthvoll zu machen (auch Ämter Ehren Verkehr usw.). Wir suchen die Philosophie, die zu unserem Besitz paßt d.h. ihn vergoldet. Die großen Reformatoren, wie Muhammed, verstehen dies, den Gewohnheiten und <dem> Besitz der Menschen einen neuen Glanz zu geben – nicht "etwas Anderes" sie erstreben zu heißen, sondern das was sie haben wollen und können, als etwas Höheres zu sehen (mehr Vernunft und Weisheit und Glück darin zu "entdecken" als sie bis jetzt darin fanden). – Sich selber haben wollen: Selbstbeherrschung usw.

11 [20]

Hauptfrage: wonach ist die Werthtafel der Güter gemacht und verändert worden? So daß ein Eigenthum begehrenswerther als ein anderes schien?

Was leicht zu haben war (wie z. B. Nahrung) wurde verhältnißmäßig unterschätzt. Die Werthtafel stimmt gar nicht mit den Graden des Nutzens (gegen Spencer).

11 [21]

Die Geschichte des Ich gefühls zu beschreiben: und zu zeigen, wie auch im Altruismus jenes Besitzenwollen das Wesentliche ist. Zu zeigen, wie nicht im Begriff "Nicht-ich und Ich" der Hauptfortschritt der Moral liegt, sondern im schärfer-Fassen des Wahren im Anderen und in mir und in der Natur, also das Besitzenwollen immer mehr vom Scheine des Besitzes, von erdichteten Besitzthümern zu befreien, das Ichgefühl also vom Selbstbetruge zu reinigen. Vielleicht endet es damit, daß statt des Ich wir die Verwandtschaften und Feindschaften der Dinge erkennen, Vielheiten also und deren Gesetze: daß wir vom Irrthum des Ich uns zu befreien suchen (der Altruismus ist auch bisher ein Irrthum). Nicht "um der Anderen willen", sondern "um des Wahren willen leben"! Nicht "ich und du!" Wie könnten wir "den Anderen" (der selber eine Summe von Wahn ist!) fördern dürfen! Das Ichgefühl umschaffen! Den persönlichen Hang schwächen! An die Wirklichkeit der Dinge das Auge gewöhnen! Von Personen soviel wie möglich vorläufig absehen! Welche Wirkungen muß dies haben! Über die Dinge Herr zu werden suchen und so sein Besitzen-wollen befriedigen! Nicht Menschen besitzen wollen! – Aber heißt dies nicht auch, die Individuen schwächen? Es ist etwas Neues zu schaffen: nicht ego und nicht tu und nicht omnes!

NB. Keinen Besitz in der Jugend erstreben müssen und wollen! : ebenso kein Ansehen, um über Andere zu befehlen – diese beiden Triebe gar nicht zu entwickeln! Uns von den Dingen besitzen lassen (nicht von Personen) und von einem möglichst großen Umfange wahrer Dinge! Was daraus wächst, ist abzuwarten: wir sind Ackerland für die Dinge. Es sollen Bilder des Daseins aus uns wachsen: und wir sollen so sein, wie diese Fruchtbarkeit uns nöthigt zu sein: unsere Neigungen Abneigungen sind die des Ackerlandes, das solche Früchte bringen soll. Die Bilder des Daseins sind das Wichtigste bisher gewesen – sie herrschen über die Menschheit.

11 [22]

Die Erziehung des Genius.

11 [23]

NB! Die Wissenschaft lieben, ohne an ihren Nutzen zu denken! Aber vielleicht ist sie ein Mittel, den Menschen in einem unerhörten Sinne zum Künstler zu machen! Bisher sollte sie dienen. – Eine Reihenfolge schöner Experimente ist einer der höchsten Theatergenüsse.

11 [24]

NB. "Der chemische Prozeß ist stets größer als der Nutzeffekt" Mayer. "Durch gute Dampfmaschinen wird ungefähr 1/20, durch Geschütze 1/10, durch Säugethiere 1/5 der Verbrennungswärme in mechanischen Effekt umgesetzt." Zur Verschwendung der Natur! Dann die Sonnenwärme bei Proctor! Der Staat im Verhältniß zu seinem Nutzen! Der große Geist! Unsere intellektuelle Arbeit im Verhältniß zu dem Nutzen, den die Triebe davon haben! Also keine falsche "Nützlichkeit als Norm"! Verschwendung ist ohne Weiteres kein Tadel: sie ist vielleicht nothwendig. Auch die Heftigkeit der Triebe gehört hierher.

11 [25]

Die Innervation "übt ihre Herrschaft über die Muskelaktion aus, wahrscheinlich ohne merklichen Aufwand einer physischen Kraft, ohne eine elektrische Strömung und ohne einen chemischen Prozeß überhaupt" nach Mayer – "wie der Kraftaufwand des Maschinisten etwas verschwindend Kleines ist." (Contakt – Einfluß der motorischen Nerven.)

11 [26]

Die Sinne der Menschen im Fortschritt der Civilisation sind schwächer geworden, Augen und Ohren: weil die Furcht geringer wurde und der Verstand feiner. Vielleicht wird mit der Vermehrung der Sicherheit die Feinheit des Verstandes nicht mehr nöthig sein: und abnehmen: wie in China! In Europa hat der Kampf gegen das Christenthum, die Anarchie der Meinungen und die Concurrenz der Fürsten Völker und Kaufleute bis jetzt den Verstand verfeinert.

11 [27]

Wir treten in das Zeitalter der Anarchie dies aber ist zugleich das Zeitalter der geistigsten und freiesten Individuen. Ungeheuer viel geistige Kraft ist in Umschwung. Zeitalter des Genies: bisher verhindert durch Sitten Sittlichkeit usw.

11 [28]

Verstimmung als verhinderte Auslösung. Grundsatz.- nicht die Auslösungen, so gewaltsam sie auch sein mochten, gaben der Menschheit den meisten Schaden, sondern die Verhinderung derselben. Verstimmung, krankhafte Mißgefühle haben wir zu beseitigen – aber dazu gehört der Muth, das Schreckliche der Auslösungen anders und günstiger zu beurtheilen. Attentate sind besser als schleichende Verdrießlichkeiten. Morde Kriege usw. offene Gewalt das Böse der Macht soll gut heißen: wenn das Böse der Schwäche von jetzt ab böse zu nennen ist.

11 [29]

Irrthum der positiven Philosophie nachzuweisen: sie will die Anarchie der Geister vernichten, und sie wird den dumpfen Druck unbefriedigter Auslösung hervorbringen (wie China)!

11 [30]

Über die Beschäftigung mit der Wissenschaft giebt es noch keine schöne und gesunde Sitte. Man überträgt gedankenlos die Gewohnheiten anderer Beschäftigungen z. B. des Beamten, Commis, Gärtners, Arbeiters. Der Adel ist deshalb im Großen so fruchtbar, weil er vornehme Sitten hinzubrachte: die vornehmste ist, die Langeweile aushalten zu können. In der That, der wissenschaftliche Mensch muß sich täglich mehrere Stunden auf sich beschränken und da oft die Gedanken nicht gleich kommen, viel Langeweile ohne Ungeduld hinnehmen. Die Inder verstanden dies!

11 [31]

Viele unserer Triebe finden ihre Auslösung in einer mechanischen starken Thätigkeit, die zweckmäßig gewählt sein kann : ohne dies giebt es verderbliche und schädliche Auslösungen. Haß Zorn Geschlechtstrieb usw. könnten an die Maschine gestellt werden und nützlich arbeiten lernen, z. B. Holz hacken oder Briefe tragen oder den Pflug führen. Man muß seine Triebe ausarbeiten. Das Leben des Gelehrten erfordert namentlich so etwas. Einige Stunden des Tages sollen nothwendig dem Nachdenken entzogen werden. Aller Mißmuth ist auszulösen: Handarbeit in der Nähe! Oder der Lauf Sprung Ritt. Man könnte als Denker sehr gut noch Pferde zureiten. Oder commandiren.

11 [32]

Die allgemeine Geschichte der Wissenschaft giebt zuletzt einen Begriff wie die gewöhnlichsten geistigen Verrichtungen zu Stande kommen.

11 [33]

NB! Im Moleküle könnte <sich> immer noch die Geschichte des Sonnensystems abspielen und Wärme durch Fall und Stoß sich erzeugen.

11 [34]

Die Chinesen: ohne Scham, ohne Vorurtheile, geschwätzig, maßvoll: ihre Leidenschaften Opium Spiel Weiber. Sie sind reinlich.

11 [35]

Sich die Vortheile eines Todten verschaffen – es kümmert sich Keiner um uns, weder für noch wider. Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen: und den ganzen Überschuß von Kraft auf das Zuschauen verwenden. Der unsichtbare Zuschauer sein!!

11 [36]

Wir sind irgendwie in der Mitte – nach der Größe der Welt zu und nach der Kleinheit der unendlichen Welt zu. Oder ist das Atom uns näher als das äußerste Ende der Welt? – Ist für uns die Welt nicht nur ein Zusammenfassen von Relationen unter einem Maaße? Sobald dies willkürliche Maaß fehlt, zerfließt unsere Welt!

11 [37]

Wir kennen a) die Motive der Handlung nicht; b) wir kennen die Handlung, die wir thun, nicht; c) wir wissen nicht, was daraus wird. Aber wir glauben von allen dreien das Gegentheil: das vermeintliche Motiv, die vermeintliche Handlung und die vermeintlichen Folgen gehören in die uns bekannte Geschichte des Menschen, sie wirken aber auch auf seine unbekannte Geschichte ein, als die jedesmalige Summe von drei Irrthümern.

In jedem Falle giebt es nicht Eine Handlung, die zu thun ist, sondern so viele als es Ideale des vollkommenen Menschen giebt. Nützlich, verderblich – ist kein "An-sich"; die Ideale sind Dichtungen auf mehr oder weniger geringe Kennt niß des Menschen. – Ich leugne die absolute Sittlichkeit, weil ich ein absolutes Ziel des Menschen nicht kenne. Man muß den gesunden Zustand kennen, um den krankhaften zu erkennen – aber Gesundheit selber ist eine Vorstellung, die nach dem Vorhandenen sich in uns erzeugt. Spencer p. 302. "Übergangszustände durchdrungen von dem auf Nichtanpassung beruhenden Elend": sagt Spencer – und doch könnte gerade dies Elend das Nützlichste sein!

11 [38]

Ich suche für mich und meines Gleichen den sonnigen Winkel inmitten der jetzt wirklichen Welt, jene sonnigen Vorstellungen, bei denen uns ein Überschuß von Wohl kommt. Möge dies jeder für sich thun und das Reden ins Allgemeine, für die "Gesellschaft" bei Seite lassen!

11 [39]

Mit sich behaftet wie mit einer Krankheit – so fand ich die Begabungen.

11 [40]

Die Voraussetzung des Spencerschen Zukunfts-Ideals ist aber, was er nicht sieht, die allergrößte Ähnlichkeit aller Menschen, so daß einer wirklich im alter sich selber sieht. Nur so ist Altruismus möglich! Aber ich denke an die immer bleibende Unähnlichkeit und möglichste Souveränität des Einzelnen: also altruistische Genüsse müssen selten werden, oder die Form bekommen der Freude am Anderen, wie unsere jetzige Freude an der Natur.

11 [41]

Die Entstehung des Denkers und die Gefahren, an denen eine solche Entstehung gewöhnlich ihr Ende findet. 1) die Eltern wollen ihres Gleichen aus ihm machen 2) man gewöhnt ihn an Beschäftigungen, die ihm die Kraft und die Zeit zum Denken wegnehmen; Berufe usw. 3) man erzieht ihn zu einer kostspieligen Lebensweise, der er nun wieder viel Kraft zuwenden muß, um die Mittel dazu zu schaffen 4) man gewöhnt ihn an Freuden, welche die des Denkens farblos erscheinen lassen, und an eine Stimmung der Unbehaglichkeit in Gegenwart der Denker und ihrer Werke 5) der Geschlechtstrieb will ihn antreiben, sich mit einem Weibe zu verbinden und fürderhin für die Kinder zu leben – nicht mehr für sich selber 6) seine Begabung bringt Ehren mit sich: und diese führen ihn zu einflußreichen Personen, welche ein Interesse haben, aus ihm ein Werkzeug zu machen 7) die Lust, im Erfolge einer Wissenschaft, macht ihn von den weiteren Zielen abtrünnig: er bleibt an den Mitteln kleben und vergißt den Zweck. – Daraus lassen sich die Maximen der Erziehung des unabhängigen Denkers ableiten. Und Vorschriften, um diese Vorschriften auf's wirksamste einzuprägen (namentlich Entfernung von der Gefahr, Zwang zu denken durch sonstige Unbeschäftigung usw.) Mir liegt an der Erhaltung meiner Art

11 [42]

Die ganze Tyrannei der Zweckmäßigkeit der Gattung einmal darzulegen! Wie! Wir sollten sie gar noch fördern? Sollten nicht viel mehr dem Individuum soviel nur möglich zurückerobern? Alle Moralität soll darin aufgehen: was vererbbar auf die ganze Gattung ist, soll den Werth ausmachen? – Sehen wir doch auf die zufälligen Würfe hin, die dabei vorkommen müssen – ob da nicht manches vorkommt, was dem Gattungs-Ideal, gesetzt es werde einmal erreicht, zuwiderläuft!

11 [43]

Diese Verherrlicher der Selektions-Zweckmäßigkeit (wie Spencer) glauben zu wissen, was begünstigende Umstände einer Entwicklung sind! und rechnen das Böse nicht dazu! Und was wäre denn ohne Furcht Neid Habsucht aus dem Menschen geworden! Er existirte nicht mehr: und wenn man sich den reichsten edelsten und fruchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses – so denkt man einen Widerspruch. Von allen Seiten wohlwollend behandelt und selber wohlwollend – da müßte ein Genie furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren, sie beherrschen, aussaugen usw. Kurz, wenn jetzt der Tugendhafte an der Stärke des Egoismus leidet, so dann an der Stärke des Altruismus: alles Thun wird ihm vergällt, weil es seinem Haupthange zuwiderläuft und ihm böse vorkommt. Für sich etwas thun, bei Seite bringen, schaffen – das wäre alles mit bösem Gewissen: Lust stellte sich ein, wenn man seine Schaffensgelüste zurückdrängte und allgemein empfände. Es wäre so auch ein schönes ruhendes von allen Seiten ernährtes und erblühendes Menschenthum möglich, aber ein ganz anderes als unser bestes Menschenthum – für das auch Einiges geltend zu machen ist.

Übrigens könnte man als Individuum dem ungeheuer langsamen Prozeß der Selection zuvorkommen, in vielen Stücken und vorläufig den Menschen in seinem Ziele zeigen – mein Ideal! Die ungünstigen Umstände bei Seite thun, indem man sich bei Seite thut (Einsamkeit) Auswahl der Einflüsse (Natur Bücher hohe Ereignisse) darüber nachzudenken! Nur wohlwollende Gegner im Gedächtniß behalten! Selbständige Freunde! Alle tieferen Stufen der Menschheit aus seinem Gesichtskreis bannen! Oder sie nicht sehen und hören wollen! Blindheit Taubheit des Weisen!

11 [44]

Die Vorwegnehmenden. – Ich zweifle, ob jener Dauermensch, welchen die Zweckmäßigkeit der Gattungs-Auswahl endlich produzirt, viel höher als der Chinese stehen wird. Unter den Würfen sind viele unnütze und in Hinsicht auf jenes Gattungsziel vergängliche und wirkungslose – aber höhere: darauf laßt uns achten! Emancipiren wir uns von der Moral der Gattungs-Zweckmäßigkeit! – Offenbar ist das Ziel, den Menschen ebenso gleichmäßig und fest zu machen, wie es schon in Betreff der meisten Thiergattungen geschehen ist: sie sind den Verhältnissen der Erde usw. angepaßt und verändern sich nicht wesentlich. Der Mensch verändert sich noch – ist im Werden.

11 [45]

Die größten Einwirkungen übersehen wir nicht: wir können immer noch die Rasse zu Grunde richten, denn wir messen die Wirkungen nach Individuen, höchstens nach Jahrhunderten. Ob z. B. der Kaffé oder der Alkohol nicht Gifte sind, die in der regelmäßigen Weise eingenommen, wie es geschieht, in 2000 Jahren die Menschheit vernichtet haben?

11 [46]

"Rudimentäre Menschen" solche, die jetzt der Zweckmäßigkeit der Art nicht mehr dienen: aber keine selbsteigenen Wesen geworden sind.

Unzweckmäßig in Hinsicht auf die Art, noch nicht in Hinsicht auf kleine Complexe, und nicht in Hinsicht auf das Individuum! Sind die Zwecke des Individuums nothwendig die Zwecke der Gattung? Nein. Die individuelle Moral: in Folge eines zufälligen Wurfs im Würfelspiel ist ein Wesen da, welches seine Existenzbedingungen sucht – nehmen wir dies ernst und seien wir nicht Narren, zu opfern für das Unbekannte!

11 [47]

Der Eigenthumstrieb – Fortsetzung des Nahrungs- und Jagd- Triebs. Auch der Erkenntnißtrieb ist ein höherer Eigenthumstrieb.

11 [48]

Die Menschen bleiben bei den Mitteln hängen, wenn deren Erreichung ihnen Lust macht. Rohde.

11 [49]

Wer das Schöne nicht erreicht, sucht das Wilderhabene, weil da auch das Häßliche seine "Schönheit" zeigen darf. Ebenso sucht er die wilderhabene Moralität.

11 [50]

Im Heroismus ist der Ekel sehr stark (ebenso im Uneigennützigen – man verachtet die Beschränktheit des "Ich" – der Intellekt hat seine Expansion). Die Schwäche des Ekels bezeichnet die industrielle und utilitarische Cultur.

11 [51]

Zwei Ursprünge der Kunst 1) auf eine unschädliche Weise getäuscht zu werden (Taschenspieler Schauspieler Erzähler usw.) auch Architektur als ob der Stein redete (von dem Haus- oder Tempeleinwohner) 2) auf eine unschädliche Weise überwältigt werden: Rausch, Musik, Lyrik usw. Zuerst Besorgniß Verwunderung, daß nichts Böses erfolgt, keine Gefahr da ist – bei Beiden. So werden die Zustände, die am meisten gefürchtet werden und den höchsten Reiz ausüben, erstrebenswerth: Täuschung und Überwältigung. So von Seiten der Genießenden aus betrachtet.

11 [52]

Der Zins ("Wucher") und das böse Gewissen.

Das Theater und das böse Gewissen.

11 [53]

Reinigung der Seele. – Erster Ursprung von höher und niedriger.

Das aesthetisch-Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut – blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden pumpenden Unthiere – formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also weggedacht! Was davon doch heraustritt, erregt Scham (Koth Urin Speichel Same) Frauen mögen nicht vom Verdauen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen (So gehen die Hintergedanken ihren Weg) Dieser durch die Haut verhüllte Leib, der sich zu schämen scheint! Das Gewand an der Theilen, wo sein Wesen nach außen tritt: oder die Hand vor den Mund halten beim Speichelauswerfen. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den Organismus ist, um So mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft – er thut alles, um nicht daran zu denken. – Die Lust, die ersichtlich mit diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger – Nachwirkung des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vorstellung von Coitus und Samen. – Alles Peinliche Quälende Überheftige hat der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das Sehen Hören die Gestalt das Denken. Das Ekelhafte sollte die Quelle des Unglücks sein! – Wir lernen den Ekel um!

Zweiter Ursprung der Unterscheidung von höher und niedriger. Alles Furchteinflößende als das Mächtigere gilt als höher; alles Andere als niedriger oder gar verächtlich. Als Höchstes – Furcht einflößen und doch wohlthun und wohlwollen!

11 [54]

Welches sind die tiefen Umwandlungen, welche aus den Lehren kommen müssen, daß kein Gott für uns sorgt und daß es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistisch-unmoralische Menschheit)? daß wir Thiere sind? daß unser Leben vorbeigeht? daß wir unverantwortlich sind? der Weise und das Thier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben!

11 [55]

Die, welche den Vortheil von der hülfreichen wohlwollenden Gesinnung haben, haben sie so verherrlicht! Das Lob eine Folge des Nutzens! Und der Wohlthäter ließe es sich gefallen, mit Lob entschädigt zu werden?

11 [56]

Wie entsteht Trieb, Geschmack, Leidenschaft? Letztere opfert sich andere Triebe, die schwächer sind (anderes Verlangen nach Lust) -: das ist nicht unegoistisch! Ein Trieb beherrscht die anderen, auch den sogenannten Selbsterhaltungstrieb! "Heroismus" usw. sind nicht als Leidenschaften verstanden worden, sondern weil sie den Anderen sehr nützlich waren, als etwas Höheres Edleres Anderes! – da die meisten anderen Leidenschaften den Anderen gefährlich waren. Dies war sehr kurzsichtig! Auch der Heroismus der Vaterlandsliebe der Treue der "Wahrheit", der Forschung usw. ist den Anderen höchst gefährlich – sie sind nur zu dumm, das zu sehen! sie würden die unegoistischen Tugenden sonst in den Bann thun, in den die Habsucht der Geschlechtssinn, Grausamkeit Eroberungslust usw. gehören. Aber jene wurden gut genannt und empfunden, und allmählich ganz von den edleren und reineren Gefühlen durchtränkt – und idealisiert! ideal gemacht! So wurde die Arbeit, die Armut, der Zins, die Päderastie, zu verschiedenen Zeiten entwürdigt, zu anderen Zeiten ideal gemacht.

11 [57]

Die Menschen bewundern und loben die Handlungen eines Anderen, die für ihn selber unzweckmäßig erscheinen, sofern sie ihnen nützlich sind. (Unzweckmäßigkeit in Hinsicht auf Genuß oder Nutzen.) Früher verstand man Genuß oder Nutzen sehr gemein und eng: und wer z. B. für gloria etwas that, war schon unzweckmäßig nach der Meinung der groben Menschen, der Masse. Weil man feinere Arten von Genuß nicht sah, hat man das Reich des Uneigennützigen so groß angenommen. Der Mangel an psychologischer Feinheit ist ein Grund von vielem Loben und Bewundern! Weil die Masse keine Leidenschaft hat, so hat sie die Leidenschaft bewundert, weil sie mit Opfern verknüpft und unklug ist – den Genuß der Leidenschaft konnte man sich nicht vorstellen, man leugnete ihn. Die Menge verachtet alles Gewöhnliche, Leichte, Kleine.

11 [58]

Vor allem Wohl- und Wehethun steht die Frage: wer ist das Andere, wer ist der Andere? kurz die Erkenntniß der Welt! Wozu wohlthun und wehethun – muß erst entschieden sein! Bisher geschah alles Wohl- und Wehethun im Irrthum, als ob man wisse, was? und wozu? Die Schätzung des Wohlwollens ist erst noch zu beweisen, namentlich der Grad!

11 [59]

Nicht das Glück, sondern die möglichst lange Erhaltung ist der Inhalt aller bisherigen Moral der Gemeinde und Gesellschaft (ja auf Kosten des Glückes aller Einzelnen). Also auch nicht der Nutzen. Wer hat das Interesse der Erhaltung? Die Häuptlinge an der Spitze von Familien, Ständen usw. welche fortleben wollen im Fortleben ihrer Institutionen, welche ihr Machtgefühl in die Ferne treiben. Alle Alten: wer sein persönlich zu kurzes oder noch kurzes Leben stark empfindet, sucht sich einzudrücken in die Seele und Sitte der neuen Generation und so fortzuleben, fortzuherrschen. Es ist Eitelkeit. – Das Individuum gegen die Gesellschafts-Moral und abseits von ihr – wenn die größte Gefahr für Alle vorüber ist, können einzelne Bäume aufwachsen mit ihren Existenzbedingungen.

11 [60]

Neuer Blick auf die Welt in Hinsicht auf Intelligenz und Güte. Ist die Menschheit eine Ausnahme? Ist im Ganzen ihr Grad von Intelligenz und Güte gleichen Ranges wie der in der Natur? Ja. – Nun aber haben wir die "Zweckmäßigkeit" und "Intelligenz" der Natur zu verstehen – sie ist gar nicht da! Ebenso wenig das Unegoistische! Von da auf die Menschheit zurückzuschließen: vielleicht ist auch unsere Zweckmäßigkeit nur eine Summe günstiger Zufälle, und unsere "Güte" ebenfalls ein Irrthum. Aus den großen Schriftzügen der Natur unsere kleine Schrift zu verstehen suchen! – Wir können eine Reihe von Nacheinander's angeben, die zu einem Zwecke führen – aber 1) es ist nicht die vollständige Reihe, sondern eine erbärmliche Auswahl 2) wir können kein Glied der Reihe aus freien Stücken machen, wir wissen nur mehr oder weniger, daß es sich machen wird. Wo wir zweckmäßig sind, handeln wir trotzdem unwissend über Mittel und Zweck, im Ganzen gesehen. Über diesen Fatalismus kommen wir nicht hinaus.

11 [61]

Die Menschen haben mit Verwunderung wahrgenommen, daß Mancher seinen Vortheil vernachlässigt (in der Leidenschaft, oder aus Geschmack): sie waren blind für die inneren Vortheile des Stolzes, der Stimmung usw. und hielten diese Menschen entweder für 1) toll oder 2) für gut, falls nämlich ihnen daraus ein Vortheil erwuchs – sie bilden nun den Glauben aus, die Handlungen werden gethan allein, um ihnen wohlzuthun. Die Verherrlichung solcher Handlungen und Menschen hatte den Werth, zu ähnlichen persönlich unzweckmäßigen Handlungen anzutreiben. Der Egoismus derer, welche Hülfe und Wohlthat brauchen, hat das Unegoistische so hoch gehoben!

11 [62]

Die Jesuiten vertraten gegen Pascal die Aufklärung und die Humanität.

11 [63]

neue Praxis.

Den anderen Menschen zunächst wie ein Ding, einen Gegenstand der Erkenntniß ansehen, dem man Gerechtigkeit widerfahren lassen muß: die Redlichkeit verbietet, ihn zu verkennen, ja ihn unter irgend welchen Voraussetzungen zu behandeln, welche erdichtet und oberflächlich sind. Wohlthun ist dasselbe, wie eine Pflanze sich in's Licht rücken, um sie besser zu sehen – auch Wehethun kann ein nöthiges Mittel sein, damit die Natur sich enthülle. Nicht Jeden als Menschen behandeln, sondern als so und so beschaffenen Menschen: erster Gesichtspunkt! Als etwas, das erkannt sein muß, bevor es so und so behandelt werden kann. Die Moral mit allgemeinen Vorschriften thut jedem Individuum Unrecht. Oder giebt es Mittel der Vorbereitung der Erkenntniß, die auf jedes Wesen zuerst anwendbar sind, als Vorstufe des Experimentes? – Wie wir mit den Dingen verkehren, um sie zu erkennen, so auch mit den lebenden Wesen, so mit uns. – Aber bevor wir die Erkenntniß haben oder nachdem wir einsehen, daß wir sie nicht uns verschaffen können, wie dann handeln? Und wie, wenn wir sie erkannt haben? – Als Kräfte für unsere Ziele sie verwenden – wie anders? So wie es die Menschen immer machten (auch wenn sie sich unterwarfen: sie förderten ihren Vortheil durch die Macht dessen, dem sie sich unterwarfen) – Unser Verkehr mit Menschen muß darauf aus sein, die vorhandenen Kräfte zu entdecken, die der Völker Stände usw. – dann diese Kräfte zum Vortheil unserer Ziele zu stellen (eventuell sie sich gegenseitig vernichten lassen, wenn dies noth thut).

Neu: die Redlichkeit leugnet den Menschen, sie will keine moralische allgemeine Praxis, sie leugnet gemeinsame Ziele. Die Menschheit ist die Machtmenge, um deren Benutzung und Richtung die Einzelnen conkurriren. Es ist ein Stück Herrschaft über die Natur: vor allem muß die Natur erkannt, dann gerichtet und benutzt werden. – Mein Ziel wäre wieder die Erkenntniß? eine Machtmenge in den Dienst der Er<kenntniß> stellen?

11 [64]

Nach meinem Ziele über höhere und niedere Eigenschaften abschätzen – alle Urtheile als Vorurtheile auf diesem Gebiete behandeln. Es soll mir gleichgültig sein, was über die Keuschheit gedacht ist – gesetzt sie ist besser für die Erkenntniß, so wird sie empfohlen. Alle Dinge auf ihren Werth für das Erkennen hin prüfen, z. B. die Kunst die politischen Zustände usw. den Handel.

11 [65]

Aufgabe: die Dinge sehen, wie sie sind! Mittel: aus hundert Augen auf sie sehen können, aus vielen Personen! Es war ein falscher Weg, das Unpersönliche zu betonen und das Sehen aus dem Auge des Nächsten als moralisch zu bezeichnen. Viele Nächste und aus vielen Augen und aus lauter persönlichen Augen sehen – ist das Rechte. Das "Unpersönliche" ist nur das geschwächt-Persönliche, Matte – kann hier und da auch schon nützlich sein, wo es eben gilt, die Trübung der Leidenschaft aus dem Auge zu entfernen. Die Zweige der Erkenntniß, wo schwache Persönlichkeiten nützlich sind, am besten angebaut (Mathematik usw.). Der beste Boden der Erkenntniß, die starken mächtigen Naturen, werden erst spät für das Erkennen erobert (urbar gemacht usw.) – Hier sind die treibenden Kräfte am größten: aber das gänzliche Verirren und Wildwerden und Aufschießen in Unkraut (Religion und Mystik) ist immer noch das Wahrscheinlichste (die " Philosophen" sind solche mächtigen Naturen, die für die Erkenntniß noch nicht urbar sind; sie erbauen, tyrannisiren die Wirklichkeit, legen sich hinein. Überall, wo Liebe Haß usw. möglich sind, war die Wissenschaft noch ganz falsch: hier sind die "Unpersönlichen" ohne Augen für die wirklichen Phänomene, und die starken Naturen sehen nur sich und messen alles nach sich. – Es müssen sich neue Wesen bilden.

11 [66]

"Die Wahrheit um der Wahrheit willen" suchen – oberflächlich! Wir wollen nicht betrogen werden, es beleidigt unseren Stolz.

11 [67]

Die Schädlichkeit der "Tugenden" die Nützlichkeit der "Untugenden" ist nie in voller Breite gesehen worden. Ohne Furcht und Begierde – was wäre der Mensch! Ohne Irrthümer gar!

11 [68]

In wiefern der Sinn der Redlichkeit die phantastische Gegen kraft der Natur zu reizen vermag! Ob wirklich die Menschen nüchterner werden? – Wir begreifen ja nur durch ein phantastisches Vorwegnehmen und Versuchen, ob die Realität zufällig in dem Phantasiebild erreicht ist; namentlich in der Historie, usw. Thukydides und Tacitus müssen Dichter sein. Selbst in der Wissenschaft der einfachsten Vorgänge ist Phantasie nöthig (z. B. Mayer) – aber hier kann noch die Täuschung entstehen, als ob Nüchternheit produktiv wäre!

11 [69]

Die Leidenschaft der Erkenntniß sieht sich als Zweck des Daseins – leugnet sie die Zwecke, so sieht sie sich als werthvollstes Ergebniß aller Zufälle. Wird sie die Werthe leugnen? sie kann nicht behaupten, der höchste Genuß zu sein? Aber nach ihm zu suchen? das genußfähigste Wesen auszubilden, als Mittel und Aufgabe dieser Leidenschaft? Die Sinne steigern und den Stolz und den Durst usw.

Einen Berg hinuntersteigen, die Gegend mit den Augen umarmen, eine ungestillte Begierde dabei. Die leidenschaftlich Liebenden, welche die Vereinigung nicht zu erreichen wissen (- bei Lucrez) Der Erkennende verlangt nach Vereinigung mit den Dingen und sieht sich abgeschieden – dies ist seine Leidenschaft. Entweder soll sich alles in Erkenntniß auflösen oder er löst sich in die Dinge auf – dies ist seine Tragödie (letzteres sein Tod und dessen Pathos. Ersteres sein Streben, alles zu Geist zu machen – : Genuß die Materie zu besiegen, zu verdunsten, zu vergewaltigen usw. Genuß der Atomistik der mathematischen Punkte. Gier

11 [70]

Grundfalsche Werthschätzung der empfindenden Welt gegen die todte. Weil wir sie sind! Dazu gehören! Und doch geht mit der Empfindung die Oberflächlichkeit, der Betrug los: was hat Schmerz und Lust mit dem wirklichen Vorgange zu schaffen! – es ist ein Nebenher, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber wir nennen's das Innere und die todte Welt sehen wir als äußerlich an – grundfalsch! Die "todte" Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die "todte Welt" überzugehen – und die größte Begierde der Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt. Ist dies Selbstverneinung der Empfindung, im Intellekte? Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dauert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so genießen! Laßt uns die Rückkehr in's Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen <uns> so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt.

11 [71]

In dem Grade als die Welt zähl- und meßbar sich zeigt, also zuverlässig – erhält sie Würde bei uns. Ehedem hatte die unberechenbare Welt (der Geister – des Geistes) Würde, sie erregte mehr Furcht. Wir aber sehen die ewige Macht ganz wo anders. Unsere Empfindung über die Welt dreht sich um: Pessimismus des Intellekts.

11 [72]

Herrliche Entdeckung: es ist nicht alles unberechenbar, unbestimmt! Es giebt Gesetze, die über das Maaß des Individuums hinaus wahr bleiben! Es hätte ja ein anderes Resultat sich ergeben können!

Das Individuum nicht mehr als die ewige Sonderbarkeit und ehrwürdig! Sondern als die complicirteste Thatsache der Welt, der höchste Zufall. Wir glauben auch an seine Gesetzmäßigkeit, ob wir sie schon nicht sehen. – Oder? Als entzogen der Erkennbarkeit, aber ein Mittel der Erkenntniß, auch Hinderniß der Erkenntniß – nicht verehrungswürdig, etwas dubiös!

11 [73]

Wir können weder des Bösen noch der Leidenschaften entbehren – die vollständige Anpassung Aller an Alles und Jedes in sich (wie bei Spencer) ist ein Irrthum, es wäre die tiefste Verkümmerung. – Das schönste leiblich mächtigste Raubthier hat die stärksten Affekte: sein Haß und seine Gier in dieser Stärke werden für seine Gesundheit nöthig sein, und wenn befriedigt, diese so prachtvoll entwickeln. Selbst zum Erkennen brauche ich alle meine Triebe, die guten wie die bösen und wäre schnell am Ende, wenn ich nicht gegen die Dinge feindlich mißtrauisch grausam tückisch rachsüchtig und mich verstellend usw. sein wollte. Alle großen Menschen waren durch die Stärke ihrer Affekte groß. Auch die Gesundheit taugt nichts, wenn sie nicht großen Affekten gewachsen ist, ja sie nöthig hat. Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung. Gewiß sind sie oft Anlaß, daß man zu Grunde geht – aber dies ist kein Argument gegen ihre nützlichen Wirkungen im Großen. – Unsere Moralität will aber das Gegentheil, liebenswürdige und creditfähige Zahler und Borger.

11 [74]

Der Schaden der Tugenden ist noch nicht nachgewiesen!

11 [75]

Wir können nur intellektuelle Vorgänge begreifen: also an der Materie das, was sichtbar hörbar fühlbar wird – werden kann! d.h. wir begreifen unsere Veränderungen im Sehen, Hören, Fühlen, welche dabei enstehen. Wofür wir keine Sinne haben, <das> existirt für uns nicht – aber deshalb braucht die Welt nicht zu Ende zu sein. Elektricität – z. B. unser Sinn sehr schwach entwickelt. – Auch an einer Leidenschaft, einem Triebe begreifen wir nur den intellektuellen Vorgang daran – nicht das physiologische, wesentliche, sondern das Bischen Empfindung dabei. Alles zu Willen aufzulösen – sehr naive Verdrehung! – da freilich wäre alles verständlicher! Das war aber immer die Tendenz, alles in einen intellektuellen oder empfindenden Vorgang zu reduziren – z. B. auf Zwecke usw.

11 [76]

Veränderung der Werthschätzung – ist meine Aufgabe.

11 [77]

Der Mensch als das wahnsinnig gewordene Thier: lebt in lauter Wahn, bis jetzt, mehr als irgend wer geahnt hat. So fand ich ihn vor.

11 [78]

Die aesthetischen Urtheile (der Geschmack, Mißbehagen, Ekel usw.) sind das, was den Grund der Gütertafel ausmacht. Diese wiederum ist der Grund der moralischen Urtheile.

11 [79]

Das Schöne, das Ekelhafte usw. ist das ältere Urtheil. Sobald es die absolute Wahrheit in Anspruch nimmt, schlägt das aesthetische Urtheil in die moralische Forderung um.

Sobald wir die absolute Wahrheit leugnen, müssen wir alles absolute Fordern aufgeben und uns auf aesthetische Urtheile zurückziehen. Dies ist die Aufgabe – eine Fülle aesthetischer gleichberechtigter Werthschätzungen zu creiren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge.

Reduktion der Moral auf Aesthetik!!!

11 [80]

Die Erkenntniß hat den Werth 1) die "absolute Erkenntniß" zu widerlegen 2) die objektive zählbare Welt der nothwendigen Aufeinanderfolge zu entdecken.

11 [81]

Es giebt für uns nicht Ursache und Wirkung, sondern nur Folgen ("Auslösungen") NB.

11 [82]

1.

Die Weisen müssen das Monopol des Geldmarktes sich erwerben: darüber erhaben durch ihre Lebensweise und Ziele und Richtung gebend für den Reichthum – es ist absolut nöthig, daß die höchste Intelligenz ihm die Richtung giebt.

2.

Die Ehe. Unsere meisten Ehefrauen sind zu hoch gestellt. – Geschlechtsbefriedigung soll nie das Ziel der Ehe sein. – Eine Arbeiterbevölkerung braucht gute Hurenhäuser. – Zeitehen.

3.

Der Selbstmord als übliche Todesart: neuer Stolz des Menschen, der sich sein Ende setzt und eine neue Festfeier erfindet – das Ableben.

11 [83]

Die Wissenschaft von 1650-1800 wollte die Weisheit und Güte Gottes erweisen: das Umgekehrte war das Ergebniß. Jetzt ist man versucht, einem Reste von Gott, einem mangelhaften Intellekt, listige und böse Umwege zum Guten usw. zuzugestehen. Aber 1) es zeigen sich ganz verschiedene Grade von Unvernunft 2) und ebenso von Güte: es würde ein Wesen ohne Charakter sein. Wozu ein solches Wesen annehmen? – Weder gut noch böse ist die Welt! Und der Mensch also! –

11 [84]

Unsere ganze Welt ist die Asche unzähliger lebender Wesen: und wenn das Lebendige auch noch so wenig im Vergleich zum Ganzen ist: so ist alles schon einmal in Leben umgesetzt gewesen, und so geht es fort. Nehmen wir eine ewige Dauer, folglich einen ewigen Wechsel der Stoffe an –

11 [85]

Forscher wie Lecky können den Verfall einer Meinung nach ihrer größten Herrschaft nie erklären. Die Meinungen (auf der Basis des Geschmacks) sind große Krankheiten über viele Geschlechter hin, physiologisch endlich ausheilend und absterbend – und die Meinungen selber sind nur der uns bekannte Ausdruck eines physiologischen Vorganges. Es giebt individuelle und überindividuelle Krankheiten. Man muß die Menschen studiren, in welchen die Gegenmeinung oder die Skepsis auftaucht: ein neues physiologisches Merkmal ist in ihnen, wahrscheinlich der Keim einer anderen Krankheit. – Die Menschen als die wahnsinnigen Thiere.

11 [86]

Die Thatsache an der Hexerei ist, daß ungeheure Massen Menschen damals die Lust empfanden, Anderen zu schaden und sich schädigend zu denken, ebenfalls in Gedanken sinnlich auszuschweifen und sich mächtig im Bösen und Gemeinsten zu fühlen. Woher das? – ist die Frage.

11 [87]

Jene Menschen mit der Tugend der Unbeugsamkeit Selbstüberwindung Heroismus zeigen in ihrem gefühllosen harten und grausam ausschweifenden Denken und Handeln an Andern, wo diese Tugend ihr Fundament hat. Sie handeln gegen Andere wie sie gegen sich handeln – aber weil letzteres den Menschen nützlich und selten scheint, folglich verehrungswürdig ist, ersteres sehr peinlich ist, zerlegt man sie in gute und böse Hälften! Zuletzt ist diese gefühllose Härte wahrscheinlich im Großen der Menschheit sehr nützlich gewesen, es erhielt die Ansichten und Bestrebungen aufrecht und gab ganzen Völkern und Zeiten eben jene Tugenden der Unbeugsamkeit Selbstüberwindung Heroismus, machte sie groß und stark und herrschend.

11 [88]

Ich muß nicht nur die Lehre von der Sünde, sondern auch die vom Verdienste (Tugend) aufgeben. Wie in der Natur – es bleiben die aesthetischen Urtheile! "ekelhaft, gewöhnlich, selten, anziehend, harmonisch, schroff, grell, widerspruchsvoll, quälend, entzückend" usw. Diese Urtheile sind aber auf eine wissenschaftliche Basis zustellen! "selten" was wirklich selten ist. Vieles "Gewöhnliche" als höchst werthvoll, mehr als das Seltene usw.

11 [89]

Das Wehe thun wollen, die Lust an der Grausamkeit – hat eine große Geschichte. Die Christen in ihrem Verhalten gegen die Heiden; Völker gegen ihre Nachbarn und Gegner; Philosophen gegen Menschen anderer Meinung; alle Freidenker; die Tagesschriftsteller; alle Abweichend-Lebenden, wie die Heiligen. Fast alle Schriftsteller. Selbst in den Kunstwerken sind solche Züge, welche die Absicht auf die Nebenbuhler eingiebt. Oder wie bei Heinrich von Kleist, welcher mit seiner Phantasie dem Leser Gewalt anthun will; auch Shakespeare. – Ebenso alles Lachen, und die Komödie.

Ebenso die Lust an der Verstellung: große Geschichte. –

Ist der Mensch deshalb böse?

11 [90]

Die Menschen des Mittelalters, die unbeugsamen, würden uns verachten, wir sind unter ihrem Geschmack.

11 [91]

Ein großer Schritt in der Grausamkeit, sich an geistigen statt an leiblichen Martern zu genügen und gar am Vorstellen dieser Martern und nicht-mehr-sehen-wollen.

11 [92]

Die Hexen wollten den Schaden sehen, die christlichen Verfolger und Inquisitoren auch, auch Gott vor der Hölle. Dies der Einfluß der Barbaren (Deutschen) auf Europa – ein Rückschritt. Die Sklaven haben die Demuth und die Barbaren die Grausamkeit in's Christentum gebracht.

11 [93]

Es wird fortwährend von uns sehr viel empfunden und sehr viel gedacht (erinnert, phantasirt), was nicht zum Bewußtsein kommt. Es ist geringerer und schwächerer Qualität, und reicht aus.

11 [94]

An die Moralgläubigen.

Deus nudus est,

Seneca.

11 [95]

Deus nudus est sagt Seneca. Ich fürchte, er steckt ganz in Kleidern. Und noch mehr: Kleider machen nicht nur Leute, sondern auch Götter.

11 [96]

Meint ihr, ein Grieche, dem man unsere Cultur schildert, werde dieselbe bewundern oder ersehnenswerth finden? Oder selbst ein Wilder? Jeder Zustand hat sein Ideal aus sich: ein ganz anderer ist immer eine Art Widerspruch zu diesem Ideal und deshalb peinlich und verächtlich. Wonach soll der Begriff "Fortschritt der Cultur" gemessen werden! Jeder meint, er sei auf der Höhe und sein Ideal sei das Ideal der Menschheit. Die Geschichte dieser Geschmacke an Idealen! – Auch fehlt an jedem Ideal das, was einem anderen Ideal seinen Werth, seine Schmackhaftigkeit für seine Verehrer giebt. Nun, giebt es denn einen Fortschritt der Küche? Ja, innerhalb einzelner Kreise, Völker Städte Familien, das Ideal entwickelt sich. – Das freie Individuum hat seinen Privatgeschmack, es muß sehr stark sein, sonst wird es ein Gelüstchen sein und nicht mehr, im Verhältniß zu Familien- und Volksgeschmack,.

11 [97]

Die Entstehung vieler freier Individuen bei den Griechen: Ehe nicht der Wollust wegen. Übung und Ausbildung der Kunst des coi<tus>. Die Knabenliebe als Ableitung von der Weiber-verehrung und -verzärtelung – und somit Verhinderung der Übernervosität und Schwäche der Weiber. Der Wettkampf und die Billigung des Neides. Die einfache Lebensweise. Die Sklaven und die Taxation der Arbeit. Die Religion keine Moralpredigerin, also Sitten freilassend, im Ganzen. Die Tödtung des embryo; Beseitigung der Früchte unglücklicher coitus. usw.

11 [98]

Von jedem Augenblick im Zustand eines Wesens stehen zahllose Wege seiner Entwicklung offen: der herrschende Trieb aber heißt nur einen einzigen gut, den nach seinem Ideale. So ist das Bild Spencer's von der Zukunft des Menschen nicht eine naturwissenschaftliche Nothwendigkeit, sondern ein Wunsch aus jetzigen Idealen heraus.

11 [99]

Was ist Toleranz! Und Anerkennung fremder Ideale! Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurtheilen – Ideale geringerer Wesen als er ist. Die absolute Höhe unseres Maaßstabes ist eben der Glaube an das Ideal. – Somit ist Toleranz historischer Sinn sogenannte Gerechtigkeit ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben. Was ist also wissenschaftlicher Sinn? Vielleicht das Verlangen nach einem Ideale und der Glaube, hier den Weg zum Absoluten, zum unwidersprechlichen Ideale zu haben: also unter der Voraussetzung, daß man kein Ideal hat und daran leidet! – Bei Vielen mag es die Rache sein, dafür daß sie kein Ideal haben, indem sie die anderen zerstören. Es giebt eine Schauspielerei (wie bei Bacon) als ob man ein Ideal hätte. "Die Wahrheit um ihrer selber willen" ist eine Phrase, etwas ganz Unmögliches, wie die Liebe des Nächsten um seiner selber willen.

11 [100]

Geschichte der Grausamkeit; der Verstellung; der Mordlust (letztere im Abtödten von Meinungen, Aburtheilen über Werke, Personen, Völker, Vergangenheit – der Richter ist ein sublimirter Henker).

11 [101]

Ich sehe in dem, was eine Zeit als böse empfindet, das was ihrem Ideale widerspricht, also einen Atavismus des ehemaligen Guten : z.B. eine gröbere Art von Grausamkeit Mordlust als heute vertragen wird. Irgendwann war die Handlung jedes Verbrechers eine Tugend. Aber jetzt empfindet er selber sie mit dem Gewissen der Zeit – er legt sie böse aus. Alles oder das Meiste, was Menschen thun und denken, als böse auslegen, geschieht dann, wenn das Ideal dem menschlichen Wesen überhaupt nicht entspricht (Christenthum): so wird alles Erbsünde, während es eigentlich Erbtugend ist.

11 [102]

Unglückseliger! Du hast nun auch das Leben des Einsamen, Freien durchschaut: und wieder, wie ehedem, hast du dir den Weg dazu eben durch dein Erkennen verschlossen.

Ich will alles, was ich verneine, ordnen und das ganze Lied absingen: es giebt keine Vergeltung keine Weisheit keine Güte keine Zwecke keinen Willen: um zu handeln, mußt du an Irrthümer glauben; und du wirst noch nach diesen Irrthümern handeln, wenn du sie als Irrthümer durchschaut hast.

11 [103]

Was ist Moralität! Ein Mensch, ein Volk hat eine physiologische Veränderung erlitten, empfindet diese im Gemeingefühl und deutet sie sich in der Sprache seiner Affekte und nach dem Grade seiner Kenntnisse aus, ohne zu merken, daß der Sitz der Veränderung in der Physis ist. Wie als ob einer Hunger hat und meint, mit Begriffen und Gebräuchen, mit Lob und Tadel ihn zu beschwichtigen!

11 [104]

Höflichkeit ein verfeinertes Wohlwollen, weil es die Distanz anerkennt und angenehm fühlen läßt, über welche der grobe Intellekt sich ärgert oder welche er nicht sieht.

11 [105]

In den gelobtesten Handlungen und Charakteren sind Mord Diebstahl Grausamkeit Verstellung als nothwendige Elemente der Kraft. In den verworfensten Handlungen und Charakteren ist Liebe (Schätzung und Überschätzung von etwas, dessen Besitz man begehrt) und Wohlwollen (Schätzung von etwas, dessen Besitz man hat, das man sich erhalten will)

Liebe und Grausamkeit nicht Gegensätze: sie finden sich bei den besten und festesten Naturen immer bei einander. (Der christliche Gott – eine sehr weise und ohne moralische Vorurtheile ausgedachte Person!)

Die Menschen sehen die kleinen sublimirten Dosen nicht und leugnen sie: sie leugnen z. B. die Grausamkeit im Denker, die Liebe im Räuber. Oder sie haben gute Namen für alles, was an einem Wesen hervortritt, das ihren Geschmack befriedigt. Das "Kind" zeigt alle Qualitäten schamlos, wie die Pflanze ihre Geschlechtsorgane – beide wissen nichts von Lob und Tadel. Erziehung ist Umtaufen-lernen oder Anders-fühlen lernen.

11 [106]

"Nützlich-schädlich"! "Utilitarisch"! Diesem Gerede liegt das Vorurtheil zu Grunde als ob es ausgemacht sei, wohin sich das menschliche Wesen (oder auch Thier Pflanze) entwickeln solle. Als ob nicht abertausend Entwicklungen von jedem Punkte aus möglich wären! Als ob die Entscheidung, welche die beste höchste sei, nicht eine reine Sache des Geschmacks sei! (Ein Messen nach einem Ideale, welches nicht das einer anderen Zeit, eines anderen Menschen sein muß!)

11 [107]

Wie werthvoll ist es, daß der Mensch so viel Freude beim Anblick oder Empfinden von Schmerz erlernt hat! Auch durch den Umfang der Schadenfreude hat sich der Mensch hoch erhoben! (Freude auch am eigenen Schmerz – Motiv in vielen Moralen und Religionen.)

11 [108]

Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb!

11 [109]

Diese Toleranzprediger! Ein Paar Dogmen ("fundamentale Wahrheiten") nehmen sie doch immer aus! Sie unterscheiden sich nur in der Meinung darüber von den Verfolgern, was für das Heil nothwendig sei.

Sich an die Vernunft halten wäre schön, wenn es eine Vernunft gäbe! Aber der Tolerante muß sich von seiner Vernunft, ihrer Schwäche abhängig machen! Dazu: es ist zuletzt nicht einmal diese, welche den Beweisen und Widerlegungen ihr Ohr schenkt und entscheidet. Es sind Neigungen und Abneigungen des Geschmacks. Die Verfolger sind gewiß nicht weniger logisch gewesen als die Freidenker.

11 [110]

Die Gleichgültigkeit! Ein Ding geht uns nichts an, darüber können wir denken, wie wir mögen, es giebt keinen Nutzen und Nachtheil für uns – das ist ein Fundament des wissenschaftlichen Geistes. Die Zahl dieser Dinge hat immer zugenommen; die Welt ist immer gleichgültiger geworden – so nahm die unparteiliche Erkenntniß zu, welche allmählich ein Geschmack wurde und endlich eine Leidenschaft wird.

11 [111]

Paracelsi mirabilia. Nacherzählt von F. N. – Von allem Wunderbaren – so erzählte mir Paracelsus – was ich je sah und hörte, ist Eins das Erstaunlichste, und ich muß nicht nur ein muthiges Herz wie ein Löwe, sondern auch die unschuldige Geduld eines Lammes dazu haben, es gerade so zu berichten, wie es sich zugetragen hat. Denn gesetzt, es wäre das Blendwerk eines mir übel wollenden Geistes gewesen, so gab es nie für mich eine ärgere Versuchung: und sprach das, was mir erschien, die Wahrheit –

11 [112]

Das Wesen jeder Handlung ist dem Menschen so unschmackhaft wie das Wesentliche jeder Nahrung: er würde lieber verhungern als es essen, so stark ist sein Ekel zumeist. Er hat Würzen nöthig, wir müssen zu allen Speisen verführt werden: und so auch zu allen Handlungen. Der Geschmack und sein Verhältniß zum Hunger, und dessen Verhältniß zum Bedürfniß des Organismus! Die moralischen Urtheile sind die Würzen. Der Geschmack wird aber hier wie dort als das angesehen, was über den Werth der Nahrung, Werth der Handlung entscheidet: der größte Irrthum!

Wie verändert sich der Geschmack? Wann wird er laß und unfrei? Wann ist er tyrannisch? – Und ebenso bei den Urtheilen über gut und böse; eine physiologische Thatsache ist der Grund jeder Veränderung im moralischen Geschmack; diese physiologische Veränderung ist aber nicht etwas, das nothwendig das dem Organismus Nützliche jeder Zeit forderte. Sondern die Geschichte des Geschmacks ist eine Geschichte für sich, und ebenso sehr sind Entartungen des Ganzen als Fortschritte die Folgen dieses Geschmacks. Gesunder Geschmack, kranker Geschmack – das sind falsche Unterscheidungen – es giebt unzählige Möglichkeiten der Entwicklung: was jedesmal zu der einen hinführt, ist gesund: aber es kann widersprechend einer anderen Entwicklung sein. Nur in Hinsicht auf ein Ideal, das erreicht werden soll, giebt es einen Sinn bei "gesund" und "krank". Das Ideal aber ist immer höchst wechselnd, selbst beim Individuum (das des Kindes und des Mannes!) – und die Kenntniß, was nöthig ist, es zu erreichen, fehlt fast ganz.

Wir gehen unserem Geschmack nach und benennen es mit den erhabensten Worten, als Pflicht und Tugend und Opfer. Das Nützliche erkennen wir nicht, ja wir verachten es, wie wir das Innere des Leibes verachten, alles ist uns nur erträglich wenn es sich in eine glatte Haut versteckt.

11 [113]

Beim Geschmack ergab sich nebenbei, ob ein Mittel tödtete, ob es sättigte usw. – nicht wie es auf die Dauer genommen wirkte (auf Generationen hin). Auch wußte man nicht, wie ungleichmäßig der Körper unterhalten wurde und wie diese starken Schwankungen wirkten. Die Depression in Folge mangelhafter Ernährung oder Verdauung bestimmt das Ideal.

11 [114]

Die Weihung ist gegeben worden der Beutelust, der Gefräßigkeit, der Wollust, der Grausamkeit, der Verstellung, der Lüge, der Schwäche, der Tollheit, dem Veitstanz, der Betrunkenheit, der Empfindsamkeit, der Faulheit, der Unwissenheit, dem Nichtsbesitzen, der Geistesöde, der Schadenfreude, der Furcht – allen entgegengesetzten Eigenschaften, die irgendwo Geschmack und unüberwindliche Neigung erzeugt hat (jedesmal lästerte und ekelte man sich vor dem Gegensatze und nannte ihn schlecht oder niedrig)

11 [115]

Im Wohlwollen ist verfeinerte Besitzlust, verfeinerte Geschlechtslust, verfeinerte Ausgelassenheit des Sicheren usw.

Sobald die Verfeinerung da ist, wird die frühere Stufe nicht mehr als Stufe, sondern als Gegensatz gefühlt. Es ist leichter, Gegensätze zu denken, als Grade.

Ein noch so complicirter Trieb, wenn er einen Namen hat, gilt als Einheit und tyrannisirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen.

11 [116]

Seien wir nicht Sklaven von Lust und Schmerz, auch in der Wissenschaft! Schmerzlosigkeit, ja Lust beweist nicht Gesundheit – und Schmerz ist kein Beweis gegen Gesundheit (sondern nur ein starker Reiz).

11 [117]

Die moralischen Urtheile sind Epidemien, die ihre Zeit haben.

11 [118]

Es bildet sich ein Sklavenstand sehen wir zu, daß auch ein Adel sich bildet.

11 [119]

"Wissenschaft" angeblich auf der Liebe zur Wahrheit um ihrer selber willen! Angeblich beim reinen Schweigen des „Willens"! In Wahrheit sind alle unsere Triebe thätig, aber in einer besonderen gleichsam staatlichen Ordnung und Anpassung an einander, so daß ihr Resultat kein Phantasma wird: ein Trieb regt den anderen an, jeder phantasirt und will seine Art Irrthum durchsetzen: aber jeder dieser Irrthümer wird sofort wieder die Handhabe für einen anderen Trieb (z. B. Widerspruch Analyse usw.). Mit allen den vielen Phantasmen erräth man endlich fast nothwendig die Wirklichkeit und Wahrheit, man stellt so viele Bilder hin, daß endlich eins trifft, es ist ein Schießen aus vielen vielen Gewehren nach Einem Wilde; ein großes Würfelspielen, oft nicht in Einer Person, sondern in Vielen, in Generationen sich abspielend: wo dann Ein Gelehrter eben auch nur Ein Phantasma durchführt und wenn es von einem anderen zu Nichte gemacht ist, so hat sich die Zahl der Möglichkeiten (in der die Wahrheit stecken muß) verkleinert – ein Erfolg! Es ist eine Jagd. Je mehr Individuen einer in sich hat, um so mehr wird er allein Aussicht haben, eine Wahrheit zu finden – dann ist der Kampf in ihm: und alle Kräfte muß er dem einzelnen Phantasma zu Gebote stellen und später wieder einem anderen entgegengesetzten: große Schwungkraft, großen Widerwillen am Einerlei, vielen und plötzlichen Ekel muß er haben. – Jene Naturen, welche nur vergleichen, was Andere Einzelne schon phantasirt haben, bedürfen vor allem der Kälte: diese reden von der "Kälte der Wissenschaft", es sind die Unproduktiven, eine wichtige Classe Menschen, da sie den Austausch zwischen den Producenten herstellen, eine Art Kaufleute, sie schätzen den Werth der Produkte ab. Auch diese Fähigkeit kann in Einem Menschen, der sonst produktiv ist, zuletzt noch da sein. Aber auch noch eine wichtige Fähigkeit: den Genuß an allen den verworfenen Phantasmen, das Schauspiel ihres Kampfes usw. zuhaben – die Natur darin sehen.

11 [120]

Ich habe alle meine Galle nöthig zur Wissenschaft.-

11 [121]

Fortwährend arbeitet noch das Chaos in unserem Geiste: Begriffe Bilder Empfindungen werden zufällig neben einander gebracht, durch einander gewürfelt. Dabei ergeben sich Nachbarschaf ten, bei denen der Geist stutzt: er erinnert sich des Ähnlichen, er empfindet einen Geschmack dabei, er hält fest und arbeitet an den Beiden, je nachdem seine Kunst und sein Wissen ist. – Hier ist das letzte Stückchen Welt, wo etwas Neues combinirt wird, wenigstens soweit das menschliche Auge reicht. Und zuletzt wird es im Grunde eben auch eine neue allerfeinste chemische Combination sein, die wirklich im Werden der Welt noch nicht ihres Gleichen hat.

11 [122]

Die sämmtlichen thierisch-menschlichen Triebe haben sich bewährt, seit unendlicher Zeit, sie würden, wenn sie der Erhaltung der Gattung schädlich wären, untergegangen sein: deshalb können sie immer noch dem Individuum schädlich und peinlich sein – aber die Gattung's-Zweckmäßigkeit ist das Princip der erhaltenden Kraft. Jene Triebe und Leidenschaften ausrotten ist erstens am Einzelnen unmöglich – er besteht aus ihnen, wie wahrscheinlich im Bau und <in> der Bewegung des Organismus dieselben Triebe arbeiten; und zweitens hieße es: Selbstmord der Gattung. Der Zwiespalt dieser Triebe ist ebenso nothwendig wie aller Kampf: denn das Leiden kommt für die Erhaltung der Gattung so wenig in Betracht, wie der Untergang zahlloser Individuen. Es sind ja nicht die vernünftigsten und direktesten Mittel der Erhaltung, die denkbar sind, aber die einzig wirklichen. – Im Einzelnen sind die Triebe sehr oft unzweckmäßig zusammengewürfelt, dann geht das Individuum daran zu Grunde; im Ganzen ist das Ergebniß die Erhaltung der Gattung. – Das Loben und Tadeln derselben, der zeitweilige Geschmack an diesen und jenen ist ein ziemlich oberflächliches Phänomen, abhängig vorn Bewußtsein über "nützlich" „schädlich" – welches sehr unwissenschaftlich ist! – Deshalb waren die verabscheuten Triebe doch thätig, unter anderem Namen oder unbeachtet. Es kommt nicht gar zu viel auf die Ethiken an, die geherrscht haben!

11 [123]

Woher diese Änderungen des Geschmacks im Moralischen? Geht es in die Tiefe? Wie der Appetitmangel bei der Ernährung, wie das Gefühl des Ekels und des Unangenehmen bei Fäulniß Rauch usw.? Ist es, daß für einen Zustand (eines Volkes Menschen) sein Geschmack im Verhältniß des Zweckmäßigen steht? Oder wenigstens des zweckmäßig Geglaubten? – Drückt er aus "dies bedarf ich jetzt, jenes bedarf ich nicht?" – Oder sind es wechselnde Gewöhnungen, wie der Geschmack an Speisen, hervorgerufen durch die vorhandene leichtere Befriedigung an dieser und jener, so daß Gewöhnung Reiz und Verlangen entsteht und am Entgegengesetzten und Fremden das Entgegengesetzte empfunden wird? Oder Beides?

11 [124]

Wenn ein Trieb intellektueller wird, so bekommt er einen neuen Namen, einen neuen Reiz und neue Schätzung. Er wird dem Triebe auf der älteren Stufe oft entgegengestellt, wie als sein Widerspruch (Grausamkeit z. B.) – Manche Triebe z. B. der Geschlechtstrieb sind großer Verfeinerungen durch den Intellekt fähig (Menschenliebe, Anbetung von Maria und Heiligen, künstlerische Schwärmerei; Plato meint, die Liebe zur Erkenntniß und Philosophie sei ein sublimirter Geschlechtstrieb) daneben bleibt seine alte direkte Wirkung stehen.

11 [125]

Vom Leben erlöst zu sein und wieder todte Natur werden kann als Fest empfunden werden – vom Sterbenwollenden. Die Natur lieben! Das Todte wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten "zweckmäßigen" Welt, im Lebendigen.

11 [126]

Die stärksten Individuen werden die sein, welche den Gattungsgesetzen widerstreben und dabei nicht zu Grunde gehen, die Einzelnen. Aus ihnen bildet sich der neue Adel: aber zahllose Einzelne müssen bei seiner Entstehung zu Grunde gehen! Weil sie allein die erhaltende Gesetzlichkeit und die gewohnte Luft verlieren.

11 [127]

Merkwürdige Thätigkeit des Intellekts! Beim Geschlechtstrieb begehrt eine Person nach der anderen als dem Mittel, um den Samen los zu werden oder das Ei zu befruchten. Dies gerade weiß der Intellekt nicht: er fragt: warum dies Begehren? er erwägt was alles eine Person begehrenswerth macht und sagt Jetzt: es muß jene Person diese begehrenswerth machenden Eigenschaften alle haben! – so schließt er und glaubt nunmehr so fest daran, wie wir im Traum an das Traumbild glauben. Das Glauben an seine Schlüsse ist charakteristisch. Bei allen Affekten ist der Intellekt dermaaßen thierisch-primitiv, wie im Traume. – Diese thierischen Schlüsse für alle Affekte nachzuweisen. – Was ist denn die Skepsis? Wann und in welchem Zustande wird denn der Intellekt so fein, so mißtrauisch gegen seine Schlüsse? so wenig traumhaft?

11 [128]

Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen. Aber man kann sämmtliche uns bewußte Affekte in ihnen wiederfinden – zuletzt, wenn dies geschehen ist, drehen wir die Sache um und sagen: das was wirklich vor sich geht bei der Regsamkeit unserer menschlichen Affekte sind jene physiologischen Bewegungen, und die Affekte (Kämpfe usw.) sind nur intellektuelle Ausdeutungen, dort wo der Intellekt gar nichts weiß, aber doch alles zu wissen meint. Mit dem Wort "Ärger" "Liebe" "Haß" meint er das Warum? bezeichnet zu haben, den Grund der Bewegung; ebenso mit dem Worte "Wille" usw. – Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede.

11 [129]

Fähigkeit, intelligent zu hören!

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Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellschafts- und Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen- Heerden): so sind sie als sociale Triebe und Leidenschaften stärker als als individuelle, auch jetzt noch. Man haßt mehr, plötzlicher, unschuldiger (Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen) als Patriot als als Individuum; man opfert schneller sich für die Familie als für sich: oder für eine Kirche, Partei. Ehre ist das stärkste Gefühl für Viele d. h. ihre Schätzung ihrer selber ordnet sich der Schätzung Anderer unter und begehrt von dort seine Sanktion. – Dieser nicht individuelle Egoismus ist das Ältere, Ursprünglichere; daher so viel Unterordnung, Pietät (wie bei den Chinesen) Gedankenlosigkeit über das eigene Wesen und Wohl, es liegt das Wohl der Gruppe uns mehr am Herzen. Daher die Leichtigkeit der Kriege: hier fällt der Mensch in sein älteres Wesen zurück. – Die Zelle ist zunächst mehr Glied als Individuum; das Individuum wird im Verlauf der Entwicklung immer complicirter, immer mehr Gliedergruppe, Gesellschaft. Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen. – Die Entwicklung der Heerden-Thiere und gesellschaftlichen Pflanzen ist eine ganz andere als die der einzeln lebenden. – Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung Raum Zeit ebenfalls. Die Selbstregulirung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Unwissenheiten der Praxis. – Der freieste Mensch hat das größte Machtgefühl über sich, das größte Wissen über sich, die größte Ordnung im nothwendigen Kampfe seiner Kräfte, die verhältnißmäßig größte Unabhängigkeit seiner einzelnen Kräfte, den verhältnißmäßig größten Kampf in sich, er ist das zwieträchtigste Wesen und das wechselreichste und das langlebendste und das überreich begehrende, sich nährende, das am meisten von sich ausscheidende und sich erneuernde.

11 [131]

Eine Bewegung tritt ein 1) durch einen direkten Reiz z.B. beim Frosch, dein man die Großhirnhemisphäre ausgeschnitten hat und dem das Automatische fehlt 2) durch Vorstellung der Bewegung, durch das Bild des Vorgangs in uns. Dies ist ein höchst oberflächliches Bild – was weiß der Mensch vom Kauen, wenn er das Kauen sich vorstellt! – aber unzählige Male ist dem durch Reize hervorgebrachten Vorgange das Bild des Vorgangs in Auge und Gehirn gefolgt und schließlich ist ein Band da, so fest, daß der umgedrehte Prozeß eintritt: sobald jenes Bild entsteht, entsteht die entsprechende Bewegung, das Bild dient als auslösen der Reiz.

Damit ein Reiz wirklich auslösend wirkt, muß er stärker sein als der Gegenreiz, der immer auch da ist z. B. die Lust der Ruhe der Trägheit muß aufgehoben werden. So wirkt das Bild eines Vorgangs nicht immer als auslösender Reiz, weil ein wirklicher Gegenreiz da ist, der stärker ist. Wir reden da von " Wollen-und-nicht-können" – der Gegenreiz ist häufig nicht in unserem Bewußtsein, wir merken aber eine widerstrebende Kraft, die dem Reiz des Bildes und sei es noch so deutlich die Kraft entzieht. Es ist ein Kampf da, obschon wir nicht wissen, wer kämpft. Wille, der zur That führt, tritt ein, wenn der widerstrebende Reiz schwächer ist – wir merken immer etwas von einem Widerstande, und das giebt, falsch gedeutet, jenes Nebengefühl von Sieg beim Gelingen des Gewollten. In dieser falschen Deutung haben wir den Ursprung vom Glauben an den freien Willen. " Wir" sind es nicht, die ihre Vorstellung zum Siege bringen – sondern sie siegt, weil der Gegenreiz schwächer ist. Aber gar, daß der Mechanismus vor sich geht, hat gar nichts mit unserer Willkür zu thun – wir kennen ihn nicht einmal! Wie könnten wir ihn auch nur "wollen"! Was ist z. B. das Ausstrecken unseres Arm's für unser Bewußtsein!!

11 [132]

Die Vernunft! Ohne Wissen ist sie etwas ganz Thörichtes, selbst bei den größten Philosophen. Wie phantasirt Spinoza über die Vernunft! Ein Grundirrthum ist der Glaube an die Eintracht und das Fehlen des Kampfes – dies wäre eben Tod! Wo Leben ist, ist eine genossenschaftliche Bildung, wo die Genossen um die Nahrung den Raum kämpfen, wo die schwächeren sich anfügen, kürzer leben, weniger Nachkommen haben: Verschiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern – die Gleichheit ist, ein großer Wahn. Unzählige Wesen gehen am Kampf zu Grunde, – einige seltne Fälle erhalten sich. – Ob die Vernunft bisher im Ganzen mehr erhalten als zerstört hat, mit ihrer Einbildung, alles zu wissen, den Körper zu kennen, zu "wollen" -? Die Centralisation ist gar keine so vollkommene – und die Einbildung der Vernunft, dies Centrum zu sein ist gewiß der größte Mangel dieser Vollkommenheit.

11 [133]

Wir können nur "wollen", was wir gesehen haben also seit der Ausbildung des Auges giebt es erst Vorstellungen im Gedächtniß, und diesen, wenn sie stark genug reizen, folgen dann Handlungen. Vorher sind afferente Reize nöthig, um die Handlungen hervorzubringen.

11 [134]

Wenn wir die Eigenschaften des niedersten belebten Wesens in unsere "Vernunft" übersetzen, so werden moralische Triebe daraus. Ein solches Wesen assimilirt sich das Nächste, verwandelt es in sein Eigenthum (Eigenthum ist zuerst Nahrung und Aufspeicherung von Nahrung), es sucht möglichst viel sich einzuverleiben, nicht nur den Verlust zu compensirenes ist habsüchtig. So wächst es allein und endlich wird es so reproduktiv – es theilt sich in 2 Wesen. Dem unbegrenzten Aneignungstriebe folgt Wachsthum und Generation. – Dieser Trieb bringt es in die Ausnützung des Schwächeren, und in Wettstreit mit ähnlich Starken, er kämpft d. h. er haßt, fürchtet, verstellt sich. Schon das Assimiliren ist: etwas Fremdes sich gleich machen, tyrannisirenGrausamkeit.

Es ordnet sich unter, es verwandelt sich in Funktion und verzichtet auf viele ursprüngliche Kräfte und Freiheiten fast ganz, und lebt so fort – Sklaverei ist nothwendig zur Bildung eines höheren Organismus, ebenso Kasten. Verlangen nach " Ehre" ist – seine Funktion anerkannt wissen wollen. Der Gehorsam ist Zwang Lebensbedingung, schließlich Lebensreiz. – Wer am meisten Kraft hat, andere zur Funktion zu erniedrigen, herrscht – die Unterworfenen aber haben wieder ihre Unterworfenen – ihre fortwährenden Kämpfe: deren Unterhaltung bis zu einem gewissen Maaße ist Bedingung des Lebens für das Ganze. Das Ganze wiederum sucht seinen Vortheil und findet Gegner. – Wenn alle sich mit "Vernunft" an ihren Posten stellen wollten und nicht fortwährend so viel Kraft und Feindseligkeit äußern wollten, als sie brauchen, um zu leben – so fehlte die treibende Kraft im Ganzen: die Funktionen ähnlichen Grades kämpfen, es muß fortwährend Acht gegeben werden, jede Laßheit wird ausgenützt, der Gegner wacht. – Ein Verband muß streben überreich zu werden (Übervölkerung), um einen neuen zu produziren (Colonien), um zu zerfallen in 2 selbständige Wesen. Mittel, dem Organismus Dauer, ohne das Ziel der Fortpflanzung, zu geben, richten ihn zu Grunde, sind unnatürlich – wie jetzt die klugen "Nationen" Europa's. – Fortwährend scheidet jeder Körper aus, er secernirt das ihm nicht Brauchbare an den assimilirten Wesen: das was der Mensch verachtet, wovor er Ekel hat, was er böse nennt, sind die Excremente. Aber seine unwissende "Vernunft" bezeichnet ihm oft als böse, was ihm Noth macht, unbequem ist, den Anderen, den Feind, er verwechselt das Unbrauchbare und das Schwerzuerwerbende Schwerzubesiegende Schwer-Einzuverleibende. Wenn er " mittheilt" an Andere, " uneigennützig" ist – so ist dies vielleicht nur die Ausscheidung seiner unbrauchbaren faeces, die er aus sich wegschaffen muß, um nicht daran zu leiden. Er weiß, daß dieser Dünger dem fremden Felde nützt und macht sich eine Tugend aus seiner "Freigebigkeit". -"Liebe" ist Empfindung für das Eigenthum oder das, was wir zum Eigenthum wünschen.

11 [135]

"Wirkung." Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der Andere ihre Kräfte auslösen (z. B. der Religionsstifter) ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden: man schließt aus großen Kraft-Auslösungen auf große "Ursachen". Falsch! Es können unbedeutende Reize und Menschen sein: aber die Kraft war angesammelt und lag zur Explosion bereit! – Blick auf die Weltgeschichte!

11 [136]

Wenn ein Forscher zu ungemeinen Resultaten kommt (wie Mayer), so ist dies noch kein Beweis für ungemeine Kraft: zufällig wurde sein Talent an dem Punkte thätig, wo die Entdeckung vorbereitet war. Hätte ein Zufall Mayer'n zum Philologen gemacht, er hätte mit dem gleichen Scharfsinn Namhaftes geleistet, aber nichts, deswegen er "zum Genie" ausposaunt würde. – Nicht die Resultate beweisen den großen Erkennenden: auch nicht einmal die Methode, indem über diese zu jeder Zeit verschiedene Lehren und Ansprüche existiren. Sondern die Menge, namentlich des Ungleichartigen, das Beherrschen großer Massen und das Unificiren, das mit neuem Auge Ansehn – des Alten usw. –

11 [137]

Moses Mendelsohn dieser Erzengel der Altklugheit meinte in Betreff der Zwecke, Spinoza werde doch nicht so närrisch gewesen sein, sie zu leugnen! –

11 [138]

Unser Gedächtniß beruht auf dem Gleichsehen und Gleichnehmen: also auf dem Ungenausehen; es ist ursprünglich von der größten Grobheit und sieht fast alles gleich an. – Daß unsere Vorstellungen als auslösende Reize wirken, kommt daher, daß wir viele Vorstellungen immer als das Gleiche vorstellen und empfinden, also auf dem groben Gedächtniß, welches gleich sieht, und der Phantasie, welche aus Faulheit gleich dichtet, was in Wahrheit verschieden ist. – Die Bewegung des Fußes als Vorstellung ist von der darauf folgenden Bewegung höchst verschieden!

11 [139]

Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von außen. Wohin die Kraft sich wendet? sicher nach dem Gewohnten: also wohin die Reize leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung sich bewegen. Die häufigeren Reize erziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung.

11 [140]

Oh die falschen Gegensätze! Krieg und "Frieden"! Vernunft und Leidenschaft! Subjekt Objekt! Dergleichen giebt es nicht!

11 [141]

Die Wiederkunft des Gleichen.

Entwurf.

  1. Die Einverleibung der Grundirrthümer.
  2. Die Einverleibung der Leidenschaften.
  3. Die Einverleibung des Wissens und des verzichtenden Wissens. (Leidenschaft der Erkenntniss)
  4. Der Unschuldige. Der Einzelne als Experiment. Die Erleichterung des Lebens, Erniedrigung, Abschwächung – Übergang.
  5. Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen's, Irren's, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens – wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir lehren die Lehre – es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre.

Anfang August 1881 in Sils-Maria,

6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen! –

Zu 4) Philosophie der Gleichgültigkeit. Was früher am stärksten reizte, wirkt jetzt ganz anders, es wird nur noch als Spiel angesehn und gelten gelassen (die Leidenschaften und Arbeiten) als ein Leben im Unwahren principiell verworfen, als Form und Reiz aber ästhetisch genossen und gepflegt, wir stellen uns wie die Kinder zu dem, was früher den Ernst des Daseins ausmachte. Unser Streben des Ernstes ist aber alles als werdend zu verstehen, uns als Individuum zu verleugnen, möglichst aus vielen Augen in die Welt sehen, leben in Trieben und Beschäftigungen, um damit sich Augen zu machen, zeitweilig sich dem Leben überlassen, um hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen: die Triebe unterhalten als Fundament alles Erkennens, aber wissen, wo sie Gegner des Erkennens werden: in summa abwarten, wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben können – und in wiefern eine Umwandlung des Menschen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu erkennen. – Dies ist Consequenz von der Leidenschaft der Erkenntniß: es giebt für ihre Existenz kein Mittel, als die Quellen und Mächte der Erkenntniß, die Irrthümer und Leidensch<aften> auch zu erhalten, aus deren Kampfe nimmt sie ihre erhaltende Kraft. – Wie wird dies Leben in Bezug auf seine Summe von Wohlbefinden sich ausnehmen? Ein Spiel der Kinder, auf welches das Auge des Weisen blickt, Gewalt haben über diesen und jenen Zustand – und den Tod, wenn so etwas nicht möglich ist. – Nun kommt aber die schwerste Erkenntniß und macht alle Arten Lebens furchtbar bedenkenreich: ein absoluter Überschuß von Lust muß nachzuweisen sein, sonst ist die Vernichtung unser selbst in Hinsicht auf die Menschheit als Mittel der Vernichtung der Menschheit zu wählen. Schon dies: wir haben die Vergangenheit, unsere und die aller Menschheit, auf die Wage zu setzen und auch zu überwiegen – nein! dieses Stück Menschheitsgeschichte wird und muß sich ewig wiederholen, das dürfen wir aus der Rechnung lassen, darauf haben wir keinen Einfluß: ob es gleich unser Mitgefühl beschwert und gegen das Leben überhaupt einnimmt. Um davon nicht umgeworfen zu werden, darf unser Mitleid nicht groß sein. Die Gleichgültigkeit muß tief in uns gewirkt haben und der Genuß im Anschauen auch. Auch das Elend der zukünftigen Menschheit soll uns nichts angehn. Aber ob wir noch leben wollen, ist die Frage: und wie!

Zu, erwägen: die verschiedenen erhabenen Zustände, die ich hatte, als Grundlagen der verschiedenen Capitel und deren Materien – als Regulator des in jedem Capitel waltenden Ausdrucks, Vortrags, Pathos, – so eine Abbildung meines Ideals gewinnen, gleichsam durch Addition. Und dann höher hinauf!

11 [142]

Rede ich wie einer, dem es offenbart worden ist? So verachtet mich und hört mir nicht zu. – Seid ihr noch solche welche Götter nöthig haben? Hat eure Vernunft noch keinen Ekel dabei, so billig und schlecht sich speisen zu lassen?

11 [143]

"Aber wenn alles nothwendig ist, was kann ich über meine Handlungen verfügen?" Der Gedanke und Glaube ist ein Schwergewicht, welches neben allen anderen Gewichten auf dich drückt und mehr als sie. Du sagst, daß Nahrung Ort Luft Gesellschaft dich wandeln und bestimmen? Nun, deine Meinungen thun es noch mehr, denn diese bestimmen dich zu dieser Nahrung Ort Luft Gesellschaft. – Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: "ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?" ist das größte Schwergewicht.

11 [144]

Es wäre entsetzlich, wenn wir noch an die Sünde glaubten: sondern was wir auch thun werden, in unzähliger Wiederholung, es ist unschuldig. Wenn der Gedanke der ewigen Wiederkunft aller Dinge dich nicht überwältigt, so ist es keine Schuld: und es ist kein Verdienst, wenn er es thut. – Von allen unseren Vorfahren denken wir milder als sie selber dachten, wir trauern über ihre einverleibten Irrthümer, nicht über ihr Böses.

  1. Die mächtigste Erkenntniß.
  2. Die Meinungen und Irrthümer verwandeln den Menschen und geben ihm die Triebe – oder: die einverleibten Irrthümer.
  3. Die Nothwendigkeit und die Unschuld.
  4. Das Spiel des Lebens.

11 [145]

Die neue Erziehung hat zu verhindern, daß die Menschen Einer ausschließlichen Neigung verfallen und zum Organ werden, gegenüber der natürlichen Tendenz zur Arbeitstheilung. Es sollen die herrschenden überschauenden Wesen geschaffen werden, die dem Spiel des Lebens zuschauen und es mitspielen, bald hier, bald dort, ohne allzuheftig hineingerissen zu werden. Ihnen muß schließlich die Macht zufallen, ihnen wird sie anvertraut, weil sie keinen heftigen, ausschließlich auf Ein Ziel gerichteten Gebrauch davon machen. Zunächst giebt man ihnen das Geld in die Hand, zum Zweck der Erziehung (die ersten Erzieher müssen sich selber erziehen!), dann weil Geld in ihren Händen am sichersten ist (überall sonst wird es verbraucht für über heftige einseitige Tendenzen). So bildet sich eine neue regierende Kaste.

11 [146]

Der Widerwille gegen das Leben ist selten. Wir erhalten uns darin und sind selber am Ende und in schweren Lagen einverstanden damit, nicht aus Furcht vor Schlimmerem, nicht aus Hoffnung auf Besseres, nicht aus Gewohnheit (die Langeweile wäre) nicht wegen der gelegentlichen Lust – sondern wegen der Abwechslung und weil im Grunde nichts eine Wiederholung ist, aber an Erlebtes erinnert. Der Reiz des Neuen und doch an den alten Geschmack Anklingenden – wie eine Musik mit vielem Häßlichen.

11 [147]

Eine neue Lehre trifft zu allerletzt auf ihre besten Vertreter, auf die altgesicherten und sichernden Naturen, weil in ihnen die früheren Gedanken mit der Fruchtbarkeit eines Urwalds durcheinandergewachsen und undurchdringlich sind. Die Schwächeren Leereren Kränkeren Bedürftigeren sind die, welche die neue Infektion aufnehmen – die ersten Anhänger beweisen nichts gegen eine Lehre. Ich glaube, die ersten Christen waren das unausstehlichste Volk mit ihren "Tugenden".

11 [148]

Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist. Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt <es> immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge – es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags.

11 [149]

Auch die chemischen Qualitäten fließen und ändern sich: mag der Zeitraum auch ungeheuer sein, daß die jetzige Formel einer Zusammensetzung durch den Erfolg widerlegt wird. Einstweilen sind die Formeln wahr: denn sie sind grob; was ist denn 9 Theile Sauerstoff zu 11 Theilen Wasserstoff! Dies 9 : 11 ist vollends unmöglich genau zu machen, es ist immer ein Fehler bei der Verwirklichung, folglich eine gewisse Spannweite, innerhalb deren das Experiment gelingt. Aber ebenfalls innerhalb derselben ist die ewige Veränderung, der ewige Fluß aller Dinge, in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein für alle Messungen ist, ja die ganze Entwicklung aller der Neuheiten während der Dauer des Menschengeschlechts vielleicht noch nicht groß genug ist, um die Formel zu widerlegen. – Es giebt so wenig Formen, wie Qualitäten.

11 [150]

Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden "todten" Zustand in einen anderen beharrenden "todten" Zustand. Ach, wir nennen das "Todte" das Bewegungslose! Als ob es etwas Bewegungsloses gäbe! Das Lebende ist kein Gegensatz des Todten, sondern ein Spezialfall.

11 [151]

Unsere Annahme, daß es Körper Flächen Linien Formen gebt, ist erst die Folge unserer Annahme, daß es Substanzen und Dinge, Beharrendes giebt. So gewiß unsere Begriffe Erdichtungen sind, so sind es auch die Gestalten der Mathematik. Dergleichen giebt es nicht – wir können eine Fläche, einen Kreis, eine Linie ebenso wenig verwirklichen als einen Begriff. Die ganze Unendlichkeit liegt immer als Realität und Hemmniß zwischen 2 Punkten.

11 [152]

Wenn nicht alle Möglichkeiten in der Ordnung und Relation der Kräfte bereits erschöpft wären, so wäre noch keine Unendlichkeit verflossen. Weil dies aber sein muß, so giebt es keine neue Möglichkeit mehr und alles muß schon dagewesen sein, unzählige Male.

11 [153]

Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, er strebt die allgemeine Starrheit zu beweisen, Dank seiner Abkunft aus Bildern. Alle Philosophen haben das Ziel gehabt, zum Beweis des ewigen Beharrens, weil der Intellekt darin seine eigene Form und Wirkung fühlt.

11 [154]

Nichts ist congruent in der Wirklichkeit, denn es giebt da keine Flächen.

11 [155]

Unsere Sinne zeigen uns nie ein Nebeneinander sondern stets ein Nacheinander. Der Raum und die menschlichen Gesetze des Raumes setzen die Realität von Bildern Formen Substanzen und deren Dauerhaftigkeit voraus, d.h. unser Raum gilt einer imaginären Welt. Vom Raum, der zum ewigen Fluß der Dinge gehört, wissen wir nichts.

11 [156]

Im Grunde ist die Wissenschaft darauf aus, festzustellen, wie der Menschnicht das Individuum – zu allen Dingen und zu sich selber empfindet, also die Idiosyncrasie Einzelner und Gruppen auszuscheiden und das beharrende Verhältniß festzustellen. Nicht die Wahrheit, sondern der Mensch wird erkannt und zwar innerhalb aller Zeiten, wo er existirt. D. h. ein Phantom wird construirt, fortwährend arbeiten alle daran, um das zu finden, worüber man übereinstimmen muß, weil es zum Wesen des Menschen gehört. Dabei lernte man, daß Unzähliges nicht wesenhaft war, wie man lange glaubte, und daß mit der Feststellung des Wesenhaften nichts für die Realität bewiesen sei als daß die Existenz des Menschen bis jetzt vom Glauben an diese "Realität" abgehangen hat (wie Körper Dauer der Substanz usw.) Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur fort, der das Wesen der Gattung constituirt hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. Die erreichte Ähnlichkeit der Empfindung (über den Raum, oder das Zeitgefühl oder das Groß- und Kleingefühl) ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Der "Verrückte" die Idiosyncrasie beweisen nicht die Unwahrheit einer Vorstellung, sondern deren Abnormität; es läßt sich mit ihr nicht für eine Masse leben. Es ist der Massen-instinkt, der auch in der Erkenntniß waltet: ihre Existenzbedingungen will sie immer besser erkennen, um immer länger zu leben. Uniformität der Empfindung, ehemals durch Gesellschaft Religion erstrebt, wird jetzt durch die Wissenschaft erstrebt: der Normalgeschmack an allen Dingen festgestellt, die Erkenntniß, ruhend auf dem Glauben an das Beharrende, steht im Dienste der gröberen Formen des Beharrens (Masse Volk Menschheit) und will die feineren Formen, den idiosyncrasischen Geschmack ausscheiden und tödten – sie arbeitet gegen die Individualisirung, den Geschmack, der nur für Einen Lebensbedingung ist. – Die Gattung ist der gröbere Irrthum, das Individuum der feinere Irrthum, es kommt später. Es kämpft für seine Existenz, für seinen neuen Geschmack, für seine relativ einzige Stellung zu allen Dingen – es hält diese für besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es will herrschen. Aber da entdeckt es, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse. So lernt es: wie alle genießende Erkenntniß auf dem groben Irrthum der Gattung, den feineren Irrthümern des Individuums, und dem feinsten Irrthum des schöpferischen Augenblicks beruht.

11 [157]

Hüten wir uns, diesem Kreislaufe irgend ein Streben, ein Ziel beizulegen: oder es nach unseren Bedürfnissen abzuschätzen als langweilig, dumm usw. Gewiß kommt in ihm der höchste Grad von Unvernunft ebenso wohl vor wie das Gegentheil: aber es ist nicht darnach zu messen, Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit sind keine Prädikate für das All. – Hüten wir uns, das Gesetz dieses Kreises als geworden zu denken, nach der falschen Analogie der Kreisbewegung innerhalb des Ringes: es gab nicht erst ein Chaos und nachher allmählich eine harmonischere und endlich eine feste kreisförmige Bewegung aller Kräfte: vielmehr alles ist ewig, ungeworden: wenn es ein Chaos der Kräfte gab, So war auch das Chaos ewig und kehrte in jedem Ringe wieder. Der Kreislauf ist nichts Gewordenes, er ist das Urgesetz, so wie die Kraftmenge Urgesetz ist, ohne Ausnahme und Übertretung. Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge; also nicht durch falsche Analogie die werdenden und vergehenden Kreisläufe z. B. der Gestirne oder Ebbe und Fluth Tag und Nacht Jahreszeiten zur Charakristik des, ewigen Kreislaufs zu verwenden.

11 [158]

Hüten wir uns, eine solche Lehre wie eine plötzliche Religion zu lehren! Sie muß langsam einsickern, ganze Geschlechter müssen an ihr bauen und fruchtbar werden, – damit sie ein großer Baum werde, der alle noch kommende Menschheit überschatte. Was sind die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christenthum erhalten hat! Für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende – lange lange muß er klein und ohnmächtig sein!

11 [159]

Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten.

11 [160]

Diese Lehre ist milde gegen die, welche nicht an sie glauben, sie hat keine Höllen und Drohungen. Wer nicht glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Bewußtsein.

11 [161]

Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! – Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran.

11 [162]

Damit es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums – entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden – ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze denken lassen) – doch kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der Widerspruch des Lebens und seiner letzten Entscheidungen; sein Trieb zur Erkenntniß hat den Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung.

Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres!

Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes – unser Cultus.

Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, unseren Geschmack an ihm mehren, ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß.

So entdecken wir auch hier eine Nacht und einen Tag als Lebensbedingung für uns : Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth. Herrscht eines absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und zugleich die Fähigkeit.

11 [163]

Der politische Wahn, über den ich eben so lächle, wie die Zeitgenossen über den religiösen Wahn früherer Zeiten, ist vor allem Verweltlichung, Glaube an die Welt und Aus-dem-Sinn-Schlagen von "Jenseits" und "Hinterwelt". Sein Ziel ist das Wohlbefinden des flüchtigen Individuums: weshalb der Socialismus seine Frucht ist, d. h. die flüchtigen Einzelnen wollen ihr Glück sich erobern, durch Vergesellschaftung, sie haben keinen Grund zu warten, wie die Menschen mit ewigen Seelen und ewigem Werden und zukünftigem Besserwerden. Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl giebt und kein Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!

11 [164]

Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urtheil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Es hat sein Wachsthum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Thätigkeits-Sinn. Zwischenstufe: der Halbinstinkt, der nur auf Reize reagirt und sonst todt ist.

11 [165]

Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies der Hauptgedanke! Erst am Ende wird dann die Lehre von der Wiederholung alles Dagewesenen vorgetragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen, welches unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann!

11 [166]

Das Ähnliche ist kein Grad des Gleichen: sondern etwas vom Gleichen völlig Verschiedenes.

11 [167]

Wie kann man dem Nächsten Kleinen Flüchtigen Bedeutung geben? A) Indem man es als Wurzel der Gewohnheiten begreift B) als ewig und ebenfalls Ewiges bedingend.

11 [168]

Wer auf den Geist säet, pflanzt Bäume, die sehr spät groß werden. Das was sich vom Vater auf den Sohn vererbt, sind die geübtesten Gewohnheiten (nicht die geschätztesten!) Der Sohn verräth den Vater. Der Fleiß eines Gelehrten ist entsprechend der Thätigkeit seines Vaters: z. B. wenn dieser immer am Comtoir ist oder wenn er nur wie ein Landgeistlicher "arbeitet". Die Griechen der höheren Stände wurden so individuell produktiv, weil sie keinen gedankenlosen Fleiß vererbt bekamen.

11 [169]

Gegen alle wilden Energien wehren wir uns so lange, als wir sie nicht zu benutzen wissen (als Kraft) und so lange nennen wir sie böse. Nachher aber nicht mehr! Frage: wie macht man Verbrechen nützlich? Wie macht man seine eigene Wildheit nützlich?

11 [170]

Ich will gegen die Kunst der Kunstwerke eine höhere Kunst lehren: die der Erfindung von Festen.

11 [171]

Ich erkenne etwas Wahres nur als Gegensatz zu einem wirklich lebendigen Unwahren: so kommt das Wahre ganz kraftlos, als Begriff, zur Welt und muß sich durch Verschmelzung mit lebendigen Irrthümern erst Kräfte geben! Und darum muß man die Irrthümer leben lassen und ihnen ein großes Reich zugestehen. – Ebenso: um individuell leben zu können, muß erst die Gesellschaft hoch gefördert sein und fort und fort gefördert werden – der Gegensatz: im Bunde mit ihr bekommt das Individuelle zuerst einige Kraft. – Endlich erscheint ein Punkt, wo wir über das Individuelle und Idiosynkratische hinauswollen: aber nur im Bunde mit dem Individuum, dem Gegensatze, können wir diesem Streben Kräfte verleihen.

11 [172]

Wie geben wir dem inneren Leben Schwere, ohne es böse und fanatisch gegen Anders-denkende zu machen? Der religiöse Glaube nimmt ab und der Mensch lernt sich als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach; er übt sich nicht so im Erstreben Ertragen, er will den gegenwärtigen Genuß, er macht sich's leicht – und viel Geist verwendet er vielleicht dabei.

11 [173]

Wie unkräftig war bisher alle physiologische Erkenntiß! während die alten physiologischen Irrthümer spontane Kraft bekommen haben! Lange lange Zeit können wir die neuen Erkenntnisse nur als Reize verwenden – um die spontanen Kräfte zu entladen.

11 [174]

Wie das Böse abgenommen hat! Ehemals setzte man die Absicht zu schaden in jedem Naturereigniß voraus!

11 [175]

Wie gemein hat sich das Christenthum gegen das Alterthum benommen, indem es dasselbe ganz durchteufelte! Gipfel aller verleumderischen Bosheit!

11 [176]

Sklaven-Arbeit! Freien-Arbeit! Erstere Arbeit ist alle Arbeit, die nicht um unserer selber willen gethan wird und die keine Befriedigung in sich hat. Es ist viel Geist noch zu finden, damit ein jeder seine Arbeiten sich befriedigend gestalte.

11 [177]

Das Zeitalter der Experimente! Die Behauptungen Darwin's sind zu prüfen – durch Versuche! Ebenso die Entstehung höherer Organismen aus den niedersten. Es müssen Versuche auf 1000 de von Jahren hin geleitet werden! Affen zu Menschen erziehen!

11 [178]

Es ist ein falscher Gesichtspunkt: um die Gattung zu erhalten, werden unzählige Exemplare geopfert. Ein solches "Um" giebt es nicht! Ebenso giebt es keine Gattung, sondern lauter verschiedene Einzelwesen! Also giebt es auch keine Opferung, Verschwendung! Also auch keine Unvernunft dabei! – Die Natur will nicht die "Gattung erhalten"! Thatsächlich erhalten sich viele ähnliche Wesen, mit ähnlichen Existenzbedingungen leichter als abnorme Wesen.

11 [179]

Während in sehr vielen Fällen das erste Kind einer Ehe einen genügenden Grund abgiebt, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen: wird doch die Ehe dadurch nicht gelöst, sondern trotz des voraussichtlichen Nachtheils neuer Kinder (zum Schaden aller Späteren!) festgehalten! Wie kurzsichtig! Aber der Staat will und wollte keine bessere Qualität, sondern Masse! Deshalb liegt ihm an der Züchtung der Menschen nichts! – Einzelne ausgezeichnete Männer sollten bei mehreren Frauen Gelegenheit haben, sich fortzupflanzen; und einzelne Frauen, mit besonders günstigen Bedingungen, sollten auch nicht an den Zufall Eines Mannes gebunden sein. Die Ehe wichtiger zu nehmen! Weil der Staat nicht mehr nöthig ist.

11 [180]

Man redet dem Luxus jetzt das Wort als dem stärksten Reizmittel auf Arme, Arbeit-Geplagte und Verheirathete: <um> seinetwillen streben sie nach Reichthum: man befeindet die Zufriedenheit und die idyllische Philosophie als Schädiger des National-Reichthums und der – Arbeitskraft. Möglichst viel Reichthum, möglichst viel Neid und Unlust, möglichst viel Concurrenz! In reichen Staaten seien die Künste am besten gefördert worden, durch Luxusmenschen, die Kunst ein Mittel, den Neid der Niederen zu erregen, als ein Stück Luxus. – Andererseits soll ihr Emporwachsen im Luxus eine Apologie des Luxus und der Absicht auf Unzufriedenheit sein: Künste vorübergehend die Unlust solcher Zustände beschwichtigend und betäubend, jedenfalls verherrlichend.

11 [181]

Ein M<ensch> sinkt in meiner Achtung 1) wenn er 200-300 Thaler jährlich hat und trotzdem Kaufmann Beamter oder Soldat noch wird, bei der Wahl eines Lebensberufs 2) wenn er soviel verdient und trotzdem ein noch zeitraubenderes Amt sucht (auch als Gelehrter). Wie! Sind das intellektuelle Menschen! Sich verheirathen wollen und den Sinn des Lebens darüber verlieren!

11 [182]

Ein starker freier M<ensch> empfindet gegen alles Andere die Eigenschaften des Organismus

1) Selbstregulirung: in der Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Haß gegen den Feind, im Maaßhalten usw.

2) überreichlicher Ersatz: in der Form von Habsucht Aneignungslust Machtgelüst

3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhängigmachen Anderer von sich, dazu Verstellung List, Lernen, Gewöhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen

4) Sekretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm nicht mehr nützen; das Überschüssige mittheilen Wohlwollen

5) metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhängig machen einordnen, auf Ausübung der anderen organischen Eigenschaften fast verzichten, sich zum "Organe" umbilden, dienen-können

6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw.

Nun würde man irren, diese organischen Eigenschaften zuerst bei dem Menschen vorauszusetzen: vielmehr bekommt er diese alle zuletzt, als freigewordener Mensch. Er hat dagegen begonnen als Theil eines Ganzen, welches seine organischen Eigenschaften hatte und den Einzelnen zu seinem Organe machte – so daß durch unsäglich lange Gewöhnung die Menschen zunächst die Affekte der Gesellschaft gegen andere Gesellschaften und Einzelne und alles Lebende und Todte empfinden, und nicht als Individuen! Z. B. er fürchtet und haßt stärker und am stärksten als Mitglied eines Geschlechtes oder Staates, nicht seinen persönlichen Feind, sondern den öffentlichen; ja er empfindet den persönlichen Feind wesentlich als einen öffentlichen (Blutrache) Er zieht in den Krieg, um seinen Staat und Häuptling zu bereichern und zum Überersatz zu verhelfen, mit jeder persönlichen Gefahr der Verkümmerung Entbehrung Verstümmelung. Er assimilirt als Mitglied seiner Gesellschaft Fremdes an sich, lernt für deren Wohl; er verachtet was von Eigenschaften nicht mehr zum Bestande der Gesellschaft nützt, er stößt die höchsten Individuen von sich, wenn sie diesem Nutzen widersprechen. Er verwandelt sich zum Organ im Dienste seiner Gesellschaft durchaus und macht von allen Eigenschaften nur den dadurch eingeschränkten Gebrauch: richtiger: er hat jene anderen Eigenschaften noch nicht und erwirbt sie erst als Organ des Gemeinwesens: als Organ bekommt er die ersten Regungen der sämmtlichen Eigenschaften des Organischen. Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum vor, sie bildet sich nicht aus Einzelwesen, nicht aus Verträgen solcher! Sondern höchstens als Kernpunkt ist ein Individuum nöthig (ein Häuptling) und dieser auch nur im Verhältniß zu der tieferen oder höheren Stufe der Anderen "frei". Also: der Staat unterdrückt ursprünglich nicht etwa die Individuen: diese existiren noch gar nicht! Er macht den Menschen überhaupt die Existenz möglich, als Heerdenthieren. Unsere Triebe Affekte werden uns da erst gelehrt: sie sind nichts Ursprüngliches! Es giebt keinen "Naturzustand" für sie! Als Theile eines Ganzen nehmen wir an dessen Existenzbedingungen und Funktionen Antheil und einverleiben uns die dabei gemachten Erfahrungen und Urtheile. Diese gerathen später mit einander in Kampf und Relation, wenn das Band der Gesellschaft zerfällt: er muß in sich die Nachwirkungen des gesellschaftlichen Organismus ausleiden, er muß das Unzweckmäßige von Existenzbedingungen Urtheilen und Erfahrungen, die für ein Ganzes paßten, abbüßen und endlich kommt er dahin, seine Existenzmöglichkeit als Individuum durch Neuordnung und Assimilation Excretion der Triebe in sich zu schaffen. Meistens gehen diese Versuchs-Individuen zu Grunde. Die Zeiten, wo sie entstehen, sind die der Entsittlichung, der sogenannten Corruption d. h. alle Triebe wollen sich jetzt persönlich versuchen und nicht bis dahin jenem persönlichen Nutzen angepaßt zerstören sie das Individuum durch Übermaaß. Oder sie zerfleischen es, in ihrem Kampfe mit einander. Die Ethiker treten dann auf und suchen dem Menschen zu zeigen, wie er doch leben könne, ohne so an sich zu leiden – meistens, indem sie ihm die alte bedingte Lebensweise unter dem Joche der Gesellschaft anempfehlen, nur so daß an Stelle der Gesellschaft ein Begriff tritt – es sind Reaktionäre. Aber sie erhalten Viele, wenn gleich durch Zurückführung in die Gebundenheit. Ihre Behauptung ist, es gebe ein ewiges Sittengesetz ; sie wollen das individuelle Gesetz nicht anerkennen und nennen das Streben dahin unsittlich und zerstörerisch. – Unvermeidlich überwiegen bei einem, der frei werden will, die Funktionen an Kraft, mit denen er (oder seine Vorfahren) der Gesellschaft gedient haben: diese hervorragenden Funktionen lenken und fördern oder beschränken die übrigen – aber alle hat er nöthig, um als Organism selber zu leben, es sind Lebensbedingungen!

Aber wir sind lange Mißgestalten, und dem entspricht das viel größere Mißbehagen der frei werdenden Individuen – im Vergleich zur älteren abhängigen Stufe und das massenhafte Zugrundegehen.

11 [183]

Haupttendenzen: 1) die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise pflanzen! Was auch jeder Einzelne dafür erdenkt, das wird der Andere gelten lassen, und eine neue große Toleranz dafür sich aneignen müssen: so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!

2) Eins sein in der Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdächtigen suchen: gegen die Finsterlinge und Unzufriedenen und Murrköpfe. Diesen die Fortpflanzung verwehren! Aber unsere Feindschaft muß selber ein Mittel zu unserer Freude werden! Also lachen, spotten, ohne Verbitterung vernichten! Dies ist unser Todkampf.

Diess Leben – dein ewiges Leben!

11 [184]

Dem wirklichen Verlaufe der Dinge muß auch eine wirkliche Zeit entsprechen, ganz abgesehn von dem Gefühle langer kurzer Zeiträume, wie sie erkennende Wesen haben. Wahrscheinlich ist die wirkliche Zeit unsäglich viel langsamer als wir Menschen die Zeit empfinden: wir nehmen so wenig wahr, obschon auch für uns ein Tag sehr lang erscheint, gegen denselben Tag im Gefühl eines Insekts. Aber unser Blutumlauf könnte in Wahrheit die Dauer eines Erd- und Sonnenlaufs haben. – Sodann empfinden wir uns wahrscheinlich als viel zu groß und haben darin unsere Überschätzung, daß wir ein zu großes Maaß in den Raum hineinempfinden. Es ist möglich, daß alles viel kleiner ist. Also die wirkliche Welt kleiner, aber viel langsamer bewegt, aber unendlich reicher an Bewegungen als wir ahnen.

11 [185]

Der Egoism ist etwas Spätes und immer noch Seltenes: die Heerden-Gefühle sind mächtiger und älter! Z. B. noch immer schätzt sich der Mensch so hoch als die Anderen ihn schätzen (Eitelkeit) Noch immer will er gleiche Rechte mit den Anderen und hat ein Wohlgefühl bei dem Gedanken daran, auch wenn er die Menschen gleich behandelt (was doch der Gerechtigkeit des suum cuique sehr zuwiderläuft!) Er faßt sich gar nicht als etwas Neues in's Auge, sondern strebt sich die Meinungen der Herrschenden anzueignen, ebenfalls erzieht er seine Kinder dazu. Es ist die Vorstufe des Egoismus, kein Gegensatz dazu: der Mensch ist wirklich noch nicht mehr individuum und ego; als Funktion des Ganzen fühlt er seine Existenz noch am höchsten und am meisten gerechtfertigt. Deshalb läßt er über sich verfügen, durch Eltern Lehrer Kasten Fürsten, um zu einer Art Selbstachtung zu kommen – selbst in der Liebe ist er viel mehr der Bestimmte als der Bestimmende. Gehorsam Pflicht erscheint ihm als "die Moral" d. h. er verherrlicht seine Heerdentriebe, indem er sie als schwere Tugenden hinstellt. – Auch im erwachten Individuum ist der Urbestand der Heerdengefühle noch übermächtig und mit dem guten Gewissen verknüpft. Der Christ mit seinem extra ecclesiam nulla salus ist grausam gegen die Gegner der christlichen Heerde; der Staatsbürger verhängt schreckliche Strafen über den Verbrecher, nicht als ego, sondern aus dem alten Instinkte – die That der Grausamkeit des Mordes der Sklaverei (Gefängniß) beleidigt ihn nicht, sobald er sie vom Heerdeninstinkt aus ansieht. – Alle freieren M<enschen> des Mittelalters glaubten, vor allem sei das Heerdengefühl zu erhalten, das seltene Individuum müsse in dieser Hinsicht Verstellung üben, ohne Hirten und den Glauben an allgemeine Gesetze gehe alles drunter und darüber. Wir glauben das nicht mehr – weil wir gesehen haben, daß der Hang zur Heerde so groß ist, daß er immer wieder durchbricht, gegen alle Freiheiten des Gedankens! Es giebt eben noch sehr selten ein ego! Das Verlangen nach Staat, socialen Gründungen, Kirchen usw. ist nicht schwächer geworden. v<ide> die Kriege! Und die "Nationen"!

11 [186]

Die griechischen Gesetzgeber haben den agon so gefördert, um den Wettkampfgedanken vom Staate abzulenken und die politische Ruhe zu gewinnen. (jetzt denkt man an die Concurrenz des Handels) Das Nachdenken über den Staat sollte durch agonale Erhitzung abgelenkt werden – ja turnen und dichten sollte man – dies hatte den Nebenerfolg, die Bürger stark schön und fein zu machen. – Ebenso förderten sie die Knabenliebe, einmal um der Übervölkerung vorzubeugen (welche unruhige verarmte Kreise erzeugt, auch innerhalb des Adels) sodann als Erziehungsmittel zum agon: die Jungen und die Älteren sollten bei einander bleiben, sich nicht trennen und das Interesse der Jungen festhalten – sonst hätte sich der Ehrgeiz der abgesonderten Älteren auf den Staat geworfen, aber mit Knaben konnte man nicht vom Staate sprechen. So benutzte vielleicht Richelieu die Galanterie der Männer, um die ehrgeizigen Triebe abzulenken und andere Gespräche als über den Staat in Curs zu bringen.

11 [187]

Woran gieng die alexandrinische Cultur zu Grunde? Sie vermochte mit all ihren nützlichen Entdeckungen und der Lust an der Erkenntniß dieser Welt doch dieser Welt, diesem Leben nicht die letzte Wichtigkeit zu geben, das jenseits blieb wichtiger! Hierin umzu lehren jetzt immer noch die Hauptsache – vielleicht wenn die Metaphysik eben dies Leben mit dem schwersten Accent trifft – nach meiner Lehre!

11 [188]

Im Allgemeinen ist die Richtung des Socialism wie die des Nationalismus eine Reaktion, gegen das Individuellwerden. Man hat seine Noth mit dem ego, dem halbreifen tollen ego: man will es wieder unter die Glocke stellen.

11 [189]

Die Amöben- Einheit des Individuums kommt zuletzt! Und die Philosophen giengen von ihr aus, als ob sie bei jedem da sei! – Die Sittlichkeit ist der Hauptgegenbeweis: überall wo das Individuum auftritt, tritt die Sittenverderbniß auf d. h. der individuelle Maaßstab von Lust und Unlust wird zum ersten Male gehandhabt, und da zeigt sich, wie innerhalb des Einzelnen die Triebe noch gar nicht gelernt haben sich anzupassen, die Einheit ist noch nicht da, oder in Form der gröbsten Gewaltherrschaft Eines Triebes über die anderen – so daß das Ganze gewöhnlich zu Grunde geht! – Damit beginnt die Zeit der freien Menschen – zahllose gehen zu Grunde. – Im Anblick davon rufen die „Weisen" die alte Moral an und suchen sie als angenehm und nützlich für den Einzelnen zu beweisen.

11 [190]

Ein labiles Gleichgewicht kommt in der Natur so wenig vor, wie zwei congruente Dreiecke. Folglich auch kein Stillstand der Kraft überhaupt. Wäre der Stillstand möglich, so wäre er eingetreten!

11 [191]

Die Heerden-Menschen und die selbsteignen Menschen: letztere zuerst als Hirten. –

11 [192]

Schadenwollen als Tendenz ist jetzt im Kampfe der Parteien (der politischen und auch der wissenschaftlichen) seines Tadels entkleidet, ebenso in der Concurrenz der Kaufleute, der Staaten: man untersagt sich gewisse Mittel, aber nicht die Tendenz! Kritik gegen alles geübt ist eine letzte Machtäußerung der Einflußlosen – eine Fortsetzung der Hexerei Nützenwollen durch Gebete und Erhöhung der Phantasie galt ehemals für eine Hauptbeschäftigung des Menschen, einen Gott vergewaltigen und bestimmen zum Guten – es ist das Seitenstück zur Magie: einen Teufel vergewaltigen und zwingen zum Bösen: was wohl auch eine Hauptbeschäftigung war. Das Schwelgen im Wollen und im Bilde der erreichten Absicht und der Glaube, daß dies das Mittel zur Erreichung der Absicht sei: darin waren Alle einmüthig. Man glaubte an einen geheimen Weg außer dem der That und der Mechanik, um zum gleichen Ziel zu kommen.

11 [193]

Spinoza: wir werden nur durch Begierden und Affekte in unserem Handeln bestimmt. Die Erkenntniß muß Affekt sein, um Motiv zu sein. – Ich sage: sie muß Leidenschaft sein, um Motiv zu sein.

ex virtute absolute agere = ex ductu rationis agere, vivere, suum Esse conservare. "von Grund aus nicht anderes suchen als den eigenen Nutzen" "Niemand strebt um eines anderen Wesens willen das eigene Sein zu erhalten." "Das Streben nach Selbsterhaltung ist die Voraussetzung aller Tugend."

"Die Menschen sind sich gegenseitig am nützlichsten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen sucht." "Kein einzelnes Wesen in der Welt ist dem Menschen so nützlich, als der Mensch der nach der Richtschnur seiner Vernunft ex ductu rationis lebt."

"Gut ist alles, was der Erkenntniß wahrhaft dient; schlecht dagegen alles, was sie hindert."

Unsere Vernunft ist unsere größte Macht. Sie ist unter allen Gütern das Einzige, das alle gleichmäßig erfreut, das keiner dern anderen beneidet, das jeder dem Anderen wünscht und um so mehr wünscht als er selbst davon hat. – Einig sind die Menschen nur in der Vernunft. Sie können nicht einiger sein als wenn sie vernunftgemäß leben. Sie können nicht mächtiger sein als wenn sie vollkommen übereinstimmen. – Wir leben im Zustande der Übereinstimmung mit Anderen und mit uns selbst jedenfalls mächtiger als in dem des Zwiespalts. Die Leidenschaften entzweien; sie bringen uns in Widerstreit mit den anderen Menschen und mit uns selbst, sie machen uns feindselig nach außen und schwankend nach innen. – ego: das Alles ist Vorurtheil. Es giebt gar keine Vernunft der Art, und ohne Kampf und Leidenschaft wird alles schwach, Mensch und Gesellschaft.

("Die Begierde ist das Wesen des Menschen selbst, nämlich das Streben, kraft dessen der Mensch in seinem Sein beharren will."

"Jeder ist in dem Grade ohnmächtig als er seinen Nutzen d. h. seine Selbsterhaltung außer Acht läßt."

"Das Streben nach Selbsterhaltung ist die erste und einzige Grundlage der Tugend."

Es giebt im Geiste keinen freien Willen, sondern der Geist wird, dies oder jenes zu wollen, von einer Ursache bestimmt, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist, und diese wiederum von einer anderen, und so fort bis ins Endlose.

Der Wille ist das Vermögen zu bejahen und zu verneinen: nichts Anderes.

Dagegen ich: Voregoismus, Heerdentrieb sind älter als das "Sich-selbst-erhalten-wollen". Erst wird der Mensch als Funktion entwickelt : daraus löst sich später wieder das Individuum, indem es als Funktion unzählige Bedingungen des Ganzen, des Organismus, kennen gelernt und allmählich sich, einverleibt hat.

11 [194]

Die Jesuiten hielten es mit dem Empirismus, Anhänger des Gassendi, Gegner des Descartes (den sie mit den Gründen des Sensualismus angreifen): wie Pater Bourdin. Also sie sind für Thomas Aristoteles Gassendi – gegen Augustin Plato Descartes Idealismus. (Congregation der Väter des Oratorium Jesu und ebenso Port-Royal) Pascal

Arnold Geulinx (in Niederlanden geboren 1625): impossibile est ut is faciat, qui nescit quomodo fiat. Quod nescio, quomodo fiat, ich non facio. – Qua fronte dicam, ich me facere quod quomodo fiat nescio? – Mein Wille soll sich nicht weiter erstrecken als mein Vermögen. Ubi nihil vales, ibi nihil velis.

Virtus est amor rationis. – Amor rationis hoc agit in amante, ut se ipse deserat, a se penitus recedat. Humilitas est incuria sui. Partes humilitatis sunt duae: inspectio sui et despectio sui.

Malebranche: "Betrachte man die Sinne als falsche Zeugen in Betreff der Wahrheit, aber als treue Rathgeber in Rücksicht auf die Erhaltung und den Nutzen des Lebens!" Wir irren, sobald unser Denken in die Abhängigkeit von den Sinnen geräth, wenn der Geist vom Körper sich abhängig macht. Sünde ist es, welche diese Abhängigkeit verschuldet. Das Erkennenwollen durch die Sinne, die Quelle des Irrthums – ist Sünde. Irrthum durch die Sünde verursacht! Der Irrthum wird durch Abkehrung von Gott möglich, durch Unterwerfung unter das Joch des Körpers.

Spinoza oder Teleologie als Asylum ignorantiae.

11 [195]

Mittag und Ewigkeit.

Fingerzeige zu einem neuen Leben.

Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta.

11 [196]

Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – - es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!

11 [197]

Zum "Entwurf einer neuen Art zu leben".

Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive natura: "von der Entmenschlichung der Natur". Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des Κρατος, "der Macht".

Zweites Buch. Flüchtig-skeptisch-mephistophelisch. " Von der Einverleibung der Erfahrungen." Erkenntniss = Irrthum, der organisch wird und organisirt.

Drittes Buch. Das Innigste und über den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: "vom letzten Glück des Einsamen" – das ist der, welcher aus dem "Zugehörigen" zum "Selbsteignen" des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene ego: nur erst dies ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, giebt es etwas anderes als Liebe.

Viertes Buch. Dithyrambisch-umfassend. " Annulus aeternitatis." Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben.

Die unablässige Verwandlung – du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch. Das Mittel ist der unablässige Kampf.

Sils-Maria 26. August 1881

"allem Hübschen und Gefälligen aus dem Wege gehen, als ein weltverachtender Gewaltmensch" sagt J. Burckhardt bei Palazzo Pitti)

11 [198]

Die große Form eines Kunstwerks wird an's Licht treten, wenn der Künstler die große Form in seinem Wesen hat! An sich die große Form ist albern und verdirbt die Kunst, es heißt den Künstler zur Heuchelei verführen oder das Große und Seltene zur Conventions-münze umstempeln wollen. Ein ehrlicher Künstler, der diese gestaltende Kraft in seinem Charakter nicht hat, ist ehrlich, sie auch nicht in seinen Werken haben zu wollen: – wenn er sie überhaupt leugnet und verunglimpft, so ist dies begreiflich und mindestens zu entschuldigen: er kann da nicht über sich. So Wagner. Aber die "unendliche Melodie" ist ein hölzernes Eisen – "die nicht Gestalt gewordene, fertig gewordene Gestalt" – das ist ein Ausdruck für das Unvermögen der Form und eine Art Princip aus dem Unvermögen gemacht. Dramatische Musik und überhaupt Attitüden-Musik verträgt sich freilich am besten mit der formlosen, fließenden Musik – ist deshalb aber niederer Gattung.

11 [199]

Gehorsam Funktionsgefühl Schwächegefühl haben den Werth "des Unegoistischen" aufgebracht: namentlich als man die vollkommene Abhängigkeit von Einem Gotte glaubte. Verachtung gegen sich selber, aber einen Zweck dafür suchen, daß man doch thätig ist, nämlich sein muß: also um Gottes willen, und schließlich, als man an den Gott nicht mehr glaubte, um des Anderen willen: eine Einbildung, ein mächtiger Gedanke, der den Menschen das Dasein leichter machte. Auch unsere Zustände wollen Sklaverei, und das Individuum soll gehemmt werden – daher Cultur des Altruismus. In Wahrheit handelt man "unegoistisch", weil es die Bedingung ist, unter der allein man noch fortexistirt d. h. man denkt an die Existenz des Anderen gewohnheitsmäßig eher als an die eigne (z. B. der Fürst an das Volk, die Mutter an das Kind) weil sonst der Fürst nicht als Fürst, die Mutter nicht als Mutter existiren könnte: sie – wollen die Erhaltung ihres Machtgefühls, wenn es auch die beständige Aufmerksamkeit und zahllose Selbstopferung zu Gunsten der Abhängigen fordert: oder, in anderen Fällen, zu Gunsten der Mächtigen, wenn unsere Existenz (Wohlgefühl, z.B. im Dienste eines Genie's usw.) nur so behauptet wird.

11 [200]

Rechte: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen einander fest: und Pflichten: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen sich fest: jeder hat etwas zu leisten, und um dies regelmäßig zu erlangen, verzichtet der Mächtigere auf weitere Eingriffe, und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulirung. In Bezug auf die Pflichten der Funktionen stimmt der Mächtige und die Funktion überein. Es ist nichts "Unegoistisches" daran.

11 [201]

Das modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott ist der Glaube an das All als Organismus: davor ekelt mir. Also das ganz Seltene, unsäglich Abgeleitete, das Organische, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen Allgemeinen Ewigen machen! Dies ist immer noch Vermenschung der Natur! Und eine verkappte Vielgötterei in den Monaden, welche zusammen den All-Organism bilden! Mit Voraussicht! Monaden, welche gewisse mögliche mechanische Erfolge wie das Gleichgewicht der Kräfte zu verhindern wissen! Phantasterei! – Wenn das All ein Organismus werden könnte, wäre es einer geworden. Wir müssen es als Ganzes uns gerade so entfernt wie möglich von dem Organischen denken! Ich glaube, selbst unsere chemische Affinität und Cohärenz sind vielleicht spät entwickelte, bestimmten Epochen in Einzelsystemen zugehörige Erscheinungen. Glauben wir an die absolute Nothwendigkeit im All, aber hüten wir uns, von irgend einem Gesetz, sei es selbst ein primitiv mechanisches unserer Erfahrung, zu behaupten, dies herrsche in ihm und sei eine ewige Eigenschaft. – Alle chemischen Qualitäten können geworden sein und vergehen und wiederkommen. Unzählige "Eigenschaften" mögen sich entwickelt haben, für die uns, aus unserem Zeit- und Raumwinkel heraus, die Beobachtung nicht möglich ist. Der Wandel einer chemischen Qualität vollzieht sich vielleicht auch jetzt, nur in so feinem Grade, daß er unserer feinsten Nachrechnung entschlüpft.

11 [202]

Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts Unendliches": hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß Und praktisch " unermeßlich", aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d. h. die Kraft ist ewig gleich und ewig thätig: – bis diesen Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, d. h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleiches dagewesen ist, ist ganz unerweislich. Es scheint, daß die Gesammtlage bis in's Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so daß zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in Einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, z. B. zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, daß bis in alle Ewigkeit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften – eine unmögliche Annahme!

11 [203]

Prüfen wir, wie der Gedanke, daß sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z.B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen usw.) Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniß gewirkt!

11 [204]

Die Lage, in der die Menschen sich befinden, zur Natur und zu Menschen, macht ihre Eigenschaften – es ist wie bei den Atomen.

11 [205]

Hüten wir uns zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewisse Formen zu erreichen, daß es schöner, vollkommener, complicirter werden wolle! Das ist alles Vermenschung! Anarchie, häßlich, Form – sind ungehörige Begriffe. Für die Mechanik giebt es nichts Unvollkommenes.

11 [206]

Es ist Alles wiedergekommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in dieser Stunde und dieser dein Gedanke, daß Alles wiederkommt.

11 [207]

Wie fremd und überlegen thun wir hinsichtlich des Todten des Anorganischen, und inzwischen sind wir zu drei Viertel eine Wassersäule, und haben anorganische Salze in uns, die über unser Wohl und Wehe vielleicht mehr vermögen als die ganze lebendige Gesellschaft!

11 [208]

Die Philosophen haben es gemacht, wie die Völker: ihre enge Moral in das Wesen der Dinge hineingelegt. Das Ideal jedes Philosophen soll auch im An-sich der Dinge stecken.

11 [209]

Heerdenmenschen und Sondermenschen!

11 [210]

Das Unorganische bedingt uns ganz und gar: Wasser Luft Boden Bodengestalt Elektricität usw. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen.

11 [211]

Meine Aufgabe: die Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff "Natur" gewonnen hat.

11 [212]

Alle Gewöhnungen (z. B. an eine bestimmte Speise, wie Kaffe, oder eine bestimmte Zeiteintheilung) haben auf die Dauer das Ergebniß, Menschen bestimmter Art zu züchten. Also blicke um dich! Prüfe das Kleinste! Wohin will es? Gehört es zu deiner Art, zu deinem Ziele?

11 [213]

Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine unendlich wachsende Kraft voraussetzen. Aber wovon sollte sie wachsen! Woher sich ernähren, mit Überschuß ernähren! Die Annahme, das All sei ein Organism, wider streitet dem Wesen des Organischen.

11 [214]

Freunde des Salzes sind keine "Fleischfresser". Es giebt immer Vornehm- und Reichthuer, welche verbergen möchten, daß wenig Fleisch gegessen wird: man gebe Acht, ob die Personen viel oder wenig Salz brauchen!

11 [215]

Thee ein fader oder strenger oder unbedeutender Geruch und Geschmack: folglich soll man die Blumen hinzuthun!

11 [216]

Die Speisen (z. B. Zwiebeln und Reiz-Narcotica wie Taback) beweisen daß nicht Lust und die Vermeidung der Unlust, sondern das Gereizt werden dem Menschen am wichtigsten ist. Reiz ist an sich etwas Anderes als Lust und Unlust (oder letztere sind seine Extreme)

11 [217]

Wir haben zeitweilig die Blindheit nöthig und müssen gewisse Glaubensartikel und Irrthümer in uns unberührt lassen – so lange sie uns im Leben erhalten.

Wir müssen gewissenlos sein in Betreff von Wahrheit und Irrthum, so lange es sich um das Leben handelt – eben damit wir das Leben dann wieder im Dienste der Wahrheit und des intellektuellen Gewissens verbrauchen. Dies ist unsere Ebbe und Fluth, die Energie unserer Zusammenziehung und Ausbreitung.

11 [218]

Fortpflanzung oft ohne jede individuelle Neigung.

11 [219]

Diese Sklaven sind oft müde und regelmäßig müde – deshalb nehmen sie mit ihren Vergnügungen so fürlieb (was das seltsamste Merkmal unserer Zeit ist) Ihre Bier- und Weinstuben, ihr Maaß angenehmer Unterhaltung, ihre Feste, ihre Kirchen – alles ist so mittelmäßig, denn es darf da nicht viel Geist und Kraft verbraucht werden, also auch nicht gefordert werden – man will sich ausruhen. – Ja! Otium! Das ist der Müssiggang solcher, die noch alle Kraft bei sich haben.

11 [220]

Der mächtigste Gedanke verbraucht viele Kraft, die früher anderen Zielen zu Gebote stand, so wirkt er umbildend, er schafft neue Bewegungsgesetze der Kraft, aber keine neue Kraft. Darin beruht aber die Möglichkeit, die einzelnen Menschen in ihren Affekten neu zu bestimmen und zu ordnen.

11 [221]

Die Sklaverei ist allgemein sichtbar, obwohl sie sich dies nicht eingesteht; – wir müssen darnach streben, überall zu sein, alle Verhältnisse derselben zu kennen, alle ihre Meinungen am besten zu vertreten, so allein können wir sie beherrschen und benutzen. Unser Wesen muß verborgen bleiben: gleich dem der Jesuiten, welche eine Diktatur in der allgemeinen Anarchie ausübten, aber sich als Werkzeug und Funktion einführten. Welches ist unsere Funktion, unser Mantel der Sklaverei? Lehrerthum? – Die Sklaverei soll nicht vertilgt werden, sie ist nothwendig. Wir wollen nur zusehen, daß immer wieder solche entstehen, für welche gearbeitet wird, damit diese ungeheure Masse von politisch-commerciellen Kräften nicht umsonst sich verbraucht. Selbst schon, daß es Zuschauer und Nicht-mehr-Mitspieler giebt!

11 [222]

Aus dem Geiste der Funktion heraus denken jetzt die Philosophen darüber nach, die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln – es ist der Gegensatz meiner Tendenz. Sondern möglichst viele wechselnde verschiedenartige Organismen, die zu ihrer Reife und Fäulniß gekommen ihre Frucht fallen lassen; die Individuen, von denen zwar die meisten zu Grunde gehen, aber auf die Wenigen kommt es an. – Der Socialismus ist eine Gährung, welche eine Unzahl von Staats-experimenten ankündigt, also auch von Staats-Untergängen und neuen Eiern. Das Reifwerden von jetzigen Staaten geschieht schneller; die militärische Gewaltsamkeit wird immer größer.

11 [223]

Ich empfinde die Mühe Schwerfälligkeit und das Geisthabenwollen in jeder Wendung!

11 [224]

Wir haben den Blitz unschädlich gemacht: wir müssen erfinderisch sein, um ihn nützlich zu machen, ihn arbeiten zu lassen.

11 [225]

Das "Chaos des Alls" als Ausschluß jeder Zweckthätigkeit steht nicht im Widerspruch zum Gedanken des Kreislaufs: letzterer ist eben eine unvernünftige Nothwendigkeit, ohne irgend eine formale ethische ästhetische Rücksicht. Das Belieben fehlt, im Kleinsten und im Ganzen.

11 [226]

Der Egoismus ist noch unendlich schwach! Man nennt so die Wirkungen der heerdenbildenden Affekte, sehr ungenau: Einer ist habgierig und häuft Vermögen (Trieb der Familie des Stammes), ein Anderer ist ausschweifend in Venere, ein Anderer eitel (Taxation seiner selbst nach dem Maaßstabe der Heerde), man spricht vom Egoismus des Eroberers, des Staatsmanns usw. – sie denken nur an sich, aber an "sich" soweit das ego durch den heerdenbildenden Affekt entwickelt ist. Egoismus der Mütter, der Lehrer. Man frage nur einmal, wie Wenige gründlich prüfen: warum lebst du hier? warum gehst du mit dem um? Wie kamst du zu dieser Religion? Welchen Einfluß übt diese und jene Diät auf dich? Ist dies Haus für dich gebaut? usw. Nichts ist seltener als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurtheil, man kenne das ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und Intelligenz darauf verwandt – als ob wir für die Selbsterkenntniß durch eine Intuition der Forschung überhoben wären!

11 [227]

Hier das Gebirge zeigt seine 3 Höcker: mit einem schärferen Glase sehe ich eine Menge neuer Höcker, die Linie wird bei jedem schärferen Glase immer neu, die alte zum willkürlichen Phantasma. Endlich komme ich an den Punkt wo die Linie nicht mehr zu beobachten ist, weil die Bewegung der Verwitterung unserem Auge entgeht. Die Bewegung aber hebt die Linie auf

11 [228]

Wir können uns nur wenig im Großen schützen: ein Komet kann jeden Augenblick die Sonne zertrümmern, oder eine elektrische Kraft kann auftreten, in der mit Einem Male das Sternensystem zerschmilzt. Was ist "Statistik" in diesen Dingen! Wir haben für Erde und Sonne vielleicht ein Paar Millionen Jahre, in denen so etwas nicht geschehen ist: es beweist gar nichts. – Zur Vernatürlichung des Menschen gehört die Bereitschaft auf das absolut Plötzliche und Durchkreuzende.

Die plötzlichen Dinge haben die Menschen an einen falschen Gegensatz gewöhnt, sie nennen es dauernd regelmäßig usw. – aber Plötzliches ist fortwährend im Kleinsten da, in jedem Nerv; und es ist eben regelmäßig, ob es auch in der Zeit uns unberechenbar erscheint. Dauernd ist das, dessen Veränderungen wir nicht sehen, weil sie zu allmählich und zu fein für uns sind.

11 [229]

Wenn wir allmählich die Gegensätze zu allen unsern Fundamentalmeinungen formuliren, nähern wir uns der Wahrheit. Es ist zunächst eine kalte todte Begriffswelt; wir verquicken sie mit unseren anderen Irrthümern und Trieben und ziehn so ein Stück nach dem anderen in das Leben hinein. In der Anpassung an die lebenden Irrthümer kann allein die zunächst immer todte Wahrheit zum Leben gebracht werden.

11 [230]

Die Menschen reden von Magenkranken und meinen die, welche an der Verdauung leiden – als ob der Magen allein das Verdauende sei! Und die Gebildeten reden vom „Magensaft". – Es ist sehr gut, daß solche Irrthümer nicht auf die Organisation wirken, wir wären längst zu Grunde gegangen. – Und durch die Heilmethode und Diät-Unsinn haben sie todtgefährlich genug gewirkt! –

11 [231]

Die Nebeneinanderexistenz von 2 ganz Gleichen ist unmöglich: es würde die absolut gleiche Existenzgeschichte voraussetzen, in alle Ewigkeit zurück. Dies aber setzte die allgemeine absolut gleiche Entstehungsgeschichte voraus d. h. es müßte alles Andere auch absolut gleich in allen Zeiten sein d. h. der ganze Rest müßte fortwährend sich wiederholen, in sich und losgelöst von den 2 Gleichen. – Aber ebenso kann man mit Einer Verschiedenheit schon die absolute Verschiedenheit und Ungleichheit im Nebeneinander beweisen: eine Loslösung ist undenkbar; wenn Eins sich ändert, so geht die Nachwirkung in Alles hindurch

11 [232]

Unendlich viele Kraftlagen hat es gegeben, aber nicht unendlich verschiedene: letzteres setzte eine unbestimmte Kraft voraus. Sie hat nur eine "Zahl" von möglichen Eigenschaften.

11 [233]

Die Mechanik nimmt die Kraft als etwas absolut Theilbares: aber sie muß erst jede ihrer Möglichkeiten an der Wirklichkeit controliren. Es ist bei jener Kraft eben nichts in gleiche Theile theilbar; in jeder Lage ist sie Eigenschaft, und Eigenschaften kann man nicht halbiren: weshalb es nie ein Gleichgewicht der Kraft gegeben hat

11 [234]

Es ist wunderbar, daß für unsere Bedürfnisse (Maschinen Brücken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen, es sind eben sehr große Bedürfnisse, und die "kleinen Fehler" kommen nicht in Betracht.

11 [235]

Bewegung können wir nicht ohne Linien uns denken: ihr Wesen ist uns verhüllt. "Kraft" in mathematischen Punkten und mathematischen Linien ist die letzte Consequenz, und zeigt den ganzen Unsinn. Es sind zuletzt praktische Wissenschaften, ausgehend von den Fundamentalirrthümern des Menschen, daß es Dinge, und Gleiches giebt.

11 [236]

v. Analysis d<er> W<irklichkeit>

Wir können dieselbe Bewegung als Ton Farbe Wärme Elektricität empfinden. Die Empfindung macht die Eigenschaften der Dinge für uns so bunt und mannigfaltig. In Wahrheit könnte alles viel einfacher und anders sein! Wie unterscheiden wir zwischen roth und blau, wie wirkt es anders auf das Gemüth, nam<entlich> von Irren! – und doch! Die Empfindung macht die Klüfte, die Differenzen viel größer als sie in der Natur sind.

11 [237]

"Urbild" ist eine Fiktion wie Zweck, Linie usw. Das der Gestalt nach Ähnliche wird in der Natur nie erstrebt, sondern es entsteht, wo wenig verschiedene Grade in der Quantität der Kräfte walten. "Wenig" verschieden für uns! Und "ähnlich" für uns!

Ähnliche Qualitäten, sollten wir sagen, statt "gleich" – auch in der Chemie. Und "ähnlich" für uns. Es kommt nichts zweimal vor, das Sauerstoff-atom ist ohne seines Gleichen, in Wahrheit, für uns genügt die Annahme, daß es unzählige gleiche giebt.

11 [238]

Die M<enschen> und die Philosophen haben früher in die Natur hinein den Menschen gedichtet – entmenschlichen wir die Natur! Später werden sie mehr in sich selber hineindichten, an Stelle von Philosophieen und Kunstwerken wird es Ideal-menschen geben, welche alle 5 Jahre aus sich ein neues Ideal formen.

11 [239]

49 Centner weniger – atmosph<ärischer> Druck hier in der Höhe von 6000 Fuß: lasse ich meine Empfindung zu Worte kommen, so sagt sie dagegen: "zwei Pfund weniger zu tragen als drunten am Meere – und vielleicht nicht einmal so viel weniger!"

11 [240]

Erst müssen die Menschen die neue Begierde lernen – und dazu muß Jemand da sein, der sie ihnen erregt, ein Lehrer: ich vertraue, daß sie dann schon fein und erfindsam genug sein werden, die Wege zur Befriedigung der Begierde selber zu finden – schritt- und versuchsweise, wie sie es gewöhnt sind. – Es thut nichts, wenn meine Vorschläge "unpraktikabel" sind – sie sollen nur dem Appetit Reiz geben (z. B. die Behandlung der Verbrecher).

11 [241]

Wenn unsere Affekte das Mittel sind, um die Bewegungen und Bildungen eines gesellschaftlichen Organism zu unterhalten, so würde doch nichts fehlerhafter sein als nun zurückzuschließen, daß im niedrigsten Organism es eben auch die Affekte seien, welche hier selbstreguliren, assimiliren, exkretiren umwandeln, regeneriren – also Affekte auch da vorauszusetzen, Lust Unlust Willen Neigung Abneigung. Es wäre ein so toller Fehler als wenn man, nach der Thatsache des Blutumlaufs im menschlichen Körper, <auf> einen ähnlichen Blutumlauf für die niedrigsten Organismen schließen wollte. – Unsere Affekte setzen Gedanken und Geschmäcker voraus, diese ein Nervensystem usw.

11 [242]

Wir sehen, so weit als wir empfinden – Empfindung ist aber Idiosynkrasie, also ist auch Sehen (Umkreis und Grad der Deutlichkeit) Idiosynkrasie

11 [243]

Sonderbar: das worauf der Mensch am stolzesten ist, seine Selbstregulirung durch die Vernunft, wird ebenfalls von dem niedrigsten Organism geleistet, und besser, zuverlässiger! Das Handeln nach Zwecken ist aber thatsächlich nur der allergeringste Theil unserer Selbstregulirung: handelte die Menschheit wirklich nach ihrer Vernunft d. h. nach der Grundlage ihres Meinens und Wissens, so wäre sie längst zu Grunde gegangen. Die Vernunft ist ein langsam sich entwickelndes Hülfsorgan, was ungeheure Zeiten hindurch glücklicherweise wenig Kraft hat, den Menschen zu bestimmen, es arbeitet im Dienste der organischen Triebe, und emancipirt sich langsam zur Gleichberechtigung mit ihnen – so daß Vernunft (Meinung und Wissen) mit den Trieben kämpft, als ein eigener neuer Trieb – und spät, ganz spät zum Übergewicht.

11 [244]

Die Temperaments-Unterschiede sind vielleicht durch die verschiedene Vertheilung und Masse der unorganischen Salze mehr als durch alles andere bedingt. Die biliösen Menschen haben zu wenig schwefelsaures Natrium, den melancholischen Menschen fehlt es an schwefel- und phosphorsaurem Kali; zu wenig phosphorsaurer Kalk bei den Phlegmatikern. Die muthigen Naturen haben einen Überfluß von phosphorsaurem Eisen.

11 [245]

Wäre ein Gleichgewicht der Kraft irgendwann einmal erreicht worden, so dauerte es noch: also ist es nie eingetreten. Der augenblickliche Zustand widerspricht der Annahme. Nimmt man an, es habe einmal einen Zustand gegeben, absolut gleich dem augenblicklichen, so wird diese Annahme nicht durch den augenblicklichen Zustand widerlegt. Unter den unendlichen Möglichkeiten muß es aber diesen Fall gegeben haben, denn bis jetzt ist schon eine Unendlichkeit verflossen. Wenn das Gleichgewicht möglich wäre, so müßte es eingetreten sein. – Und wenn dieser augenblickliche Zustand da war, dann auch der, der ihn gebar und dessen Vorzustand zurück – daraus ergiebt sich, daß er auch ein zweites drittes usw. Mal schon da war – ebenso daß er ein zweites drittes Mal da sein wird – unzählige Male, vorwärts – und rückwärts. D. h. es bewegt sich alles Werden in der Wiederholung einer bestimmten Zahl vollkommen gleicher Zustände. – Was alles möglich ist, das kann freilich dem menschlichen Kopfe nicht überlassen sein auszudenken: aber unter allen Umständen ist der gegenwärtige Zustand ein möglicher, ganz abgesehn von unserer Urtheils-Fähigkeit oder Unfähigkeit in Betreff des Möglichen – denn es ist ein wirklicher. So wäre zu sagen: alle wirklichen Zustände müßten schon ihres Gleichen gehabt haben, vorausgesetzt, daß die Zahl der Fälle nicht unendlich ist, und im Verlaufe unendlicher Zeit nur eine endliche Zahl vorkommen mußte? weil immer von jedem Augenblick rückwärts gerechnet schon eine Unendlichkeit verflossen ist? Der Stillstand der Kräfte, ihr Gleichgewicht ist ein denkbarer Fall: aber er ist nicht eingetreten, folglich ist die Zahl der Möglichkeiten größer als die der Wirklichkeiten. – Daß nichts Gleiches wiederkehrt, könnte nicht durch den Zufall, sondern nur durch eine in das Wesen der Kraft gelegte Absichtlichkeit erklärt werden: denn, eine ungeheure Masse von Fällen vorausgesetzt, ist die zufällige Erreichung desgleichen Wurfs wahrscheinlicher als die absolute Nie-Gleichheit.

11 [246]

Grundgedanke der Handels-Kultur: die niedere Masse mit ihrem kleinen Besitz wird unzufrieden gemacht durch den Anblick des Reichen, sie glaubt, der Reiche sei der Glückliche. – Die arbeitende überarbeitete selten ruhende Sklavenmasse glaubt, der Mensch ohne körperliche Arbeit sei der Glückliche (z. B. schon der Mönch – daher die Sklaven so gern Mönche wurden). – Der von Begierden Geplagte und selten Freie glaubt, der Gelehrte und Unbewegliche und auch Geistliche sei der Glückliche. – Der hin- und hergerissene Nervöse glaubt, der Mensch der großen Einen Leidenschaft sei der Glückliche. – Der Mensch, welcher kleine Auszeichnungen kennen gelernt hat, meint, der Geehrteste sei der Glückliche. Es ist das selten und in geringem Grade Besessene, was die Phantasie der Menschen zum Bilde des Glücklichen aufreizt – nicht das was ihnen fehlt – das Fehlen erzeugt Gleichgültigkeit gegen den Gegensatz des Fehlens.

11 [247]

Es giebt im Moleküle Explosionen und Veränderungen der Bahn aller Atome, und plötzliche Auslösungen von Kraft. Es könnte auch mit Einem Moment unser ganzes Sonnensystem einen solchen Reiz erfahren, wie ihn der Nerv auf den Muskel ausübt. Daß dies nie geschehen sei oder geschehen werde, ist nicht zu beweisen.

11 [248]

Hypothese auf die Dauer mächtiger als irgend ein Glaube – vorausgesetzt, daß sie viel länger stehen bleibt als ein rel<igiöses> Dogma.

11 [249]

Kühnheit nach Innen und Bescheidung nach Außen, nach allem "Außen" – eine deutsche Vereinigung von Tugenden, wie man ehemals glaubte, – habe ich bisher am schönsten bei schweizerischen Künstlern und Gelehrten gefunden: in der Schweiz, wo mir überhaupt alle deutschen Eigenschaften bei weitem reichlicher weil bei weitem geschützter aufzuwachsen scheinen als im Deutschland der Gegenwart. Und welchen Dichter hätte Deutschland dem Schweizer Gottfried Keller entgegenzustellen? Hat es einen ähnlichen wegesuchenden Maler wie Böcklin? Einen ähnlichen weisen Wissenden wie J. Burckhardt? Thut die große Berühmtheit des Naturforschers Häckel der größeren Ruhmwürdigkeit Rütimeyers irgend welchen Eintrag? – um eine Reihe guter Namen nur zu beginnen. Immer noch dort wachsen Alpen- und Alpenthalpflanzen des Geistes, und wie man zur Zeit des jungen Goethe sich aus der Schweiz selbst seine hohen deutschen Antriebe holte, wie Voltaire Gibbon und Byron dort ihren übernationalen Empfindungen nachzuhängen lernten, so ist auch jetzt eine zeitweilige Verschweizerung ein rathsames Mittel, um ein wenig über die deutsche Augenblicklichkeits-Wirthschaft hinauszublicken.

11 [250]

Nicht Reue! sondern Böses durch eine gute Handlung gut machen!

11 [251]

Im Lohengrin giebt es viele blaue Musik. Wagner kennt die opiatischen und narkotischen Wirkungen und braucht sie gegen die ihm gut bewußte nervöse Zerfahrenheit seiner musikalischen Erfindungskraft.

11 [252]

Ich bin immer erstaunt, ins Freie tretend zu denken, mit welcher herrlichen Bestimmtheit alles auf uns wirkt, der Wald so und der Berg so und daß gar kein Wirrwarr und Versehen und Zögern in uns ist, in Bezug auf alle Empfindungen. Und doch muß die allergrößte Unsicherheit und etwas Chaotisches dagewesen sein, erst in ungeheuren Zeitstrecken ist das Alles so fest vererbt; Menschen, die wesentlich anders empfanden, über Raumentfernung, Licht und Farbe usw. sind bei Seite gedrängt worden und konnten sich schlecht fortpflanzen. Diese Art, anders zu empfinden, muß in langen Jahrtausenden als " die Verrücktheit" empfunden und gemieden worden sein. Man verstand sich nicht mehr, man ließ die "Ausnahme" bei Seite zu Grunde gehen. Eine ungeheure Grausamkeit seit Beginn alles Organischen hat existirt, alles ausscheidend, was " anders empfand". – Die Wissenschaft ist vielleicht nur eine Fortsetzung dieses Ausscheidungsprozesses, sie ist völlig unmöglich, wenn sie nicht "den Normalmenschen" als oberstes, mit allen Mitteln zu erhaltendes "Maaß" anerkennt! – Wir leben in den Überresten der Empfindungen unserer Urahnen: gleichsam in Versteinerungen des Gefühls. Sie haben gedichtet und phantasirt – aber die Entscheidung, ob eine solche Dichtung und Phantasma leben bleiben durfte, war durch die Erfahrung gegeben, ob sich mit ihr leben lasse oder ob man mit ihr zu Grunde gehe. Irrthümer oder Wahrheiten – wenn nur Leben mit ihnen möglich war! Allmählich ist da ein undurchdringliches Netz entstanden! Darein verstrickt kommen wir ins Leben, und auch die Wissenschaft löst uns nicht heraus.

11 [253]

Wenn die moralischen Leiden das Leben schwer gemacht haben – es hängt daran, daß es durchaus nicht möglich ist, eine moralische Empfindung relativ zu nehmen; sie ist wesentlich unbedingt, wie die Körper uns unbedingt erscheinen, insgleichen der Staat, die Seele, das Gemeinwesen. Wir mögen uns noch so sehr das Gewordensein von dem allen vorhalten: es wirkt auf uns als Ungewordenes, Unvergängliches und legt absolute Pflichten auf. "Der Nächste" ebenfalls, wie weise wir auch über ihn sind. Der Trieb zum Unbedingtnehmen ist sehr mächtig angezüchtet.

11 [254]

Es gäbe kein Leiden, gäbe es nichts Organisches d. h. ohne den Glauben an Gleiches d. h. ohne diesen Irrthum gäbe es keinen Schmerz in der Welt!

11 [255]

Die Wissenschaft hat immer mehr das Nacheinander der Dinge in ihrem Verlaufe festzustellen, so daß die Vorgänge für uns praktikabel werden (z. B. wie sie in der Maschine praktikabel sind) Die Einsicht in Ursache und Wirkung ist damit nicht geschaffen, aber eine Macht über die Natur läßt sich so gewinnen. Der Nachweis hat bald sein Ende, und eine weitere Verfeinerung hätte keinen Nutzen für den Menschen. – Bis jetzt war dies die große Errungenschaft des Menschen, in vielen Dingen die ihm mögliche Genauigkeit in der Beobachtung des Nacheinander zu erreichen und so für seine Zwecke nachahmen zu können

11 [256]

Unsere Eltern wachsen noch in uns nach, ihre später erworbenen Eigenschaften, die im Embryon auch vorhanden sind, brauchen Zeit. Die Eigenschaften des Vaters damals als er Mann war, lernen wir erst als Mann kennen.

11 [257]

Ich habe hoch über Wagner die Tragödie mit Musik gesehen – und hoch über Schopenhauer die Musik in der Tragödie des Daseins gehört.

11 [258] Zur "Kur des Einzelnen."

1) er soll vom Nächsten und Kleinsten ausgehen und die ganze Abhängigkeit sich feststellen, in die hinein er geboren und erzogen ist

2) ebenso soll er den gewohnten Rhythmus seines Denkens und Fühlens, seine intellektuellen Bedürfnisse der Ernährung begreifen

3) Dann soll er Veränderung aller Art versuchen, zunächst um die Gewohnheiten zu brechen (vielen Diätwechsel, mit feinster Beobachtung

4) er soll sich geistig an seine Widersacher einmal anlehnen, er soll ihre Nahrung zu essen versuchen. Er soll reisen, in jedem Sinne. In dieser Zeit wird er "unstät und flüchtig" sein. Von Zeit zu Zeit soll er über seinen Erlebnissen ruhen – und verdauen.

5) Dann kommt das Höhere: der Versuch, ein Ideal zu dichten. Dies geht dem noch Höheren voraus – eben dies Ideal zu leben.

6. Er muß durch eine Reihe von Idealen hindurch.

11 [259]

Grundsatz: das was verehrt werden soll darf nicht angenehm sein. Folglich – – –

11 [260]

Es giebt einen Theil der Nacht, von dem ich sage "hier hört die Zeit auf!" Nach allen Nachtwachen, namentlich nach nächtlichen Fahrten und Wanderungen hat man in Bezug auf diesen Zeitraum ein wunderliches Gefühl: er war immer viel zu kurz oder viel zu lang, unsere Zeitempfindung fühlt eine Anomalie. Es mag sein, daß wir es auch im Wachen zu büßen haben, daß wir jene Zeit gewöhnlich im Zeitenchaos des Traums zubringen! genug, Nachts von 1-3 Uhr haben wir die Uhr nicht mehr im Kopf. Mir scheint, daß eben dies auch die Alten ausdrückten, mit intempestiva nocte und εν αωρονυκτι (Aeschylus) "da in der Nacht, wo es keine Zeit giebt"; und auch ein dunkles Wort Homers zur Bezeichnung des tiefsten stillsten Theils der Nacht lege ich mir etymologisch auf diesen Gedanken hin zurecht: mögen die Übersetzer es immerhin mit "Zeit der Nachtmelke" wiedergeben – wo in aller Welt hat man je die Kühe Nachts um Ein Uhr gemolken! Wo war man dermaßen thöricht!

11 [261]

Es ist unsere Aufgabe, die Reinheit der Musik festzuhalten und zu verhüten, daß sie, nachdem sie in der Form des Barockstils und nach langer Einverleibung jetzt ungeheurer plötzlicher Wirkungen fähig gemacht ist, jetzt zu mystischen halbreligiösen Zwecken mißbraucht wird: – jeder kommende Hexenmeister und Cagliostro wird versuchen, mit Musik und Spiritismus zu wirken, und es sind Wiedererweckungen religiöser und sittlicher Instinkte auf diesem Wege möglich – vielleicht daß man dem christlichen Abendmahle wieder eine innere Gluth durch Musik zu geben versuchen wird. – Daß sie keine Worte nöthig hat, ist ihr größter Vorsprung vor der Dichtkunst, welche an die Begriffe appellirt und folglich an die Philosophie und Wissenschaft stößt -: aber man merkt es nicht, wenn uns die Musik von der Philosophie und Wissenschaft weg führt, verführt!

11 [262]

Die Geschichte der Philosophie ist bis jetzt erst kurz: es ist ein Anfang, sie hat noch keine Kriege geführt und die Völker zusammengeführt; das höchste ihres Vorstadium's sind die kirchlichen Kriege, das Zeitalter der Religion ist noch lange nicht zu Ende. Später wird man philosophische Meinungen einmal so als Lebens- und Existenzfragen nehmen wie bisher mitunter religiöse und politische – der Geschmack und der Ekel in Meinungen wird so groß, daß man nicht mehr leben will, so lange noch eine andere Meinung besteht. Die ganze Philosophie wird vor diesem Forum des Massen-Geschmacks und Massen-Ekels durchgelebt werden – wahrscheinlich gab es vor dem Zeitalter der Religionen auch schon vorlaufende, aber gänzlich gleichgültige religiöse Einzelne, entsprechend den vorlaufenden und gleichgültigen einzelnen Philosophen. – Als "Wahrheit" wird sich immer das durchsetzen, was nothwendigen Lebensbedingungen der Zeit, der Gruppe entspricht: auf die Dauer wird die Summe von Meinungen der Menschheit einverleibt sein, bei welchen sie ihren größten Nutzen d. h. die Möglichkeit der längsten Dauer hat. Die wesentlichsten dieser Meinungen, auf denen die Dauer der Menschheit beruht, sind ihr längst einverleibt z. B. der Glaube an Gleichheit Zahl Raum usw. Darum wird sich der Kampf nicht drehen – es kann nur ein Ausbau von diesen irrthümlichen Grundlagen unserer Thierexistenz sein. – Wichtig als bedeutendstes Denkmal des Dauergeistes ist die chinesische Denkweise. – Es wird also schwerlich die Geschichte der "Wahrheit" werden, sondern die eines organischen Irrthümer-Aufbaus, welcher in Leib und Seele übergeht und die Empfindungen und Instinkte endlich beherrscht. Es wird eine fortwährende Selection des zum Leben Gehörigen geübt. Der Anspruch auf Lebenserhaltung Wird immer tyrannischer an die Stelle des "Wahrheitssinnes" treten d. h. er wird den Namen von ihm erhalten und festhalten. – Leben wir Einzelnen unser Vorläufer-Dasein, überlassen wir den Kommenden Kriege um unsere Meinungen zu führen – wir leben in der Mitte der menschlichen Zeit: größtes Glück!

11 [263]

Tiefster Irrthum in der Beurtheilung der Menschen: wir schätzen sie ab nach ihren Wirkungen, mit dem Maaße effectus aequat causam. Aber der Mensch übt nur Reize auf andere Menschen aus, es kommt darauf <an>, was in anderen Menschen vorhanden ist, daß das Pulver explodirt oder daß der Reiz fast nichts ausmacht. Wer würde ein Streichholz darnach abschätzen, daß es in seiner Nachwirkung eine Stadt zerstörte! So machen wir es aber! Die Wirkungen beweisen, welche Elemente in den anderen Menschen der Zeit da waren: daß er einen Reiz ausübte: und mit welchen Mitteln und mit was für eigentlichen Absichten, muß man noch fragen! – Es ist Teleologie zu glauben, daß der Große eben den vorhandenen zur Explosion bereiten Elementen zur Zeit kommen muß. Wichtig ist jedenfalls, daß die anreizende Kraft eines Menschen nach seinem Tode übrig bleiben kann, durch seine Werke oder durch die Fabel, die von seinem Leben sich bildet: darauf sollen die denken, welche auf die Zeit keinen "Reiz" üben.

Zuletzt: wir irren ebenso über die Dinge, weil wir sie nach den Wirkungen in uns beurtheilen: wie verschieden scheint uns Blau und Roth, und es handelt sich um etwas mehr oder weniger Länge des Nerven! Oder dieselben chemischen Bestandtheile so und so der Lage nach gestellt ergeben Verschiedenes, und wie empfinden wir diese Verschiedenheit! Wir messen alles nach der Explosion, die ein Reiz in uns hervorruft, als groß klein usw.

11 [264]

Der Stoß ist nicht die erste mechanische Thatsache, sondern daß etwas da ist, welches stoßen kann, jener Aggregat-Heerdenzustand von Atomen, der nicht gleich Staub ist, sondern zusammenhält: hier ist gerade Nicht-Stoß und trotzdem Kraft, nicht nur des Gegenstrebens, Widerstands, sondern vor allem der Anordnung, Einordnung, Anhänglichkeit, überleitenden und zusammenknüpfenden Kraft. So ein Klümpchen kann nachher als Ganzes " stoßen"!

11 [265]

Das völlige Gleichgewicht muß entweder an sich eine Unmöglichkeit sein, oder die Veränderungen der Kraft treten in den Kreislauf ein, bevor jenes an sich mögliche Gleichgewicht eingetreten ist. – Dem Sein "Selbsterhaltungsgefühl" zuschreiben! Wahnsinn! Den Atomen "Streben von Lust und Unlust"!

11 [266]

Man aß das Fleisch nicht, weil man nicht die Seelen von Menschen verspeisen wollte, es war also nur ein Abscheu vor der Menschenfresserei, bei Pythagoras wie den Indern. Nicht Mitleiden mit den Thieren! Schmerz-machen durch Tödtung ist gar nicht nöthig: und in Hinsicht auf den wahrscheinlichen natürlichen Tod hat der Mensch, der die Thiere tödtet, im Allgemeinen das Loos der Thierwelt gemildert, zumal sie keine Voraussehung des Todes haben. – Wer nicht "von Lebendem" leben will, möge sich der Pflanzen auch enthalten! – Das Mitleiden der christlichen Heiligen war das Mitleiden mit Wesen, in denen der Teufel wohnt – nicht mit dem " Lebendigen".

11 [267]

"Die Unsittlichkeit" des Boc<c>accio ist indischen Ursprungs.

11 [268]

Damit es überhaupt ein Subjekt geben könne, muß ein Beharrendes da sein und ebenfalls viele Gleichheit und Ähnlichkeit da sein. Das unbedingt Verschiedene im fortwährenden Wechsel wäre nicht festzuhalten, an nichts festhaltbar, es flösse ab wie der Regen vom Steine. Und ohne ein Beharrendes wäre gar kein Spiegel da, worauf sich ein Neben- und Nacheinander zeigen könnte: der Spiegel setzt schon etwas Beharrendes voraus. – Nun aber glaube ich: das Subjekt könnte entstehen, indem der Irrthum des Gleichen entsteht z. B. wenn ein Protoplasma von verschiedenen Kräften (Licht Elektricität Druck) immer nur Einen Reiz empfängt und nach dem Einen Reiz auf Gleichheit der Ursachen schließt: oder überhaupt nur Eines Reizes fähig ist und Alles Andere als Gleich empfindet – und so muß es wohl im Organischen der tiefsten Stufe zugehen. Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleichheit außer uns – und später erst fassen wir uns selber nach der ungeheuren Einübung am Außer-uns als ein Beharrendes und Sich-selber-Gleiches, als Unbedingtes auf. Der Glaube (das Urtheil) müßte also entstanden sein vor dem Selbst-Bewußtsein: in dem Prozeß der Assimilation des Organischen ist dieser Glaube schon da – d. h. dieser Irrthum! – Dies ist das Geheimniß: wie kam das Organische zum Urtheil des Gleichen und Ähnlichen und Beharrenden? Lust und Unlust sind erst Folgen dieses Urtheils und seiner Einverleibung, sie setzen schon die gewohnten Reize der Ernährung aus dem Gleichen und Ähnlichen voraus!

11 [269]

Ehemals dachte man, zur unendlichen Thätigkeit in der Zeit gehöre eine unendliche Kraft, die durch keinen Verbrauch erschöpft werde. Jetzt denkt man die Kraft stets gleich, und sie braucht nicht mehr unendlich groß zu werden. Sie ist ewig thätig, aber sie kann nicht mehr unendliche Fälle schaffen, sie muß sich wiederholen: dies ist mein Schluß.

11 [270]

Reiz und veranlassendes Ding von Anbeginn an verwechselt! Die Gleichheit der Reize gab dem Glauben an „ gleiche Dinge" den Ursprung: die dauernd gleichen Reize schufen den Glauben an "Dinge", "Substanzen".

In der Art, wie die Erstlinge organischer Bildungen Reize empfanden und das Außer-sich beurtheilten, muß das lebenserhaltende Princip gesucht werden: derjenige Glaube siegte, erhielt sich, bei dem das Fortleben möglich wurde; nicht der am meisten wahre, sondern am meisten nützliche Glaube. "Subjekt" ist die Lebensbedingung des organischen Daseins, deshalb nicht "wahr", sondern Subjekt-Empfindung kann wesentlich falsch sein, aber als einziges Mittel der Erhaltung. Der Irrthum Vater des Lebendigen!

Dieser Urirrthum ist als ein Zufall zu verstehen! Zu errathen!

In den entwickeltsten Zuständen begehen wir immer noch den ältesten Irrthum: z. B. stellen wir uns den Staat als Ganzes Dauerndes Wirkliches als Ding vor und demgemäß ordnen wir uns ihm ein, als Funktion. Ohne die Vorstellung des Protoplasma von einem "dauernden Dinge" außer ihm gäbe es keine Einordnung, keine Assimilation.

Es giebt sehr wenig Reize gegenüber den wahren vielen reizenden Veranlassungen – darauf wurde der älteste Irrthum basirt.

11 [271]

Im Walde wächst der Baum schnell, im Verlangen nach Luft und Licht, aber "er treibt wenig Wurzeln und ist deshalb wenig dauerhaft: während die Bäume, bei welchen Licht und Luft freien Zutritt haben, Jahrhunderte lang stehen: die Tiefe und Ausbreitung der Wurzeln steht im Verhältniß zur Dauerhaftigkeit. Aber folglich langsames Aufsteigen!"

11 [272]

Mein Gegensatz zum Geiste des Handels, als dem Geiste der Epoche.

11 [273]

Ich möchte, Deutschland bemächtigte sich Mexico's, um auf der Erde durch eine musterhafte Forstkultur im conservativen Interesse der zukünftigen Menschheit den Ton anzugeben. – Die Zeit kommt, wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird – er wird im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden. Schon jetzt bilden sich die ersten Kräfte-gruppen, man übt sich ein in dem großen Princip der Bluts- und Rassenverwandschaft. " Nationen" sind viel feinere Begriffe als Rassen, im Grunde eine Entdeckung der Wissenschaft, die man jetzt dem Gefühle einverleibt: Kriege sind die großen Lehrmeister solcher Begriffe und werden es sein. – Dann kommen sociale Kriege – und wieder werden Begriffe einverleibt werden! Bis endlich die Begriffe nicht mehr nur Vorwände, Namen usw. für Völkerbewegungen abgeben, sondern der mächtigste Begriff sich durchsetzen muß.

Die socialen Kriege sind namentlich Kriege gegen den Handelsgeist und Einschränkungen des nationalen Geistes. Klimatische Entscheidungen über Bevölkerungen und Rassen in Amerika. – Slavisch-germanisch-nordische Cultur! – die geringere, aber kräftigere und arbeitsamere!

11 [274]

Fortwährend findet ein Fortschritt in der klimatischen Anpassung statt, und jetzt ist er ungeheuer beschleunigt, weil die Ausscheidung der ungeeigneten Personen so leicht ist: und ebenfalls weil jetzt die Anpassung durch die Wissenschaft unterstützt wird (z. B. Wärme, Grundwasser usw.).

Die thierischen Gattungen haben meistens, wie die Pflanzen, eine Anpassung an einen bestimmten Erdtheil erreicht, und haben nun darin etwas Festes und Festhaltendes für ihren Charakter, sie verändern sich im Wesentlichen nicht mehr. Anders der Mensch, der immer unstet ist und sich nicht Einem Klima endgültig anpassen will, die Menschheit drängt hin zur Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens (auch durch solche Phantasmen wie "Gleichheit der Menschen"): ein allgemeiner Erdenmensch soll entstehen, deshalb verändert sich der Mensch noch (wo er sich angepaßt hat z. B. in China bleibt er durch Jahrtausende fast unverändert). Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachtheile jedes Klima's zu compensiren weiß und die Ersatzmittel für das, was dem Klima fehlt (z. B. Öfen), in jedes Klima schleppt – ein anspruchsvolles, schwer zu erhaltendes Wesen! Die "Arbeiternoth" herrscht dort, wo das Klima im Widerspruch zum Menschen steht! und nur Wenige die Ersatzmittel sich schaffen können (im Kampfe natürlich, und tyrannisch).

In den gebildeten Kreisen des Nordens herrscht das Winter-Siechthum. – Vielleicht daß die Öfen eine dauernde Vergiftung herbeiführen! Gegen Franzosen gesehn, erscheint der Deutsche, wie ein verkümmerter Ofenhocker.

11 [275]

Kein Verächter der Wollust sein!

11 [276]

Die Verwandlung des Menschen braucht erst Jahrtausende für die Bildung des Typus, dann Generationen: endlich läuft ein Mensch während seines Lebens durch mehrere Individuen.

Warum sollen wir nicht am Menschen zu Stande bringen, was die Chinesen am Baume zu machen verstehen – daß er auf der einen Seite Rosen, auf der anderen Birnen trägt?

Jene Naturprozesse der Züchtung des Menschen z. B., welche bis jetzt grenzenlos langsam und ungeschickt geübt wurden, könnten von den Menschen in die Hand genommen werden: und die alte Tölpelhaftigkeit der Rassen, Rassenkämpfe Nationalfieber und Personeneifersuchten könnte, mindestens in Experimenten, auf kleine Zeiten zusammengedrängt werden. – Es könnten ganze Theile der Erde sich dem bewußten Experimentiren weihen!

11 [277]

Es wären Nasen denkbar, deren Geruchsnerven erst von den Auswürfen eines Vulkans gekitzelt würden. Thatsächlich scheinen sich die Oberflächen aller Dinge, welche riechen, im Zustande beständiger Explosion zu befinden; die Kraft, mit der die kleinen Massen ausgesandt werden, muß ungeheuer sein – ich denke z. B. an die Wirkung des Campfers auf Wasser. – So ist die Erde immer von dicken Wolken feinster Materien umhüllt ohne diese würde der Wasserdampf sich nicht zu Wolken ballen können.

11 [278]

Um vom Großen auf das Kleine zu schließen: wir sehen überall Strömungen wirken, das sind aber keine Linien! So wird es auch wohl im Reich der Atome sein, die Kräfteströmen und üben dabei den Druck ebenso sehr horizontal aus als in Hinsicht auf das, worauf sie stoßen. Eine Linie ist eine Abstraktion im Verhältniß zu dem wahrscheinlichen Thatbestand: wir können mit keinem Zeichen eine bewegte Kraft malen, sondern isoliren begrifflich 1) die Richtung 2) das Bewegte 3) den Druck usw. In der Wirklichkeit giebt es diese isolirten Dinge nicht!

11 [279]

Das Princip "um des Nächsten willen etwas thun" ist entweder ein Atavismus des Gefühls, zur Zeit, wo das Band mit der Gemeinde schwach geworden ist oder ein unklares Gefühl des Heerdensinnes, welches an Menschen außerhalb der Gemeinschaft, weil diese so fern sind, gar nicht denkt und beim Nächsten nur das Mitglied der Gemeinschaft im Auge hat (z. B. bei "Freiheit" und "Gleichheit" wo man gewiß nicht an die Hottentotten denkt) Oder es ist eine Maske für jenes Gefühl: es soll eine Gemeinschaft gebildet werden, z. B. die christliche. Wo jenes Princip auftritt, will man meistens Gemeinden bilden z. B. die Anhänger Comte's.

11 [280]

Die Gesetze sind nicht der Ausdruck vom Charakter eines Volks: ich meine, die Fehler im Charakter, so wie sie den Mächtigsten erscheinen (als Hindernisse ihrer Macht und Absichten) werden hervorgehoben. Zudem stehen sie fest und das Volk entwickelt sich: so daß sehr bald ein Mißverhältniß entsteht.

11 [281]

Erst das Nacheinander bringt die Zeitvorstellung hervor. Gesetzt, wir empfänden nicht Ursachen und Wirkungen, sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit. Denn die Bewegung des Werdens besteht nicht aus ruhenden Punkten, aus gleichen Ruhestrecken. Die äußere Peripherie eines Rades ist ebenso wie die innere Peripherie, immer bewegt und, obschon langsamer, doch im Vergleich zur schneller bewegten inneren, nicht ruhend. Zwischen langsamer und schneller Bewegung ist mit der "Zeit" nicht zu entscheiden. Im absoluten Werden kann die Kraft nie ruhen, nie Unkraft sein: "langsame und schnelle Bewegung derselben" mißt sich nicht an einer Einheit, welche da fehlt. Ein continuum von Kraft ist ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander (auch dies setzte wieder menschlichen Intellekt voraus und Lücken zwischen den Dingen). Ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander giebt es für uns kein Werden, keine Vielheit – wir könnten nur behaupten, jenes continuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden, ohne Zeit und Raum. Aber das ist eben nur der menschliche Gegensatz.

11 [282]

Welche Glaubensartikel sind zur Veredelung des Menschen unentbehrlich? – Zunächst um nicht zur Wildheit und Unsocietät zurückzufallen. Es könnte auch hier unentbehrliche Irrthümer geben.

11 [283]

Jesus war ein großer Egoist.

11 [284]

Das Machtgefühl erst erobernd, dann beherrschend (organisirend) – es regulirt das Überwundene zu seiner Erhaltung und dazu erhält es das Überwundene selber. – Auch die Funktion ist aus Machtgefühl entstanden, im Kampf mit noch schwächeren Kräften. Die Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch niedrigere Funktionen – darin wird sie von der höheren Macht unterstützt!

11 [285]

Ehemals dachte ich, unser Dasein sei der künstlerische Traum eines Gottes, alle unsere Gedanken und Empfindungen im Grunde seine Erfindungen im Ausdichten seines Drama's – auch daß wir meinten, " ich dächte" " ich handelte" sei sein Gedanke. Die Gesetzmäßigkeit der Natur wäre als Gesetzmäßigkeit seiner Vorstellungen begreiflich – oder auch es genügte, daß er uns als solche dächte, welche die Natur so empfinden wie wir sie empfinden. – Kein glücklicher, sondern eben ein Künstler-Gott!

11 [286]

Ohne die ungeheure Sicherheit des Glaubens und Bereitwilligkeit des Glaubens wäre Mensch und Thier nicht lebensfähig. Auf Grund der kleinsten Induktion zu verallgemeinern, eine Regel für sein Verhalten machen, das einmal Gethane, das sich bewährt hat, als das einzige Mittel zum Zweck glauben – das, im Grunde die grobe Intellektualität, hat Mensch und Thier erhalten. Unzählig oft sich so zu irren und am Fehlschluß leiden ist lange nicht so schädigend im Ganzen als die Skepsis und Unentschlossenheit und Vorsicht. Den Erfolg und den Mißerfolg als Beweise und Gegenbeweise gegen den Glauben betrachten ist menschlicher Grundzug: "was gelingt, dessen Gedanke ist wahr". – Wie sicher steht in Folge dieses wüthenden gierigen Glaubens die Welt vor uns! Wie sicher führen wir alle Bewegungen aus! " Ich schlage" – wie sicher empfindet man das! – Also die niedrige Intellektualität, das unwissenschaftliche Wesen ist Bedingung des Daseins, des Handelns, wir würden verhungern ohne dies, die Skepsis und die Vorsicht sind erst spät und immer nur selten erlaubt. Gewohnheit und unbedingter Glaube, daß es so sein muß wie es ist, ist Fundament alles Wachsthums und Starkwerdens. – Unsere ganze Weltbetrachtung ist so entstanden, daß sie durch den Erfolg bewiesen wurde, wir können mit ihr leben (Glaube an Außendinge, Freiheit des Wollens). Ebenso wird jede Sittlichkeit nur so bewiesen. – Da ensteht nun die große Gegenfrage: es kann wahrscheinlich unzählige Arten des Lebens geben und folglich auch des Vorstellens und Glaubens. Wenn wir alles Nothwendige in unserer jetzigen Denkweise feststellen, so haben wir nichts für das "Wahre an sich" bewiesen, sondern nur "das Wahre für uns" d. h. das Dasein-uns-Ermöglichende auf Grund der Erfahrung – und der Prozeß ist so alt, daß Umdenken unmöglich ist. Alles a priori gehört hierher.

11 [287]

Die Auflösung der Sitte, der Gesellschaft ist ein Zustand, in dem das neue Ei (oder mehrere Eier) heraustreten – Eier (Individuen) als Keime neuer Gesellschaften und Einheiten. Das Erscheinen der Individuen ist das Anzeichen der erlangten Fortpflanzungsfähigkeit der Gesellschaft: sobald es sich zeigt, stirbt die alte Gesellschaft ab. Das ist kein Gleichniß. – Unsere ewigen "Staaten" sind etwas Unnatürliches. – Möglichst viel Neubildungen! – Oder umgekehrt: zeigt sich die Tendenz zur Verewigung des Staates, so auch Abnahme der Individuen und Unfruchtbarkeit des Ganzen: deshalb halten die Chinesen große Männer für ein nationales Unglück; sie haben die ewige Dauer im Auge. Individuen sind Zeichen des Verfalls.

11 [288]

Es ist in der Wollust etwas Berauschendes, dies haben die alten Religionen benutzt. Und noch jetzt suchen Dichter und Musiker durch Erregung erotischer Nachempfindungen diesen Theil berauschender Kraft sich zu Nutze zu machen. – Die Künstler wirken mit allen möglichen Wirkungsmitteln, sehr unbefangen.

11 [289]

Erst zwingt der Zwang etwas oft zu thun, und später entsteht das Bedürfniß, nachdem der Zwang einverleibt ist (z. B. zu gehen, wenn das Thier nicht mehr schwimmen kann, ist erst Zwang, und Gegensatz des Verlangens: später wird es Bedürfniß)

11 [290]

Der letzte Nutzen der Erkenntniß und Wissenschaft ist, die Loslösung neuer Eier vom Eierstocke zu ermöglichen und immer neue Arten entstehen zu lassen: denn die Wissenschaft bringt die Kenntnisse der Erhaltungsmittel für neue Individuen. – Ohne Fortschritte der Erkenntniß würden neue Individuen immer schnell zu Grunde gehen, die Existenzbedingungen wären zu schwer und zufällig. Schon die Qual des inneren Widerspruchs!

11 [291]

Es giebt wahrscheinlich viele Arten von Intelligenz, aber jede hat ihre Gesetzmäßigkeit, welche ihr die Vorstellung einer anderen Gesetzmäßigkeit unmöglich macht. Weil wir also keine Empirie über die verschiedenen Intelligenzen haben können, ist auch jeder Weg zur Einsicht in den Ursprung der Intelligenz verschlossen. Das allgemeine Phänomen der Intelligenz ist uns unbekannt, wir haben nur den Spezialfall, und können nicht verallgemeinern. Hier allein sind wir ganz Sklaven, selbst wenn wir Phantasten sein wollten! Andererseits wird es von jeder Art Intelligenz aus ein Verständniß der Welt geben müssen – aber ich glaube, es ist nur die zu Ende geführte Anpassung der Gesetzmäßigkeit der einzelnen Art Intelligenz – sie führt sich selber überall durch. Jede Intelligenz glaubt an sich

11 [292]

Man gehe einmal rückwärts. Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein: gäbe es für sie einen (unbeabsichtigten) Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens fähig, gäbe es in ihrem Verlaufe nur Einen Augenblick "Sein" im strengen Sinn, so könnte es kein Werden mehr geben, also auch kein Denken, kein Beobachten eines Werdens. Wäre sie ewig neu werdend, so wäre sie damit gesetzt <als> etwas an sich Wunderbares und Frei- und Selbstschöpferisch-Göttliches. Das ewige Neuwerden setzt voraus: daß die Kraft sich selber willkürlich vermehre, daß sie nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel habe, sich selber vor der Wiederholung zu hüten, in eine alte Form zurückzugerathen, somit in jedem Augenblick jede Bewegung auf diese Vermeidung <zu> controliren – oder die Unfähigkeit, in die gleiche Lage zu gerathen: das hieße, daß die Kraftmenge nichts Festes sei und ebenso die Eigenschaften der Kraft. Etwas Un-Festes von Kraft, etwas Undulatorisches ist uns ganz undenkbar. Wollen wir nicht ins Undenkbare phantasiren und nicht in den alten Schöpferbegriff zurückfallen (Vermehrung aus dem Nichts, Verminderung aus dem Nichts, absolute Willkür und Freiheit im Wachsen und in den Eigenschaften) –

11 [293]

In Hinsicht auf alle unsere Erfahrung müssen wir immer skeptisch bleiben und z. B. sagen: wir können von keinem "Naturgesetz" eine ewige Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen Qualität ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt. Der Baum ist in jedem Augenblick etwas Neues: die Form wird von uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können: wir legen eine mathematische Durchschnittslinie hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen bringen wir hinzu, auf der Grundlage des Intellekts, welches der Irrthum ist: die Annahme des Gleichen und des Beharrens, weil wir nur Beharrendes sehen können und nur bei Ähnlichem (Gleichem) uns erinnern. Aber an sich ist es anders: wir dürfen unsere Skepsis nicht in die Essenz übertragen.

11 [294]

Der Wohlstand, die Behaglichkeit, die den Sinnen Befriedigung schafft, wird jetzt begehrt, alle Welt will vor allem das. Folglich wird sie einer geistigen Sklaverei entgegengehen, die nie noch da war. Denn dies Ziel ist zu erreichen, die größten Beunruhigungen jetzt dürfen nicht täuschen. Die Chinesen sind der Beweis, daß auch Dauer dabei sein kann. Der geistige Cäsarismus schwebt über allem Bestreben der Kaufleute und Philosophen.

11 [295]

Unsere jetzige Erziehung hat den Werth einer Art Wanderzwangs in der Zeit des Mittelalters und der Zünfte. Das Gegengewicht, es sich zu Hause nach heimatlichem Werthmaße bequem einzurichten wirkte ehemals. Jetzt wirkt die Absicht auf Sinnen-Wohlstand und daneben das Bild aller anderen Culturen, welche etwas wollten über oder wider den Sinnenwohlstand.

Der Zunftzwang lehrte lernen: endlich ist ein individueller Lerntrieb entstanden, durch Vererbung. Das Lernen ist ursprünglich saurer als alle Arbeit, daher gehaßt. Die Gelehrten haben daher im Mittelalter ein Übergewicht.

11 [296]

Wer das fremde Blut haßt oder verachtet, ist noch kein Individuum, sondern eine Art menschliches Protoplasma.

11 [297]

Werde fort und fort, der, der du bist – der Lehrer und Bildner deiner selber! Du bist kein Schriftsteller, du schreibst nur für dich! So erhältst du das Gedächtniß an deine guten Augenblicke und findest ihren Zusammenhang, die goldne Kette deines Selbst! So bereitest du dich auf die Zeit vor, wo du sprechen mußt! Vielleicht daß du dich dann des Sprechens schämst, wie du dich mitunter des Schreibens geschämt hast, daß es noch nöthig ist, sich zu interpretiren, daß Handlungen und Nicht-Handlungen nicht genügen, dich mitzutheilen. Ja, du willst dich mittheilen! Es kommt einst die Gesittung, wo viel-Lesen zum schlechten Tone gehört: dann wirst du auch dich nicht mehr schämen müssen, gelesen zu werden; während jetzt jeder, der dich als Schriftsteller anspricht, dich beleidigt; und wer dich deiner Schriften halber lobt, giebt dir ein Zeichen, daß sein Takt nicht fein ist, er macht eine Kluft zwischen sich und dir – er ahnt gar nicht, wie sehr er sich erniedrigt, wenn er dich so zu erheben glaubt. Ich kenne den Zustand der gegenwärtigen Menschen, wenn sie lesen: Pfui! Für diesen Zustand sorgen und schaffen zu wollen!

11 [298]

Wenn man um Meinungen uneins ist und Blut vergießt und opfert, so ist die Cultur hoch: da sind Meinungen zu Gütern geworden.

11 [299]

Hellwald, Häckel und Consorten – sie haben die Stimmung der Spezialisten, und eine Froschnasen-Weisheit. Das kleine Gehirnstückchen, welches der Erkenntiß ihrer Welt geöffnet ist, hat mit ihrer Gesamtheit nichts zu schaffen, es ist ein Ecken-Talentchen, wie wenn einer zeichnet, ein anderer klavierspielt; sie erinnern mich an den alten ehrlichen David Strauß, der ganz harmlos erzählt, wie er sich erst zwicken und zwacken muß, um sich selber festzustellen, ob er noch eine Empfindung für das allgemeine Dasein habe. Diese Spezialisten haben sie nicht und sind deshalb so "kalt"; Bildungskamele, auf deren Höckern viel gute Einsichten und Kenntnisse sitzen, ohne zu hindern, daß das Ganze doch eben nur ein Kamel ist.

11 [300]

Pflanzenkost und Wein – das wäre die verrückteste aller möglichen Lebensweisen!

11 [301]

Ohne Phantasie und Gedächtniß gäbe es keine Lust und keinen Schmerz. Die dabei erregten Affekte verfügen augenblicklich über vergangene ähnliche Fälle und über die schlimmen Möglichkeiten, sie deuten aus, sie legen hinein. Deshalb steht ein Schmerz im Allgemeinen ganz außer Verhältniß zu seiner Bedeutung für das Leben – er ist unzweckmäßig. Aber dort, wo eine Verletzung nicht vom Auge oder dem Getast wahrgenommen wird, ist sie viel weniger schmerzhaft, da ist die Phantasie ungeübt. An den Fingern ist der Schmerz am größten, an Zähnen, am Kopfe usw.

11 [302]

Das Großartige in der Natur, alle Empfindungen des Hohen Edlen Anmuthigen Schönen Gütigen Strengen Gewaltigen Hinreißenden, die wir in der Natur und bei Mensch und Geschichte haben, sind nicht unmittelbare Gefühle, sondern Nachwirkungen zahlloser uns einverleibter Irrthümer, – es wäre alles kalt und todt für uns, ohne diese lange Schule. Schon die sicheren Linien des Gebirgs, die sicheren Farbenabstufungen, die verschiedene Lust an jeder Farbe sind Erbstücke: irgendwann war diese Farbe weniger mit gefahrdrohenden Erscheinungen verknüpft als eine andere und allmählich wirkte sie beruhigend (wie das Blau)

11 [303]

Der Egoism ist verketzert worden, von denen die ihn übten (Gemeinden Fürsten Parteiführern Religionsstiftern Philosophen wie Plato); sie brauchten die entgegengesetzte Gesinnung bei den Menschen, die ihnen Funktion leisten sollten. – Wo eine Zeit ein Volk eine Stadt hervorragt, ist es immer, daß der Egoismus derselben sich bewußt wird und kein Mittel mehr scheut (sich nicht mehr seiner selber schämt). Reichthum an Individuen ist Reichthum an solchen, die sich ihres Eigenen und Abweichenden nicht mehr schämen. Wenn ein Volk stolz wird und Gegner sucht, wächst es an Kraft und Güte. – Dagegen die Selbstlosigkeit verherrlichen! und zugeben, wie Kant, daß wahrscheinlich nie eine That derselben gethan worden sei! Also nur, um das entgegengesetzte Princip herabzusetzen, seinen Werth zu drücken, die Menschen kalt und verächtlich, folglich gedankenfaul gegen den Egoismus stimmen! – Denn bisher ist es der Mangel an feinem planmäßigen gedankenreichen Egoismus gewesen, was die Menschen im Ganzen auf einer so niedrigen Stufe erhält! Gleichheit gilt als verbindend und erstrebenswerth! Es spukt ein falscher Begriff von Eintracht und Frieden, als dem nützlichsten Zustande. In Wahrheit gehört überall ein starker Antagonismus hinein, in Ehe Freundschaft Staat Staatenbund Körperschaft gelehrten Vereinen Religion, damit etwas Rechtes wachse. Das Widerstreben ist die Form der Kraft – im Frieden wie im Kriege, folglich müssen verschiedene Kräfte und nicht gleiche dasein, denn diese würden sich das Gleichgewicht halten!

11 [304]

Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus – und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein, wenn es gleich der nothwendige Anfang ist! Es hieße zuletzt doch, euch aufzufordern, beschränkt zu werden! Aber aus Einem in einen Anderen übergehen und eine Reihe von Wesen durchleben!

11 [305]

Unendlich neue Veränderungen und Lagen einer bestimmten Kraft ist ein Widerspruch, denke man sich dieselbe noch so groß und noch so sparsam in der Veränderung, vorausgesetzt, daß sie ewig ist. Also wäre zu schließen 1) entweder sie ist erst von einem bestimmten Zeitpunkte an thätig und wird ebenso einmal aufhören – aber Anfang des Thätigseins zu denken ist absurd; wäre sie im Gleichgewicht, so wäre sie es ewig! 2) oder es giebt nicht unendlich neue Veränderungen, sondern ein Kreislauf von bestimmter Zahl derselben spielt sich wieder und wieder ab: die Thätigkeit ist ewig, die Zahl der Produkte und Kraftlagen endlich.

11 [306]

Die Natur baut nicht für das Auge, die Form ist ein zufälliges Ergebniß. Man denke, daß in einer Eizelle alle Atome ihre Bewegungen machen, daß Formen nur für Augen existiren und daß Atome ohne Augen sie auch nicht wollen können.

11 [307]

Schopenhauern war wohl ein Gedanke Spinoza's im Herzen hängen geblieben: daß das Wesen jedes Ding's appetitus sei und daß dieser appetitus darin bestehe, im Dasein zu beharren. Dies leuchtete ihm einmal auf und leuchtete ihm so ein, daß er den Vorgang "Wille" nie mehr sorgfältig überdacht hat (ebenso wenig wie alle seine Grundbegriffe – er war in Betreff derer ohne Zweifel, weil er ohne rechte Vernunft und Empirie zu ihnen gekommen war).

11 [308]

Wie unregelmäßig ist die Milchstraße! (Vogt. p 110)

11 [309]

Beobachten, wie eine Lust entsteht, wie viel Vorstellungen zusammenkommen müssen! und zuletzt ist es Eines und Ganzes, und will nicht mehr als Vielheit sich erkennen lassen. So könnte es mit jeder Lust jedem Schmerz sein! Es sind Gehirn phänomene! Aber längst uns einverleibte und jetzt nur als Ganzes sich präsentirende Vielheiten! Warum thut ein geschnittener Finger wehe? An sich thut er nicht wehe (ob er schon "Reize" erfährt), der dessen Gehirn chloroformirt ist, hat keinen "Schmerz" im Finger. Sollte erst das Urtheil über die Verletzung eines funktionirenden Organs, von Seiten der vorstellenden Einheit, nöthig gewesen sein? Ist es die Einheit, welche allein die Schädigung sich vorstellt und – jetzt sie uns als Schmerz zu empfinden giebt, indem sie dorthin, wo der Schade geschehen, die stärksten Reize schickt? Könnte also auch die Absicht auf Flucht Abwehr Vorsicht Rettung in dem Schmerz stecken? Mittel, weiterem Schaden vorzubeugen? Zugleich Wuth über die Verletzung, Rachegefühl in Einem? Alles zusammen – Schmerz? So uns zum Bewußtsein kommend, als Durcheinander und Einheit des Gefühls?

11 [310]

Er schämte sich seiner Heiligkeit und verkleidete sie.

11 [311]

Ist nicht die Existenz irgendwelcher Verschiedenheit und nicht völliger Kreisförmigkeit in der uns umgebenden Welt schon ein ausreichender Gegenbeweis gegen eine gleichmäßige Kreisform alles Bestehenden? Woher die Verschiedenheit innerhalb des Kreises? Woher die Zeitdauer dieser ablaufenden Verschiedenheit? Ist nicht alles viel zu mannichfaltig um aus Einem entstanden zu sein? Und sind nicht die vielen chemischen Gesetze und wieder organischen Arten und Gestalten unerklärbar aus Einem? Oder aus Zweien? – Gesetzt, es gäbe eine gleichmäßige "Contraktionsenergie" in allen Kraftcentren des Universums, so fragt sich, woher auch nur die geringste Verschiedenheit entstehen könnte? Dann müßte sich das All in zahllose völlig gleiche Ringe und Daseinskugeln lösen, und wir hätten zahllose völlig gleiche Welten neben einander. Ist dies nöthig für mich, anzunehmen? Zum ewigen Nacheinander gleicher Welten ein ewiges Nebeneinander? Aber die Vielheit und Unordnung in der bisher uns bekannten Welt widerspricht, es kann nicht eine solche universale Gleichartigkeit der Entwicklung gegeben haben, es müßte auch für unseren Theil ein gleichförmiges Kugelwesen ergeben haben! Sollte in der That die Entstehung von Qualitäten keine gesetzmäßige an sich sein? Sollte aus der "Kraft" Verschiedenes entstehen können? Beliebiges? Sollte die Gesetzmäßigkeit, welche wir sehen, uns täuschen? Nicht ein Urgesetz sein? Sollte die Vielartigkeit der Qualitäten auch in unserer Welt eine Folge der absoluten Entstehung beliebiger Eigenschaften sein? Nur daß sie in unserer Weltecke nicht mehr vorkommt? Oder eine Regel angenommen hat, die wir Ursache und Wirkung nennen, ohne daß sie dies ist (ein zur Regel gewordenes Belieben, z. B. Sauerstoff und Wasserstoff. Sollte diese Regel" eben nur eine längere Laune sein? – – –

11 [312]

Wer nicht an einen Kreisprozeß des Alls glaubt, muß an den willkürlichen Gott glauben – so bedingt sich meine Betrachtung im Gegensatz zu allen bisherigen theistischen! (s. Vogt p. 90.)

11 [313]

Was ich als Gegenhypothese gegen den Kreisprozeß einwende:

Sollte es möglich sein, die Gesetze der mechanischen Welt ebenso als Ausnahmen und gewissermaßen Zufälle des allgemeinen Daseins abzuleiten, als eine Möglichkeit von vielen unzähligen Möglichkeiten? Daß wir zufällig in diese mechanische Weltordnungs-Ecke geworfen sind? Daß aller Chemismus wiederum in der mechanischen Weltordnung die Ausnahme und der Zufall ist und endlich der Organismus innerhalb der chemischen Welt die Ausnahme und der Zufall? – Hätten wir als allgemeinste Form des Daseins wirklich eine noch nicht mechanische, den mechanischen Gesetzen entzogene (wenn auch nicht ihnen unzugängliche) Welt anzunehmen? Welche in der That die allgemeinste auch jetzt und immer wäre? So daß das Entstehen der mechanischen Welt ein gesetzloses Spiel wäre, welches endlich eben solche Consistenz gewänne, wie jetzt die organischen Gesetze für unsere Betrachtung? So daß alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden, unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, von ihnen übrig geblieben, oder in einzelnen Theilen der Welt zur Herrschaft gelangt, in anderen nicht? – Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzmäßigkeit, nur eine Fähigkeit gesetzlich zu werden, eine Urdummheit, welche selbst für Mechanik nicht taugt? Die Entstehung der Qualitäten setzt das Entstehen der Quantitäten voraus, und diese wieder könnten nach tausend Arten von Mechanik entstehen.

11 [314]

Unsere höheren Schmerzen, die sogenannten Schmerzen der Seele, deren Dialektik wir oft noch sehen, beim Eintreten irgend eines Ereignisses, sind langsam und auseinandergezogen, im Vergleich zum niederen Schmerz (z. B. bei einer Verwundung), dessen Charakter Plötzlichkeit ist. Aber letzterer ist eben so complicirt und dialektisch im Grunde, und intellektuell – das Wesentliche ist, daß viele Affekte auf einmal losstürzen und auf einander stürzen – dies plötzliche Wirrsal und Chaos ist für das Bewußtsein der physische Schmerz. – Lust und Schmerz sind keine "unmittelbaren Thatsachen", wie Vorstellung es ist. Eine Menge Vorstellungen, in Triebe einverleibt, sind blitzschnell bei der Hand und gegen einander. Das Umgekehrte ist bei der Lust, die Vorstellungen, ebenso schnell zur Hand, sind in Harmonie und Ausgleichung und – dies wird vom Intellekt als Lust empfunden.

11 [315]

Es hat unzählige modi cogitandi gegeben, aber nur die welche das organische Leben vorwärts brachten, haben sich erhalten – werden es die feinsten gewesen sein? – Die Simplifikation ist das Hauptbedürfniß des Organischen; die Verhältnisse viel gedrängter sehen, Ursache und Wirkung ohne die vielen Mittelglieder fassen, vieles Unähnliche ähnlich finden – das war nöthig – so fand ein unvergleichlich größeres Suchen nach Nahrung und Assimilation statt, weil der Glaube, daß etwas zur Nahrung zu finden sei, viel öfter erregt wurde – ein großer Vortheil im Wachsthum des Organischen! Das Begehren vertausendfacht durch die vertausendfachte Wahrscheinlichkeit der Befriedigung, die Organe des Suchens gestärkt – : das Irren und Sichvergreifen mag ins Unzählige wachsen, aber die günstigen Griffe werden häufiger! Der "Irrthum" ist das Mittel zum glücklichen Zufall!

11 [316]

Die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen (Völker Staaten Gesellschaften), müssen zur Belehrung über die ersten Organismen benutzt werden. Das Ich-bewußtsein ist das letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungirt, fast etwas Überflüssiges: das Bewußtsein der Einheit, jedenfalls etwas höchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen. Unbewußt ist die große Hauptthätigkeit. Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will – als Bewußtsein zunächst dieses höheren Ganzen, des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht in Bezug auf das Wesen, dem wir Funktion sein könnten – es ist das Mittel, uns einzuverleiben. So lange es sich um Selbsterhaltung handelt, ist Bewußtsein des Ich unnöthig. – So wohl schon im niedersten Organismus. Das Fremde Größere Stärkere wird als solches zuerst vorgestellt. – Unsere Urtheile über unser "Ich" hinken nach, und werden nach Einleitung des Außer- uns, der über uns waltenden Macht vollzogen. Wir bedeuten uns selber das, als was wir im höheren Organismus gelten – allgemeines Gesetz.

Die Empfindungen und die Affekte des Organischen sind alle längst fertig entwickelt, bevor das Einheits-gefühl des Bewußtseins entsteht.

Älteste Organismen: chemische langsame Prozesse, in noch viel langsameren wie in Hüllen eingeschlossen, von Zeit zu Zeit explodirend und dann um sich greifend und dabei neue Nahrung an sich ziehend.

11 [317]

Ihr sagt: "jene Irrthümer waren für jene Stufe nothwendig, als Heilmittel – die Kur des Menschengeschlechts hat einen nothwendig-vernünftigen Verlauf!" In diesem Sinne leugne ich die Vernünftigkeit. Es ist zufällig, daß dieser und jeder Glaubensartikel siegte, nicht nothwendig – dieselbe Heilwirkung wäre vielleicht auch von einem anderen ausgegangen. Aber vor allem! Die Folge der Heilwirkungen ist sehr beliebig, sehr unvernünftig gewesen! Zudem brachten fast alle eine tiefe andere Erkrankung mit sich! Diese ganze Kur der Menschheit ist aber von ihr vertragen worden – das ist das Merkwürdigste! Es war gewiß nicht die Vernünftigste, noch die einzig-mögliche! Aber möglich war sie!

11 [318]

Ihr meint, ihr hättet lange Ruhe bis zur Wiedergeburt – aber täuscht euch nicht! Zwischen dem letzten Augenblick des Bewußtseins und dem ersten Schein des neuen Lebens liegt „keine Zeit" – es ist schnell wie ein Blitzschlag vorbei, wenn es auch lebende Geschöpfe nach Jahrbillionen messen und nicht einmal messen könnten. Zeitlosigkeit und Succession vertragen sich miteinander, so bald der Intellekt weg ist.

11 [319]

Intellektuell gemessen, wie irrthumvoll ist Lust und Schmerz! Wie falsch wäre geurtheilt, wenn man nach dem Grade von Lust oder Schmerz auf den Werth für das Leben schließen wollte! Im Schmerz ist so viel Dummheit wie in den blinden Affekten, ja es ist Zorn Rache Flucht Ekel Haß Überfüllung der Phantasie (Übertreibung) selber, der Schmerz ist die ungeschieden zusammengeflossene Masse von Affekten, ohne Intellekt giebt es keinen Schmerz, aber die niedrigste Form des Intellekts tritt da zu Tage; der Intellekt der "Materie", der "Atome". – Es giebt eine Art, von einer Verletzung überrascht zu werden (wie jener der auf dem Kirschbaum sitzend eine Flintenkugel durch die Backe bekam), daß man gar nicht den Schmerz fühlt. Der Schmerz ist Gehirnprodukt.

11 [320]

Begreift man, wie auch jetzt noch das Leben im Großen (im Gange der Staaten Sittlichkeiten usw.) durch Irrthümer gezeugt wird: wie die Irrthümer aber immer höher und feiner werden müssen: so wird es wahrscheinlich, daß das, was ursprünglich das Leben zeugte, eben der denkbar gröbste Irrthum war – daß zuerst sich dieser Irrthum entwickelt hat und daß überhaupt die ältesten, und am besten einverleibten Irrthümer es seien, auf denen der Fortbestand der Gesellschaft beruht. Nicht die Wahrheit, sondern die Nützlichkeit und Erhaltefähigkeit von Meinungen hat sich im Verlauf der Empirie beweisen müssen; es ist ein Wahn, dem auch unsere jetzige Erfahrung widerspricht, daß die möglichste Anpassung an den wirklichen Sachverhalt die lebengünstigste Bedingung sei. – Es kann sehr viele Ansätze zu Vorstellungen über die Dinge gegeben haben, die wahrer waren (und es giebt deren immer noch) aber sie gehen zu Grunde, sie wollen sich nicht mehr einverleiben – das Fundament von Irrthümern, auf dem jetzt alles ruht, wirkt auswählend, regulirend, es verlangt von allem "Erkannten" eine Anpassung als Funktion – sonst scheidet es dasselbe aus. – Innerhalb jedes kleinen Kreises wiederholt sich der Prozeß: es werden viele Ansätze zu neuen Meinungen gemacht, aber eine Auswahl findet statt, das Lebendige und Im-Leben-bleiben-Wollende entscheidet. Meinungen haben nie etwas zu Grunde gerichtet – aber bei allem Zugrundegehen schießen die Meinungen frei auf, die bisher unterdrückt wurden. Jede neue Erkenntniß ist schädigend, bis sie sich in ein Organ der alten verwandelt hat und die Hierarchie von Alt und Jung in derselben anerkennt – sie muß lange embryonal-schwach bleiben; Ideen treten oft spät erst in ihrer Natur auf, sie hatten Zeit nöthig, sich einzuverleiben und groß zu wachsen.

11 [321]

Die Unwahrheit muß aus dem "eigenen wahren Wesen" der Dinge ableitbar sein: das Zerfallen in Subjekt und Objekt muß dem wirklichen Sachverhalt entsprechen. Nicht die Erkenntniß gehört zum Wesen der Dinge, sondern der Irrthum. Der Glaube an das Unbedingte muß ableitbar aus dem Wesen des esse, aus dem allgemeinen Bedingtsein sein! Das Übel und der Schmerz gehören zu dem, was wirklich ist: aber nicht als dauernde Eigenschaften des esse. Denn Übel und Schmerz sind nur Folgen des Vorstellens, und daß das Vorstellen eine ewige und allgemeine Eigenschaft alles Seins ist, ob es überhaupt dauernde Eigenschaften geben kann, ob nicht das Werden alles Gleiche und Bleibende ausschließt, außer in der Form des Irrthums und Scheins, während das Vorstellen selber ein Vorgang ohne Gleiches und Dauerndes ist? – Ist der Irrthum entstanden als Eigenschaft des Seins? Irren ist dann ein fortwährendes Werden und Wechseln?

11 [322]

Je höher der Intellekt, um so mehr nimmt der Umfang von Schmerz und Lust zu, Bereich und Grade.

11 [323]

Wie ganz irrthümlich ist die Empfindung! Allen unseren Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Urtheile zu Grunde – einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser "Ich" usw. Alles ist aber falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, so bald wir praktisch handeln, müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der Empfindungs-Urtheile stellen! Das ist die Stufe der Erkenntniß, welche noch viel älter ist als die Stufe der Sprach-Erfindung – meist thierisch!

11 [324]

Vorstellen selber ist kein Gegensatz der Eigenschaften des esse: sondern nur sein Inhalt und dessen Gesetz. – Gefühl und Wille sind uns nur als Vorstellungen bekannt, somit ist ihre Existenz nicht bewiesen. Wenn sie als Inhalt der Vorstellung und nach dem Gesetz der Vorstellung uns allein bekannt sind, so müssen sie uns als gleich ähnlich beharrend usw. erscheinen. In der That, jedes Gefühl wird als etwas irgendwie Dauerndes von uns gefaßt (ein plötzlicher Schlag?) und nicht als etwas an sich Neues und Eigenes, sondern dem Bekannten Ähnliches und Gleiches.

11 [325]

Wir würden ohne die Annahme einer der wahren Wirklichkeit entgegengesetzten Art des Seins nichts haben, an dem es sich messen und vergleichen und abbilden könnte: der Irrthum ist die Voraussetzung des Erkennens. Theilweises Beharren, relative Körper, gleiche Vorgänge, ähnliche Vorgänge – damit verfälschen wir den wahren Thatbestand, aber es wäre unmöglich, von ihm irgendetwas zu wissen, ohne ihn erst so verfälscht zu haben. Es ist nämlich so zwar jede Erkenntniß immer noch falsch, aber es giebt doch so ein Vorstellen, und unter den Vorstellungen wieder eine Menge Grade des Falschen. Die Grade des Falschen festzustellen und die Nothwendigkeit des Grundirrthums als der Lebensbedingung des vorstellenden Seins – Aufgabe der Wissenschaft. Nicht wie ist der Irrthum möglich, heißt die Frage, sondern: wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich? – Das vorstellende Sein ist gewiß, ja unsere einzige Gewißheit: was es vorstellt und wie es vorstellen muß, ist das Problem. Daß das Sein vorstellt, ist kein Problem, es ist eben die Thatsache: ob es ein anderes als ein vorstellendes Sein überhaupt giebt, ob nicht Vorstellen zur Eigenschaft des Seins gehört, ist ein Problem.

11 [326]

Ich lerne immer mehr: das Unterscheidende zwischen den Menschen ist, wie lange sie eine hohe Stimmung bei sich erhalten können. Manche kaum eine Stunde, und bei Einigen möchte man zweifeln, ob sie hoher Stimmungen fähig sind. Es ist etwas Physiologisches daran.

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Frauen, die allzu lebhaft sind und den Eindruck davon dämpfen möchten, wählen blaue Farben: und ebenso giebt es in Büchern blaue Farbentöne, mit denen ihr Urheber seine springende Reizbarkeit zu balanciren sucht.

11 [328]

Ein Mensch, der täglich so viele Giftbrühen in sich hinunterzuwürgen hat, ist immer zu bewundern, wenn er Zeiten großer Empfindungen kennt und nicht überhaupt einen principiellen Ekel am "Großen" hat.

11 [329]

Die Antinomie: "die Elemente in der gegebenen Wirklichkeit, welche dem wahren Wesen der Dinge fremd sind, können aus diesem nicht herstammen, müssen also hinzugekommen sein – aber woher? da es außer dem wahren Wesen nichts giebt – folglich ist eine Erklärung der Welt ebenso nöthig als unmöglich." Dies löse ich so: das wahre Wesen der Dinge ist eine Erdichtung des vorstellenden Seins, ohne welche es nicht vorzustellen vermag. Jene Elemente in der gegebenen Wirklichkeit, welche diesem erdichteten "wahren Wesen" fremd sind, sind die Eigenschaften des Seins, sind nicht hinzugekommen. Aber auch das vorstellende Sein, dessen Existenz an den irrthümlichen Glauben gebunden ist, muß entstanden sein, wenn anders jene Eigenschaften (die des Wechsels, der Relativität) dem esse zu eigen sind: zugleich muß Vorstellen und Glauben an das Selbstidentische und Beharrende entstanden sein. – Ich meine, daß schon alles Organische das Vorstellen voraussetzt.

11 [330]

Grundgewißheit.

"Ich stelle vor, also giebt es ein Sein" cogito, ergo est. – Daß ich dieses Vorstellende Sein bin, daß Vorstellen eine Thätigkeit des Ich ist, ist nicht mehr gewiß: ebenso wenig alles was ich vorstelle. – Das einzige Sein, welches wir kennen, ist das vorstellende Sein. Wenn wir es richtig beschreiben, so müssen die Prädikate des Seienden überhaupt darin sein. (Indem wir aber das Vorstellen selber als Objekt des Vorstellens nehmen, wird es da nicht durch die Gesetze des Vorstellens getränkt, gefälscht, unsicher? -) Dem Vorstellen ist der Wechsel zu eigen, nicht die Bewegung: wohl Vergehen und Entstehen, und im Vorstellen selber fehlt alles Beharrende; dagegen stellt es zwei Beharrende hin, es glaubt an das Beharren 1) eines Ich 2) eines Inhaltes: dieser Glaube an das Beharrende der Substanz d. h. an das Gleich bleiben Desselben mit sich ist ein Gegensatz gegen den Vorgang der Vorstellung selber. (Selbst wenn ich, wie hier ganz allgemein vom Vorstellen rede, so mache ich ein beharrendes Ding daraus) An sich klar ist aber, daß Vorstellen nichts Ruhendes ist, nichts Sich selber Gleiches Unwandelbares: das Sein also, welches uns einzig verbürgt ist, ist wechselnd, nicht-mit-sich identisch, hat Beziehungen (Bedingtes, das Denken muß einen Inhalt haben, um Denken zu sein). – Dies ist die Grundgewißheit vom Sein. Nun behauptet das Vorstellen gerade das Gegentheil vom Sein! Aber es braucht deshalb nicht wahr zu sein! Sondern vielleicht ist dies Behaupten des Gegentheils eben nur eine Existenz-bedingung dieser Art von Sein, der vorstellenden Art! Das heißt: es wäre das Denken unmöglich, wenn es nicht von Grund aus das Wesen des esse verkennte: es muß die Substanz und das Gleiche behaupten, weil ein Erkennen des völlig Fließenden unmöglich ist, es muß Eigenschaften dem Sein andichten, um selber zu existiren. Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an Beide glauben. – Kurz: was das Denken als das Wirkliche faßt, fassen muß, kann der Gegensatz des Seienden sein!

11 [331]

Wir sind milder und menschlicher! Alle Milde und Menschlichkeit aber besteht darin, daß wir den Umständen viel zurechnen und nicht mehr Alles der Person! und daß wir den Egoismus vielfach gelten lassen und ihn nicht als das Böse und Verwerfliche an sich mehr betrachten (wie er in der Gemeinde geachtet wurde). Also: im Nachlassen unseres Glaubens an die absolute Verantwortlichkeit der Person und unseres Glaubens an die Verwerflichkeit des Individuellen besteht unser Fortschritt aus der Barbarei!

11 [332]

Ihr sagt: "gewisse Glaubenssätze sind der Menschheit heilsam, folglich müssen sie geglaubt werden" (so hat jede Gemeinde geurtheilt). Aber das ist meine That, zum ersten Male die Gegenrechnung gefordert zu haben! – also gefragt zu haben: welches unsägliche Elend, welche Verschlechterung der Menschen dadurch entstanden ist, daß man das Ideal der Selbstlosigkeit aufstellte, also den Egoismus böse hieß und als böse empfinden ließ!! – dadurch daß man den Willen des Menschen frei hieß und ihm die volle Verantwortlichkeit zuschob somit die Verantwortlichkeit für alles Egoistische – "Böse genannte" – d. h. Naturnothwendige seines Wesens: so machte man ihm einen schlechten Ruf und ein schlechtes Gewissen: – dadurch daß man einen heiligen Gott über den Menschen dachte und damit allem Handeln das böse Wesen eindrückte, und zwar je feiner und edler ein Mensch empfand? – Das Nachlassen dieser furchtbaren Glaubenssätze und das Nachlassen im Zwängen und Erzwingen des Glaubens überhaupt hat die Barbarei verscheucht! – Freilich: eine noch frühere Barbarei, eine gröbere konnte nur durch jene "heilsamen" Wahnartikel verscheucht werden!

11 [333]

Jedes Vorstellen kommt mit Hülfe des Gedächtnisses zu Stande, und ist das Produkt unzähliger Erfahrungen Urtheile Irrthümer Lüste Unlüste vergangner Momente im Menschen: ob es auch noch so plötzlich auftritt. Wenn ich mir einen Gebirgssee vorstelle, so arbeitet bei mir eine ganz andere Vergangenheit an dieser Vorstellung als wenn ein Berliner ihn sich vorstellt. Oder: Kirche" "Philosoph" "Edelmann" "Tagedieb"

usw.

11 [334]

Jede Lust und Unlust ist jetzt bei uns ein höchst complicirtes Ergebniß, so plötzlich es auftritt; die ganze Erfahrung und eine Unsumme von Werthschätzungen und Irrthümern derselben steckt darin. Das Maaß des Schmerzes steht nicht im Verhältniß zur Gefährlichkeit; unsere Einsicht widerspricht. Ebenso ist das Maaß der Lust nicht im Verhältniß zu unserer jetzigen Erkenntniß – wohl aber zur "Erkenntniß" der primitivsten und längsten Vorperiode von Mensch- und Thierheit. Wir stehen unter dem Gesetze der Vergangenheit d. h. ihrer Annahmen und Werthschätzungen.

11 [335]

Nur die Arten von Annahmen, mit denen ein Weiterleben möglich war, haben sich erhalten – dies die älteste Kritik, und lange die einzige! Dadurch sind die gröbsten Irrthümer uns einverleibt, unausrottbar – denn sie verhinderten oft nicht das Weiterleben. Ob eine Annahme auf die Dauer Schaden brachte (z. B. die Annahme, daß ein Getränk gesund sei, doch das Leben auf die Dauer verkürzte), das kam nicht in Betracht. Die Kurzlebigkeit des Menschen mag die Folge fehlerhafter einverleibter Annahmen sein.

Am Beginn aller geistigen Thätigkeit stehen die gröbsten Annahmen und Erdichtungen, z. B. Gleiches Ding Beharren. Sie sind gleichaltrig mit dem Intellekte und er hat sein Wesen danach gemodelt. – Nur die Annahmen blieben, mit denen sich das organische Leben vertrug.

11 [336]

An E. R.

Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein
So mög ein Freund mein Interprete sein.
Und wenn er steigt auf seiner eignen Bahn,
Trägt er des Freundes Bild mit sich hinan.

Februar 1882.

11 [337]

Gaya Scienza.

11 [338]

Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen – und die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben!

Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!

11 [339]

Seid ihr nun vorbereitet? Ihr müßt jeden Grad von Skepsis durchlebt haben und mit Wollust in eiskalten Strömen gebadet haben – sonst habt ihr kein Recht auf diesen Gedanken; ich will mich gegen die Leichtgläubigen und Schwärmerischen wohl wehren! Ich will meinen Gedanken im Voraus vertheidigen! Er soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!

11 [340]

1) Ungeheure Thatsache: alle unsere moralischen Urtheile sind aus den entgegengesetzten hervorgegangen: wie ist dies geschehen?

2) wie ist das ältere moralische Urtheil entstanden?

11 [341]

Die Strafe nicht entehrend, so lange sie auch den unabsichtlichen Schädiger trifft.

11 [342]

Gewissensbiß auch nach unbeabsichtigtem Frevel. Z. B. Oedipus.

wesentlich: Ekel vor sich selber!

aesthetische Grundnatur des Urtheils.

11 [343]

Gegen Spencer: "so ist es nicht zweckmäßig" – das ist kein moralisches Urtheil

"Es ist nicht recht, obwohl es zweckmäßig ist"

"es erniedrigt mich" "es macht Grauen und Ekel vor mir."

Die Rücksicht auf den eigenen Nutzen oder den der Gesellschaft macht die Sache immer noch nicht "moralisch"! "Es ist schädlich für die Andern, nützlich für mich" – was muß geschehen, damit dies als „erniedrigend", als ekelhaft empfunden wird? – An und für sich ist es die rechte Handlung die natürliche, bei der alles grünt und gedeiht.

Der freie Wille, das Wissen um die Zwecke der Handlungen wurden als unmoralisch empfunden: ist Heerdeninstinkt. Das Wissen hat das schlechte Gewissen für sich gehabt.

11 [344]

In der Heerde keine Nächstenliebe: sondern Sinn für das Ganze und Gleichgültigkeit gegen den Nächsten. Diese Gleichgültigkeit ist etwas sehr Hohes

11 [345]

In welchem Satze und Glauben drückt sich am besten die entscheidende Wendung aus, welche durch das Übergewicht des wissenschaftlichen über den religiösen götter-erdichtenden Geist eingetreten ist? Wir bestehen darauf, daß die Welt, als eine Kraft, nicht unbegrenzt gedacht werden darf – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft, als mit dem Begriff "Kraft" unverträglich.

11 [346]

der Mensch die Natur in Dienste nehmend und überwältigend

der wissenschaftliche Mensch arbeitet im Instinkt dieses Willens zur Macht und fühlt sich gerechtfertigt

Fortschritt im Wissen als Fortschritt in der Macht (aber nicht als Individuum). Vielmehr macht dieser sklavenmäßige Verbrauch des Gelehrten das Individuum niedriger.

11 [347]

Erhöhung und Verstärkung des Typus!

Antagonism: Erhöhung und Verstärkung seiner einzelnen Organe und Funktionen.

11 [348]

An und für mich – wozu? –

 

 


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