Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3
Friedrich Wilhelm Nietzsche

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[Winter 1880-81]

[Dokument: Manuskript]

Die Pflugschar.

Gedanken über die moralischen Vorurtheile.

Von

Friedrich Nietzsche.

9 [1]

Suche doch ja der Ausländer die Naivetät oder gar die Ursprünglichkeit nicht mehr bei den Deutschen! In Frankreich ist die Naivetät durch den Hof erstickt worden, in Deutschland durch die "Genie's" – man hat gar zu lange mit ihr Theater gespielt und Krieg geführt. Das vermochte der verfluchte neidische Dünkel in allen jenen Genie's, welche den Franzosen ihren Geist und ihre anmuthige Beweglichkeit und den Griechen ihre Ursprünglichkeit nicht verzeihen konnten und die "deutsche Naivetät" dagegen ins Feld führten. Aber es giebt nicht nur Gespenster, welche verschwinden, wenn man von ihnen spricht, sondern auch wirkliche Eigenschaften, bei Völkern und Einzelnen.

9 [2]

Keine Unzufriedenheit mit sich selber ertragen mögen ist oft das Zeichen einer widerlichen Weichlichkeit – aber man preist es als moralisch an! Wir müssen eines Zieles halber viele Schmerzen zu ertragen wissen, ja Schmerzen aufsuchen und freiwillig erwählen, wenn das Ziel solche Mühsal nöthig hat. Haben wir denn einen Bund mit dem Schicksal gemacht, daß unser Schiff keinen Schiffbruch leide? Unsere Reise durch keine Wüste führe?

9 [3]

Mögen die Menschen uns erhalten, Während wir für sie sorgen und denken: sonst werden es die Vögel und die Bienen thun. – Aber wir sind zu stolz, um "belohnt" werden zu können: und zu ernst beschäftigt, um Zeit und Gefälligkeit für den Ruhm zu haben." – So sangen einst die philosophischen Musen.

9 [4]

Über das Wetter, über Krankheiten und über Gut und Böse glaubt Jeder mitreden zu können. Es ist das Zeichen der intellektuellen Gemeinheit.

9 [5]

Allen moralischen Systemen, welche befehlen, wie man handeln solle, fehlte die Kenntniß, wie man handelt – aber alle meinten sie zu haben, wie jeder Mensch es meint.

9 [6]

Ist man mit einem großen Ziele nicht bloß über seine Verleumdung erhaben, sondern auch über sein Unrecht? Sein Verbrechen? – So scheint es mir. Nicht daß man es durch sein Ziel heiligte: aber man hat es groß gemacht.

9 [7]

Was könnten die Deutschen ihrem Schopenhauer verdanken? Daß er den gläsernen und glitzernden Idealismus edler allgemeiner Worte und stolzer Gefühle vernichtete, welchen namentlich Schiller und sein Kreis verbreitet haben und den man am besten aus dem Briefwechsel Wilhelm von Humbold<t>s mit Schiller kennen lernt – jenen falschen "Classicismus", der einen innerlichen Haß gegen die natürliche Nacktheit und schreckliche Schönheit der Dinge hatte und unwillkürlich mit edel verstellten Gebärden und edel verstellten Stimmen in Bezug auf alles (Charaktere Leidenschaften Zeiten Sitten) eine verkleidete und nur vorgebliche Nacktheit und Gräcität, eine Art Canova-Stil forderte: welches Alles – es ist eine ganze Summe edler Halbheiten – Goethe sehr aus der Nähe quälte, ohne daß er anders dagegen verfuhr als es seine Art war, mild widerstrebend, schweigend, wegsehend, auf seinem besseren und eigenen Wege sich bestärkend. Schopenhauer der Grobe hat die Teufelei der Weit wieder sichtbar werden lassen – er kam nicht ganz so weit, auch die Teufelei des Guten und die Schönheit und Güte der Teufelei zu entdecken und aufzudecken. – Jedenfalls wäre man jetzt sehr rückständig, wenn man nach Schopenhauer noch wie Schiller empfinden würde: aber freilich dem gegenwärtigen Deutschen, wie er wirklich seitdem geworden ist, damit immer noch hundertfach überlegen!

9 [8]

Wie oft wird grob und aufsehenerregend die Ehe gebrochen, bloß um den moralischen oder rechtlichen Zustand herbeizuführen, in dem eine unerträglich gewordene Ehe gelöst werden könne!

9 [9]

Über die möglichen Motive deiner Freunde und Feinde nachdenken soll für dich ebenso eine Ehrensache sein, wie über diese Personen öffentlich zu urtheilen.

9 [10]

Du weißt wohl, es ist ein Ehrensache, öffentlich über den Charakter und die Motive eines Menschen zu reden. Freund! Es ist auch eine Ehrensache, über sie bei dir nachzudenken

9 [11]

[ ... ] Kaum klingt es jetzt glaublich, daß etwas Entgegengesetztes auch als gut gelten will und gegolten hat -"ich" mehr und stärker sagen als die gewöhnlichen Menschen, sich selber gegen sie durchsetzen, sich stemmen gegen jeden Versuch uns zum Werkzeug und Gliede zu machen, sich unabhängig machen, auf die Gefahr hin, die Anderen sich zu unterwerfen oder zu opfern, wenn die Unabhängigkeit nicht anders zu erreichen ist, einen Nothzustand der Gesellschaft jenen billigen ungefährlichen einheitlichen Wirthschaften vorziehen, und die kostspielige verschwenderische durchaus persönliche Art zu leben als Bedingung betrachten, damit "der Mensch" höher mächtiger fruchtbarer kühner ungewöhnlicher und seltener werde – damit die Menschheit an Zahl abnehme und an Werth wachse.

9 [12]

In den Sitten überleben uns unsre Ereignisse und Gedanken: falls sie kräftig genug waren Sitten zu bilden: aber wer dürfte in die Sitten der Gegenwart wie in einen Spiegel der Gegenwart sehen: wir müssen also in den Sitten der Gegenwart die Menschen und Dinge vor hundert und mehr Jahren suchen, nicht uns und unsre Erlebnisse: an diesen werden vielleicht unsre Enkel zu tragen haben!

9 [13]

[ ... ] dann muß man auch die deutschen langweiligen Frauen mit in den Kauf nehmen: welche zugleich trägen, mit sich zufriedenen Geistes als auch lebhaft, empfindlich und nachträgerisch sind. Aber auch ihnen sagt man nach, daß sie in außerordentlichen Lagen stark wie Löwinnen sind und fein genug, um durch ein Nadelöhr zu kriechen.

9 [14]

Der Mönch, der sich entweltlicht, durch Armut Keuschheit Gehorsam, der namentlich mit der letzteren Tugend, aber im Grunde mit allen dreien auf den Willen zur Macht Verzicht leistet: er tritt nicht sowohl aus der "Welt" als vielmehr aus einer bestimmten Cultur heraus, welche im Gefühl der Macht ihr Glück hat. Er tritt in eine ältere Stufe der Cultur zurück, welche mit geistigen Berauschungen und Hoffnungen den Entbehrenden Ohnmächtigen Vereinsamten Unbeweibten Kinderlosen schadlos zu halten suchte.

9 [15]

[ ... ] die vollkommene Erkenntniß würde uns muthmaaßlich kalt und leuchtend wie ein Gestirn um die Dinge kreisen lassen – eine kurze Weile noch! Und dann wäre unser Ende da, als das Ende erkenntnißdurstiger Wesen, welche am Ziehen von immer feineren Fäden von Interessen ein Spinnen-Dasein und Spinnen-Glück genießen – und die zuletzt vielleicht freiwillig, den dünnsten und zartesten Faden selber abschneiden, weil aus ihm kein noch feinerer sich ziehen lassen will. –

9 [16]

Das Genie wird verkannt und verkennt sich Selber, und dies ist sein Glück! Wehe, wenn es sich selber erkennt! Wenn es in die Selbstbewunderung, den lächerlichsten und gefährlichsten aller Zustände verfällt! Es ist ja am reichsten und fruchtbarsten Menschen nichts mehr, wenn er sich bewundert, er ist damit tiefer hinabgestiegen, geringer geworden als er war – damals, wo er sich noch an sich selber freuen konnte! Wo er noch an sich selber litt! Da hatte er noch die Stellung zu sich wie zu einem Gleichen! Da gab es noch Tadel und Mahnung und Scham! Schaut er aber zu sich hinauf, so ist er sein Diener und Anbeter geworden und darf nichts mehr thun als gehorchen, das heißt: sich selber nachmachen! Zuletzt schlägt er sich mit seinen eigenen Kränzen todt; oder er bleibt vor sich selber als Statue übrig, das heißt als Stein und Versteinerung!

9 [17]

"Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben."

Rigveda.


 << zurück weiter >>