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Dieser beiden Männer absonderlicher Ausbruch des Gefühls wiederholte sich nicht mehr. Sie spürten die Notwendigkeit, ihn zu vergessen und ihn gegen eine bewußte, einander zutiefst kennende Zusammengehörigkeit einzutauschen, wie sie sonst nur eine lange Spanne gemeinsamen Lebens und der erprobten Übereinstimmung zu gewähren vermag. Es war ein Zusammenprall der Seelen von solcher Wucht und Schnelligkeit gewesen, daß jeder, sich ablösend, den Eindruck des anderen behielt. Jeder kannte den anderen auf seine Weise und in seiner Sicht: der König sah seine geistige Kraft und die dämonische Vielfältigkeit seiner politischen Energie in dem Diener, und er sah ihn aufs äußerste bereit zu dienen; er sah nicht nur die Hingabe der nützlichen Intelligenz, sondern auch die Ergebenheit der seelischen Begabungen, die er für größer und tiefer hielt als die eigenen. Oliver aber kannte den Sinn von jedem Wort, jedem Blick, jedem Lächeln, jeder Geste des Königs; er kannte zuweilen seine Gedanken und immer die Teilnahme oder Teilnahmslosigkeit seiner menschlichen Empfindungen. Er diente ihm mit einer Freude sondergleichen; aber diese Freude und dieses Dienen waren besondere Arten von Besitzenwollen; auch seine innerliche Neigung für ihn war ein Eindrängen in die brüderliche Seele, die doch auch königlich und begehrenswert war. – Der König glaubte, Oliver zu besitzen, und wurde gemach von ihm besessen. Der Necker glaubte zu wissen, wie tief er in dem anderen sei, und wußte noch nicht, wie sehr er sich selber enteignete.
Oliver bewohnte mit Anne und den zu seinem Lakaien ernannten Daniel Bart eine Zimmerflucht in dem Schloßflügel, der den höheren Palastbeamten zur Verfügung stand. Der Dienst beim König jedoch, der jede politische und administrative Angelegenheit mit ihm besprach, ihn oft – der Sitte der Zeit gemäß – bei sich schlafen und sich fast immer von ihm ankleiden und auskleiden ließ, der ihn bei Audienzen und Beratungen hinter Vorhänge oder Vertäfelungen zu stellen pflegte und zu jeder Zeit des Tages und der Nacht ihn beanspruchte, machte ihn zu einem immer selteneren Gast in seinen eigenen Räumen. Anne hielt sich tapfer und ohne laute Klage. Die besondere Stellung des Meisters, die auch von seiner Umgebung eine vollkommene Zurückhaltung verlangte, isolierte die lebhafte, an den Wechsel der Gesichter und der Worte und an den Beifall der Menschen gewöhnte Frau. Als es vollends dem König gefiel, den Meister auch zu den Mahlzeiten nicht zu beurlauben, sondern ihn an seiner Tafel mitessen zu lassen, völlig unbekümmert um jedes Zeremoniell – als es ihm schließlich zum Bedürfnis wurde, Oliver auch zum Vertrauten seiner Lüste zu machen und seine zahlreichen nächtlichen Debauchen von ihm in Szene setzen zu lassen, fand der Meister das schöne Gesicht der Neckerin von dem verhaltenen Leid schmerzlich geformt und gefärbt.
Das Befremdliche war, daß der König, der schon in den ersten Tagen den Daniel Bart zu sehen wünschte, niemals Anne zur Vorstellung befahl, obwohl er zu wissen schien, von welcher Bedeutung sie nicht nur für die Menschen, sondern auch für den Teufel Oliver war. Auch Jean de Beaune mochte den Eindruck vergessen haben, den die Meisterin in Gent auf ihn gemacht hatte: er erwähnte sie kaum. Nur der Kardinal Balue – der einzige von den drei vertrauten Räten des Königs, der sich mit heimlicher Feindschaft und ständischem Hochmut gegen den eindringenden Oliver wehrte – hatte in der ersten Zeit von des Neckers Anwesenheit am Hof mit einer Grimasse gesagt:
»Man sagt, Meister, Sie haben eine sehr schöne Frau Doch der König hatte scharf unterbrochen:
»Man sagt, Eminenz, Sie haben an Beichtkindern keinen Mangel!« –
Oliver sah noch nicht die Gründe für des Königs Verhalten. Er bat zuweilen um Urlaub für den Abend oder für die Nacht, um bei Anne sein zu können. Als er ihre Schwermut erkannte, sagte er ihm ehrlich, sie leide unter der Einsamkeit und Abgeschlossenheit, und sie sei es wert, daß man ein wenig auf sie Rücksicht nehme.
»Du liebst die Frau sehr?« fragte der König abgewandten Gesichts. Oliver suchte seine Augen.
»Ich liebe sie wie ein Vater«, antwortete er langsam, »weil sie mein Geschöpf ist, und ich liebe sie wie ein Geliebter. – Das ist zweifach große Liebe.«
»Das ist fast sündige Liebe«, sprach Ludwig und sah ihn nicht an. »Aber was sollen wir für sie tun?« fuhr er etwas hastig fort; »sie als Kammerfrau der Königin geben? – Aber Madame von Savoyen weiß sehr gut, daß sie stets dort zu sein hat, wo ich nicht bin. – Und in eine Trennung möchtest du kaum einwilligen. – Also, was sollen wir tun?«
»Man könnte«, sagte Oliver zögernd und beobachtete den König mit heimlicher Unruhe, »man könnte uns vielleicht eine Wohnung in diesem Flügel anweisen oder ihr die Erlaubnis geben, sich in meiner Nähe aufzuhalten.«
Der König wandte ihm das Gesicht zu – das Gesicht eines Fauns; aber die Grimasse dauerte nur eine winzige Sekunde; oder vielleicht waren es nur die Augen, die gemein geblickt hatten. Schon sprach er ernst, fast gütig:
»Nein, mein Freund, nein! Denn deine Nähe bedeutet auch meine Nähe, nicht wahr?«
Olivers Haut wurde grau vor Blässe. –
Der König stand plötzlich auf und ging erregt in dem kreisrunden Turmzimmer, in dem er zu arbeiten pflegte, auf und ab; seine dürren Beine in den abgenutzten, faltenschlagenden Strumpfhosen knickten in den Kniekehlen. Jetzt blieb er vor dem Meister stehen, legte die Hände auf seine Schultern und flüsterte:
»Oliver, man kämpft lieber gegen den Himmel über sich als gegen die Hölle in sich selber. – Aber sieh, Freund, man kämpft. – So sei klug und hilf mir und erwähne mir nichts mehr davon.«
Er ließ ihn los und schritt ans Fenster, durch das die sonnenschwere Touraine mit breitem Schwunge in den Raum leuchtete. Er schien sich und den anderen ablenken zu wollen oder war schon mit seinem unablässig arbeitenden Hirn in neuen Bezirken. Er wandte sich um; sein Gesicht war verkniffen und listig wie immer, wenn seine Überlegung schon weiter war als seine Rede.
»Was hältst du von Balue?« fragte er unvermittelt.
Oliver war noch so erschüttert und dem Ansturm der schlimmen Gedanken preisgegeben, daß er die stets geübte Vorsicht vergaß, klare Urteile über die nähere Umgebung des Fürsten zu vermeiden, und nach kurzer Sammlung antwortete:
»Der Kardinal ist meinem Gefühl nach von den dreien der Ehrgeizigste und darum der Unzuverlässigste.«
Ludwig lächelte ein wenig und zog auf peinliche Art die rechte Augenbraue in die Höhe.
»Ist dieses Gefühl ganz frei von persönlicher Verärgerung, Oliver?«
Die Ironie dieser Frage, die deutlich den taktischen Fehler des Meisters unterstrich, brachte ihn sofort zur Kaltblütigkeit und zur gewohnten Arbeitsweise zurück. Er belauerte das Gesicht des Königs, um durch die kleinste Erkenntnis eines Blickes oder einer Muskelbewegung in das Geheimnis des Gedankens zu dringen. Und in der gleichen Sekunde beglückte ihn die aufzuckende Idee, daß er – wenn er es nur klug beginne – eben durch Balue und durch das, was er von ihm wußte, ein größeres Schicksal bestimmen könnte als die intrigante Eitelkeit des Kardinals – früher auch, als er es zu hoffen wagte, vielleicht früh genug, um die Gefahr für Anne auszuschalten, und niemals doch zu spät, um zu strafen, sollte Strafe notwendig werden. Er antwortete mit einem klugen Lächeln:
»Sire, das Gefühl, auch das verärgerte, pflegt sich seltener zu irren als die Vernunft; denn meine Vernunft hätte sagen müssen: die Eminenz ist nächst mir Eurer Majestät treuester Diener.«
Der König runzelte einen Augenblick die Brauen; dann sagte er gelassen:
»Du hast recht, mir so zu antworten, Oliver, denn ich forderte solche Rede heraus ...«
Er verschränkte die Arme und sann vor sich hin.
»Ich hätte dich anders fragen müssen«, sprach er dann ernst; »ich hätte dich nicht reizen dürfen; denn jetzt verwirrst du mich nur, und ich muß wohl einen klaren Kopf haben. Du weißt noch nicht, um was es sich handelt. Es gilt eine sehr bedeutsame Entscheidung, die mir der Kardinal vor einer Stunde nahegelegt hat. Ich versäumte leider, dich zuhören zu lassen. Mich überraschte sein Vorschlag; er machte mich wohl auch mißtrauisch; aber vielleicht haben mich erst deine dehnbaren Unterscheidungen von Gefühl und Vernunft mißtrauisch gemacht.«
Er schwieg wieder. Oliver betrachtete ihn erwartungsvoll.
»Kurz und gut«, begann der König wieder mit merklicher Ungeduld, »hältst du den Kardinal für fähig, bewußt gegen meine Interessen zu arbeiten? – Ich frage dein Gefühl, mein Freund.«
Oliver wich seinem Blick nicht aus; er antwortete nachdenklich:
»Bewußte Arbeit gegen die Interessen des Königs ist Verrat. – Mein Gefühl und auch meine Erfahrung halten jeden emporgekommenen Menschen für fähig des Verrats. – Sire, ich kann ohne meine Vernunft nicht auskommen, und meine Vernunft sagt mir, daß es von der Eminenz unvernünftig oder sogar dumm wäre, sich gegen Sie zu wenden. Und da er ein kluger Mann ist und in seiner erhobenen Stellung kein doppeltes Spiel mehr nötig hat, würde ich ihm vertrauen.«
Der König schüttelte leicht den Kopf.
»Deine Sophistik überzeugt mich nicht, Oliver, und mir scheint, sie will mich auch nicht überzeugen. – So höre zu: der Kardinal hält es für ratsam, daß ich meinem Vetter von Burgund einen Besuch abstatte und ihn mit meinen Umarmungen und Beteuerungen, die mir so gut anstehen und mich so wenig kosten, sowohl von der neuen Fronde der Fürsten gegen mich abbringe – und sie sind ohne ihn nicht nur ohne Kopf, sondern auch ohne Arme als auch von seinem persönlichen Mißtrauen gegen mich. Wenn dann also der deutsche Räuberhauptmann Johann von Wildt, den ich für die neuerliche Revolutionierung Lüttichs gemietet habe, ein wenig später von der Stadt als Befreier gefeiert wird und mit seinen Landsknechten vielleicht dem Herzog arg zu schaffen macht, so wird Burgund nach der voraufgegangenen Rührszene und in seiner ritterlichen Sinnesart mich nicht gut als Drahtzieher verdächtigen und behandeln können. An wilden Gesten gegen den Herrn von Wildt soll es zur rechten Zeit ja auch nicht fehlen. – Nun, Oliver?«
Der Meister schien ruhig zu überlegen; er strich sich das Kinn, wie er es in der Konzentration zu tun pflegte; er sah auf den Boden. Der Kampf in seinem Innern war heftig und aufwühlend; er fühlte, wie das Blut seine Stirn rötete; er bedeckte sie mit der Hand, gleichsam eifriger nachsinnend. Bei dieser ersten Entscheidung für oder gegen den König empfand er schon die ganze Stärke seiner Neigung für ihn und die lähmende Nähe der anderen Seele, die mit gefährlicher Bereitwilligkeit immer näher kam. Es fiel ihm schwer, die wenigen, eindeutigen Worte zu unterdrücken, die Balues dunkles Spiel klärten. Er schloß eine Sekunde die Augen und prüfte sie ehrlich: er sah Ludwigs geile Lippen und lüsternen Hände an einem Frauenkörper; aber es war nicht die dicke Bäuerin Perrachon, die er zumeist beschlief, noch eine seiner anderen Favoritinnen – es war Anne. Oliver biß die Zähne zusammen, daß die mageren Backen kantig wurden; er war entschlossen.
»Nun, Oliver«, fragte der König wieder, »soll ich auf ihn hören?«
Der Meister antwortete langsam:
»Der Plan ist gut; aber weiß denn der Kardinal, ob der Herzog gewillt ist, Eure Majestät zu empfangen?«
»Ich bin des Herzogs Oberlehensherr, wenn auch nur auf dem Papier, und wir sind augenblicklich nicht im Kriegszustand, wenn auch noch nicht im Frieden; er darf mir schon aus Prestigegründen den Empfang nicht verweigern, – und täte er es, gäbe er mir freies Spiel.«
Oliver wiederholte bedächtig:
»Der Plan ist gut – doch«, fügte er rascher hinzu, »er ist gefährlich.«
»Warum, Oliver? Hast du Bedenken für meine persönliche Sicherheit? – Ich meine, Karl Burgund ist der letzte, der Gastfreundschaft verletzte – und zumal gegen des Königs geheiligte Person.« – Er zeigte grinsend seine schlechten Zähne. – »Er ist nicht ich«, fistelte er an Olivers Ohr; »denn ich möchte bei aller Gast- und Vetternfreundlichkeit ihm nicht raten, zu mir nach Amboise zu kommen, so herzlich ich es wünschte!«
Oliver trat ein wenig zurück. Ihm war, als könnte der König – allzunahe – die schwere Arbeit seines Kopfes hören.
»Sire«, sagte er bedenklich, »man soll nicht in die Höhle des Löwen gehen – fremde Löwen am allerwenigsten. Es tut nicht gut, wenn Fürsten einander besuchen und sich auf moralische Stützbalken verlassen, für die sie zu schwer sind oder die sie gar selber angesägt haben. – Und noch viel weniger darf sich Eure Majestät auf eine schwelende Zündschnur verlassen: Bomben und Revolutionen garantieren schlecht den Zeitpunkt der Explosion. – Und der junge Herzog ist jähzornig wie ein junger Stier. Wenn die Lütticher, die noch unzuverlässiger als meine Genter und Waffenschmiede von Profession sind, ein wenig zu früh das rote Tuch schwenken, dürfte sich das Stierchen nicht lange besinnen, wer das nächste und beste Ziel für seine arg spitzen Hörner sei. – Ist die Eminenz von allen diesen Besorgnissen frei?«
Der König ging wieder im Zimmer auf und ab; sooft er im Rücken Olivers war, warf er aus den Augenwinkeln einen raschen prüfenden Blick zu ihm hin. Der Meister fühlte es an dem kleinen, mißtrauischen Stocken des Schrittes. Er rührte sich nicht. Jetzt blieb der König am Fenster stehen, das Gesicht in der einströmenden Sonne, und sprach leise, ohne sich umzudrehen:
»Es tut mir weh, Oliver, daß du heute zu mir nicht so ehrlich bist, wie ich zu dir. Du magst deine Gründe haben; aber sieh dich vor, daß ich es nicht darauf ankommen lasse und unsere Verbindung der Feuerprobe unterziehe.«
Er wandte sich schnell um und fing den rebellischen Blick des anderen auf; er konnte diesen Blick nicht niederkämpfen; er senkte den Kopf.
»Oliver«, sagte er wieder, und seine Stimme flatterte ein wenig, »du bist der erste Mensch, der mir droht und den ich nicht unschädlich mache. – Wirst du es mir danken?«
»Ja«, entgegnete der Meister gepreßt.
»Glaubst du, daß Balue mich in eine Falle locken will?«
»Sire!« rief Oliver, »glauben Sie, ich verschwiege es, würde ich es wissen oder annehmen?«
Der König brachte sein Gesicht ganz nahe dem Gesicht des Neckers, dessen Stirn sich rot fleckte; dann flüsterte er:
»Ja, Freund Oliver.«
Der Meister schloß die Augen, um vor dem durchdringenden und allwissenden Blick des Fürsten nicht auf die Knie zu fallen und zu gestehen.
»Sire«, sagte er tonlos, »können hinter meinen ehrlichen, vernünftigen und naheliegenden Einwendungen besseres Wissen oder böse Absicht vermutet werden?«
»Ja, Freund Oliver; denn du bist klug.«
»Sire«, stöhnte der Necker, »was sollte solche Klugheit?«
»Das weiß ich nicht, Oliver; aber ich weiß, daß du sie nicht gebraucht und andere Antworten gefunden hättest, würde unser Gespräch anders begonnen haben.«
Er wandte sich ab und ging langsam zur Tür; er blieb, den Griff in der Hand, stehen und fragte über die Schulter:
»Oliver, mein Freund, glaubst du, daß Balue mich in eine Falle locken will?«
Der Necker, das Gesicht wie ein grauer Stein, sagte durch die Zähne:
»Sire, ich glaube es nicht.«
Der König stieß die Tür auf.
»Komm und rasiere mich«, befahl er.
Oliver folgte ihm in das Ankleidekabinett; eine Wand des kleinen Raumes wurde von einem großen, kostbar facettierten Spiegel eingenommen, einem Geschenk der venezianischen Republik, als Ludwig noch mit ihrem Allierten, dem Herzog von Savoyen, seinem Schwiegervater, und noch nicht mit dem Mailänder Sforza befreundet war. – Der König setzte sich auf einen dreibeinigen Stuhl mit niedriger Lehne, öffnete die Halskrause und beugte den Kopf zurück; seine Lider schienen geschlossen; aber sie sahen durch die Wimpern im Spiegel jede Bewegung des Barbiers, der ruhigen Gesichts in einem silbernen Becken Schaum schlug. Wie Ludwig eingeseift war, bewegten sich die Lippen, als ob er lautlos unter der weißen Masse lachte. Der Meister schärfte mit gewandter Hantierung das Messer.
»Wir sind guter Stimmung«, sagte der König, ohne die Augen zu öffnen; »wir wollen heute abend fröhlich sein. Wir wünschen, fröhliche Menschen zu sehen.«
Oliver trat mit dem Messer heran und beugte den Kopf des Königs sanft auf die Seite.
»Oliver, du wirst meine drei Gevattern zur Abendtafel bitten.«
Der Barbier nickte bejahend und umspielte mit dem Messer Backe und Kinn des anderen. Der König sagte, fast ohne den Mund zu öffnen:
»Aber nur der dicke Beaune wird lustig, wenn er betrunken ist. Herr Tristan wird stumm und Balue gemein. – Du wirst der vierte sein, Oliver.«
Er streckte häßlich die Lippen vor, als der Meister das Messer unterhalb des Kinns bewegte. Wieder murmelte er, die Augen immer geschlossen:
»Aber du bist schlecht aufgelegt heute; deshalb wünschen wir, daß du ...« – er öffnete die Augen –, »daß du deine Frau mitbringst, Oliver.«
Eine Sekunde hob sich das Messer von der Kehle; der König sah ihn an: Oliver biß sich auf die Lippen, daß seine Zähne rot von Blut wurden. Ludwig fragte ganz leise:
»Ist es so schwer, eine Kehle durchzuschneiden, Oliver, mein Freund?«
Er lächelte. Oliver beugte sich ein wenig vor, das Gesicht unbeweglich, gleichsam taub. Das Messer setzte sacht die Schneide an und glitt zart die Backe hinauf.
Der Abend kam. Die Hitze des Hochsommertages sammelte Gewitter. Die Nerven der Menschen waren gespannt wie die schweren blauen Luftschichten über ihnen. Nur der König schien elastisch, guter Dinge, unempfindlich gegen den Druck der Atmosphäre, gleichgültig auch gegen des Neckers gefährliche und fast verletzende Ruhe, die wie ein absonderliches Gleichnis der bedrohten und drohenden Landschaft das Gesicht der Wut maskierte. – Oder war die Ruhe dieses Menschen nur die kluge Außenseite der ratlosen Seele, die zwischen den entgegengesetzten Gefühlen und Anziehungen hin und her pendelte und sich die notwendige Parteilichkeit zu konstruieren trachtete? – Oder war sie ehrlicher Ausdruck einer inneren Entscheidung? – Der Monarch wußte es nicht; er hatte sich hinter seiner Heiterkeit verschanzt, um den anderen beobachten zu können, ohne seine Neugierde zu verraten; aber Oliver hatte Ernst, Gemessenheit, Zurückhaltung und nicht ganz lautere Demut wie eine Mauer vor sich aufgeschichtet.
Als der Necker um Urlaub bat, um sich umzukleiden und die Frau zu benachrichtigen, und als er schon – mit gar nicht verlangtem und geübtem Zeremoniell – rückwärts aus dem Arbeitskabinett getreten war, konnte Ludwig seine Zweifel nicht mehr verbergen. Er rief ihn zurück. Oliver blieb mit geneigtem Kopf und hängenden Armen in der Tür stehen; der König überwand schnell die letzte Hemmung, seine Ungewißheit zu gestehen, und winkte ihn näher heran, mit der Geste gewohnter Vertraulichkeit, die ihm nicht ganz glückte. Der Meister gehorchte, schweigend und mit höflichem Gesicht.
»Oliver«, sagte der Fürst leichthin, streckte den Arm aus und strich freundschaftlich über das schwarze Samtwams des Barbiers, »als du die Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen uns noch nicht bedachtest, erzähltest du mir einige intime Techniken deiner Vergangenheit, die du heute vielleicht nicht ungerne in Vergessenheit bringen möchtest. Aber eine meiner Begabungen ist ein treffliches Gedächtnis. So dürfte zum Beispiel eine plötzliche fiebrige Erkrankung der Dame für dich unangenehmer sein als selbst die doppelte Dosis deiner Tränklein für sie; und so werde ich auch sehr genau hinschauen, ob das Äußere der Dame Bearbeitungen durch deine florentinisch geschulte Schminkkunst verrät.« Er lachte leise und häßlich aus einem Spalt der Lippenwülste. – »Ich meine damit nur die sozusagen negativen Zutaten, Meister Necker – sie zu verschönern, verbiete ich dir gewiß nicht.«
Oliver kicherte devot ein zutunliches Höflingslachen.
»Eure Majestät belieben zu scherzen.«
»Geh zum Teufel!« sagte Ludwig böse.
Oliver, an der Tür, verbeugte sich tief.
»Der Teufel geht zur Teufelin, Sire.« –
Aber er war ein anderer, als er abgekehrten Blickes durch die dämmertrüben und steingrauen Gänge schlich; er war ein von allen Verzweiflungen Geschüttelter. Weil er wußte, daß das zukünftige Schicksal, über das er vielleicht gebieten mochte, den Ablauf der tragischen Gegenwart nicht unterbrechen, sondern im besten Fall nur eine vollendete Tatsache rächen konnte, und weil der unabwendbare Schmerz nicht zu ertragen und kaum faßbar schien, fühlte er sich schwach und hilflos wie kaum je in seinem Leben.
Als er seine Wohnung betrat, war er äußerlich wieder ruhig; doch Anne erschrak über sein zerfallenes Gesicht.
»Was ist geschehen, Oliver?« fragte sie bestürzt.
Er betrachtete sie zärtlich und küßte sie.
»Das Spiel wird sehr ernst, meine gute Frau«, sagte er traurig, »man verlangt sehr hohen Einsatz von mir.«
Sie sah ihn bekümmert an, spürte seine Erschütterung, begriff durch sie sofort seine Machtlosigkeit, weil sie ihn noch niemals erschüttert gesehen hatte, begriff auch, daß seine Verzweiflung nicht der eigenen Person galt, die vor keiner Schwierigkeit des Lebens kampflos kapitulierte, und ahnte mit dem Instinkt ihrer Liebe, von welcher Art der Einsatz und die unmittelbare Gefahr sei. Doch sie fragte nur dies:
»Bereust du, daß du gekommen bist, Oliver?«
»Ich bereue vielleicht, daß wir gekommen sind«, antwortete er mit schwerer Betonung. – »Ach, Anne«, wehrte er schnell ab, »das ist eine schwere und eine vergebliche Frage. Dieser Dämon ist schon so tief in mir oder ich in ihm, daß ich noch gestern, noch heute morgen eine solche Frage sinnlos gefunden hätte und daß ich jetzt nur eine sinnlose Antwort weiß.«
Plötzlich bog er den Kopf zurück, preßte die Fäuste gegen die Schläfen und heulte auf wie ein verwundetes Tier.
»Es ist meine Schuld!« stöhnte er. »Es ist meine Schuld! – Ich war blind, und ich war taub!«
Anne war bleich und mit großen, entsetzten Augen zurückgewichen. Sie zitterte.
»Oliver«, fragte sie tonlos, »Oliver, bin ich der Einsatz?«
Der Necker sah sie an; sein Gesicht war noch ein wenig verzerrt, die Augen waren hart. Anne rief leise und in äußerstem Schmerz: »Großer Gott!« und sank aufschluchzend auf einen Stuhl. Oliver schrie:
»Du darfst nicht weinen, Anne! Du darfst keine roten Augen haben!«
Die Frau schnellte auf, als hätte sie ein Schlag getroffen. Sie sprang ihn an und rüttelte an seinen Schultern.
»Oliver!« keuchte sie, »Oliver! Du willst, was er will?«
Er schüttelte den Kopf mit so schmerzlichem, so zerrissenem Lächeln, daß die Frau die Augen schloß und sich an ihn drängte.
»Er will, was ich nicht will«, sagte er leise, »aber er ist mein König und mein Herr. – Und schließlich, was will er denn? Anne, er will nicht einmal viel. Er tut uns die Ehre an, uns beiden, dir und mir, heute abend an seiner Tafel zu speisen. Das ist alles. – Ist es viel, Anne? – Wir wollen uns umkleiden, wir wollen uns schön machen, Anne.«
Sie gingen ins Schlafzimmer. Als er ihren jungen Körper in seiner schönen, unsäglich bekannten Nacktheit sah, breitete er die Arme aus, wie wenn er sie umfangen wollte. Doch er kam ihr nicht nahe, und sie blieb unbeweglich und etwas geduckt in ihrer Ecke.
»Anne«, flüsterte er, und seine Arme sanken langsam und wie entmutigt abwärts, »Anne, dein Geist ist von meinem Geiste, und er wird es bleiben. – Dein Leib ist meiner Liebe Leib und man kann ihn mir nehmen. – Anne, wenn man ihn nimmt ...«
Er unterbrach sich und zog sich an, sorgfältig und langsam. Die Frau, die erschöpft sein Gesicht beobachtete, sah es immer kälter und härter werden. Dann prüfte er sachlich die fertig Angekleidete: sie trug ein schweres Gewand aus gelbem, gemustertem Brokat in florentinischem Schnitt, wie der Meister ihn liebte, das Unterkleid mit engen langen Ärmeln und geschnürter Brust, darüber die üppig fallende Vorder- und Rückenbahn des Überkleides, das, von der Schulter aus sich spaltend, die straffe Kontur des Körpers sehen ließ; auf dem Kopf trug sie die Hörnerhaube der Bürgerfrauen, deren Nackentuch über den Rücken fiel. – Sie sah schön aus wie ein Bild des Ghirlandajo. Oliver nickte beifällig. Er verzog sein Gesicht zu einer brutalen Grimasse und preßte ihren Arm.
»Anne«, sagte er an ihrem Ohr, »wenn man ihn nimmt, wenn man mir deinen Leib nimmt, macht man mich lieblos, wahrhaftig, wie den Leibhaftigen – und dann, Anne, dann wirst du lieblos sein wie ich ... wie mein Geist ... wie dein Geist ... ja, wie sein Geist! – Anne, dann muß er zwischen uns wie zwischen zwei Zangen sein!«
Sie schrie unter dem Druck seiner Finger leicht auf. Wie er sich abkehrte, um die Tür zu öffnen, umschlang sie seinen Nacken und küßte wild seinen Mund.
Durch die offene Galerie, die sie dann durchschritten, pfiff jäher Wind. Sie blieben stehen und ließen sich die Schläfen kühlen. Die Blitze hackten zackig in die blaue Nacht. Der Donner kam näher.
»Es wird ein schweres Wetter«, sagte Oliver.
Anne zögerte, als er weitergehen wollte.
»Warum ist es deine Schuld, warum sagtest du es, Oliver?«
»Weil ich zu ihm von deiner Verlassenheit sprach und weil er – aus Güte, Anne, um uns zu schonen! – nie deine Existenz erwähnt hatte und erwähnt wissen wollte.«
»Oliver, dann ist es meine Schuld.«
Der Meister streichelte ihre Hände:
»Die Schuldfrage ist so unnütz wie jene Frage der Reue«, lächelte er, »du darfst dich wahrlich nicht selber verurteilen wollen. – Zu was, Anne? Zu dem Opfer?«
Er sagte, sich zum Gehen wendend, mit veränderter Stimme:
»Du darfst nicht einmal den Gedanken haben, Anne. Welchen Gedanken hast du? – Ist es ein Opfer, sich an des Königs Tisch zu setzen? – So komm.«
Sie hielt ihn wieder zurück und zog ihn zur steinernen Brüstung der Galerie, als ob sie noch die Richtung seines Weges ändern könnte.
»Ich verstehe dich nicht mehr, Oliver«, flüsterte sie, und in ihren Worten war eine tiefe Angst, »und das ist das Schlimmste! Ich verstehe deine Vieldeutigkeit nicht mehr! – Du darfst mich nicht verwirren und mir nicht den Halt nehmen! – Ich will Klarheit haben; ich bin gewohnt, mich zu verteidigen oder anzugreifen. Ich bin deine Schülerin, Oliver: so darf ich nicht unsicher scheinen.«
Der Necker lachte befreit.
»Du hast recht, Anne, meine kluge Frau. Doch ich kann dir noch keine Parole geben. Ich bin nicht vieldeutiger als dieser Tag. Ich will, daß du die Gefahr weißt, und ich will, daß du dir dein Wissen nicht anmerken läßt. – Verstehst du mich jetzt? – Du sollst heute abend mit deiner ganzen inneren Kraft mit mir in Fühlung bleiben. Dann werden wir beide wissen, wann wir uns verteidigen und wann wir angreifen müssen.« –
Sie gingen weiter. Das trockene Gewitter polterte um den Schloßfelsen. Die Neckerin drängte sich näher an den Mann.
»Und dies noch, Oliver«, sagte sie im Schreiten; »er sah mich noch nie. Warum fürchtest du so viel?«
»Er hat meine Augen, Anne.«
In dem hohen, holzgetäfelten Speisesaal flackerten die Flammen der weißen Wachsfackeln unruhig unter der Gewalt des Sturmes, der an den Fenstern rüttelte. Die drei Männer, der Kardinal, der Profos und der Schatzmeister, saßen nahe beieinander auf klobigen, lehnenlosen Hockern an dem mächtigen, mit silbernem Geschirr beladenen Eichentisch und unterhielten sich halblaut, wie eingeschüchtert von dem Lärm der Natur und von der düsteren Größe des Raumes. Der thronähnliche, mit rotem Brokat überzogene Stuhl des Königs an der Stirnseite des Tisches war noch leer.
Als Oliver mit Anne erschien, sahen die drei überrascht auf. Dann erkannte Jean de Beaune die Meisterin, erhob sich höflich und ging ihr mit freundlichen Worten entgegen. Auch Herr Tristan stand auf und hatte ein feines Lächeln um den Mund, wie er ihren Namen hörte und sich galant über ihre Hand beugte. Der Kardinal blieb sitzen, wie es seine Würde befahl, und neigte kaum merklich den Kopf, als Jean de Beaune ihm die Frau mit schmeichelhafter Phrase vorstellte; doch seine Augen unter den grauen, buschig vorstehenden Brauen faßten sie mit dem dreisten Blick des Viveurs. Er war ein großer, stattlicher Mann im Alter des Königs, das fleischige Gesicht von Gesundheit und Lebensfreude gerötet, würdig, klug und genießerisch unter dem roten Käppchen, ein vollippiger Mund über dem zurücktretenden Doppelkinn, die kurze, stumpfe Nase aber, die gebuckelte Stirn und der harte Schnitt der Augen von überraschender Energie und Erbarmungslosigkeit.
Annes anmutige Gegenwart wirkte wie eine Erfrischung. Die Herren sprachen mit freierer Stimme, die freudlose Ausdehnung des Saales wurde von dem lebendig und wichtig gewordenen Tischmittelpunkt vergessen, selbst das Gewitter schien ein sorglos äußerer und fast lustiger Lärm. Oliver hatte bereits wieder den Saal verlassen, da er bei den intimen Banketts, die Ludwig ohne sonderlichen Aufwand an störender Dienerschaft liebte, die Verantwortung für die Speisen und Getränke trug und die wenigen warmen Gerichte den Aufwärtern vor der Saaltür abzunehmen pflegte. Während er hin und her eilte, die bäuchigen Silberkannen mit unterschiedlichen Weinen füllte, schwere Platten mit vielerlei Pasteten, mit kaltem Wildbret, Backwerk und Früchten auftrug und in geschickter Reihenfolge ordnete, fing Anne, blankäugig und wachen Geistes, die Galanterien des Beaune, Tristans sparsame und geschliffene Zweideutigkeiten und des Kardinals entkleidenden Blick und laszives Lächeln auf und parierte als geübte Fechterin. Zuweilen sah sie über ihre Köpfe hinweg den geschäftigen und scheinbar achtlosen Oliver an; und immer dann, ob ihr Blick seine Augen, sein Profil oder seinen Rücken traf, erhielt sie von ihm heimliche Antwort.
Die Zurichtung der Tafel war beendet. Oliver setzte sich stumm neben die Neckerin. Balue belauerte ihn aus den Augenwinkeln und flüsterte mit emporgezogenen Brauen dem neben ihm sitzenden Herrn Tristan ein paar Worte zu. Der Profos verzog ironisch den Mund. Der Kardinal beugte sich etwas über den Tisch und sagte lächelnd:
»Sie sehen aus, Meister Necker, als ob Sie nicht viel Appetit hätten. – Das Gewitter scheint Ihnen im Magen zu liegen.«
Man lachte. Oliver sah flüchtig auf.
»Gott behüte mich vor solchem Donnerwetter in Ihrer erlauchten Gegenwart, Eminenz«, sagte er.
Die Herren lachten lauter. – Die hohen Doppeltüren an der Schmalwand des Saales wurden aufgerissen. Eine Stimme rief: »Der König!«
Alle erhoben sich. Ludwig blieb an der Tür stehen, die sich hinter ihm schloß. Er überflog mit raschem Blick die Menschen und den bereiten Tisch und sagte freundlich:
»Guten Abend, Compères, ich freue mich, daß ihr guter Dinge seid.«
Er ging mit seinem kleinen, schnellen Schritt auf sie zu. Oliver kam ihm entgegen, an der Hand Anne führend.
»Sire«, sprach er mit ruhiger und lauter Stimme, »ich bitte um Eurer Majestät Gnade und Gunst für die Dame Necker.«
Anne beugte ein Knie; der König reichte ihr flüchtig die Hand zum Kuß und sagte:
»Seien Sie mit uns fröhlich, Madame.«
Er sah über sie hinweg den Meister an, mit etwas schiefem Lächeln:
»Wir danken dir, Oliver.«
Dann trat er an den Tisch heran, nickte den Herren zu und setzte sich. Die anderen folgten seinem Beispiel. Das Mahl begann. Oliver bediente den König.
Einige Minuten lang herrschte Schweigen, als ob die sechs einander nach den Hintergründen der Gedanken abtasteten. Das Gewitter wurde wieder lauter und ernster.
»Hoho!« rief der König plötzlich aus und nahm einen mächtigen Schluck, »meine Person pflegt doch sonst kein Lachen abzuschneiden. – Dein Baß, Freund Jean, der kardinalische Bariton und tristanischer Tenor dröhnten dreieinig und gar lieblich in mein Ohr, als ich vor der Tür stand. Warum ist der Chorus jetzt so stumm?«
»Sire«, antwortete der Profos mit seiner leisen Greisenstimme, »wir bekommen ohne Meister Necker keine rechte Melodie heraus.«
»Bist du nicht bei Stimme, mein Oliver?« fragte Ludwig und kniff die Augen zusammen.
Der Necker goß ihm schweren gelben Wein aus der Côte-d'Or in den Goldpokal und legte ihm ein scharf gewürztes, in Kapern und Champignons geschmortes Lerchenragout vor. Er entgegnete mit höflich geneigtem Kopf:
»Die Eminenz diagnostizierte bereits, daß meine Stimme unter dem Einfluß des Gewitters ihren Sitz aufgegeben habe und sich im Gedärm befinde.«
Der König lachte lärmend:
»Urteilen Sie aus der Erfahrung Ihres dicken Bauches, Monsignore?«
Der Kardinal schlürfte vom erlesenen roten Wein aus Hochburgund, behielt ihn mit aufgehobenem Blick auf der Zunge und schluckte ihn dann bedächtig.
»Nein, Sire«, meinte er und zeigte lächelnd die gelben starken Zähne, »ich folgerte objektiver, mit komplizierteren Ableitungen. – Und der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war der immer magere Bauch Eurer Majestät.«
»Bei der Muttergottes von Embrun!« rief Ludwig, »ich müßte das Zeug zu einem guten Papst haben, begriffe ich die Logik Ihrer Bauchphilosophie, Balue.«
»Nun«, polterte Jean de Beaune, dessen Gesicht schon ziegelrot war, »die Eminenz geht von dem überwundenen Standpunkt aus, daß nur die mageren Hähne tüchtig seien – und hat dabei doch höchstpersönlich und mit bekanntem Erfolg solche Behauptung widerlegt.«
Der König trank unaufhörlich; seine Augen funkelten sonderbar. Er umklammerte den Pokal und rief mit scharfer Stimme:
»Ihr seid im Zug, meine Herren Räte, weiter! Weiter! Wie gelangt eure Theorie von meinem Hahnenbauch zum krähenden Bauch Meister Neckers?«
Der Kardinal fing mit spitzen Lippen die letzten Tropfen aus seinem Becher und sagte sanft, nach der Kanne greifend:
»Über das zuweilen unchristliche Problem der Nächstenliebe.«
Ludwig grinste:
»Und wie komme ich von der Nächstenliebe zum gewitterigen Oliver?«
Die Herren wagten nicht sofort die Antwort. Anne sah unruhig zum Meister hin, der schweigsam und mit unbeweglichem Gesicht den König beobachtete. In die plötzliche Stille schlug schwer der Donner. Der König fuhr zusammen und bekreuzigte sich.
»Compères«, sprach er mit veränderter Stimme, »ihr wißt, daß ich manchmal nicht nur aus Politik gläubig bin, sondern auch aus innerem Bedürfnis. Jetzt paßt es meinem Gewissen, abergläubisch zu sein. Ihr sollt mir nicht mehr antworten, meine ich.«
Balue und Jean de Beaune sahen kleinlaut in ihre Becher. Herr Tristan, der still getrunken und gegessen hatte, ließ den ironischen Blick im Kreise gehen und meinte leise und gleichmütig:
»Da das Unwetter nicht allein unserem Meister Necker die Sprache zu verschlagen scheint und da die etwas dunklen Theorien der Eminenz nicht nur das Mißfallen des Himmels, sondern auch die Mißlaune unseres gnädigsten Herrn hervorrufen, schlage ich als einfachste Lösung aller aufgeworfenen Probleme vor, die schöne Dame Necker mit der ersten Stimme zu betrauen und unseren Chorus nach der Melodie zu singen, die sie anzugeben beliebt. – Das wird auch den Himmel wieder besänftigen, Majestät.«
Der König sah Anne an, mit einem prüfenden, aufwühlenden Blick. Er hatte sie bisher kaum beachtet.
»Mein Profos hat recht«, sagte er langsam. »Sind Sie einverstanden, Madame?«
Anne hatte die Farbe gewechselt und hob verwirrt die Schulter. Oliver rief höhnisch:
»Der Profos hat immer recht, Anne! Was wäre sonst des Königs Hohe Justiz?«
Er wandte sich an den König:
»Die Dame Necker ist so loyal wie ich, Sire.«
Jetzt lächelte Anne, und sie sah ihr Lächeln auf dem beglückten Gesicht des Monarchen, der sich über den Tisch beugte, ihre Hand ergriff und sie küßte. Der Kardinal belauerte die beiden aus klein gewordenen Augen und sprach würdevoll: »Ab igne ignem.«
Ludwig hatte sich wieder zurückgelehnt und ergriff den Pokal: »Auf Ihr zukünftiges Singen, Madame, und auf Ihre Loyalität!«
Er trank und strich sich über die Stirn. Er begegnete Olivers drohendem Blick. Er wog den Becher von schwerem getriebenem Gold in der Hand wie ein Wurfgeschoß. Der Necker zuckte nicht mit der Wimper und senkte nicht den Blick. Der König holte aus, als wollte er ihm den Pokal an den Kopf werfen; aber er unterbrach den Schwung und ließ das Gefäß geschickt in des Meisters Schoß hüpfen.
»Von des Königs Mund für seinen Ersten Kämmerer«, sagte er mit wutblassen Lippen.
Oliver sprang auf, als hätte ihn der Pokal ins Gesicht getroffen. Er schwang ihn in die Höhe, wie wenn er ihn zurückschleudern wollte. Beaunes Baß lachte polternd und betrunken, der Kardinal und Herr Tristan fielen schallend ein; Anne – in tödlicher Furcht – lachte mit, schrille und hohe Töne wie kleine Angstschreie; der König öffnete den Mund, als lachte auch er; aber er lachte nicht, und sein Gesicht war verzerrt und schweißig, seine Augen hingen an Oliver. Der sah die aufgerissenen Mäuler der Lärmenden und das Entsetzen und Annes blasses, krampfiges Profil und brüllte:
»Es lebe der König!«
Es klang wie eine Beschimpfung.
»Die Instrumente sind gestimmt!« heulte Jean de Beaune.
Der König küßte wieder Annes Hände; er lachte jetzt wie ein Faun. – Das Gewitter war schwächer geworden.
Gegen Mitternacht war die trunkene Woge abgeebbt. Jean de Beaune saß mit glasigen Augen auf dem Fußboden und knurrte, die Stirn gegen ein Stuhlbein gelehnt, sinnlose Worte. Balue hatte sich in einen Lehnstuhl im Hintergrund des Saales zurückgezogen und schnarchte leise aus offenem Mund. Herr Tristan saß noch still und zusammengekauert am Tisch, mit uraltem, wächsernem Gesicht. Oliver, der vom König unter dem Gebrüll der drei Höflinge mit Annes Hörnerhaube gekrönt und mit ihrem Übergewand bekleidet worden war, saß mit dem absonderlichen Kopfschmuck steifrückig auf dem Taburett – nüchtern, aufmerksam und gefährlich, und sah aus wie ein Priester der Astaroth. Anne, berauscht, hin und her gezerrt zwischen dem Willen des Meisters und der Begierde des Königs, müde von Wein und Angst und der steten Spannung, saß auf Ludwigs Geheiß vor ihm auf dem Tisch, mit wirren Haaren und matten Augen, das Gesicht Oliver zugewandt. Der König preßte den schweren Kopf gegen die Rückwand seines Stuhles und sah sie an, ohne sie zu berühren. Sein Blick strich über ihren Nacken, über ihre Arme und das Profil ihrer straffen Brüste.
Plötzlich stand er auf und hob die Frau vom Tisch. Seine Bewegung war leicht und sicher, als sei die Trunkenheit abgeschüttelt. Er umfaßte wortlos die Schultern der Neckerin, mit der Ruhe des Besitzers, und führte die vor Überraschung Willenlose zur Tür. Dort stand Oliver, in den Händen Annes Haube und Oberkleid, das Gesicht hart und wild von Entschlossenheit. Schon duckte sich die Frau geschmeidig aus Ludwigs Arm: mit einem kleinen Schritt war der Necker zwischen ihr und ihm. Auf des Königs Stirn schwollen die Adern.
»Fort!« sagte der König durch die Zähne. Oliver rührte sich nicht.
»Die Dame bittet um Urlaub, Majestät.«
»Fort!« rief Ludwig und hob die Faust. Oliver faßte ihn mit dem Blick.
»Sire, es tut nicht gut, mich zu schlagen«, sagte er leise, drängte Anne zur Tür und warf ihr die Kleider zu. Schon war sie aus dem Saal geschlüpft. Der König schrie über die Schulter: »Profos!«
Herr Tristan fuhr in die Höhe; der scharfe Anruf seines Berufes schlug ihm den Rausch ab wie eine Maske. Er fragte ernst und erwartungsvoll:
»Sire?«
Auch der Kardinal erwachte und kam gähnend in den Vordergrund. Nur Jean de Beaune wurde nicht mehr erschüttert.
»Zwitschert der Vogel schon im Nestchen?« fragte Balue, sich umschauend.
Oliver hatte beide Türflügel geöffnet und flüsterte, sich höfisch verbeugend:
»Sire, es ist zu spät, um noch zu henken.«
Ludwig sah ihn verblüfft an; dann lachte er auf.
»Du hast recht, Oliver, das hat immer noch Zeit.«
»Eure Majestät riefen mich«, sagte Herr Tristan.
Der König drehte sich um.
»Ich wollte, daß du dem Kardinal, dem da unter dem Tisch und dir selber den Kopf abschneidest, weil ihr sitzt, wenn ich stehe. – Jetzt soll mich der Teufel holen und ins Bett bringen, weil ich es nicht mehr will. – Gute Nacht, Compères.«
Der Kardinal antwortete würdevoll:
»Wir wünschen Ihnen einen guten Schlaf, Majestät, und die entschwundene erste Stimme als zutunlichen Succubus. – Voluisse sat est, sagt Properz.« –
Ludwig hatte schon den Saal verlassen. Oliver folgte ihm über eine gewundene, spärlich erleuchtete Treppe in die Wohnräume des oberen Stockwerks. Er half ihm schweigend aus den Kleidern, legte ihm den pelzgefütterten Schlafmantel um die Schultern und wollte sich dann mit einer Verbeugung zurückziehen.
»Nein«, sagte der König, »du schläfst bei mir.«
Er ging ins Schlafzimmer. Das venezianische Bett mit reich geschnitzten Säulen und rotsamtenem Baldachin stand in der Mitte des Raumes auf dreistufiger, teppichbelegter Estrade. An seinem Fußende war ein Lager aus Polstern und Fellen für den diensthabenden Kämmerer oder Leibgardisten. Der König trat an das offene Fenster und atmete die reine frische Nachtluft.
»Leg dich hin«, sagte er, ohne sich umzuwenden. Oliver gehorchte. Die Stille war groß und gebieterisch. Selten nur schrie ein Nachtvogel. Ein Falter taumelte jetzt gegen das gedämpfte Licht der Nachtlampe. Der Schatten des Königs, der sich im sanften Schein des Mondes vom Fenster bis zu Oliver spannte, rührte sich nicht. Der Necker schlief ein. –
»Oliver!«
Er öffnete die Augen; er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte; er wußte auch nicht, ob er gerufen worden war. Der Schatten des Königs war fort, aber sein kurzer, ein wenig bedrängter Atem war zu hören, zuweilen auch ein Knacken des Bettgestells. Der Meister schloß wieder die Augen; er war müde.
»Schläfst du, Oliver, wenn ich wache?«
»Herr, ich schlafe nicht.«
Wieder war Schweigen; doch Oliver wußte jetzt, daß das Hirn des Königs arbeitete, und wurde ganz wach. Er fing die Spannung auf, die von dem erhöhten Bett ausging.
»Soll ich dem Kardinal vertrauen, Oliver?«
Der Meister antwortete nicht gleich; er hörte im Ohr den Pulsschlag des Blutes. Dann fragte er langsam zurück:
»Vertrauen Sie mir, Herr, immer noch mir?«
Ludwig schwieg. Oliver richtete sich auf.
»Sire«, bat er dringlich, »sagen Sie, daß Sie heute abend keinen Kämmerer nominierten! Sagen Sie, daß das nicht war, was war!«
»Sire!« rief Oliver gefoltert, »ich bitte Sie um meinen Abschied!«
Der König sagte:
»Du wirst morgen mit dem Kardinal nach Paris fahren. Du wirst ihn beobachten und dich über seine Ziele vergewissern. Du wirst, wenn es nötig ist, nach Lüttich gehen und Sorge tragen, daß Herr von Wildt nicht zur Unzeit losschlägt. Du wirst natürlich bei mir sein, wenn ich in die Löwenhöhle gehen sollte.«
»Ich werde morgen fahren«, flüsterte Oliver, »ich werde Daniel Bart und die Dame Necker mitnehmen, weil ich an ihre Gegenwart und an die Zusammenarbeit mit ihnen gewöhnt bin.«
»Du kannst den Daniel Bart mitnehmen«, sagte der König; »die Frau bleibt hier.«
Oliver sprang auf die Füße und stand an der untersten Bettstufe. Ludwig richtete sich auf und sah ihn an.
»Was willst du, Oliver?« fragte er ruhig.
»Sire«, sagte der Meister mit heiserer Stimme, »wenn ich Ihnen sagen könnte, daß der Kardinal ...«
»Mein Freund«, unterbrach Ludwig, »dann schicke ich dich morgen aus einem anderen Grund nach Paris – oder in die Oubliette.«
Oliver stieg eine Stufe höher, drohend, bebend.
»Sire, warum nehmen Sie mir die Frau?« keuchte er.
Der König legte sich auf das Kissen zurück; er schloß die Augen; sein Gesicht war wie ausgelöscht.
»Oliver«, sagte er leise und langsam, »glaubst du, ich habe Angst, daß du mich töten könntest?«
Der Necker fiel auf die Knie, den Körper vorwerfend.
»Sire!« flehte er, »ich gehöre Ihnen! Ich knie vor Ihnen! – Lassen Sie mir die Frau!«
»Oliver«, flüsterte der König wieder und bewegte sich nicht, »glaubst du, ich litte es, daß du Sentiments hast wie die anderen, daß du kniest und ein armes nacktes Herz zeigst? Daß du verwundbar bist? Daß du abtrünnig bist um des Herzens willen?«
Dann sprach er nichts mehr. Als der Necker sich aufrichtete und nach seiner Hand tastete, schien er schon zu schlafen. Er schien so fest zu schlafen, daß seine Hand unter Olivers Lippen nicht zuckte.
Der Necker setzte sich leise auf die oberste Stufe der Estrade und stützte den Kopf in die Hände. Der tobende Puls beruhigte sich: er konnte in sich hineinlauschen. Er hörte schon hinter dem fremden Lärm die eigene, ruhige, behauptete Stimme: Ergib dich nicht! Ergib dich nicht! – Er sah auf. Der König, den Kopf zur Seite gewandt, blickte ihn an.
»Sire«, sprach er langsam, »der Kardinal meint es ehrlich; aber ich werde ihn prüfen.«
Ludwig zögerte zu antworten; doch er sagte es, mit unfreier Stimme:
»Du bist stärker als ich, du bist schon wieder unsichtbar, Dämon mit der Tarnkappe.«
Und nach einer Weile:
»Geh und schlafe bei ihr. Nimm Abschied von ihr. – Geh, Oliver.«