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Der Juni ist in London verliebt und die Stadt in den Monat. Die liebreiche Neigung der Jahreszeit zu den großen Städten ist flüchtiger und gleichsam bräutlicher als zum Lande. Im Juni ist das alte London, das herbstneblige, wintergrämliche, vom Klima nicht verwöhnte, mit einemmal jung und schön. Die Stadt, die aus einem zugleich mütterlichen und politischen Selbstbewußtsein ihre Menschen tun läßt, was sie wollen, prangt jetzt in junger Sonne und jungem Grün wie in einer besonderen Aureole der Freiheit. Es ist, als sei der Frühsommer über der Kapitale die alljährliche Auszeichnung für die englische Anschauung der Welt. Vielleicht gibt es für den Menschen, der aus der Gefangenschaft kommt, keinen beglückenderen Gegensatz zur Zitadelle als London im Juni.
Louis trieb glücklich durch die Junistraßen. Er war in einem stillen Hotel des Westens abgestiegen, unter dem listig lockeren Pseudonym eines Grafen von Arenenberg; aber in den ersten Tagen tat er nichts, um sich bemerkbar zu machen. Er las keine Zeitung, ihn interessierte nicht, wie die Welt über seine Flucht urteilte; denn er selber dachte kaum mehr an sie und ihren simplen Ablauf: wie während der Fahrt in reichlichen Abständen die Requisiten des Schrittmachers aus dem Wagenfenster in den Chauseegraben flogen: die Pfeife, die Bluse, die Leinenhosen, die Holzschuhe und schließlich, schon hinter Cambrai, die Perücke, wie nur noch die roten Backen blieben und hektisch neben der gelben Nase auf dem Bahnhof von Valenciennes glühten und wie dort die zwei Wartestunden noch einmal eine böse und endlose Zeit wurden, bis endlich der riesige Schlot der engbrüstigen Lokomotive heranqualmte. Louis wollte jetzt nichts mehr sein als irgendeiner von den freien Menschen der großen, lichten, freien Stadt. Er ging und ging, er war von dem tiefen Glück erfüllt, gehen zu können: wie einer, der lange Zeit gelähmt war und den ein Wunder heilte. Daß er hierhin und dorthin, ziellos, ungefragt, unbeschränkt und in der wunderbaren Anonymität des Passanten spazieren konnte, zugleich allein und zugehörig zum Strom der Straße, gelassen und geborgen, anerkannt und unbekannt: das füllte die Tage aus wie ein schöner und guter Beruf. Er wollte zunächst nicht mehr. Der schwirrend blaue Junihimmel schwebte so hoch und leicht über der aufgelockerten Stadt, als wollte er sie bitten, ganz ohne Druck und Last und grenzenlos zu atmen. Niemals im Jahr ist das Atmen von Mensch und Baum und Blume leichter, in den Parks vermag die Masse der Wandelnden den Rasensamt nicht zu zerdrücken, so reich und stark ist er oder so lastlos sind die Menschen, die Hydeparkschwäne schweben auf dem Serpentine wie auf einem leisen und stillen Junistreifen, den der Himmel auf die Erde gespiegelt hat, und so, als seien die schweifend frei und ganz für sich wie oben die seltenen Wölkchen. Niemals im Jahr ist das Atmen der Häuser leichter; sie drängen sich nicht und tun sich nicht mehr weh vor harter Enge, sie scheinen in die Höhe zu gehen, wo Raum genug ist, und ihre Konturen stehen weich gegen die schwingende Luft. Louis ging und atmete, herrlich leicht und erleichtert. Er fühlte sich so frei, daß er in den Tower ging, angereiht den anderen Besuchern, und von so erfahrener Freiheit, daß er die Zitadelle nicht mit den Augen des Ausbrechers ansah, sondern den Juni entdeckte, wie er den Tower bestimmte, sich selber einzukerkern, und ihm überdies den Spott antat, sich als Museum der Unfreiheit begaffen zu lassen, mit dicken, gemütlichen Wächtern in der Wachsfigurenuniform von des dicken, ungemütlichen achten Heinrich Yeomen-Garde und bis an den Rand gefüllt mit grausiger Historie. Im »Bloody Tower« wurden die Söhne Edward IV. ermordet; im »Beauchamps« saß die Anna Boleyn und im »Bowyer« ertränkte sich der Herzog von Clarence in einem Fasse Malvasier. Louis lächelte. Draußen flirrte der junge Sommer: und siehe, der breite, tiefe Teich, der einst den Tower verteidigte und dann nur noch die Luft verpestete, war seit drei Jahren ein Garten, und jetzt bot er sich dem Juni bunt, froh und reich mit Nelken, Hornveilchen, Leopardslilien und safrangelben Rosen.
Noch immer war Alfred d'Orsay der schönste und vollkommenste Mann seiner schönen und vollkommenen Welt. Daß ihn das gute Leben, welches glatt in die aristokratische Rechnung aufging und einen so respektablen und beneidenswerten Stand behauptete, dennoch gemach an die Fünfzig herantrug, war leider das unumgängliche Schicksal auch der apollinischen Existenz und konnte sogar zu einer männlichen Sondertragödie führen, zum Abblühen, Altern, Ueberlebtsein, Vergessensein, Ungeliebtsein, und zum Selbstmord, zu einem Los, das eigentlich weiblich ist und vornehmlich die Professionistinnen der Schönheit trifft, das aber, vor sechs Jahren erst, Alfreds Vorgänger, den großen George Brummell dramatisierte. Der Graf d'Orsay dachte ungern daran; aber da es ihm nicht erlaubt war, vor einem Gegner zu kneifen, auch nicht vor dem Alter, prüfte er sein Spiegelbild nicht mit ängstlichem, sondern mit kriegerischem Herzen: so führte er die Mode der silbernen Schläfenhaare ein. (Haupthaar, Backenbart und Brauen hatten dunkel zu bleiben, auf jeden Fall und sei es mit kosmetischer Gewalt.) Und Alfred d'Orsay trug seinen immer noch schönen Kopf, vom Leben mitgenommen, nun ja, von der Liebe mitgenommen, den Idealkopf des Mannes mit der augenscheinlichen Vergangenheit und der Ueberlegenheit über die Erlebnisfülle, zu neuen und unerhörten Siegen.
Zu ihm als erstem ging Louis, als die Lust des namenlosen Wanderns durch die Juni-Stadt gestillt war und von dem plötzlichen Hunger auf Vergnügen abgelöst wurde, von der Sehnsucht nach der großen und leichten Welt, nach der Welt d'Orsays mit dem Dauerjuni als lastlosem Himmel. Alfred schloß ihn gerührt in die Arme, er liebte ihn aufrichtig, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben, wie wenig er ihn im Grunde kannte oder wie wenig Mühe sich der stille Prinz gegeben hatte, klar oder gar aufgeschlossen zu sein. Alfred hatte noch von keinem Menschen verlangt, ihn Tiefen sehen zu lassen, die er selber nicht besaß und nicht vermißte. Er liebte den Freund, weil er liebenswert und überdies der meistberedete Dynast Europas war, anscheinend ein europäisches Problem, für ihn, d'Orsay, die ausgefallenste und auffälligste Unterstützung der eigenen Extravaganz. So wurde denn auch ihre erste gemeinsame Fahrt durch den Hydepark – in Alfreds weißem Kabriolett mit den roten Drahtspeichenrädern, dem Yorkshire-Schimmel und dem Neger-Groom in weißer Livree – zur Sensation der Season und zum eigentlichen Einzug des Prinzen Louis Napoleon in London.
»Schon deshalb ist die ganze Presse für dich,« sagte Alfred, um dem Freund eine Freude zu machen, »weil deine Flucht, wie damals aus Amerika, aus dem lautersten Motiv geschah, aus der Sohnesliebe …«
»Ich habe leider nach Florenz große Paßschwierigkeiten,« unterbrach Louis sanft.
Alfred hatte keinen Sinn für die Imponderabilien, denen ein politischer Mensch, ein Prätendent, Rebell und entwichener Staatsgefangener ausgesetzt war. Daß ein Mann wie Louis, für den die Zitadellenmauer kein Hindernis gewesen war, jetzt in den Fäden der Paß Vorschriften festhing, war für Alfred nur ein Grund mehr, über die Unwägbarkeiten des politischen Berufs nicht weiter nachzudenken. Wenn er Arm in Arm mit dem Freund erschien, hielt er den europäischen Ruhm in seiner interessantesten Gestalt untergefaßt, und das genügte ihm. Louis hatte von je den Vorzug, mit ihm kein politisches Wort zu wechseln; und niemals noch erschien er in seiner unpolitischen Gesellschaft glücklicher und mit ihm, dem Elegant, dem unumwunden anerkannten Führer der Eleganz, zufriedener. Immer noch hatte Alfred den besten Schneider, den besten Schuster, den besten Handschuhmacher und die schönsten Frauen. Louis folgte seiner Führung und seiner Empfehlung wie noch nie. Er bestellte Anzüge bei Staub, Schuhe bei Sakoski, Handschuhe bei Jouvin und ging die Kokotten des Drury-Lane-Theaterfoyers durch. Zumal sein Bedarf an Frauen war bewundernswert, er war unersättlich, schien es, und der erfahrene Alfred erklärte es sich lächelnd mit der sechsjährigen Klausur zu Ham. Aber in Wirklichkeit wollte Louis nicht satt werden, er wollte hungrig bleiben, leicht sein und leichtsinnig, erregt, erregend und unnahbar, ganz kalt unter der dünnen, warmen, liebenswürdigen Haut. Er hatte noch die schwere Ehe von Ham im Magen. Er las Lores Briefe nicht und schrieb ihr nicht. Er wollte wechseln, wechseln.
»Heute abend nach der Oper,« bestimmte Alfred, »gehen wir in Miss Howards Spielsalon.«
Louis überhörte es. Sie saßen in der Halle des Carlton-Klubs, sie lagen fast in den tiefen, weichen Sesseln, und ihre übereinandergeschlagenen Beine waren so hoch wie der Kopf. Louis las in der »Times«, und seine Nase zuckte Er überhörte die Worte des Freundes; denn er las den römischen Bericht vom Ausgang des Konklave. Gewählt war Kardinal Mastai. – Mein Mastai, dachte Louis und lächelte, mein Gottesmann aus Spoleto, Apologet der Dankbarkeit. Er sah wieder die klugen Augen, in denen die große Güte war und die große Zukunft. Er hatte ein gutes Gedächtnis für Leute, an die er denken wollte. Der Erzbischof von Spoleto war seit vierzehn Jahren für ihn ein denkwürdiger Mann. – Ich irre mich selten in der Zukunft von anderen Männern, dachte er hinter der Zeitung, ich habe mich bei meinem Mastai nicht geirrt, er hat es in vierzehn Jahren geschafft.
Louis war ein wenig erregt. War er neidisch, daß andere ans Ziel kamen? War er ärgerlich, daß er die Zukunft von anderen Männern kannte und nicht die eigene? Kannte er nicht die eigene Zukunft? Er antwortete nicht darauf. Aber er hätte gerne über den neuen Papst gesprochen – vielleicht ließ dann der kleine Druck zwischen Herz und Magen nach – und er ließ die Zeitung sinken. Ach, Alfred war kein Partner für solches Gespräch, Alfred gehörte zum torystischen Carlton-Club, weil es der vornehmste Klub, und nicht, weil er ein konservativer Politiker war, Alfred las mit strengem Gesicht in seinem Mode- und Sport-Journal.
Benjamin Disraeli betrat die Halle, in dunkelgrünem Frack mit beryllfarbiger Weste. Auch er war inzwischen schon halbwegs in der großen Zukunft, die Louis ihm angesehen hatte. Er war schon der große Tory und trug mit seiner ironischen Eleganz den Ruhm des Robert-Peel-Stürzers, er war schon der Kronprinz der Partei und Lord Bentinck, sein Chef und Freund, der von sich selber sagte, daß er sich nur auf zweierlei verstünde, auf Menschen und auf Pferde, wußte, warum er ihn zum Nachfolger wählte, und alle wußten, daß er über kurz oder lang in die Regierung kommen würde, und Disraeli selber kannte sein Ziel schon mit zwanzig Jahren: ich werde Premierminister. – Auch er, auch er, dachte Louis und lächelte ihm zu, auch er ist mir voraus. War Louis ehrgeizig? Disraeli grüßte ihn freundlich. Die Beiden schätzten sich von je. Louis winkte ihn heran. »Jetzt haben wir zu Rom einen Pio Nono, Honourable.«
Disraeli lehnte sich an die nahe Säule aus poliertem Granit und hakte die Daumen in den Aermelausschnitt der Weste. Er war jetzt mitte vierzig und nicht mehr schön, er hatte es nicht mehr nötig, schön zu sein, er hatte noch das Mädchengesicht, aber es war das Gesicht eines alten Mädchens, etwas bissig, überscharf vor Intelligenz und mit einer dicken Unterlippe, die die Menschenverachtung immer weiter vorschob. »Ich weiß,« meinte er monoton und näselnd, wie es seine Art war, »den Kardinal Mastai. Die Kirche hat uns nicht nur die guten Köpfe voraus, sondern auch die Gabe, fast immer den besten Mann zu finden.«
»Den besten Mann,« sagte Louis.
»Wir gehen heute abend zu Miss Howard,« warf Alfred dazwischen, ernst in seiner Zeitschrift blätternd.
»Mastai wird es nicht leicht haben,« bemerkte Disraeli, »er muß, ein freier und gar reformierender Geist, wohl oder übel den Reaktionär machen. Er muß, aus kanonischer und politischer Pflicht, den geistigen und irdischen Bestand des Kirchenstaates gegen die revolutionierte Nation und die materialisierte Zeit halten. Er wird es sehr schwer haben.«
»Ich kenne ihn,« sagte Louis, »er war gut zu mir, als ich sehr übel dran war. Er schützte mich Anno Einunddreißig vor den Oesterreichern und brachte mich nach Piemont. Er ist mehr oder weniger mein Lebensretter. Ich vergesse es nicht.«
Disraeli sah ihn aus den Mandelaugen an und lächelte; dann schob sich die Unterlippe noch weiter vor und die Altjungfernfalten spielten an dem weichen Kinn vorbei bis an den frühe welken Hals. »Das mag nicht uninteressant werden, Prinz Louis, der Carbonaro-Dank an den Papst kann ungewöhnlich kompliziert werden, wenn zum Beispiel Ihre zukünftige französische Revolution der zukünftigen italienischen auf die Beine hilft und Ihr Lebensretter wo möglich zu eben jenen Oesterreichern fliehen muß.«
– Auch er glaubt an mich, dachte Louis und er antwortete lächelnd: »Ich habe nicht vom Dank gesprochen, Honourable, sondern vom Nichtvergessen.«
Disraeli hielt den Kopf etwas schief und schien ernst. »Eine napoleonische Unterscheidung,« näselte er; »wir werden uns gratulieren können, Prinz Louis, wenn Ihre Zeit gekommen ist.«
– Wann kommt meine Zeit? dachte Louis; aber er fragte ihn nicht. Es tat ihm wohl, aus Disraelis Ironie das politische Kompliment zu hören. – Dabei kann ich dankbar sein, dachte er; aber auch das sagte er nicht. Disraeli nickte freundlich und ging weiter. Im Klub hieß er Dizzy, wie in seiner Familie.
»Glaubst du nicht, Alfred,« fragte Louis und sah ihm nach, »daß es Dizzy niemals soweit gebracht hätte – und er wird es noch weiter bringen –, wenn er ein dankbarer und vergeßlicher Mensch sein würde?«
»Ich weiß nicht,« entgegnete Alfred unbeteiligt; »aber wir gehen heute abend nach der Oper in den Spielsalon von Miss Howard.«
»Ich spiele doch nicht, mein Bester, ich habe kein Geld dafür, du weißt, ich muß leider rechnen.«
»Wir gehen auch nicht wegen des Spiels hin,« bestimmte d'Orsay, »sondern wegen Miss Howard. Sie ist die schönste Frau von London.«
»Also deine Freundin,« lächelte Louis.
Alfred lächelte diskret zurück und stellte richtig: »Sie ist die größte Kokotte von London.«
Howard ist ein großer englischer Name. Howards sind die Herzöge Norfolk, die Grafen Suffolk, Carlisle, Eppingham. Ein Howard war jener John, großer Philanthrop des achtzehnten Jahrhunderts und Reformator des Gefängniswesens. Ein Howard war jener Frederic, Husarenmajor, gefallen bei Waterloo, den Byron, Verwandter der Howards, im dritten Childe Harold-Gesang verewigt hat.
Miss Howard war keine Howard und hieß nicht Howard. Sie hieß Herriott, Elizabeth Herriott, und war die Tochter eines Bierwirts aus Dover. Als sie entdeckt worden war und nicht mehr auf dem nächtlichen Haymarket auf und ab zu gehen brauchte – ein Huldin für drei Schillinge, sagte Alfred, der alles wußte und seinem Freund während der Oper und auf der Fahrt zur Oxfordstreet 277 alles erzählte – nannte sie sich Howard nach einem ihrer Liebhaber, vielleicht weil ihr der Name, vielleicht weil ihr der Liebhaber gefiel, der sogar ein echter Howard gewesen sein soll.
»Prachtvoll!« lachte Louis, »vielleicht nennt sie sich auch nach mir, wenn ich ihr gefalle.«
»Nicht unmöglich,« gab Alfred zu; »aber jetzt heißt sie Elizabeth Howard.«
»Aber warum denn nicht gleich Katrin Howard?« fragte Louis in guter Stimmung. »Das war auch ein großes Luder, ein berühmtes Luder und sogar englische Königin, wenn auch schließlich von ihrem Blaubart geköpft.«
»Das wird sie nicht wissen,« lehnte Alfred ab, weil er es selber nicht wußte.
In dem übertriebenen Empiresalon, der mit seinen Kristallüstern, Wandspiegeln und Bronzebeschlägen dem Auge weh tat, war der große Spieltisch gut besetzt. Es herrschte die merkwürdig feierliche und stumpfe Stille des Hasards. Man spielte hier mit unbegrenztem Einsatz, die großen Zahlen verklammerten die Köpfe. Nur der Bankhalter sah auf und begrüßte die Ankömmlinge mit einer leichten Verbeugung im Sitzen. Es war ein Herr mit einer Geiernase, verknittertem Gesicht, völlig nacktem Schädel und so tief liegenden Augen, daß sie dunkel geschminkt schienen. Louis und Alfred traten in einen kleinen Nebensalon mit hübschen Chippendale-Möbeln. »Das war ihr Manager,« sagte d'Orsay, »der ehrenwerte Young-Fitz-Roy.«
»Ein unheimlicher Herr,« bemerkte Louis.
»Nicht mit der Feuerzange anzufassen,« versicherte Alfred; »aber ein Genie in seiner Art, ihr Entdecker, Zurichter, meinethalben auch Zuhälter, außerdem ihr Croupier, und alles geht auf halbpart, trotzdem er wohl noch mehr der Firma einbringt als sie; denn die Spielbank soll gut und gern zehntausend Pfund im Monat gewinnen und seine Karten sollen zudem gezinkt sein, zur Vermeidung des Risikos. Doch man tut ihm nichts und läuft immer wieder her, – so schön ist sie.«
Ein Butler trat auf, würdig, weißhaarig, mit weißen Koteletten, und meldete, daß Madame bald erscheinen werde.
»Wie bei Hofe,« meinte Louis belustigt; aber dann hatte die spöttische Bemerkung, wie oft bei ihm, noch einen Schwarm von Gedanken im Kielwasser. Wie bei Hofe? Die süße, junge Queen war die Sittsamkeit selber, bei Louis Philipp ging es zu wie bei einem Spießbürger, in Berlin regierte ein störrischer Romantiker, in Wien das populärmoralische Biedermeiertum, in Sankt Petersburg ein strenger Allvater Zar. Vielleicht war Louis' Neigung für diese Welt, die vom Leben nur die Nachthälfte beanspruchte, für diese halbe Welt viel mehr als der Hunger nach Vergnügen. – Wie bei meinem zukünftigem Hof, der die Kokotte inthronisiert, dachte er und kniff die Augen zusammen. Der Gedanke war ja nicht neu, und heute zum ersten Mal nach seiner Flucht hatte er an die Erfolgreichen zu denken gehabt, an Pio Nono und Disraeli.
Alfred d'Orsay aber war noch bei dem erfolgreichen Young-Fitz-Roy, der ihn schon deshalb beunruhigte, weil er völlig ohne Ehrenkodex auskam. »Ein Genie!« versicherte er. »Als er sie aufgegabelt hatte, präparierte er sie so vorzüglich, daß der gute Lord Clabden mit Begeisterung die geforderten tausend Pfund für ihre angeblichen Primeurs bezahlte. Das war vor vier Jahren. Heute ist sie vierundzwanzig und Millionärin, sogar im Kirchenstaat begütert, der Himmel weiß, wie sie dazu kommt – und sie geht mit unseren besten Leuten, mit dem Herzog von Beaufort, mit Graf Chesterfield, mit Graf Malmesbury …«
»Welche Ahnenreihe!« unterbrach Louis, »und was für Eintrittspreise! – Ich fürchte, Alfred, da gehören wir nicht hinein …«
»Ich gehörte bereits,« bekannte d'Orsay würdig und bescheiden.
»Sie tut es also auch schon um der Liebe willen?« lachte Louis.
»Sie kann es sich leisten,« sagte Alfred und zuckte mit den Achseln; denn die Liebe der Frauen für den Grafen d'Orsay ist beinahe sprichwörtlich, und darüber lacht man nicht. »Außerdem ist sie ehrgeizig,« fügte er hinzu, noch etwas ärgerlich.
»Ich verstehe durchaus,« begütigte Louis, »daß du das Ziel ihres Ehrgeizes bist, Alfred.«
»Nicht das Ziel,« sagte Alfred, der ehrliche Kavalier, »die Etappe.«
»Du nicht?« staunte Louis. »Wer denn? Der Prinz von Wales ist doch erst fünf Jahre alt. Wer denn?«
»Du,« antwortete Alfred und besah sich seine Fingernägel. Louis machte dünne Lippen. »Sie verehrt dich schon lange,« fuhr Alfred fort, ein wenig hastig, als ob er sich oder sie entschuldigen wollte, »ich mußte ihr viel von dir erzählen, ja, sie schätzte es sehr, daß ich dein Freund bin, und einmal sogar, es mag ein Jahr her sein, setzte sie es sich in den Kopf, die ganze Garnison von Ham teils zu verführen teils zu bestechen, um dich zu befreien, bis es ihr Mr. Young-Fitz-Roy, der für das Geschäft fürchtete, wieder ausredete; und seitdem sie weiß, daß du hier bist, läßt sie mir keine Ruhe.«
»So …« machte Louis und schloß fast die Augen. Er dachte an Miss Gordon, die auch ehrgeizig war und die der Prophet auch schön fand. Louis empfand gegen ehrgeizige Freundinnen seiner Freunde ein heftiges Mißtrauen. Miss Gordon, eine bedeutende Frau, war schließlich eine gute und wertvolle Kameradin geworden. Aber diese Venus Vulgivaga als neue Anhängerin? – Ob es noch Zeit ist, wegzugehen …
Doch jetzt trat wieder der Butler auf und öffnete wortlos eine Flügeltür.
»Jetzt kommt sie,« sprach Alfred, »du wirst staunen.«
– Ich werde sie schlecht behandeln, sagte sich Louis. Er sah von seinem Sessel aus durch die offene Tür eine Flucht hellerleuchteter Räume und nichts sonst, keinen Menschen. – Die Regie des Auftritts ist gut, dachte Louis und wollte boshaft bleiben.
Dann kam aus dem letzten Raum ein schlankes Mädchen – nein, es erschien eine angelsächsische Göttin. Sie trug ein modisches Kleid aus schwerer, weißer Seide, das sehr keusch war und hochgeschlossen, ganz eng um die jungen Brüste und den Oberkörper und bei den Hüften in die Glocke der Krinoline sich wölbend. Ihre Haare, schlicht gescheitelt und in einem tiefen, großen Knoten gefangen, waren blond wie reifer Weizen, so blond wie die Haare jener echten oder falschen Hudson-Lowe-Tochter, die vor zehn Jahren nach Gottlieben gekommen war, um mit Louis die Weltgeschichte zu lästern. Aber Miss Howards Gesicht war viel schöner, es war von der unschuldigen Süße und beinahe harten Glätte eines Kindes, mit großen, reinen Kinderaugen, einer klein wenig aufgebogenen Kindernase und einem ahnungslosen Kindermund. Die Göttin kam langsam heran, lächelnd von Anfang an, und gewährte die Zeit für die Bewunderung.
Louis stand auf und sagte ganz leise, nur für sich: »Mein Gott …!« Er hatte alle Bosheit vergessen.
Alfred d'Orsay ging ihr entgegen, küßte ihre Hand und sagte mit einer kleinen Geste zu Louis hin:
»Napoleon.«
Er sagte es, wie es der Prophet gesagt haben würde. Louis achtete nicht darauf, er lächelte das schöne Bild an.
Elizabeth Howard machte einen tiefen Hofknix.
Doktor Conneau hatte nur die Mindeststrafe von drei Monaten erhalten und kam im September. Er brachte gute Nachrichten: General Montholon war unmittelbar nach Louis' Flucht entlassen werden und auch die anderen Verurteilten von Boulogne hatten Aussichten auf Gnade. »Ich weiß,« sagte Louis und schlang den Arm um die Schulter des Freundes, »der Prophet schreibt mir die muntersten Briefe, so als gäbe es für ihn keine Zensur; er ist jetzt im Militärhospital von Versailles, weil er im Fort Doullens Ischias bekommen haben will, und hofft, im Spätherbst meinen Londoner Kreis zu verschönern.« Conneau fand einen mager gewordenen, überaus eleganten und heiteren Louis, wohleingerichtet in einer kleinen Villa der vornehmen Kingstreet, und ein erstaunlich schönes Mädchen als seine Freundin. – Es ist, sagte sich der Arzt, als sei er vollkommen glücklich und als wollte er, daß es so bliebe.
»Louis,« sagte Conneau eines Tages, »Fräulein Vergeot leidet sehr unter Ihrem Schweigen.«
»Ich werde ihre Pension erhöhen und ihr später einen guten Mann verschaffen,« sagte Louis kalt, »mehr kann man in solchen Fällen nicht tun.«
Der Doktor sah ihn ernst an; er hielt ihn weder für undankbar noch für hartherzig, aber für eigennützig und, wenn es ihm ins Spiel paßte, für unaufrichtig und unbedenklich bis zum Selbstbetrug. Conneau liebte ihn zu sehr, um still sein zu können, nur weil der Freund nichts hören wollte. »Dann bin ich beinahe neugierig, Louis, wie weit Ihre neue Londoner Herzenskühle noch geht. Wann fahren Sie zum Beispiel nach Florenz?«
»Ich bekomme keinen Paß,« sagte Louis leise. »Oesterreich verweigert ihn mir ausdrücklich und selbst Leopold Toskana lehnt jede Sicherheit für meine Person ab.«
»Sie sind in Ihrem Leben schon ohne Paß und Freibrief gereist, Louis, und der gute Sohn, der Sie in Ham waren, sollte es sich leisten, im Notfall den Bart ein zweites Mal abzurasieren.«
»Ich will nicht, Conneau.«
»Und wenn Ihr Vater stirbt?«
»Meine Mutter starb sogar ohne ihren Mann. Was brauche ich Ihnen denn zu erklären, Conneau, Sie kennen doch meine schlechten Seiten zur Genüge. Warum quälen Sie mich eigentlich?«
»Weil ich nicht glauben kann, daß Sie hier an Ihrem Ziel angelangt sind.«
»Das bin ich auch nicht, mein Lieber, London ist nicht Ziel, sondern Etappe.« Er mußte lächeln, weil er an Alfred d'Orsays ähnliches Gleichnis dachte.
»Also Sie arbeiten hier auch politisch?« fragte Conneau.
»Nein,« antwortete Louis und drückte den Arm des Freundes, »nein, mein Aristides, ich lasse Herrn Louis Blanc arbeiten und habe sowohl dem französischen Botschafter als auch dem englischen Premier die Erklärung abgegeben, mich jeder politischen Tätigkeit zu enthalten. Ich amüsiere mich hier nur.«
Wahrhaftig, warum wollte ihn der Quäker in das Purgatorium zurückzerren – nur wegen des Herzensanstandes, den er um keinen Preis an dem geliebten Menschen vermissen wollte? Die sauberen Freunde wie Conneau und Le Bas wurden immer anspruchsvoll, wenn es um seine Seele ging. Ach seine Seele, um die es ihm nicht viel zu tun war und immer weniger, je geringer er die Menschen achtete! Wer war denn seine Seele wert? Die Nation, die er sich heillos erobern mußte? Dieses Leben, das mit ihm böse umging, wenn er seelenvoll war, und das es ihm leicht machte, wenn er leicht wog? Jetzt ging es ihm gut, seitdem er aus den Jahreszentnern der Zitadelle in den leichten Junihimmel gestiegen war. Baring Brothers, die unerschütterlich an ihn glaubten und für die seine Flucht so etwas wie der Beweis seiner kaufmännische Bonität war, der erwartete Phönix der Konjunktur aus dem leidigen Bankerott von Ham, eröffneten ihm einen Kredit von fünftausend Pfund jährlich, und Lyonel Rotschild bemühte sich über seine Pariser Verbindungen um die Auslösung oder Verwertung seines beschlagnahmten Vermögens. Er konnte gut leben, wenn auch gewiß nicht mit dem Aufwand der früheren Zeit und mit viel zu wenig Geld für die kostspieligen Zwecke der Politik. Er lebte gut, ohne Politik und zwanglos im Sternlicht der englischen Venus. Miss Howard war für ihn keine teure Frau und hob ihn doch, nur durch die Tatsache ihrer Freundschaft, in den Anschein von Reichtum. Das Eine tat seinen begrenzten Einkünften gut – und niemals doch ließ ihn die Dame die bedenkliche Ungleichheit ihrer wirtschaftlichen Lage fühlen –, das Andere nützte seinem Kredit. Erfreulich war ferner die nicht zu feste und nicht zu lockere Art ihrer Beziehung: Elizabeth, genannt Lizzy, übte keinen Zwang auf ihn aus, wie denn auch ihre marmorne Schönheit und die merkwürdige Scheuheit und vertrackte Unerfahrenheit ihrer Liebe nicht zwingend, sondern nur reizend war. Und als ob sie sein heftiges Bedenken in den Minuten vor der Begegnung gewußt hätte und zerstreuen wollte: sie hatte noch kein politisches Wort gesprochen, ja, sie kam ihm mit einer süßen, dummen Ahnungslosigkeit, als wäre Louis, vorgestellt als Napoleon, nur ihr Loulou. Er verlangte von ihr keine andere Art des Ehrgeizes, auch keine Treue, nicht die ausschließliche Hinwendung zu seiner Person und keine Aenderung ihrer Lebensweise. Er verlangte es nicht ausdrücklich, weil solche Gespräche garnicht geführt wurden: er kümmerte sich nur um sie, wenn sie beisammen waren, zweimal, dreimal in der Woche. Das Verhältnis schien so, wie er es sich wünschte. Daß sich allmählich zwischen den beiden Geschäftspartnern der Oxfordstreet Unstimmigkeiten ergaben, weil sich die Venus ihrer Verpflichtung entzog und dafür einen abweisenden Hochmut stellte, der von Mr. Young-Fitz-Roy für vertragswidrig und umsatzschädlich erklärt wurde, wußte Louis nicht.
Plötzlich, Ende September, kapitulierte in Florenz Louis-Vater nach fünfzigjähriger Belagerung durch die Krankheit, achtundsechzig Jahre alt. Das ist immer eine Art Heldentum, auch wenn man nicht gekämpft hat, sondern nur wie eine zähe Schnecke in dem angewachsenen Haus des Leids und der Unbill hocken blieb. Und nicht das boshafte Leben war endlicher Sieger, sondern der Tod, der jenseits von Haß und Liebe steht.
Louis reichte stumm die Depesche dem Doktor Conneau. Der Freund las sie, sah ihn an und sagte nichts. Er kondolierte auch nicht. Das Schweigen war drückend.
»Als der Kaiser starb,« sprach Louis endlich, »war ich ein dreizehnjähriger Gymnasiast in Augsburg. Mein Lehrer Le Bas bracht es mir wunderbar sanft und sachte bei. Ich wußte, daß das Ereignis von mir eine sichtbare Erschütterung verlangte. Doch die Tränen kamen nicht pünktlich. Ich ging ins Schlafzimmer und flatterte mit den Schultern, damit Le Bas meinte, ich weine schon. Ich legte mich aufs Bett und weinte wirklich, nur weil ich Le Bas liebte und ihm verweinte Augen zeigen wollte. Aber Le Bas verlangte es garnicht, er verlangte das Gegenteil: die Aufrichtigkeit, die mir immer schon schwer fiel. – Was verlangen Sie jetzt eigentlich von mir, Conneau?«
»Nichts,« antwortete Conneau traurig, »ich bin kein Lehrer und Sie sind kein Schüler. Ich habe nichts zu verlangen, weder Aufrichtigkeit noch Reue.«
»Ich bereue nichts,« sagte Louis und sah ihn müde an, »ich habe nichts zu bereuen, so wenig wie der Verstorbene etwas zu bereuen hatte. Wir waren schon lange quitt. Ich wollte nach Florenz, um aus Ham herauszukommen. Er wollte damals nicht nach Arenenberg, weil er lieber bei seiner Florentinerin war als bei der fremden sterbenden Hortense und bei ihrem fremden Sohn. Ich bin nur der Sohn meiner Mutter gewesen, der Sohn des Verstorbenen starb Anno Einunddreißig in Forli – ich denke ungern daran, und sein Vater hat mir diesen Tod so wenig vergeben wie meine Existenz, trotzdem ich an beiden unschuldig bin. – Jetzt haben Sie wenigstens meine Aufrichtigkeit, Conneau.«
Der Arzt antwortete nicht und senkte das Gesicht. Vielleicht kannte er das Lied vom falschen Louis schon lange.
Doch Louis-Vater, der Exkönig, gab dem Herzen seines Sohnes noch einen posthumen Stoß. Sein Testament bestimmte Louis zum Universalerben, »den einzigen Sohn, der mir geblieben ist, als Zeugnis meiner Zärtlichkeit.« War es Einsehen und die beinahe tragische Enthüllung des Gefühls oder war es die allerletzte Bosheit seines rechthaberischen und ahnungsreichen Geistes? Er war ein reicher Mann – wurde Louis jetzt reich, konnte er fürstlich leben und eine mächtige politische Propaganda entfalten? Nein, es blieb, wie es war. Das Testament verfügte unzählige Legate an alle Mitglieder der Familie, und jedes Legat betrug zweihunderttausend Francs, der Rest des Barvermögens und die Immobilien verblieben der Witwe zur Nutznießung: Louis bekam seine Orden und seine Kaiserreliquien, die verhaßten Dinge.
»Der Sieg über mich,« sagte Louis zu Conneau, »ist sein einziger Sieg und billig obendrein.«
Die schöne Lizzy Howard übernahm die Hoftrauer, ungefragt und ungebeten, trug wundervolle schwarze Kleider und eine Kette schwarzer Perlen um den weißen Hals.
Dann erschien der Prophet, rotbäckig und dramatisch. Er blieb in der Tür stehen und griff rechts und links an die Pfosten, als lähmte die Freude seine Beine, er griff sich ans Herz, als bedrohte der Tod den Marathonläufer am Ziel. Louis lächelte. Persigny stürzte in seine Arme, nein, er fing sich im letzten Augenblick auf, ob aus Respekt, ob aus Zweifel an der seligen Wirklichkeit des Wiedersehens – und siehe, seine Augen füllten sich mit Tränen, mit männlichen Tränen, die kostbar waren, weil sie selten sind. Louis küßte ihn vergnügt auf beide Wangen. Der Mann war ein Wunder an Temperament und notwendig für ihn wie der Wind für das Segel. Persigny erledigte die empfindsamen Exerzitien mit der alten Schnelligkeit, Erschütterung und Sprachlosigkeit verflogen im Nu, die Augen waren schon wieder trocken und die Flut der Worte schoß durch den eilends durchstochenen Damm der geballten Rührung. Er war durch seine sechs Zitadellenjahre hindurchgegangen wie durch ein enges, aber nicht auswegloses Tal, er schien von ihnen weder gedrückt noch gezeichnet, er barst vor Zuversicht und Unternehmungslust und strotzte vor Informationen. Die Zeit marschiere genau in die rechte Richtung, als habe der liebe Gott selber ein Interesse an der Aenderung der Verhältnisse. Das Mißverhältnis zwischen der Baucharistokratie und den Hungermassen werde immer krasser, der König und Guizot, blind und taub, stützten sich immer hartnäckiger auf die unechte parlamentarische Mehrheit, deren Opposition jetzt schon von der radikalen Linken der bürgerlichen Republikaner über die dynastische Linke des bedeutenden Odilon Barrot und das linke Zentrum des gefährlichen Herrn Thiers bis zur legitimistischen Rechten des großen Rhetors Berryer reiche. Aber diese Opposition werde immer zu schwach bleiben, wie denn überhaupt der bonapartistische Blick nicht auf das Parlament, sondern auf die Hungermasse und ihre Agitatoren zu richten sei, auf die radikalsozialistischen Programmatiker, die den Umsturzhebel ansetzen.
»Ich kenne Herrn Blanc,« bemerkte Louis, »er kann mich nicht leiden.«
Persigny war etwas aus dem Konzept gebracht. »Das braucht ja nicht endgültig zu sein,« meinte er dann; »wir werden ihm eine andere Meinung beibringen.«
»Warum denn?« fragte Louis.
»Warum?« erhitzte sich der Prophet; »weil wir uns seiner Bewegung anhängen müssen.«
»Ich bin anderer Meinung,« sagte Louis freundlich, »ich halte nämlich nicht viel davon und ich hänge mich an keine Bewegung, die im Sande verlaufen oder im Blut ertrinken wird.«
»Um das zu verhüten,« rief Persigny, »müssen wir eben dabei sein!«
»Wenn wir dabei sind, lieber Freund, haben wir ihr Schicksal zu teilen, und um das Schicksal zu lenken, sind wir nicht stark genug.«
»Wir müssen eben stark werden!«
»Dazu fehlen uns die Mitteln.«
Der Prophet blitzte ihn mit den Stieräuglein an. »Ihr hochseliger Herr Vater hinterließ Ihnen ein Vermögen, Sire, das der großen Sache nutzbar gemacht werden kann.«
»Leider nicht,« meinte Louis mit Ruhe, »außerdem habe ich der französischen Regierung zugesagt, nicht gegen sie zu arbeiten.«
»Sire!« schrie der Prophet und bekam einen roten Kopf, »Sie haben die heilige Verpflichtung Ihres Namens! Da bin ich und da ist Laity und Vaudrey und da sind die Kämpfer und Märtyrer von Straßburg und Boulogne und wir alle warten!«
»Ich warte auch,« sagte Louis freundlich.
»Worauf, wenn Sie doch passiv bleiben wollen – worauf?«
»Auf die Revolution.«
»Die Revolution wartet auf Sie!«
»Das wäre dumm von ihr,« lächelte Louis, »und das ist auch nicht richtig. Das wissen Sie selber so gut wie ich. Wir werden uns nur über das Gesetz der Kausalität nicht einig.«
»Und Sie tun hier nichts, Sire?«
»Doch, Herr Vicomte, ich amüsiere mich.«
Die politischen Spannungen eines Volkes sind fast immer untergründig und zweideutig und die Aeußerungen des gespannten Staatskörpers entsprechen selten der innewohnenden Unruhe. Die einen schreien, daß die Qual unerträglich sei, die anderen schwören, daß alles zum Besten stünde. Daß die Wandlung der inneren zur äußeren Unruhe dämonisch, also unberechenbar ist, die Sprengkraft nicht abzuschätzen, der Augenblick der Explosion nicht festzusetzen, ergibt den erregenden und bedenklichen Schwebezustand kritischer Zeiten. Die Masse hält mehr aus als der einzelne und die politischen Spannungen sind dehnbarer als die persönlichen. Es war eine große Klugheit von Louis, daß er sich auf keinen Termin einließ und dadurch die persönliche Spannung aufgeben konnte. Er übte zum ersten Mal Geduld, ohne sie zu merken. Die Geduld war kein Nessushemd mehr, sondern kaum zu spüren und angenehm zu tragen wie ein Anzug des illustren Herrenschneiders Staub. Dieses Jahr verging und das nächste verging, das siebenundvierzigste des Jahrhunderts: das Seil der alten Staatsordnung hielt immer noch. Die einen schrien, es werde für alle Zukunft halten; aber das glaubten sie selber nicht, vielleicht mit Ausnahme des alten Königs, der nicht mehr über seinen Bauch hinweg zu sehen wünschte. Die anderen schrien, jetzt sei es am Zerreißen und die Spannung von der äußersten, von der sprengenden Kraft; aber das schrien sie schon seit sieben Jahren oder sogar seit der Julirevolution. Und die Wetterzeichen? jene »Reformbankette,« die seit dem Sommer im Mode kamen, halböffentliche Nebenparlamente, in denen die bürgerlichen Republikaner, die »Blauen«, das himmelblaue Staatsparadies schilderten und die Radikalsozialisten, die »Roten,« die blutigrote Staatsrevolution predigten?
»Die beiden Umsturzfarben zanken sich jetzt schon,« sagte Louis; »es wäre die vollendete Ironie der Zeitgeschichte, disputierten sie sich zu Tode, ehe sie ihren Umsturz zum Leben erweckt haben.«
»Und was hätten wir davon?« fragte Persigny.
»Garnichts,« entgegnete Louis; »aber es wird nicht so weit kommen, weil es kritischen Zeiten an Ironie zu fehlen pflegt. Haben Sie nicht schon bemerkt, Persigny, daß gerade in geladenen Zeiten selbst Lächerlichkeit nicht tötet?«
»Nein,« antwortete der Prophet, den die Louis'sche Geschichtsphilosophie irritierte, »ich verstehe davon nichts.«
»Aber ich bin doch selber ein Beweis dafür,« lachte Louis, »denken Sie nur nach!« Persigny dachte nicht nach und zupfte gereizt an den Backenbartbüscheln. Louis lenkte ein: »Nun ja, Ironie ist eine Frage des Abstandes und Aufregung kommt aus der groben Nähe der Ereignisse. Hier in meiner Londoner Seelenruhe kann ich gut sagen, daß ich an Stelle des Königs die Blauen und die Roten so listig gegeneinander brächte, daß sie sich selber aus der Welt schafften und eine ungeborene Revolution zurückließen.«
Diese Londoner Seelenruhe! Persigny war ein zu kluger Mann, um ihren Sinn und ihren Wert nicht begreifen zu lernen. Er war auch ein zu großer Freund des schönen Lebens, um die Annehmlichkeiten des Londoner Daseins zu verachten; und allein schon die alte heftige Bewunderung für den maßgeblichen Stil des Alfred d'Orsay und der Drang zur schulgerechten Nachahmung füllte den Tag aus. Aber seine agitatorische Seele drängte in gewissen Abständen immer wieder ins Bewußtsein, und dann war es immer die quälende Mahnung des politischen Gewissens: wenn wir nichts tun, kommen wir nicht weiter – wenn wir uns nicht rühren, kommen wir nicht mit!
»Wir sind nicht da, Sire, wir geben keinen Laut von uns – man vergißt uns!«
»Sollen wir noch eine Farbe und noch eine Phantasmagorie in die Debatte werfen?« fragte Louis.
»Wir sollten eine Politik verfolgen – eine spürbare, eine konkrete Politik.«
Louis legte sich bequem in den Sessel zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er war nicht aus seiner gleichmütigen Philosophie zu bringen. (Wenn es nur nicht intellektuelle Bequemlichkeit und schließlich Lethargie wird! ängstigte sich Persigny in solchen Augenblicken.) Louis sprach in die Luft, mit geschlossenen Augen und hochgezogenen Brauen: »Wenn Sie konkret sagen, alter Regisseur, meinen Sie allegorisch. Miss Howard will mir mit einemmal wieder einen Tiger schenken, trotzdem der von Carlton-House nur ein Tigerchen war: hoffentlich haben Sie ihr nicht diese Allegorie in das törichte Köpfchen gesetzt …«
»Die schönste Frau!« brach der Prophet los, der grenzenlos in sie verliebt war, »die blondeste Freia …«
»Ja,« beendigte Louis das Preislied mit einer Handbewegung, »und es gibt sogar eine politische Allegorie, die meine einmal spürbare, einmal konkrete Politik enthält. Sie stammt von Camille Desmoulins, den ich so liebe, wie mein Le Bas seinen Robespierre, trotzdem er zu viel Lyriker für einen Jakobiner war und trotzdem ich weder Lyriker noch Jakobiner bin. Der Ausspruch allerdings lautete unlyrisch und aufregend realpolitisch: die Revolution, wie Saturn, frißt ihre eigenen Kinder. Da haben Sie meine kannibalische Politik, lieber Freund, da haben Sie den Teufelskern meiner englischen Geduld. Ich warte nicht nur auf die Revolution, ich warte noch länger: bis die Revolution ihre Kinder gefressen hat oder ihre Eltern – denn das ist gleich, weil in der dämonischen Morphologie der Revolution ihre Eltern, so wie sie geboren ist, zu ihren Kindern werden – bis die Revolution die Roten und die Blauen gefressen hat, die Roten zuerst, weil Blut ihr besser schmeckt als Luft.«
Der Prophet war stumm und sah den leisen Sprecher an. Louis hielt jetzt seine Zigarre aufrecht zwischen Daumen und Zeigefinger, damit die Asche nicht abfalle, ließ den Rauch abwechselnd aus dem gespitzten Mund und den langen schmalen Nasenlöchern entweichen und sah vollkommen friedlich und sehr schläfrig aus. Es kamen hin und wieder Augenblicke, wie dieser, wo Persigny, der Loyola, der starke Mann, der ewige Rufer im Streit, stumm vor seinem undeutlichen Kaiser saß und einen kalten Rücken bekam.
»Und dann?« fragte er endlich.
»Um einer satten Schlange den Kopf zu zertreten, braucht es nicht einmal die berühmten hohen Kriegsgottstiefeln.«
»Nein,« bohrte Persigny, vielleicht weil er glaubte, eine günstige Minute erwischt zu haben, »nein; denn dann können es auch andere Stiefel sein, nicht Ihre.«
Louis wandte ihm den Kopf zu. »Dann werde ich da sein.«
»Dann muß Ihnen schon Platz geschaffen sein, Sire, sonst sind Sie eben nicht da. Glauben Sie denn, daß eine Bewegung, die die andere auffangen und ablösen soll, aus dem Nichts und im Nu geschaffen werden kann?«
»Meine Aktivität beginnt mit der Revolution,« sagte Louis, »vorher kann ich sie mir nicht leisten.«
»Das Tempo einer Revolution ist bekanntlich nicht zu berechnen und Sie könnten zu spät kommen. Es ist ein Jammer, daß Sie den Wert der Vorarbeiten unterschätzen, Sire.«
»Ich unterschätze sie nicht,« sprach Louis müde, »aber ich habe nicht die Mittel dazu, wie Sie wissen. Ich kann erst va-banque spielen, wenn ich weiß, was in der Bank steht.«
Jetzt griff der Prophet an, er hatte ihn so weit, er war wahrlich nicht unvorbereitet, nein, er lebte nicht allein als vorbildlicher Gentleman in London, er schaffte für die Idee, auch wenn es selbst der Träger der Idee nicht merkte. »Die Mittel,« sagte er verdächtig leise und etwas kurzatmig, »die Mittel könnten beschafft werden.« Louis blinzelte ihn an, kniff die Lippen ein und schwieg. »Die Mittel,« schnaubte der Prophet und sah auf seine Beinkleider, »ständen Ihnen zur Verfügung, Sire, – von einer Ihnen sehr nahestehenden Seite …«
Persigny schlug die Augen nicht auf; denn man konnte nicht wissen, was für einen Blick man traf. Man konnte allerdings auch nicht wissen, was für eine Antwort die Ohren zu hören bekommen würden. Doch Louis entgegnete mit ganz ruhiger Stimme: »Sollten Sie Miss Howard meinen, Herr Persigny, so darf ich Sie auf den Umstand aufmerksam machen, daß die Dame ihr Vermögen teils durch das gewerbsmäßige Bett teils durch gewerbsmäßiges Glücksspiel erworben hat. Vielleicht erwecken diese Tatsachen selbst bei einem so unbefangenen Geist wie dem Ihren gewisse Bedenken.«
»Nein!« rief Herr Persigny, »nein! Denn die Idee ist der heilige Zweck, dessen Flamme jedes Mittel sauber brennt!«
Das war die echte Sprache des Propheten, sie machte ihn kühn, wie sie es immer tat, und er hob den Kopf. Doch Louis' Blick aus den halbverhängten Augen war so böse und maßlos hochmütig, daß er bekümmert und gekränkt die Schultern hob und den Rückzug antrat: »Es war ja nur ein gutgemeinter Vorschlag, Sire.«
»Gewiß,« sagte Louis und die Asche seiner Zigarre fiel auf den Teppich.
Die Revolution kam über Nacht. Ihr Jahr Achtundvierzig hing noch ganz jung und unerfahren an dem alten, gespannten und immer noch respektablen Seil. Die Revolution kam nicht mit Blitz und Donner, sondern als tückisches und beinahe lautloses Beben, das von unten die Stadt Paris packte, zunächst nur ein paar Straßen des Zentrums aufriß und aus den Spalten die Barrikaden stieß. Dieser erste Stoß geschah schon in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar und war die unvermutete rote Antwort auf das Regierungsdekret des Tages, das das blaurepublikanische Reformbankett des zwölften Bezirks verbot, ein schönes Bankett und einen schönen Festzug. (Welche Dummheit, philosophierte Louis aus der seelenruhigen Entfernung, circenses zu verbieten, wenn man schon nicht panem geben kann!) Plötzlich riß das alte Spannseil und das junge Achtundvierzig geriet in das große, wilde Taumeln. Zunächst kamen, wie bei allen politischen Eruptionen, die Veitstänze derer, gegen die der Stoß gerichtet war und die sich verzweifelt auf den Füßen halten wollten. Der König tanzte mit wogendem Bauch und geprelltem Herzen auf den unverschämten Wellen des 22. Februar, der alles aufschüttelte, selbst die Nationalgarde und ihre Meuterschreie. Wenn die Wölfe hinter dir heulen, wirfst du ihnen deinen Mantel hin, damit sie nicht dich fressen. Der König warf seinen Guizot in den Brüllrachen, präsentierte den vornehmen Mole und versprach, die Opposition ins Kabinett zu nehmen, zur Anbahnung der Reformen. Das sind die immer gleichen Figuren des Verzweiflungstanzes. Aber die Erde bebt viel heftiger und die Geschüttelten kommen mit ihren Sprüngen niemals mit. Die Ostquartiere und die Innenstadt waren bereits im revolutionären Schwung. Die Revolution tanzt immer aus der Reihe. Am Abend des 23. Februar ergoß sich vom Faubourg Saint Antoine, ewigem Quell der Unruhen, der Strom der Demonstranten über die Boulevards. Noch war es nur der Aufruhr der Fackeln und der Marseillaise, noch war es der mänadische, noch nicht der mörderische Zug der Revolution. Noch fiel nicht der unbekannte Schuß. – Immer ist ein großes Geheimnis um den ersten Schuß, um den Knall der dicken Luft, die zwischen der Erhebung und dem Umsturz steht, zwischen Lust und Wut der Masse. Der erste Schuß hat den Teufel in sich; denn man weiß niemals, woher er kommt, und muß immer erfahren, daß er genau zu seiner tragischen Zeit gekommen ist. Der Teufel schießt den ersten Schuß der Revolution und es geht ihm nicht ums Treffen, sondern um den Schrecken. Der rechte Augenblick wird getroffen, die letzte Hemmung wird erschossen. Der Teufel ist erfahren wie das Schicksal: das Morden besorgen die Menschen immer selber. – Die Marseillaise und die Fackeln flattern über den Boulevard des Capucines vor das Außenministerium. Dort steht Militär. Dort fällt der unbekannte Schuß, er kann nicht teuflischer fallen. Das Militär antwortet mit der scharfen Salve. Das Volk antwortet den Karren, die mit den gestapelten Körpern der Erschossenen durch die Nachtstraßen poltern, mit der großen, roten Wut, mit der Revolution. Die bebende Erde wirft Barrikade um Barrikade auf, der neue Tag kommt, der 24. Februar, und sieht die Straßenrisse besetzt und bewehrt von der großen Wut, die geladenen Risse springen vor, das Militär, von der Nationalgarde nicht unterstützt und von allen guten Geistern des Volkes verlassen, geht zurück oder geht über, die politische Erde weiß, was sie will, und wirft sich gegen die Tuilerien vor, Barrikade um Barrikade, der alte König tanzt immer noch, Molé entlassen, Thiers bestellt, der kluge, der gefährliche, mit allen Wassern gewaschene Thiers, die Kammer aufgelöst. Versprechungen, Neuwahlen, Versprechungen: was wollt ihr noch mehr? –
Abdankung!
Es wird nicht mehr geschossen, es wird nur noch geschrien. Der Schrei, wie ein großer Wolf, springt von Barrikade zu Barrikade, er kennt die Richtung, er hat die Witterung, und dann springt er in die Tuilerien. Der König ist müde und alt und plötzlich arm. Er hat keinen Mantel mehr zum Hinwerfen.
Abdankung! Das ist immer das Ende vom Lied.
Das war der Anfang vom Lied und der Prophet psalmodierte ihn mit Hosianna. Louis war still und gelb. Er war überrascht und auch erregt, die Galle stach leise. Er hatte sich auf noch längeres Warten eingerichtet, seine Skepsis gegen die abgespielten Weissagungen vom Ende des Regimes war groß gewesen. Er hatte sich gut eingerichtet und war des Londoner Junihimmels, den er sich mit einem geschickten Aufgebot von Illusionen und Gelassenheiten über die beiden letzten Jahre gezogen hatte, immer noch nicht müde. Das war nun zu Ende, das Revolutionsgewitter schlug in seine himmelblaue Seelenruhe, plötzlich, heftig, krachend und peinlich großartig, ganz auf seines Propheten Manier, die er nicht ausstehen konnte. Ja, die Verkündigung des lärmenden und großpurigen Erzengels tat ihm weh, die Galle rührte sich – und wenn es im Grunde die Londoner Bequemlichkeit war, die den Revolutionsschlag empfing –: wie wagte es der taktlose Mann, mit der Depesche in die Oxfordstreet zu stürmen? Lizzy Howard bekam heiße Wangen und blanke Augen und sah noch schöner aus. Louis hatte zu ihr über jenes fatale Angebot Persignys kein Wort verloren und niemals ein politisches Gespräch zugelassen; aber er konnte sich vorstellen, daß der Prophet bei ihr das Versäumte nachholte. Louis sah schnell auf. Sie stand in Flammen und nahm seinen Blick für eine Aufmunterung, trotzdem es doch ein abweisender Blick war. »My dear, my dear …« flüsterte sie glücklich und hob ihre wunderschönen Hände. Er fand sie maßlos töricht. Er dachte: wenn jetzt noch der Manager Young-Fitz-Roy seinen Geierkopf ins Zimmer steckt, habe ich die Paten meiner großen Zeit beisammen.
»Die haute couture,« sagte Louis höflich zu ihr, »hat nichts zu befürchten, sie ist revolutionsfest, regen Sie sich nicht auf, Madame, Ihre Modefirmen in der rue de la Paix überdauern Staatsformen.«
Sie sah ihn fassungslos an. Das war kein Ausspruch von Napoleon. Persigny bekam einen roten Kopf.
»Warum wollen Sie Miss Howard an dem großen Augenblick nicht teilnehmen lassen, Sire,« fragte er gekränkt, »wenn jemand Vertrauen verdient, so ist sie es.«
»O ja! O ja!« versicherte Lizzy mit ihrem hohen Kinderstimmchen.
»Nehmen Sie teil, mon ange,« rief Louis und konnte nicht einmal mehr lächeln, »nehmen Sie alle teil, lassen Sie Herrn Young-Fitz-Roy eine Ehrenbank für den großen Augenblick auflegen! Vielleicht gewinnt er!«
Der Prophet verstand keinen Spaß, doch er erkannte wie kein zweiter den Wutfunken in Louis' Nebelaugen. Der Augenblick war nicht groß, sondern peinlich. Miss Howard blieb ahnungslos, Persigny war nicht nur Kavalier, sondern hatte auch seine ganz bestimmte Vorstellung von der Bedeutung der Frau für die Sache. Er tat jetzt etwas Ungewöhnliches, um ihretwillen: er lachte über Louis' guten Witz und nannte ihn auch einen guten Witz. Lizzy lachte mit, hell und unschuldig, Louis zog die Brauen hoch.
»Und wann gehst du jetzt nach Frankreich?« fragte das törichte Mädchen.
Louis wußte es nicht, nein, er wußte es nicht. Die Frage, die die Revolution herübergeschleudert hatte und die ihn schon auf der Haut brannte, klang aus Lizzys Mund ganz fremd und sogar dumm.
»Du lieber Gott ….« machte er und hob die Schultern.
»Morgen,« antwortete der Prophet, »morgen, weil es heute nacht nicht mehr möglich ist, morgen mit dem Folkestone-Frühzug.«
Louis wandte ihm langsam das Gesicht zu; aber er widersprach ihm nicht. Er sagte nur: »Ein sehr früher Zug, fürchte ich.«
»O nein,« sagte Persigny mit den Stieräuglein; »denn da gibt es in Paris bereits einen jungen Napoleon, der sich mit den neuen Männern heftig anbiedert.«
»Leon?« fragte Louis leise und sonderbar hastig; und das verschliffene Hurengesicht der echten Illegitimität stieg aus der Versenkung, drohend und widerlich.
Persigny lachte auf: »Himmel – nein! – Der Plonplon.«
Der Bengel Plonplon, der kleine Bruder der flüchtigen Arenenberger Braut Mathilde, die inzwischen durch eine schaurige Ehe mit dem Millionenprotz Demidoff hatte spießrutenlaufen müssen … »Der Bengel Plonplon,« sagte Louis hochmütig, »verlohnt die Eile wahrhaftig nicht.«
»Die Revolution verlohnt sie!« rief Persigny streng.
»Die Republik?« fragte Louis giftig, »oder welche Staatsform wird im Augenblick drüben gehandelt, Herr Graf?«
»Ja – die Republik!« rief der Prophet wild und sein Gesicht war schief vor Energie, »es gibt für uns keine bessere Form als die leere Republik!«
»Die leere Republik …« wiederholte Louis leise und sein Prophet gefiel ihm, trotz allem.
Lizzy Howard hatte nicht zugehört, weil es sie wenig interessierte und weil sie mit eigenen Gedanken stark beschäftigt war. Sie lag auf einer Couchette, schöner als Frau Recamier, die in der gleichen berühmten Stellung goldumrahmt an der Wand hing, und ihre schlanken Finger spielten ruhelos mit der Perlenkette. Jetzt stand sie auf, ging ganz dicht an Louis heran, so dicht, daß ihr Körper ihn berührte – und sie war ein wenig größer als er –, hielt den Engelskopf schief und zwitscherte süß: »Bitte, Loulou, bitte – nimm mich mit!«
»Wie bitte!« fragte Louis langsam und grausam zurück, und sein Gesicht war mit einemmal so unnahbar, so fern, so kalt, so unbekannt, daß sie zurückwich und die Augen schnell in Tränen tauchte. Die Tränen standen ihr bezaubernd, sie machten die Augen noch größer, noch blanker, hilfloser, rührender und die langen, dunklen Wimpern noch länger, noch dunkler, jeder Wimper einzeln schmeichelnd. Aber Louis sah selbst die Tränen nicht, er sah an ihr vorbei. Sie drehte sich um, ging hinaus und ließ ein weinendes Tönchen hören, wie von einem silbernen Glöckchen.
Der Prophet sah den Unempfindlichen stumm und vorwurfsvoll an. Dann ging er der Göttin nach. Er war ein Kavalier und sehr in sie verliebt und hatte sowieso mit ihr zu reden.
Irgendwo zwischen der Küste und Amiens kreuzt die alte Landstraße den neuen Schienenstrang, und weil es plötzlich so war, daß das Alte vor dem Neuen zu warten hatte und daß das Alte schwach und das Neue stark war, nichts auf seinem Weg duldete und jedes Hindernis schnaubend überfuhr, mußte die Reisekutsche warten, bis die Eisenbahn vorbei war. Der Wagen fuhr zur Küste, der Zug nach Paris und kein Fahrzeug schien das andere um sein Ziel zu beneiden. In der Kutsche saß der alte Louis Philipp, und wenn nicht alles täuscht, hielt er in der Hand den Regenschirm. In der Eisenbahn saß Louis, kein junger Mann mehr, vom Leben sonderbar behandelt, nicht grob und nicht sanft, nicht gerecht und nicht ungerecht, und dennoch das Leben sehr viel höher schätzend als die Menschen. Das hatte auch der alte Louis Philipp getan; jetzt war er müde, und die Geringschätzung des Lebens und der Menschen hielt sich bald die Waage. Der Eine ging, der Andere kam. Der eine war besiegt, der andere noch kein Sieger, ganz gewiß noch kein Sieger. Keiner wußte es besser als Louis, der sich abgespannt in seine Ecke drückte, die Augen schloß, wie er es gerne tat, und dessen Nerven nicht einmal Lärm und Stoß des neuen, unerfahrenen, rücksichtslosen Waggons besiegen konnten. Die schwarze Magie des Geduld duldete keinen billigen und klobigen Triumph. Beide waren Adepten der Geduld, der Alte und der Neue. Das mag der Grund sein, daß sie sich nicht viel anhaben konnten und an der entscheidenden Stelle, bei der Begegnung des sicheren Unterganges und des unsicheren Aufganges, aneinander vorbeifuhren. Die Geduld ist kein Glücksrad; aber sie dreht sich doch, sie drehte sich an dieser namenlosen Kreuzung, und selbst die beiden Eingeweihten merkten es nicht. Das tiefsinnige Spiel dauerte nur eine ratternde, fauchende, stählern klopfende Sekunde. Es war zu fein, um einem Menschen bewußt zu werden. Es lag dem Spiel auch nichts daran.
Louis und Persigny kamen in den Abendstunden an und nahmen an der Barriere St. Denis einen Fiaker. Der Wagen polterte die breite Faubourgstraße hinauf. Es war ein rädernder Poltertag gewesen, das englische Dampfboot polterte, die französische Eisenbahn polterte und jetzt polterte die Pariser Droschke. Louis hatte Kopfschmerzen. Durch die nebeltrübe Klirrscheibe schlugen in regelmäßigen Abständen die matten Lichtbalken der Gaslaternen. Das war alles, das war Paris. – O meine Einzüge, o meine cäsarischen Einzüge! – Louis lachte lautlos mit geschlossenen Augen. In wieviel Städte schon war er eingezogen, mit Bart, ohne Bart, mit falschem Paß, ohne Paß, meistens nachts, wie der Dieb in der Nacht! Und das hier, hinter der blinden und aufgeregten Fensterscheibe, war seine Hauptstadt Paris, da waren Häuser, Menschen und die Revolution, die ihn nicht gerufen hatte. Er sah sie nicht und sie sah ihn nicht. Er kannte seine Hauptstadt nicht: was er Anno Einunddreißig kennen gelernt hatte, hatte er vergessen. Es war sein dritter Einzug in Paris, wahrscheinlich nicht der letzte, und er glich dem zweiten, vor acht Jahren, der auch von Boulogne ausging, auch des Nachts geschah, auch in blindem polterndem Wagen, und sicherlich auch diese lange Straße entlang fuhr, um zur Conciergerie zu kommen – und der Prophet neben ihm glich manchmal dem Gendarmerieoffizier. – Die Droschke hielt an der Porte St. Martin, der Schlag wurde geöffnet, man sah Nationalgardisten und wildbärtige Blusenmänner mit Gewehren. Es war ja Revolution. »Englishmen!« rief Persigny streng. Hinter den Revolutionären schwebte an einer nachtblinden Hauswand ein erleuchtetes Schild: Estaminet de Strasbourg. – Welch artiges und sinniges Willkomm, dachte Louis. Die Wagentür wurde zugeworfen, die Droschke bog nach rechts, rollte über den Boulevard Bonne Nouvelle – Louis wußte nicht, wie er hieß – und bog zu Anfang des Boulevard Poissonnière nach links in eine kleine, stille, dunkle Gasse. Das war die Rue du Sentier, in der Le Bas wohnte.
Der Professor war überrascht, gerührt und etwas ängstlich. »Zu früh, Louis, ich fürchte: zu früh …«
»Ich fürchte es auch,« sagte Louis und hing an seinen guten Augen; »aber mein Prophet ist ein Fürchtenichts und Frühaufsteher.«
»Wann und wo tagt morgen die Provisorische Regierung?« fragte Persigny, der bereits im Dienst war und für Privatgespräche nichts übrig hatte.
Le Bas sah ihn unfreundlich an. Es konnte nicht sein, daß diese beiden Männer sich verstanden. »Die Provisorische Regierung tagt in Permanenz,« antwortete er kurz.
»Der provisorische Eifer ist immer groß,« lächelte Louis.
»Und wo tagt sie?« fragte Persigny.
»Im Stadthaus,« sagte Le Bas.
»Wo anders,« fügte Louis hinzu, »als im alten Jakobineum des Eifers.«
Der Prophet strich mit dem Handrücken die Backenbartbüschel auseinander; es war eigentlich wie eine Geste des Sattseins, wie eine etwas rüde Nachtischbewegung; aber bei ihm war es das Zeichen der freßlustigen Energie. »Wir gehören wahrhaftig auch zu den Permanenten,« erklärte er überraschend, »wir sollten jetzt hingehen und es ihnen sagen.«
»Um elf Uhr nachts!« rief Le Bas.
»Die Permanenz sieht eben nicht nach der Uhr,« bedeutete Persigny, »und vielleicht gibt es keine wirksamere Stunde für den neuen Bonaparte, sich der neuen Republik zu Verfügung zu stellen, keinen schöneren Beweis auch für seine heilige Hast als diese Mitternacht.«
Le Bas sah ihn betroffen und wortlos an. Louis, an den wilden Mann gewöhnt, sagte ruhig: »Ich bin kein Gespenst, ich bin sogar müde.«
»Sire,« rief Persigny in schönem Schwung, »Sie ahnen nicht die Wirksamkeit einer solchen phantastischen Ueberrumplung, Sie ahnen nicht die Wirkung einer hingerissenen und hinreißenden Rede! Sire, Sie erreichen …«
»Ich ahne es nicht,« unterbrach Louis, »ich habe keine Phantasie, ich bin also kein Mitternachtsredner. Ich gehe nicht.«
»Gut,« sagte Persigny und stand auf, »dann gehe ich allein. Schreiben Sie bitte die Botschaft an die Republik, Sire, Bekenntnis und freudige Bereitschaft zur Mitarbeit, ein paar kurze, gute Sätze. Wenn Sie zu müde sind, diktiere ich sie gerne.«
Der Professor sah sprachlos von einem zum anderen. Was war das für ein Mensch, der über seine tollen Worte weder lachte noch sich schämte? Und lacht Louis, schämt er sich? Und was wird er jetzt tun?
»Darf ich einen Augenblick Ihren Schreibtisch benutzen, Le Bas?« fragte Louis freundlich.
Der Professor ging stumm ins Arbeitszimmer voraus. Auf dem bücherschweren Schreibtisch brannte noch die Lampe des reinen, stillen, anständigen Arbeitsabends. Le Bas schaffte Platz, legte reines weißes Papier auf das stille grüne Tuch der Schreibplatte und ging stumm hinaus. Louis setzte sich und schrieb.
Persigny hatte schon den Mantel an, einen fülligen, überaus modischen Reisemantel, der ihn breit und kurz machte. »Sie haben ja gar nichts gegessen,« sagte Le Bas, um etwas zu sagen, mit dem leise angewiderten Gesicht eines Schaubudengastes, der mit dem indischen Fakir spricht.
»Ich habe noch etwas Schokolade,« sagte der Fakir, »ich habe außerdem keinen Hunger, ich denke in solchen Stunden nicht ans Essen.«
Le Bas ließ ihn stehen und nahm eine Zeitung. Doch er las nicht; er dachte an Augsburg und Arenenberg, an seine frühen Niederlagen gegen das unheimliche Kind, das sie schon damals in die Watte seiner Zuneigung wickelte – wie lange schon, wie zäh und wie anhänglich an seine Person und sogar an seine Ideen ging der geliebte Feind den bösen Weg! Le Bas dachte an das Gespräch von Ham, das eine Drohung war und zum ersten Mal die Rüstung unter der Tarnkappe sehen ließ – ach, die Waffe schien Le Bas' und Louis Blancs Waffe aufs Haar zu gleichen: das machte damals schon die Drohung zur heillosen Gefahr. Und jetzt, in diesen Räumen seines sauberen Geistes und vernünftigen Lebens, kann der grobschlächtige Paladin das Wort »Sire« vor die schamlose republikanische Botschaft setzen, glatt und fugenlos, ohne das kleinste Stocken der flinken Zunge – und sein neuer Cäsar sitzt freundlich nebenan und schreibt sie … Le Bas' Zeitung zitterte.
Dann rief Louis: »Philipp!« Le Bas ging zu ihm, er reichte ihm das Briefblatt, das mit seinen dünnen, intelligenten, etwas windigen Schriftzügen bedeckt war. »Lesen Sie,« bat Louis.
»Warum?« fragte Le Bas gequält.
»Warum nicht?«
Le Bas las und sagte kein Wort. Hinter ihm stand schon der Prophet, nahm ihm den Brief aus der Hand, las ihn, nickte, faltete ihn zusammen, verwahrte ihn sorgsam in einer großen schweinsledernen Brieftasche und ging nach einigen bedeutsamen Worten. –
Louis und Le Bas saßen sich gegenüber, froh über den Abzug des wilden Mannes, und sahen sich an. Jeder fand den anderen gealtert und schob es der lauten Stunde zu, nicht der leisen Zeit. Jeder dachte sich seinen Teil vom anderen; beide liebten sich mit ihren Tugenden und Fehlern: aber der Schüler war mit dem Lehrer zufriedener als der Lehrer mit dem Schüler. Das war schon immer so.
»Sind Sie glücklich, Philipp?« fragte Louis plötzlich.
»Glücklich?«
»Nicht über mich,« lächelte Louis, »über die Revolution.«
»Man weiß noch nicht, was aus ihr wird,« sprach Le Bas und wurde feierlich; »aber ich fühle, was sie bedeuten kann, nicht nur für Frankreich, sondern für den ganzen Kontinent. Und weil ich es fühle, ja, weil ich es weiß, bin ich glücklich über sie. Ich weiß, daß dieses Jahr die reinste Flamme des Jahrhunderts ist, die Feuersäule des reinsten Geistes und des edelsten Willens, und daß sie aus der Mitte des Jahrhunderts schießt, aus dem Mittag, aus der Mannheit, aus der höchsten Kraft seines Lebens. Und darum wage ich nicht einmal, die furchtbare Säkularverantwortung, nein, die antichristliche Schuld der Gegenkräfte zu ermessen, die dieses Jahr verderben und sein Wunder entzaubern wollen.«
Louis preßte die Handflächen zusammen. »Meinen Sie wirklich mich damit?« fragte er leise.
Le Bas sah ihn mit dem Herzen an; denn das Herz war in seinen reinen Augen. »Ja,« antwortete er, »ich meine Sie und die Gegenkraft, die Ihr Name aus Ihrem Leben geschaffen hat. Ich verurteile Sie also nicht, Louis, ich verurteilte Sie nie; denn das Leben treibt, das Herz treibt nur mit. Aber ich, Louis, ich kann mich meines Revolutionsglückes nicht freuen, nicht erst seit heute abend. Ich kenne schon lange das Unglück meines Lebens – es ist mit der Liebe zu meiner Idee und zu Ihrer Person zu ungleich belastet, um nicht Schiffbruch zu erleiden – wenigstens den der Seele.«
Louis packte die Hand des Lehrers. »Warum Schiffbruch!« rief er in plötzlicher Verzweiflung. »Manchmal ist mir, als sei meine Seele schon lange ertrunken und als ging es auch ohne sie!«
Es war nach ein Uhr, als Persigny zurückkam. Er blieb in der Tür stehen und donnerte: »Es ist gut so! Es ist gut so! Jetzt kann ich mit der Arbeit beginnen! Jetzt habe ich die Basis des göttlichen und menschlichen Rechts!«
»Was brüllen Sie so fürchterlich?« fragte Louis empfindlich, »was ist gut so?«
Der Prophet hob die Arme. »Nach dreißig Jahren des Exils und der Verfolgungen ist das Heimatrecht verdient! Und wer nichts sein will als einfacher Soldat der republikanischen Armee, stellt das Vaterland über seine Person!«
»Was brüllen Sie das zu uns?« fragte Louis angewidert.
»Ich habe das zu den Männern der Revolution gebrüllt,« brüllte Persigny, »und die Blauen wurden noch blauer und die Roten noch röter und Herr Blanc war die harthörigste Rothaut …«
»Das überrascht mich nicht,« sagte Le Bas.
»Aber mich,« sagte Louis und dachte: ich habe ihn doch in Ham zum Abschied umarmt und ihm gebeten, mein Freund zu sein …
»Achtung!« schrie Persigny, »die Provisorische Regierung fordert den Bürger Louis Bonaparte auf, unverzüglich das Land wieder zu verlassen!«
»Morgen früh,« sagte Louis und nickte seinem Lehrer zu, müde lächelnd. Le Bas wurde rot, als habe auch er ihm unrecht getan.
»Ich bleibe natürlich hier,« sprach der Prophet ganz langsam, sehr bedeutsam, und stieß zum Ueberfluß bei jedem Wort den Zeigefinger abwärts.
Le Bas sah wieder von einem zum andern und wußte nicht mehr, wo das Recht und wo das Unrecht war.
Der Kontinent brannte in der gewaltigen Märzflamme. Die einen beteten das Himmelsfeuer an und schürten es, die anderen verfluchten das Höllenfeuer und wollten es löschen. In Paris schufen die Blauen, die Blauroten und die Roten der Provisorischen Regierung die Welt, die noch nicht da war – denn jede Revolution beginnt vor dem Schöpfungstag und setzt immer wieder den lieben Gott ab – und es gelang fast in den biblischen sechs Tagen, so leicht dekretierte sich das staatliche Menschenglück, und da man in Permanenz tagte und eifriger war als der Ewige, verzichtete man auf den Ruhetag und nutzte auch ihn für die Vollkommenheit. Einer unter den Schöpfern war weder blau noch rot, sondern farblos: das war der reine Geist, der ohne Farbe ist, der große Dichter mit dem edlen Gesicht, den edlen Versen und den edlen Reden. Er rettete die alten Farben der Trikolore vor dem gierigen Rot und gestattete nur die rote Rosette als Zusatz des neuen Weltblutes – aber auch das alte Blut war rot –, er wurde dadurch für einen Tag der populärste Mann des Reiches: und das war der schönste Tag seines wunderschönen Lebens. Er hielt durch das weitoffene Fenster seines lyrischen Außenministeriums die dichterischsten Reden von Menschenliebe und Weltfrieden, die je ein Außenminister an die Menschenwelt gerichtet hat. Aber der Kontinent brannte und dröhnte, den Menschen brannten die Augen und dröhnten die Ohren und sie schrien alle, entweder: Himmel! oder: Hölle! – mit Schüren oder Löschen beschäftigt.
Warum nur, fragten sich sehr bald die neuen Götter des alten Landes, warum nur entstehen zusammen mit uns gleich auch die Gegengötter und Dämonen und wo sind sie, wer sind sie? (Denn die Götter waren sichtbar, die Dämonen aber nicht.) Zugleich doch tat das Volk die tragisch grämliche Frage nach dem Erwachen aus dem Rausch, die immer nachträgliche und eben schon dämonische Frage: was ist Revolution? Und jede Gruppe beantwortete sie anders, je nach ihrem Hunger oder ihrer Sattheit. Jede Gruppe hatte ihre Revolution: einen Babelturm der Hoffnung. Es gab tausend Revolutionen, es gab tausend Enttäuschungen. Wie kann man enttäuscht sein? fragten sich die neuen Götter; denn wir wollen nicht nur das Beste, wir tun das Beste und vermögen alles, allmächtig wie wir sind. Waren also die Dämonen gar unter den Göttern? Sie begannen, sich mißtrauisch zu betrachten; denn sie waren ja nicht einer Farbe.
Da war der Volkstribun Louis Blanc, wichtigster Mann der Regierung, Evangelist des Rechtes auf Arbeit. Der große Plan der Verstaatlichung aller Fabriken und Unternehmungen war in sechs Schöpfungstagen nicht durchzuführen: so schuf er das Vorparadies der Nationalwerkstätten, und alle durften hinein, und alle strömten hinein, die Arbeitslosen, die Hungernden, die Desperados und die Nichtsnutze. Denn jeder bekam das Recht auf Arbeit, und das bedeutete täglich zwei Franken, wenn Arbeit da war, und anderthalb Franken, wenn nur das Arbeitsrecht da war und es sonst nichts zu tun gab. War es nicht das Paradies, wenn das Recht auf Arbeit fast so viel einbrachte wie das Arbeiten, und fügte es sich nicht gut in die neuerschaffene Welt, daß es immer mehr Recht auf Arbeit und immer weniger Arbeit gab? Ach warum fügte es sich nicht gut? Wo waren die Gegengötter, die plötzlich und furchtbar die Volkswirtschaft zerstörten, die Börse ruinierten, Aktien und Renten zersplitterten, den Einlegersturm auf zusammenbrechende Banken und Sparkassen hervorriefen, das Geld entwerteten und schon um die Märzmitte die armen, neuen Götter nötigten, sich durch Dekretierung eines Zwangskurses und eines gewaltigen Steuerzuschlages gänzlich unbeliebt zu machen? Wer waren die Dämonen, die die bürgerliche Opposition immer stärker machten, die Nationalgarde gegen die Arbeiterbataillone hetzten, die niemals ganz gewonnene Armee zu den Feinden der Revolution drängten und aus dem Göttergeschenk des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts im April eine konstituierende Nationalversammlung zusammenbrachten, in der die Blauen stärker waren als die Roten und die Antirepublikaner stärker als die immer mühseliger verkoppelten Blauen und Roten?
Alles wogte durcheinander: das Gute, das Böse und das Närrische. In dem Hexenkessel der großen Stadt kochten tausend geheimnisvolle Kräuter, die neuen Götter sahen vor Dämpfen nichts, ihre Allmacht nahm ab, ihre Uebersicht war niemals groß gewesen. Sie sahen nicht einmal, wie sich ihr einstmals reiner Sinn schon hier und da in den Unsinn überschlug, oder sie mußten tun, als sähen sie nicht die Erdarbeiten der Nationalwerkstätten, die hier eine große Grube und dort eine große Grube ausschaufelten und den Sand von einem Loch zum andern karrten, immer hin und her, bis der arbeitsrechtliche Zehnstundentag zur Neige ging. Es verging ihnen das Hören und Sehen; denn der Staatsbankerott ging um und vielleicht auch schon die Gegenrevolution.
Es ging vieles um, man achtete zunächst wenig auf diese oder jene Straßenpropaganda, die je nach dem Stadtviertel aus diesem oder jenem sozialen und politischen Lager kam und diese oder jene Revolution anpries. Man achtete auch nicht auf die Erzeugnisse einer eilfertigen Kleinindustrie, die aus der Aktualität billige und zumeist geschmacklose Emblemchen verfertigte und sie durch Hausierer vertrieb, durch Hausierpolitiker – denn in dieser rasend politisierten Zeit mußte jeder Marktschreier den Danton machen – durch Straßenparlamentarier mit Parteistandpunkt, Angriff und Abwehr, durch Brüllhälse vor allem: und man konnte ihnen ausweichen, wenn man wollte.
Wie aber, wenn die Antigötter, die unsichtbaren, den rüden Lärm und den groben Hinweis verwerfen und für ihre Zwecke die stumme Propaganda erfinden und stille Hausierer anstellen, unsichtbare gar oder Kerle mit Taschendiebtechnik, die dir nichts stehlen, sondern dir im Gegenteil etwas schenken, ehe du es dir versiehst. Du langst in die Tasche nach dem Schnupftuch, weil du ein Tröpfchen an der Nase spürst, du fühlst einen kleinen harten, fremden Gegenstand und vergißt Schnupftuch und Nase; denn du bist neugierig wie jedermann: du hältst in der Hand ein Medaillon aus Blech, du siehst es dir genau an: den Adler mit dem N, mit einer Vorrichtung, ihn an den Hut oder an den Rockaufschlag zu stecken. Vielleicht wirfst du ihn fort, wahrscheinlich behältst du ihn und sicher gerätst du in Gedanken. Du überlegst auch: wo kann mir der Adler in die Tasche geflogen sein? wo war das größte Gedränge – auf dem Bastilleplatz? Und du gehst wieder über den Bastilleplatz, zur gleichen Stunde des späten Nachmittags, ein Stückchen auch die Rue St. Antoine hinauf und du hast scharfe Augen, andere Augen wie sonst – und siehe, da steht ein Mann mit deinem Adler im Knopfloch, ein einfacher Mann, ein Mann wie du, und du mußt den Adler ansehen, den du kennst, du lächelst vielleicht auch, der Mann ist schon bei dir: »Da, Kamerad!« In der Hand hast du eine winzige Trikolore, gekrönt vom N, mit einer Nadel zum Anstecken. Du steckst sie nicht an, du drehst sie um, du liest auf der Rückseite: »Es lebe Louis Napoleon!« Du weißt, wer das ist, und gehst nachdenklich weiter. Vor der St. Paulkirche steht ein Mann mit deiner Trikolore am Hut, hat Napoleonbilder in der Hand, fächerförmig wie ein Spiel Karten, und sagt leise, ausdauernd und wie für sich: »Ein Sou! Ein Sou!« Weil du weißt, was auf der Rückseite der Trikolore am Hut steht, weil du also schon ein kleiner Verschwörer bist, gibst du den Sou und erhältst die Karte, ein ganz gewöhnliches Napoleonbild mit dem kleinen Hut und dem großen Blick und der Unterschrift: »Der Mann.« Du bist gewitzigt und drehst die Karte sofort um: auf der Rückseite ist das andere Bild mit dem Knebelbart und der Unterschrift: »Der Neffe des Mannes.« – Du erlebst die Wahl zur Nationalversammlung und bist unzufrieden, wo du auch stehst; du bist ein kleiner Mann, du gehörst nicht zu den Bäuchen, du gehörst zum Volk, du bist mehr als unzufrieden, du bist empört und fragst dich: ist das meine Revolution? Du hebst den Kopf, du siehst deine Empörung, hörst deine Frage überall, wo deine kleinen Leute sind. Du erlebst Mitte Mai den jähen, kurzen Wutsturm des Pöbels, der aus einer Massendemonstration gegen die Nationalversammlung in den Sitzungssaal fegt, das Parlament sprengt, des großen Dichters edle Verwahrung niederschreit, den armen kleinen Gott Louis Blanc – er gehört nicht einmal mehr zum Vollzugsausschuß – gegen seinen Willen als Revolutionsgötzen durch den Saal trägt – und er schloß vor Scham die weichen Augen –; du erlebst den robusten Einsatz von Militär und Nationalgarde, die dem Putsch im Handumdrehen den Hals brechen. Ist das deine Revolution? Du fragst es dich und drückst die Fäuste gegen die Schläfen. Du hebst den Kopf, du erschrickst nicht, nein, du freust dich: die Männer mit deinem Adler und deiner kleinen Trikolore im Knopfloch oder am Hut verdoppeln, verdreifachen, verzehnfachen sich, man findet sie nicht im alten Westen des Faubourg St. Germain und des Faubourg St. Honoré, wo die alten Namen in ihren alten Palästen grollen und leise wieder hoffen, nicht im neuen Westen der neureichen Juste-milieu-Bäuche, nicht in den großbürgerlichen Quartieren der Wahljubilierer: nein, du findest sie in deinem Osten und dem verwandten Norden, bei deinen kleinen Leuten, bei den Empörten, den Betrogenen, und am meisten findest du sie bei den ewigen Revoluzzern des Vororts St. Antoine, bei den Anarchisten von Belleville, bei den Rowdies von St. Denis und den Raufbolden von Montmartre. Du rennst durch die Straßen, du siehst, wie die Adler und die Fähnchen in die Knopflöcher und an die Hüte fliegen, du siehst die Sou-Karten, die nur noch den neuen Napoleon zeigen, nicht mit dieser Unterschrift, sondern mit der viel erregenderen: »Der republikanische Napoleon.« Und mit einemmal siehst du dieses Bild auf einer Broschüre, die in Massen vertrieben wird, für fünf Sous, und hast du keine fünf Sous, so schenkt man sie dir, du aber kaufst sie, stürzt ins nächste Boulevardcafé und liest sie in einem Zug. Am Schluß steht: »Geschrieben im Staatsgefängnis der Zitadelle von Ham.« Du greifst in die Tasche, nimmst den Adler und heftest ihn ans Hutband. Alle können es sehen, der Zahlkellner, die Umsitzenden, die Vorübergehenden, alle! Und mit einemmal brüllen die hausierenden Dämonen, broschürenbepackt, den Titel und den Verfasser durch die Straßen der Armut:
»Ausrottung der Armut von Louis Napoleon! Ausrottung der Armut!«
Der Juni funkelt über der Stadt. Er ist nicht so einzigartig wie der Londoner Juni; denn Paris, selbst von den Jahreszeiten verwöhnt, besitzt noch andere schöne Kleider der Monate. Dieser Juni Achtundvierzig zumal hat zuviel in sich, er birgt zuviel Gewitter, um froh zu machen. Er funkelt vor Spannungen. Die vielen Menschen auf dem Grèveplatz sind gespannt und kümmern sich nicht um den Juni. Der Grèveplatz hockt vor dem Stadthaus wie ein Raubtier, einmal zahm, einmal wild, immer auf dem Sprung. Haus und Platz sind leidenschaftlich auf einander eingestellt wie Szene und Chor der griechischen Tragödie. Aber das große Theater, das hier gespielt wurde, war meist sehr wild und wider alle Regel, der Chor drang oft in die Szene, das Haus schickte oft die großen Helden und die kleinen Schächer auf den Platz des öffentlichen Todes, auf den Schafottplatz, auf den Guillotine-Platz, der Chor schickte oft den Tod in die Szene, die Kanonen richteten ihre Mündungen einmal auf den Platz und das andere Mal auf das Haus, und so war es auch mit der Flugbahn der vielen großen Reden und Gefühle. Haus und Platz brauchen sich für ihre Liebe und ihren Haß, für das alte Spiel auf Leben und Tod oder Leben und Lebenlassen. Chor und Szene bändigen sich wechselseitig. Immer wenn der Platz lebendig wird und seinen Chor aufstellt, kann es mit dem alten Stadthauspartner zum Dialog kommen, und immer in bewegten Zeiten kann der Dialog dramatisch und die Auseinandersetzung handgreiflich werden. Man hat seine Erfahrungen. Die Zeit ist sehr bewegt, dieser Juni beginnt erst und man fühlt nur, wie geladen er ist. Ein Bataillon Nationalgarde steht in loser Kette von der Seinebrücke bis zu den nördlichen Zufahrtgäßchen. Bei alledem scheint der Anlaß dieses 8. Juni nicht einmal aufregend: das Resultat der Ersatzwahl zur Nationalversammlung, die durch den Verzicht oder durch die Doppelnominierung von Abgeordneten nötig geworden ist, wird nach revolutionärer Sitte für den Pariser Wahlkreis vom Stadthaus aus verkündet. Das ist alles. Aber warum stellt der Platz für diese bescheidene Vorstellung einen so starken Chor?
Die Luft zuckt unter einem dumpfen Kanonenschlag zusammen; doch der Platz erschrickt nicht und fährt nicht auf: es war nur der Mittagsschuß, und alle, die Taschenuhren haben, ziehen sie nach vorrevolutionärer Gewohnheit. Die berühmte Uhr unter dem Mitteltürmchen des Stadthauses schlägt Zwölf, Notre Dame, gewaltig über die Seine winkend, schlägt seine schweren Bronzetöne nach und der blanke Junimittag bebt mit. Ein kurzer Trommelwirbel: der Platz ist still. Auf der Treppe des Mittelportals, unter dem mutig reitenden Henri Quatre zwischen den korinthischen Säulchen, steht ein kleiner schwarzbärtiger befrackter Herr mit Zylinder und Schärpe, in der Hand ein Dokument mit Bandsiegel, und proklamiert nach einleitenden Sätzen mit lauter Stimme die Gewählten.
»Der Bürger Marc Caussidière, Polizeipräfekt von Paris: 157+00 Stimmen.«
Ein braver Mann, ein Roter, ein Freund des Volkes, ein Feind der Bäuche, der Mann des Maisturms auf die Nationalversammlung, der Mann, der gesagt hat: »Sie werden keinen Stein auf dem anderen lassen und ihr wißt doch, daß sie dazu nur Zündhölzer brauchen.« Der Maisturm ist abgeschlagen, Paris steht noch, vielleicht gelingt ihm der Junisturm – der Platz klatscht.
»Der Bürger Nicolas Changarnier, Generalgouverneur von Algerien: 105+539 Stimmen.«
Ein General, ein Mann, der auf uns schießen wird, ein Bluthund – der Platz pfeift.
»Der Bürger Adolphe Thiers, Advokat: 97+394 Stimmen.«
Der Thiers, der große Thiers, der kleine Thiers, der Gerngroß, der verfluchte Fuchs, der Hans in allen Gassen, der Volksfreund, der Volksfeind, der Kriegshetzer, der Royalist, der Republikaner: da ist er wieder – der Platz klatscht, johlt, pfeift.
»Der Bürger Victor Hugo, Schriftsteller: 86+960 Stimmen.«
Wer ist das? – Ein Freund des Volkes. Ein Mann der Julirevolution. Ein Dichter. Ein großer Dichter. – Aber wir haben doch schon einen großen Dichter und was nützt er schon? Was sollen wir mit allen diesen Gedichten … – Der Platz schweigt.
Jetzt hebt der Herr mit der Schärpe den Kopf vom Dokument, sieht über den gefährlichen Platz, dann blinzelt er in den gefährlichen Himmel und für einen Augenblick zeigt der schwarze Bart die starken weißen Zähne.
»Der Bürger Louis Napoleon Bonaparte: 84+420 Stimmen.«
Was geschieht jetzt, nach dieser seltsamen Sekunde der Stille? Es ist die Sekunde des großen Atemholens, damit der Platz schreien kann. Der Platz schreit und jauchzt und klatscht und Hüte fliegen in die Luft und sieh, an den Hüten ist der Adler. – Und die Nationalgarde? Wer hat befohlen, daß sie die Gewehrkolben in die Luft stoßen, als Zeichen des Beifalls, und wer hat die große Freude auf ihre Gesichter kommandiert?
Der kleine Stadthausmann sieht fassungslos auf den wilden Platz, hört traurig den Chor der Beglückten und schüttelt den Kopf.
Der gefährliche Juni ist nur wenige Tage älter und wieder tritt die Masse auf. Aber der Schauplatz ist ein anderer. Die Menschen strömen auf den edlen und großartig ermutigenden Raum des Konkordienplatzes zusammen und rücken langsam über die Brücke gegen das Parlament. Sie wissen genau, was sie wollen. Der Name ist nicht mehr zu entdecken, wie neulich vor dem Stadthaus. Der Name beherrscht die Stadt, zur Freude der einen und zum Aerger der anderen. Die Masse gehört zu den Freudigen, sie hat nichts Böses im Sinn, sie ist nicht wild, sondern nur neugierig. Ist ein Volksvertreter gewählt – und heißt er auch Napoleon – so kann man ihn sehen wie jeden anderen der neunhundert Repräsentanten. Heute ist Parlamentseröffnung. Die Masse will den Mann sehen, der sie mit einemmal erregt, und sie will klatschen und rufen, wenn sie ihn sieht; denn die rätselhafte und sogar wunderbare Art seiner politische Erscheinung gefällt ihr. Zauberer gefallen ihr, zumal in diesem Juni der immer häßlicher entzauberten Revolution. Die Masse will ihn sehen und ihm Beifall spenden, schon um ihres guten Glaubens willen – denn die Flamme lodert noch – sonst will sie nichts. Ist es also nötig, daß noch in der Stunde ihrer Sammlung Linientruppen und Mobilgarde aufmarschieren (nicht Nationalgarde, die sich vor dem Stadthaus von dem Namen hatte anstecken lassen)? Steht den Menschen denn die Absicht auf der Stirn und ist sie unerlaubt?
Die Absicht liegt in der Luft und sie ist unerlaubt. Die Regierung ist durch die vierfache Wahl des dunklen Mannes – bei der Göttin der Vernunft, vierfach: in Paris, in zwei Departements und auf Korsika! – bestürzt und gereizt. Die Presse, die den schlechten Witz dieser Kandidatur mit keinem Wort beachtet und die armseligen rosa Maueranschläge mit dem Aufruf für das »Pariser Kind« und für den »Republikaner Napoleon« nicht einmal glossiert hatte, trommelt jetzt Alarm: caveant consules! Nun, die Konsuln sind auf dem Posten; und wenn dieser Rastaquär wirklich der Gegengott ist, der mit seinen Dämonen den Gegensatz und den Gegendruck in die neue Welt brachte und sich jetzt selber nach bekanntem Muster mit Hilfe der Demokratie in den Umlauf der Revolution setzt, so hat man immerhin den Vorteil, das verdeckte Spiel beendet zu wissen und den Gegner sehen zu können. Nur der unsichtbare Feind ist fürchterlich, der sichtbare ist zu treffen. Auch die neuen Götter, die im Stadthaus residieren, wollen den neuen Deputierten sehen: doch ihre Gründe unterscheiden sich gänzlich von der unerlaubten Absicht des Volkes. Der Kriegsminister und der Polizeipräfekt erhalten bestimmte Vollmachten.
Die Menge staut sich auf dem Bourgogneplatz und auf dem Hof des alten Palais Bourbon, auf dem der Notbau des Nationalversammlungssaales errichtet ist. Mobilgarde hält eine Gasse für die Volksvertreter offen. Die Menge ist gut gelaunt, beklatscht ein wenig diesen und jenen beliebten Mann, enthält sich des Pfeifens gegen den Unbeliebten und gibt die unumgängliche Kritik durch maßvoll spöttische Zurufe. Er ist nicht dabei. Die Stunde des Sitzungsbeginns ist längst vorüber, die riesige Tür zum Parlamentssaal öffnet sich nur noch selten: er war nicht dabei; denn man kennt ihn doch, oder vielmehr: man kennt sein Bild. Die Menge ist geduldig und nicht eben laut. Beide scheinen Zeit zu haben: die Menge und er. Doch er kann ihr nicht entgehen: sie wartet. Der Notbau der Nationalversammlung sieht ein wenig aus wie eine große Scheune und sie ist auch aus Holz, mit bleichem Kalk beworfen, mit primitiven Allegorien bemalt – Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit – rechts und links vom Portal sitzen zwei gipsgraue Kolossalfiguren, die laut Inschrift Ackerbau und Handel darstellen: die Republik gibt sich etwas dürftig mit ihrem unfesten Haus, es ist nicht geschickt, daß sie es in die königliche Architektur des Bourbonschlosses hineinstellt und nicht nur den Vergleich herausfordert, sondern auch den Spott. Die Menge vertreibt sich mit den aktuellen Witzen auf die Scheune die Zeit. Die Zeit vergeht, aber er kommt nicht.
Das Volk, das nicht laut ist, aber hörbar, macht das Parlament nervös. Der Name liegt in der Luft, aber der Mann bleibt unsichtbar wie Luft. Was wird geschehen? Was wird das Volk tun, was die Regierung? Der Maisturm sitzt der Versammlung noch in den Gliedern. Inzwischen ist das politische Wetter nicht besser geworden, sondern schlechter und vor allem unklarer: durch den Namen in der Luft, Man sieht auf die Regierungsbank, weil dort der neubestallte Retter aus allen künftigen Nöten sitzt, der starke Mann, der den Junisturm meistern wird (kommt es heute schon zum Junisturm?), der neue Kriegsminister General Gavaignac. Die rotfeindliche Mehrheit des Hauses hat ihn sich aus Algerien verschrieben: der schwarzbärtige Bändiger der Kabylen und Tuaregs wird auch mit dem Vorort St. Antoine fertig – ja, er wird auch mit dem neuen Namen der Unruhe fertig. Man bemerkt, daß er in Uniform ist und daß sich in seiner Nähe eine andere Uniform hält, der Kommandant der Mobilgarde. Man zieht daraus seine Schlüsse.
Die Menge kennt das Bild des neuen Napoleon, der nicht kommt. Warum kommt er nicht? Die gute Laune beginnt zu schwinden. Und da steht plötzlich über ihren Köpfen auf dem Sockel der Figur, die den glückseligen Handel darstellt, ein Mann, der aussieht wie der alte, der große Napoleon. Der Mann ist von schäbiger Eleganz, sein bartloses Gesicht ist vom üblen Leben verschliffen und vertan, Leute aus St. Denis scheinen ihn zu kennen und gebührend einzuschätzen; denn sie fragen laut: »Was will der Hurenkerl?« Aber er hat das Gesicht des Kaisers, er stellt sich auch als natürlichen Sohn des Kaisers vor, als Bürger Leon, Exgraf, religiöser Sozialist, Mitglied der Coëssinschen Gotteskinderschaft und Präsident der Pazifistischen Gesellschaft. Man lacht zuerst und spart nicht mit skeptischen und boshaften Zurufen; doch dann hört man zu; denn der Mann spricht vom Bürger Louis Napoleon, seinem »viellieben Vetter und Freund,« der ausersehen sei, das Erbe des verstorbenen Propheten Coëssin anzutreten, die Armut auszurotten und die wahre soziale Republik zu begründen. Er spricht nicht recht klar; aber man kann seine Worte so auffassen, als seien es die augenblicklichen Machthaber und Volksverräter, die den gewählten und ersehnten Mann am Erscheinen verhindern – man will es vielleicht so auffassen.
Er spricht nicht lange und immer hastiger, weil die Parlamentswache bereits am Sockel steht, ihm scharf in die Rede fährt, ihn schließlich an den Beinen packt und umstürzt wie ein schlechtes Kaiserbild. Die Menge drängt wütend vor. Noch im Fallen und schon auf den zwanzig Armen, die ihn auffangen, schreit der Bürger Leon:
»Hoch Napoleon!«
Das ist das Signal für den Massenruf, der jetzt nicht mehr aufhört. Ungeduld, Unmut, Enttäuschung und Zorn haben den Namen gefunden, der in der Luft lag und bisher doch unsichtbar schien wie sein Träger. Der Name ist da, wenigstens der Name. Sie schreien nicht mehr, daß er leben solle, sie rufen nur den Namen auf, als müsse sich sein Träger endlich melden und als solle die Versammlung in der feierlichen Scheune endlich hören, um wen es gehe. Der Chorruf geht den Anmarschweg der Masse zurück, über die breite Brücke auf die mächtige Hinterbühne des Konkordienplatzes, er trägt sich wieder vor zum Parlament, er wogt hin und her: und es ist, als rufe die ganze Stadt.
In der Versammlung spricht der große Dichter über die innere Lage. Das steht auf der Tagesordnung. Er wird gut, edel und mindestens zwei Stunden sprechen: das wissen alle. Der Name, der draußen plötzlich losgeht wie ein längst erwartetes Gewitter, gehört zur inneren Lage oder benennt sie gar. Der Dichter erwähnt ihn nicht; aber er hört ihn doch, wie ihn alle hören, und sieht hin und wieder auf die Regierungsbank. Dort sitzt der starke Mann wie ein bunter Stein, die Hände am großen, blitzenden, verlässigen Degenkorb. Die Politiker wissen, daß die politische Energie zumeist nicht auf der Tagesordnung steht. Sie kennen auch den Dichter als den prachtvollen Rhetor, der im Nu, wenn es so weit ist, die Tagesunordnung extemporieren wird. Die Regierungsmitglieder wissen, daß auch der Name gepackt werden kann, wenn der verschriene Mann unsichtbar bleibt; denn das ist abgemacht. Der Platz des Abgeordneten Louis Napoleon bleibt leer. Das Gewitter seines Namens rollt unaufhörlich. Die Spannung ist sehr groß.
Ein Ordonnanzoffizier tritt in den Gang hinter der Regierungsbank und beugt sich mit respektvoller Meldung zu dem Kriegsminister. Cavaignac sieht auf die Uhr und fängt dann den Blick des Redners auf. Beide sehen auf den leeren Stuhl des lauten Namens. Der starke Mann steht auf und geht. Alle sehen ihm nach. Die Epaulettenschnüre tanzen nach seinem raschen Schritt. Der Kommandant der Mobilgarde erwartet ihn schon an der Tür. Einen Augenblick prasselt der Name ungestüm in den Saal. Der große Dichter spricht ruhig weiter.
Gehören Name, Ruf und Masse den Gegengöttern, so haben die Götter Militär und Trommeln. Trommelwirbel bricht los und überdröhnt den Namen, nein, der Schrei der Masse ist stärker, nein, die Trommel ist stärker – es ist draußen ein heftiger Kampf um den stärkeren Laut: wer hört da noch dem Redner zu und wer möchte beschwören, ob er sich selber hört? Gewiß ist, daß der starke Mann nicht ging, nur um den Lärm zu überlärmen. Die Trommel, die die ganze Gewitterzone entlangwirbelt, vom Parlament bis zum Konkordienplatz, schlägt Alarm. Die Truppen, die darauf gewartet haben, gehen vor, nach genauem Plan. Mobilgarde drängt die Menschen vom Konkordienplatz zur Madeleine und in die Rivoli, Linientruppen säubern die Brücke, plötzlich ist Kavallerie da und zerniert den Block des Palais Bourbon: die Massenschlange ist schon zerstückelt. Das Parlament hört die laute und exakte Arbeit des Militärs und die ungeregelte Wut des Volkes. In solchen Zeiten erkennt man die einzelnen Phasen der Aktion an den bekannten Lauten. Trommeln, Geschrei, Trompeten, Geschrei – und jetzt das aufregende Hufgeklapper der Kavallerie, die den Schloßhof räumt. Geschrei, Getrappel, Geschrei, immer noch der Name – ist das alles, ist jetzt nicht der geladene, der zerreißende Augenblick für den unbekannten Schuß? Das Parlament atmet nicht. Der Redner spricht über die innere Lage. Es fallen drei Schüsse, rasch hintereinander. Der große Dichter unterbricht sich und sieht auf die Tür, mit ganz starrem Gesicht.
Es bleibt bei den drei Schüssen. Das ist noch nicht der Sturm des gefährlichen Juni, sondern nur der drehbare Wind aus der Maschine der neuen Götter. Der Name ist fortgeschossen, Marschschritt von Truppen zertritt den letzten Lärm der vertriebenen Masse. Der große Dichter spricht wieder, mit frischer und empörter Stimme. Der erste Tropfen Blut seit dem Sieg der Revolution, nicht durch die Republik vergossen, nicht im Namen der Freiheit, sondern in jenem Namen, den man eben zur Genüge hörte. Der erste Schuß gegen den Mobilgardekommandanten ging fehl, der zweite streifte den Helm eines Armeeoffiziers, der dritte traf und verwundete einen Offizier der Mobilgarde an der Brust. Die Gegenrevolution, in flagranti ertappt, die Hand schon in Blut getaucht, veranlaßt die Regierung zu folgender Erklärung …
Die freie Rede des Dichters ist schon zu Ende. Die Regierungserklärung liegt bereits schriftlich formuliert auf dem Pult, und niemand hat sie hingetragen. Auch die neuen Götter können zaubern. Der Dichter verliest die sieben Voraussetzungen zu dem Gesetzesvorschlag: Louis Bonaparte, gerichtsnotorischer Prätendent und Attentäter gegen die Sicherheit des Staates und des öffentlichen Friedens, falle ausdrücklich und nur für seine Person unter das Verbannungsgesetz von 1832 bis zu dem Tage, an dem die Nationalversammlung darüber anders entschieden haben werde.
Jetzt lärmt das Parlament und jetzt ist draußen alles still.
Der Londoner Juni, ein pünktlicher Bräutigam, beschenkte die Stadt wie in jedem Jahr, auf der glücklichen Insel lief das Leben wie in jedem Jahr, maßvoll und wohleingerichtet, man schrieb das Jahr Achtundvierzig, wie man das Jahr Siebenundvierzig geschrieben hatte, und man konnte, im Schutz des treuen Elements, den brennenden Kontinent betrachten wie ein schauriges Schauspiel. Feuer springt nicht über Wasser.
Louis lebte, als sei nichts geschehen und als geschehe nichts, sein wohlgefälliges englisches Leben, an dem seine wunderschöne Freundin einen angenehmen, aber nicht übertriebenen Anteil hatte, und sprach am wenigsten von Politik. Man kannte sich in ihm nicht aus. Für Miss Howard wurde es immer schwieriger, ihn nicht zu begreifen und ihn doch nicht fragen zu können. Sie hätte ihm ein gewisses Recht auf sein Vertrauen nachweisen können, aber sie durfte es nicht und wagte es auch nicht. Sie hätte sich wohl auch fragen können, ob es nicht voreilig war, sich an sein Schicksal zu hängen, ohne ihn zu fragen und ohne die Entscheidung zu wissen, auf die es ihr ankam. Denn es ging ihr nicht um den Londoner, sondern um den Pariser Juni. Doch Louis pries hartnäckig die blühenden Hydeparkbäume und schien mit seinem Schicksal zufrieden. Sie aber hatte auf das andere Schicksal gesetzt, mehr noch: sie hatte sich auf den großen Namen gesetzt und hätte sich in die ärgsten Zweifel verstricken müssen: ob er es je bemerkte und ob er überhaupt noch die Lust verspüre zu sein, wie er heiße. Es war ein rechtes Glück für die Dame, daß es ihr nicht gegeben war, lange und schwierig zu denken. Sie dachte, daß sie dank der kosmetisch zuträglichen Teilnahmslosigkeit ihres Körpers noch mindestens zehn Jahre makellos schön bleiben würde. Gegen die Gewißheit von zehn Venusjahren kommen keine Zweifel auf, auch keine Widerstände. Ein wenig Ungeduld tut nicht weh und ein paar Tränen hin und wieder baden die Augen. Herr Young-Fitz-Roy allerdings war anderer Meinung; doch ihm half die Erfahrung des Lebens, mit dem Zuständlichen sich abzufinden. Die Partnerin war nicht mehr aktiv, sie brachte nichts mehr ein und als Gentleman konnte man sie nicht zwingen, eine Tätigkeit auszuüben, die, obwohl sozusagen vertraglich, ihr nicht mehr zusagte oder über die sie erhaben war. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, wo er sie – trotzdem er auch damals schon wie ein Gentleman aussah – ohne weiteres gezwungen haben würde, ihren geschäftlichen Pflichten zu obliegen. Aber diese Zeiten waren vorbei, die Dame war reich und bedeutsam geworden, bedeutsam durch den Namen, dem sie seit zwei Jahren anhing und den sie auf ihre Weise repräsentierte, indem sie sich anderen Namen verweigerte. Herr Young-Fitz-Roy war auch ehrlich: der Verlust, den ihre Passivität dem Geschäft beibrachte, wurde durch eben jene Repräsentanz ziemlich ausgeglichen; denn man überlief den Spielsalon der Freundin Napoleons. Herr Young-Fitz-Roy als guter Propagandist verfehlte auch nicht, die stadtbekannte Beziehung geschäftlich zu betonen und wenigstens innerhalb der Firma die napoleonische Idee zu vertreten. Ein Bankhalter mit dem Adler im Knopfloch war interessant. Man verlor sein Geld in einer politischen, gar in einer konspirativen Luft, und in den Spielpausen trieb der Manager eine anregende Prophetie vom zweiten Kaiserreich. Aber dies alles gehörte zum Geschäft, und Herr Young-Fitz-Roy war ein viel zu kluger Geschäftsmann, um nicht zwischen Propaganda und Wirklichkeit unterscheiden zu können. Er begriff den Wert des Namens, er sah schärfer als Miss Howard seinen großartigen Zeitwert; aber er begriff so wenig wie die Partnerin die Gleichgültigkeit des Namensträgers; und da sie für das Geschäft bedrohlich werden konnte, machte er sich Sorgen, größere Sorgen noch als die Venus.
Am wenigsten aber begriff der Prophet die Lockung des Londoner Juni und den heiteren Eigensinn des Londoner Louis. Wer war Miss Howard? Eine schöne Frau mit Geld und Ehrgeiz, doch von schmalem Wert für die Historie. Wer war Herr Young-Fitz-Roy? Eine Schande für die Idee. Aber wer war Persigny? Mehr als Prophet, mehr als Magier, mehr als der große Mann der Politik. Der scheinbare Großsprecher, der immer den Mund voll nahm, wie übertrieben und übertreibend, und dennoch niemals zu viel gesagt hatte, war der Erschütterer von Paris, und kennte er das Gleichnis von den neuen Göttern, so würde er sich mit Fug und Recht den Gegengott dieses Revolutionsabschnittes heißen können: und er hätte sich gerne so genannt; denn er kannte seinen Wert und seine Leistung. In drei Monaten eine Bewegung zu schaffen, die Wahlen gewinnt und die öffentliche Meinung auf den neuen Ton bringt, ist großartig. Doch die Bewegung nicht aus den natürlichen Feinden der Revolution zu formen, nicht aus den Kapitalisten und dem Adel, sondern aus dem Volk, den kleinen Leuten von St. Antoine bis Montmartre, den eigentlichen Revolutionsträgern – nicht die Revolution zu unterbinden, sondern sich in ihr kreisendes Blut zu mischen: Sire, das ist genial!
»Sie sind ein Genie,« sagte Louis, als der Prophet ihn zum triumphalen Einzug in die Nationalversammlung abholen wollte; »aber es ist noch zu früh.«
Ist es möglich? Hat man diesen fischblütigen und unbegreiflichen Mann nicht lange genug in seinem Wohlleben gelassen und alles selber getan, geackert und gesät, hat man ihn nicht gänzlich aus dem mühseligen und auch gefährlichen Spiel gehalten, so daß er nicht einmal zu wissen brauchte, was seine Pariser Dämonen trieben und wie weit sie waren, nicht einmal zu fragen, ob die fünftausend oder zehntausend Francs, die er hin und wieder schickte, nicht eine völlig unzureichende und fast beschämende Summe darstellten? Hat er etwas anderes herzugeben brauchen als seinen Namen, damit das Genie Persigny den erstaunlichsten Umschwung des Umsturzes bewerkstelligte und alte und neue Mitkämpfer im Aktionskomitee sammelte? Wahrhaftig, man konnte es ihm nicht leichter, angenehmer und bequemer machen, als ihn jetzt auf den vollen Erntewagen zu setzen, daß er ihn in die Scheuern fahre. Ist es möglich, daß er sich weigert, während die gewonnenen Massen schon den vorgesehenen Weg säumen?
Der Prophet kam mit so roten Backen wie noch nie; aber jetzt rötete sich seine Stirn. »Um aller Heiligen willen, Sire, warum zu früh?«
»Weil Saturn seine Kinder noch nicht gefressen hat,« antwortete Louis sofort, »weil ich nicht aufgefressen werden will.«
Der Prophet rief gewaltig: »Aber ich habe Sie …« Er verbesserte sich: »Aber Sie selber sind jetzt Saturn …«
»Ich danke,« unterbrach Louis, »ich bin kein Menschenfresser. Außerdem ist es eine entsetzliche Uebertreibung, einen ersatzgewählten von neunhundert Abgeordneten in meinem Sinn zu mythologisieren. Meine Theorie von der Revolution denkt paritätischer und auch elementarer.«
Louis blieb in London. Der Juni war leicht und süß. Persigny begriff es nicht; aber er fühlte doch die Ohnmacht oder die seltsame Unzeitgemäßheit seiner prallen Pariser Energie. Er erinnerte sich an die Zeiten, wo er wie ein Stier den Widerstand des Prinzen einrannte. Er war noch immer ein Stier, aber Louis war wie die lockere, überlegene und spöttische Luft dieser entrückten Stadt: er war nicht zu fassen. In der unglaubhaften Welt der Revolution brüllten sie nach ihm, nur der Prophet hörte es, seine Ohren waren voll von dem glorreichen Lärm, ach, auch seine seherischen Augen sahen den vergeblichen Aufmarsch des Sieges, und es zerriß ihm das Herz. War es möglich, daß er der große Diener eines kleinen Herrn war, die große Stimme eines kleinen Geistes? Persigny wurde in diesen Tagen ein Mann mit blassen Backen.
Die Nachrichten aus Paris waren aufregend genug; denn die Krawalle während der Parlamentseröffnung und die tückische Regierungserklärung schienen wiederum der Vorsicht Louis' Recht zu geben. (Wenn es Vorsicht war und nicht Trägheit des Herzens). Der Prophet schlich düster umher und murmelte: »Wäre ich dort …,« ohne den Satz zu vollenden und zu erklären, wie er dort die Ereignisse zu recht biegen würde. Er fuhr auch nicht zurück, trotzdem ihn Louis mit keinem Wort zurückhielt. Warum blieb er? Ahnte er, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen sei? Siehe, die Nationalversammlung verwarf nach tagelangen Debatten die Regierungsmotion und erkannte Louis' Mandat an. Selbst Louis Blanc stimmte für seine Zulassung, weil die Entfernung diese Gestalt unsinnig vergrößere, die Nähe aber sie auf das richtige Maß zurückführe, auf das sehr kleine Maß. Persigny war wieder obenauf. Louis sagte nur: »Herr Blanc hat vollkommen recht,« und schrieb einen Brief an den Präsidenten der Nationalversammlung.
Persigny las ihn. »Ein kluger Brief,« sagte er dann und wußte immer noch nicht, was ihn in London zurückhielt; »aber ein Satz ist unklug.«
Louis wußte sofort Bescheid. »Sie meinen den Satz: ›Wenn mir das Volk Pflichten auferlegt, dann werde ich sie erfüllen‹?« Der Prophet nickte und sah ihn beinahe ängstlich an. »Dann werde ich ihn noch unterstreichen,« lächelte Louis.
Als der Präsident den Brief dem Haus vorlas, stockte er vor dem unterstrichenen Satz. Dann sprach er ihn mit besonderer Betonung. Der Sturm der Entrüstung war groß. »Prätendent! Prätendent!«, einige schrien auch: »Verräter!« In der Stadt aber hörten die Ansammlungen nicht auf. Die Masse klebte auf dem Konkordienplatz und auf den Tuilerienterrassen. Sie trug den Adler am Hut. Sie hatte eine neue Taktik, sie ließ sich von den Truppen zurückdrängen und drängte wieder nach, wenn sich das Militär einer anderen Platzseite zuwandte. Es war ein Hin und Her, das die Soldaten zermürbte. Als die Nachricht von der neuen Abneigung des Parlaments gegen Napoleon bekannt wurde, schnellte plötzlich eine Barrikade aus dem Boden, Mont-Taborstraße Ecke der Castiglione. Verhaftete wurden von der Menge befreit. Die ganze Garnison wurde alarmiert.
Dem Propheten zitterte die Zeitung in der Hand, als er es vorlas. »Jetzt, Sire – jetzt, Louis, jetzt ist der Augenblick …«
Ueber Louis' Augen trieben die Wolken. »Ja, lieber Freund, jetzt ist der Augenblick.« Er schrieb einen Brief an den Präsidenten der Nationalversammlung.
Der Prophet las ihn, er war eben noch rot, er wurde blaß, er wurde wieder rot, dunkelrot, und ließ sich respektlos auf einen Stuhl fallen. Er weinte und Louis sah, daß er vor Wut weinte. Deshalb tröstete er ihn nicht, sondern nahm ihm stumm und kalt den Brief aus der Hand. Es war die Verzichtserklärung auf das Abgeordnetenmandat, »um der Ordnung und des Bestandes einer weisen und großen Republik willen.«
Persigny litt zwei Tage wie ein verwundeter Löwe, der verkrochen seine leise Klage, brüllt. Dann war er wieder gesund und erklärte, morgen oder übermorgen zurückzufahren, »um wieder von vorne anzufangen.« Louis nickte freundlich und ließ sich zu keinem Wort der artigen Verwahrung herbei. Seine helle Seelenruhe wurde von dem schwarzen Vorwurf nicht beschattet. Der Löwe zog sich zurück, aufs neue verwundet.
Thelin brachte eine Pariser Depesche und meldete zugleich Herrn Young-Fitz-Roy. »Wer?« fragte Louis ein wenig gedehnt. Louis und Thelin waren auf einander trefflich abgestimmt. Thelin, niemals vorlaut, niemals mit dem Gesichtsausdruck oder dem Tonfall des Favoriten, der sich erlauben kann, dies und das zu wissen, diesen und jenen zu qualifizieren, – Thelin wiederholte nicht den Namen, sondern sagte nur: »Ja.« Louis kniff die Augen zusammen und öffnete die Depesche. Thelin erkannte sofort, daß der Lesende Herrn Young-Fitz-Roy nach der ersten Zeile vergessen hatte. Aber da Louis jetzt still in die Luft lächelte, die Hände wie schützend über dem Papier, meldete Thelin nach der gebührenden Wartezeit Herrn Young-Fitz-Roy. »Ich lasse bitten,« sagte Louis liebenswürdig.
Herr Young-Fitz-Roy sah wie ein Lord aus, wenn man den nackten Geierkopf ausnahm. Er wartete mit einer gewissen höfischen Anmut, bis Louis ihm erlaubte, sich zu setzen und sein Anliegen vorzubringen. Er behielt die Handschuhe an, hielt den Zylinderhut auf den geschlossenen Knieen und sah hin und wieder auf seine Lackstiefel, um nicht immer den hohen Herrn anzuschauen. Es begann durchaus wie die Audienz eines Würdenträgers bei seinem Fürsten.
Herr Young-Fitz-Roy präludierte leise, verbindlich und mit sicheren Worten: er sei überaus verlegen, hier zu sein, eine gewiß kostbare Zeit zu stehlen und außerdem gestehen zu müssen, daß Madame von seinem dreisten Unternehmen nichts wisse. Er sagte nur »Madame« und sprach es aus wie den Titel der Prinzessinnen von Frankreich.
»Ich bin auch verlegen,« versicherte Louis. Keiner von beiden war verlegen; aber Louis konnte sich keinen Grund für diesen Besuch vorstellen und verlor durch die Einleitung seine gute Laune.
»Die Zeitungen berichten,« sagte Herr Young-Fitz-Roy ohne weitere Umschweife, »daß Eure Hoheit als Abgeordneter der französischen Nationalversammlung demissioniert haben.«
»Ach, Sie sind auch politisch interessiert?« wunderte sich Louis.
»Mittelbar,« lächelte Herr Young-Fitz-Roy und das Lächeln zerknitterte plötzlich die Haut seines Gesichts von den tiefliegenden Augen, deren Höhlen das nächtliche Leben dunkel geschminkt hatte, bis zum peinlich rasierten und dennoch schwärzlichen Kinn.
»Ich auch,« sagte Louis.
»Dann stimmt also die Zeitungsmeldung?« fragte Herr Young-Fitz-Roy.
»Gewiß.«
»Das bedeutet, daß Hoheit aus der aktiven Politik ausscheiden?«
Louis trommelte auf die Schreibtischplatte. »Sie machen mich noch verlegener, lieber Herr, als Sie zu sein scheinen, und ich kann Ihnen aus Sprachlosigkeit über so viel Neugierde keine Antwort mehr geben.«
Herr Young-Fitz-Roy sah auf seine Lackstiefel, bewegte die Beine in den engen Steghosen und sagte langsam: »Verzeihung, Hoheit, es ist nicht so sehr Neugierde wie nicht ganz unberechtigtes Interesse.«
Louis preßte die Lippen zusammen; denn der Ekel stieg in ihm hoch. Er spürte die Zusammenhänge, er schmeckte sie bitter wie Galle. Der Gedanke war nicht neu. Vor ihm dieser stille Teilhaber an seiner Zukunft gehörte ja schon etliche Zeit zu den Personen der Komödie.
»Ach, Sie spekulieren wohl in französischen Werten?« fragte er endlich; aber die Ironie kam aus der falschen Kehle.
»Mittelbar,« sagte Herr Young-Fitz-Roy wieder, doch ohne zu lächeln.
»Ich bin kein Börsenmakler!« rief Louis böse, »und meine Zeit mit Ihnen scheint mir weniger kostbar als verschwendet!«
Herr Young-Fitz-Roy sah bescheiden zu Boden: »Es geht der Zeit Eurer Hoheit ungefähr so wie dem Geld meiner Firma. Meine Firma besteht aus Madame und mir. Ich fühle mich also für Madame in finanzieller Hinsicht verantwortlich. Madame hat bisher hundertfünfundzwanzigtausend Francs nach Paris an den Vicomte de Persigny überwiesen.« Herr Young-Fitz-Roy hob den Kopf mit einem Ruck. »Ich weiß allerdings nicht, ob Eure Hoheit über diese Zahlungen für das Propagandakomitee unterrichtet sind.«
Louis hielt den Nachtblick des schlimmen Mannes nicht aus. Er hielt die Hand über die Augen und sagte nach einer Pause: »Natürlich …«
»Umso besser,« meinte Herr Young-Fitz-Roy munter. »Die neuesten Ereignisse, genau gesagt: der Mandatsverzicht Eurer Hoheit erweckt Besorgnisse, die einem Geschäftsmann nicht übel genommen werden dürfen. Nicht daß ich für das Geld fürchte und mich unterstünde, es zurückzuverlangen! Um was ich untertänigst bitte, ist die geringste und selbstverständlichste aller Sicherheiten: die Anerkennung der Schuld. Und da mir der Name des vermögenslosen Herrn Vicomte de Persigny begreiflicherweise nicht genügt, bitte ich Eure Hoheit gehorsamst um die Unterschrift.«
»Natürlich,« sagte Louis leise.
Herr Young-Fitz-Roy stellte den Zylinderhut auf den Boden, zog ohne Hast den rechten Handschuh aus, legte ihn ordentlich über die Hutkrempe, entnahm seiner Brieftasche eine schwungvoll ausgefüllte Quittung und legte sie in ministerieller Haltung vor. Louis unterschrieb sie mit knirschender Feder, schob sie von sich fort und sah aus dem Fenster, mit festgeschlossenem Mund.
Herr Young-Fitz-Roy ging dann rückwärts aus dem Zimmer und verbeugte sich stumm an der Tür, ein vollendeter Höfling. Durch das offene Fenster kam Duft von Akazienblüten, kaum daß der Mann fort war. Die Luft war wieder rein. Auf dem Schreibtisch lag die Depesche. Ach, die Depesche! Sollte er nach Herrn Young-Fitz-Roy nun den Vicomte de Persigny rufen und nach ihm die Dame Elizabeth Howard? Welche Klientel! Was für echte Energien und unechte Namen! Wie sie zusammenhingen, alle drei, nein, alle vier! denn Louis gehörte zu ihnen, dafür sorgten sie. Louis blieb sitzen und rief keinen, der Junihimmel war zu sauber. Er ließ sich von Thelin in den Regentspark fahren und sah den Kindern zu, die im zoologischen Garten die Affen fütterten. Er war auch noch einsilbig, als er des Abends mit Miss Howard und Persigny bei Clarendon in einem Sonderzimmer speiste. Der Prophet war noch gekränkt; aber da er gerne und in großen Mengen Austern aß und nicht schweigen konnte, wenn er sich wohl fühlte – bei Clarendon aß man am besten – lobte er die Austern. Er aß nicht sehr appetitlich, doch Lizzy aß wie eine Prinzessin von Frankreich. Louis zog die Brauen zusammen: er dachte an Herrn Young-Fitz-Roy. »Einmal möchte ich nach Civita Nuova fahren …« schwärmte sie und ihre englische Zunge formte aus dem italienischen Namen ein phantastisches Wort, »mit Ihnen, Loulou, da sollen Zypressen sein.« Es handelte sich um ihre unbegreifliche Besitzung im Kirchenstaat, sie kannte sie nicht und sprach gerne davon wie von einem Schloß im Mond. Heute war es nicht so sehr romantische Sehnsucht wie die Suche nach einem Gesprächsstoff, der möglichst weit von dem politischen Brandherd entfernt war. Louis war einsilbig und hielt die Brauen hoch. Miss Howard sah ihn an.
»Sind Sie bedrückt, Louis?« Sie durfte nicht viel fragen; denn in diesen unverständlichen Tagen geriet jede Frage an Louis in das Ereignis, das er nicht zu bereden beliebte. Er antwortete freundlich:
»Im Gegenteil, ich bin froh,« er sah auf Persigny, der laut und langsam den schweren Burgunder schlürfte. »Ich bin froh, daß unser Austernfreund noch hier ist.« Der Prophet lächelte ins Glas, er war leicht zu versöhnen, ein gutmütiger Mann. »Wann wollten Sie fahren?« wandte sich Louis an ihn.
»Morgen oder übermorgen oder …« Persigny schaute mit einemmal unsicher.
»Es ist gut, daß Sie es nicht genau zu wissen scheinen,« sagte Louis ruhig. »Es ist gut, daß ich manchmal so rechthaberisch bin wie Sie, lieber Freund. Drüben scheint der Sturm loszugehen, den Sturmzeichen nach.«
Persigny hatte das Glas vom Mund genommen, aber er vergaß es, auf den Tisch zu stellen. Er vergaß auch zu sprechen. Miss Howard fingerte an der Perlenschnur. Sie war erregt, so weit sie es sein konnte; denn Louis sprach politisch und ließ sie dabei sein.
»Ja, ja,« meinte Louis, »die Klügsten sind die, die es nicht genau wissen. Was sind Sie klug, Persigny! Die Gordon depeschierte mir heute nachmittag, daß Mitglieder des Komitees klugerweise Paris verlassen, trotzdem bisher nur gegen Sie ein Haftbefehl ausgegeben ist.«
Der Prophet stellte das Glas hin und zupfte an den Backenbartbüscheln. Er zupfte immerzu, als stürbe ihm das Gesicht ab und als wollte er es verhindern. Miss Howard sagte unerwartet und etwas töricht: »Du bist der Allerklügste, Loulou.«
Als er sie nach Haus fuhr, drückte sie seinen Arm, so zärtlich fühlte sie seine Klugheit und so dankbar war sie für die Aufnahme in das politische Vertrauen. Wie hatte sie es mit einmal verdient? Er streichelte ihre Hand und lächelte ins Dunkle. »Wenn ich jemals wieder nach Paris fahre, Lizzy, nehme ich dich mit.«
»Wirklich?« flötete sie süß und hoch und lehnte sich an ihn.
»Ja,« flüsterte Louis und suchte die Worte zusammen, die er heute Nachmittag gehört hatte. »Weil es bei dir doch nicht so sehr Neugierde ist wie nicht ganz unberechtigtes Interesse – nicht wahr?« Er flüsterte es wie ein Liebender seine Liebe in solcher blühenden Nacht des Juni.
Der Pariser Junisturm brach los, wenige Tage später, und seine Gewalt war so groß, daß die Unruhe und Sturmzeichen, die vorher waren, zu tiefst unter den Schutt seiner Zerstörungswut zu liegen kamen. Ob das Volk nur für die Nationalwerkstätten, gegen die sich der jähe Angriff des Parlaments richtete, ob es auch für das verwehrte Recht auf den neuen Napoleon aufstand, ob es die Gegner waren, die jetzt, gerade jetzt, die Empörung wollten, ob es der barbarische Hunger der Revolution auf ihre eigenen Kinder war: wer fragte noch danach? Wieder knallte der unbekannte Schuß, an der richtigen Stelle und im teuflischen Augenblick, wieder brachen Barrikaden auf, von den Faubourgs bis zur Innenstadt. Die Technik des Aufruhrs war die gleiche geblieben, die Kunst der Gegenwehr war weiter gekommen wie die Zeit. Es war Juni, nicht mehr Februar. Die Revolution hatte kein Leben mehr oder nur das Leben einer mittelmäßigen Tragikomödie. Die Männer der Revolution verstanden nichts vom Theater und kämpften im rasenden Schwung des Augenblicks um das Einzige, was sie hatten und was plötzlich auch das wunderbar wirkliche Gefäß der Revolution war: um ihr Leben. Die anderen aber hatten den starken Mann und machten ihn zum Diktator. Cavaignac führte Krieg, nach den Regeln der Kunst, die er beherrschte. Der Krieg war schwer und wild, Nachbargarnisonen mußten eingesetzt werden, jede Barrikade mußte zerschossen und gestürmt werden wie ein Fort, der Vorort St. Antoine mußte bombardiert werden wie eine heldenhafte Festung: dann war der Krieg gewonnen. Cavaignac, streng wie Cato gegen alle und gegen sich, legte Sieg, Ruhm und Amt in die Hände der Regierung zurück. Sieger waren die Bürger, die Blauen. Sie arbeiteten mit Kriegsgericht, Deportationen und mörderischem Klassenhaß weiter. Die Roten, die noch lebten, nicht verschickt und nicht geflohen waren, tauchten in Geheimgesellschaften unter, das Volk in geheime Wut und geheime Hoffnungen.
Es war nicht so, daß das dramatische Jahr die Szene der Schicksalsbegegnung in der Art des Februar wiederholte, wo der abtretende Louis Philipp und der auftretende Louis an einer Kreuzung der Landstraße und des Schienstranges einer hastigen und von ihnen nicht bemerkten Sinnfälligkeit der Vorsehung unterworfen wurden. Louis war ein sonderbarer Schauspieler, sein Erfolg beruhte bisher auf dem Nichtauftreten. Auch jetzt ließ er sich alle Zeit, brachte die Historie nicht in Gefahr, sich durch Wiederholung von Gleichnissen ein Armutszeugnis auszustellen, und kreuzte nicht den Fluchtweg des abtretenden Herrn Louis Blanc. Louis blieb in London und nannte sich noch nicht Sieger. Wohl aber fühlte er die wunderbare Hand, die ihn führte. Louis Blanc kam nach London, ein besiegter Mann und dennoch nicht unfroh, an dem merkwürdig unterbrochenen Evangelium weiterschreiben zu können, mit der neuen Würde des Märtyrers. Es war aber auch nicht so, daß die beiden neben einander lebten, von der kleinen Spanne zwischen Kingstreet und Jermynstreet getrennt wie durch den Acheron. Eines Tages kam Louis zu Louis Blanc, freundlich und ganz ohne häßliche Barmherzigkeit, bemerkte, daß auch er in diesem Hotel Brunswick gewohnt habe, nach der Flucht aus Ham, und staunte, daß es erst ein wenig über zwei Jahre her sei. Die Männer sahen sich an und beide dachten an das Gespräch von Ham.
»Sie haben recht gehabt,« sagte Blanc endlich; »ich glaube, Sie wollen es hören.«
»Vielleicht,« gab Louis zu.
»Die Revolution ist tot,« sprach Blanc, und seine weichen Augen wollten streng blicken.
»Sie hat sich selbst umgebracht,« betonte Louis, als müsse er sich gegen einen Verdacht wehren.
»Aber Sie haben darauf gewartet!« fuhr Blanc auf.
»Es haben viele darauf gewartet,« meinte Louis ruhig; »doch damit ist es nicht getan. Jetzt liegt die fürchterliche Leiche zwischen den Klassen und verpestet die Luft.«
»Und die Unschuldigen krepieren!« rief Blanc mit der großen Bitterkeit des Besiegten.
»Alle sind unschuldig,« sagte Louis sanft, »auch die Lebenden; aber die Kluft zwischen ihnen ist so groß wie noch nie.«
»Warum sagen Sie das zum zweiten Mal?« fragte Blanc mißtrauisch.
»Weil nichts notwendiger ist als die Versöhnung und weil nichts so würdig ist, tausendmal gesagt zu werden.«
»Warum sagen Sie das mir?« fragte Blanc sehr unruhig; »warum kommen Sie überhaupt zu mir?«
»Um mit Ihnen davon zu sprechen, Herr Blanc. Einer, der zu leiden hat, sollte für Versöhnung empfänglich sein.«
Blanc suchte in seinen Augen; doch was findet man in diesen schlafsüchtigen Augen und wie muß man vor ihnen auf der Hut sein! »Aber wenn ich es ganz für mich behalte, Prinz Louis, und Ihre schöne Gesinnung nicht meinen Kameraden in Paris verrate und eben nicht der Wegbereiter bin, den Sie aus mir machen wollen?«
»Sie haben ganz recht,« lächelte Louis, »es läge mir schon daran, daß Sie nach Hause meldeten, wessen Geistes ich bin. Ich brauche gerade Ihre Partei, weil sie dezimiert ist und die Versöhnung nötiger hat als die Sieger. Doch wenn Sie schweigen wollen, dann schweigen Sie ruhig. Sie wissen doch, ich habe schon das Volk zu einem guten Teil.«
Blanc schwieg eine Weile; dann fragte er grob: »Sie wollen also der große Versöhner werden?«
»Ich will die Klassen versöhnen, weil sonst auch das Land krepiert,« antwortete Louis geduldig; »und außerdem will ich vieles, was Sie auch wollten.«
»Ich weiß,« sagte Blanc verächtlich, »Sie wollen die Armut ausrotten. Ich vermute aber, daß Sie der Einfachheit halber die Armut mit der Republik verwechseln und die Republik ausrotten wollen.«
»Das ist falsch,« entgegnete Louis ganz ruhig, »und steht außerdem im Widerspruch zu Ihrer Parlamentsrede, in der Sie für meine Zulassung stimmten, weil ich winziger Mensch dann sehr rasch vor der Sonne der Republik in Nichts zerginge – oder so ähnlich.«
»Ich tue Ihnen nicht mehr den Gefallen,« rief Blanc, »Ihre Ungefährlichkeit zu propagieren! Damals schien es politisch wichtig, aber übermorgen wäre es politischer Selbstmord!«
»Wie Sie Bescheid wissen!« lachte Louis.
»Ich weiß Bescheid!« erregte sich Blanc. »Bei der Septemberwahl kandidieren Sie wieder – natürlich …«
»Natürlich,« bestätigte Louis.
»Sie werden vierfach – Sie werden sechsfach gewählt werden!« rief Blanc.
»Sie fangen an, mir Komplimente zu machen, Herr Blanc.«
»Aber was bedeutet Ihnen das Mandat! Sie denken weiter. Und wenn Sie Glück haben – denn mit dem Parlament gelingt Ihnen nichts, mit dem Volk alles – wenn Sie Glück haben, Prinz Louis, geht wahrhaftig das törichteste aller Gesetze durch, das Gesetz über den Selbstmord der Republik, das Gesetz, daß der Präsident der Republik vom Volk gewählt wird, nicht vom Parlament.«
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Blanc,« sagte Louis leise; »aber ich habe Glück – zum Glück der Republik.«
»Sie haben Glück …« wiederholte Blanc und dachte nach. »Ich möchte eines wissen, Prinz, nur aus Neugierde; denn Sie können einen neugierig machen. Würden Sie als Präsident der Republik mir die Rückkehr nach Frankreich gestatten?«
Louis zögerte nicht einmal mit der Antwort, er schüttelte sofort den Kopf. »Nein, Herr Blanc, nein, Herr Blanc. Aber ich würde noch etliche Klassenkämpfer zu Ihnen nach London schicken, soweit sie Evangelisten sind, die Satanisten jedoch nach Cayenne.«
»Zum Glück der Republik?« schrie Blanc gequält; denn es tat ihm weh, daß dieser Sieger sogar aufrichtig sein konnte.
»Wahrhaftig,« sagte Louis ernst; »denn Sie haben sie ja unglücklich gemacht, Herr Blanc, nicht willentlich, sondern aus Wundergläubigkeit. Kein Mensch kann ein Dach über sich zaubern, Herr Blanc, geschweige denn über die Gesamtheit. Jetzt sind nicht nur Sie obdachlos.«
»O ich kenne Ihre Parabel vom festen Haus!« sagte Blanc bitter; »aber ist das nicht auch ein Zauber, ist das nicht vielleicht ein fauler Zauber? Wie haben Sie das Volk bezaubert, Prinz – nur mit dem Namen, dem Namen, dem Namen?«
»Ich habe nichts Anderes,« sagte Louis still.
»Und das genügt?«
»Ich habe den Trieb des Namens,« flüsterte Louis.
»Und das genügt?«
»Ich habe den Stern des Namens.«
»Und damit wollen Sie Weltgeschichte machen? Ist das nicht eine unendlich größere Vermessenheit als mein Glauben ohne Dach?«
»Nein,« flüsterte Louis, »ich kann mir nicht helfen – nein … – ich habe die Idee des Namens.«
»Und Sie selber? Und Sie selber?«
»Ich habe nichts,« sagte Louis immer leiser.
»Sie haben den Namen und sonst nichts?«
»Ich habe ein gutes Herz,« flüsterte Louis und lächelte.
Es war gut, daß es regnete. Der kalte Spätseptemberregen trommelte auf die Regenschirme. Man sah eigentlich nichts als Regenschirme und außerdem fror man. Vielleicht kam dieser neue Napoleon auch heute nicht, trotzdem es sogar in den Zeitungen stand, daß er sich an diesem 25. September in der Nationalversammlung als Abgeordneter von Paris und von vier anderen Departements vorstellen würde. Vielleicht liebte er den Beifall nicht, den man ihm so gerne spenden wollte, trotz Regen und nasser Füße. Was war das wieder für ein schöner Lärm der Begeisterung gewesen, vor drei Tagen auf dem Grèveplatz, als seine Wiederwahl vom Stadthausportal aus verkündet wurde! War der Chor nicht stärker noch gewesen als im Juni? War der Chor umzubringen, niederzusäbeln, niederzukartätschen? Nein, das Volk war nicht umzubringen, nicht durch die Junischlachten, nicht durch Kriegsgericht, Deportationen und Neuwahlen – und seine Liebe auch nicht. Sie hatten den Namen lauter noch bejubelt als im Juni, und da die Erinnerung an den Juni schrecklich war, aufreizend und erbosend, fuhren viele Schreier aus der Haut und schrien außer dem großen Namen auch noch den großen Titel. Hoch Napoleon! das ärgert die Bürger. Hoch der Kaiser! das soll sie zum Platzen bringen. Und was tat die brave Nationalgarde, statt den aufsässigen Platz im Zaum zu halten? Sie hob blanke Fanfaren und schmetterte die Kaiserhymne. Aber was taten die großen Zeitungen, die niemals die Liebe des Volkes begreifen, weil sie nicht für das Volk da sind, sondern für die verfluchte Politik? Sie krähten Zeter und Mordio über die staatsgefährliche Kundgebung und den staatsgefährlichen Mann. Vielleicht hat es ihn erschreckt und er kommt wieder nicht. Vielleicht ist er auch schon da; denn die Sitzung hat längst begonnen, und man hat ja vor Regenschirmen kaum die anfahrenden Wagen der Abgeordneten gesehen, und reckte man sich die Hälse aus, so sah man im besten Fall den riesigen Regenschirm, mit dem der Parlamentsportier die aussteigenden Volksrepräsentanten vor dem Naßwerden schützte. – Der Regen trommelte auf die tropfenden Schirmdächer. Seltsamer Mann, dieser neue Napoleon, er hat noch keinen von den zahllosen Schreien gehört, die ihm galten, er will auch jetzt nicht hören, daß er leben möge. Es war bald so, als ob es ihn nicht gäbe.
Ein ganz gewöhnlicher Fiaker plätscherte durch das Meer der Regenschirme zum Portal. Die Menge zweifelte lieber an der Existenz des Mannes mit dem großen Namen, als daß sie ihn in einer Mietdroschke vermutete. Man reckte nicht einmal den Hals. Ein Herr, der sich vor dem Regen sehr zu fürchten schien – denn der breitkrempige Zylinder saß im Gesicht bis zur Nasenwurzel und der aufgeschlagene Mantelkragen ging bis zur Nasenspitze – sprang so rasch aus dem Wagen zum Tor des Saalbaus, daß der schirmende Türhüter zum ersten Mal an diesem Tag mit seinem Gerät zu spät kam und es für den zweiten Fahrgast verwandte, der weniger vermummt und gemäßigter war.
Auch die Versammlung wartete auf den seltsamen Mann mit dem Namen. Es war ein großer Tag und die Tribünen waren überfüllt, auch jene Tribüne des zweiten Ranges, auf der die Nationalgarde vom Dienst postiert war; denn man wußte nicht, was Unvorhergesehenes geschehen könnte, und hatte seine Erfahrungen. Man wußte nur: draußen stand die Menge, wenn auch Gottseidank durch den Regen abgekühlt und durch die Regenschirme friedlich. Die Revolution war tot, es war September, nicht mehr der geladene Juni, das Volk kann nicht mehr schießen; aber es konnte wieder wählen und wird wieder den Namen schreien. Und dann wird er kommen. Er wird es nicht unterlassen, mit Geschrei zu kommen, mit Pauken und Trompeten des furchtbaren Namens. Die Versammlung haßte den Namen, die Unbesiegbarkeit und Unausdenkbarkeit seiner Wirkung. Sie war bereit, auch den unbekannten und rätselhaften Mann zu hassen, den Abenteurer mit den vielen Fragezeichen, den Carbonaro, den Putschisten von Straßburg und Boulogne, den Paria Europas, den Gefangenen von Ham, den Londoner Lüstling – was hatten die undeutlichen Kapitel seines Lebens für fragwürdige Ueberschriften! Und was ist er jetzt als öffentlicher Mann? Eine Laune des staatlichen Schicksals, ein Rätsel, ein Wunder der stillen Hartnäckigkeit – oder die Drohung, die große namentliche Drohung?
Die Sitzung hatte längst begonnen und war langweilig. Die Berichterstatter der Wahlbüros gaben ihre Rechenschaftsberichte über die neuen Mandate und das Haus genehmigte die Zulassungen. Warum blieb es draußen still, warum kam er nicht? Der Präsident auf der höchsten Estrade, unter ihm die Sekretariatsbank, darunter der Sprecher auf der Rednertribüne, zu seinen Füßen das volle Parkett, in die Rechte und die Linke geteilt, über den Häuptern der Rundschwung der besetzten Ränge: das ganze Haus wartete auf den Chor draußen, daß er endlich den Namen riefe und die große Szene ansage.
Jetzt kam eine Unruhe auf, aber es war nicht die erwartete, die von außen kommen müßte, den Lärm im Gefolge, sondern ein ungewisses Raunen aus dem Saal heraus. Der Präsident saß sehr hoch, und das mächtige Halbrund, das hinter dem erhabenen Stuhl aufstieg und das Zeichen der Republik trug, das strenge und schlanke RF, entrückte ihn vollends. Zudem war er kurzsichtig, doch er besaß scharfe und erfahrene Ohren. Er hörte, daß die Unruhe aus der linken Mitte kam, von dort her, wo der große Dichter seinen Sitz hatte. Das wunderte ihn; denn der Dichter war der reine Geist, kein Geist der Unruhe. Da das Raunen stärker wurde, merkwürdig nach allen Seiten floß, auch in die Höhe, schließlich den näselnden Berichterstatter des siebenten Wahlbüros am Rednerpult erfaßte und gar aus dem Konzept brachte, schwang der Präsident die Glocke und bat um Ruhe. Aber es nützte nichts, die Unruhe ließ sich nicht stören und mußte einen besonderen Grund haben; denn selbst die disziplinierte Ministerbank, die das leere Halbrund zwischen der Rednertribüne und dem Parkett seitlich begrenzte, kehrte sich nicht an die Glockenmahnung aus der Höhe und richtete die Köpfe und die Lorgnetten auf einen bestimmten Punkt. Das vermochte der Präsident noch mit dem unbewaffneten Auge zu erkennen; aber er wollte noch mehr sehen, setzte die große Brille auf und blickte in die allgemeine Richtung.
Siehe, dort saß er, der Mann mit dem Namen Napoleon.
Er saß auf der Linken, Napoleon war ohne Pauken und Trompeten, ohne Chor und Vivat gekommen, ganz still und unbemerkt, wie hergezaubert, und saß auf der Linken. Man wollte es sich merken. Er saß auf der siebenten Bank der dritten Sektion, neben dem Abgeordneten Le Bas, von dem man wußte, daß er sein Lehrer, sein Freund und ein sauberer Republikaner war, unmittelbar hinter dem Sitz des großen Dichters, dessen Rückenlehne sein kleines Schreibpult abgab. Er saß sehr gerade, beinahe steif, und sein gelbhäutiges Gesicht trug unbeweglich alle Blicke und alles Raunen. Der große Saal starrte ihn an, mit nackten Augen, mit Brillen, Monokels, Lorgnetten, der erste Rang mit der Publikumstribüne, der Diplomatenloge und dem Journalistenraum stellte die bereitgehaltenen Operngläser auf ihn ein, der zweite Rang hängte Dolden neugieriger Köpfe über die Brüstung.
Das war er, der unauffällige Herr im schwarzen Rock, gutangezogen und schmalschultrig.
Sie prüften das Gesicht. Welch ein Gesicht! Sie kannten sein Bild, ein Sou das Stück. Sie wußten alle, was es mit solchen Bildern für eine Bewandtnis hatte und daß sie genau für einen Sou idealisch kamen: der Neffe des Mannes, zwar mit Bart, aber doch mit seinen Wunderaugen und seiner römischen Götternase. Sie wußten es alle und staunten dennoch über dieses fremde starre blicklose Gesicht. Ja, es war blicklos. Man sah die Augen nicht einmal mit dem Opernglas. Man sah immer nur die riesige Nase und die langausgedrehten Enden des Schnurrbartes, man sah kein Kinn unter dem Knebelbart. Was hatte dieses Gesicht mit seinem Namen zu tun? Nichts, Gottseidank nichts! Es war nicht für den Namen gemacht, nicht für die Drohung. Der neue Mann saß still auf der Linken, war still durch das Volk geschlüpft, das draußen auf den Namen wartete, bestenfalls auf das Soubild, und kannte augenscheinlich die Gründe für seine Bescheidenheit. So wird man mit ihm fertig werden.
Indessen war das neunte Büro zu Wort gekommen und ein kleiner Herr, dessen Glatzkopf mühsam über das Rednerpult ragte, referierte mit gequetschter Stimme über die Wahl des Abgeordneten Louis Bonaparte. Ja, er ließ den Napoleon weg, weiß Gott warum, und ein paar Witzbolde von der äußersten Rechten machten ihn darauf aufmerksam, indem sie den Namen riefen, ein wenig so, wie ihn draußen das Volk hätte rufen sollen. Das Haus lachte gemütlich, die Stimmung war mit einemmal heiter, so beruhigend wirkte das neue Gesicht, das die Heiterkeit mit der gleichen maskenhaften Starre ertrug wie die Neugierde. Die Versammlung genehmigte einstimmig und beinahe hastig die Zulassung, um endlich zu der Sensation des napoleonischen Auftritts zu kommen, einer vergnüglichen Szene vielleicht.
Louis stand auf und bat ums Wort. Der Präsident, der immer noch die große Brille trug (weil es sich bisher verlohnt hatte, scharfsichtig zu sein) erteilte dem Abgeordneten Louis Bonaparte das Wort. War der große Name unaussprechlich, weil er dem Gesicht nicht zustand?
»Napoleon!« mahnten die Witzbolde. Der Präsident lächelte, das Haus lachte.
Louis blickte taub auf das kleine Pult, zog langsam ein Papier aus der Tasche und legte es sich zu recht. Wollte er gar vom Platz aus sprechen, im Schutz der Bänke, und sich vor der unbarmherzigen Einsamkeit und Sichtbarkeit des Rednerpultes drücken? Das war zu viel der Bescheidenheit oder des Lampenfiebers. Man wird es ihm austreiben.
Man rief von allen Seiten: »Auf die Tribüne! Napoleon auf die Tribüne!«
Louis sah noch einen Augenblick auf das Pult und dann zur Seite, zu Le Bas. Oh, es war der Blick des Schülers auf den Lehrer. Welch ein fürchterlicher Napoleon! Das Haus gewann ihn beinahe lieb, so entwaffnend war der Schülerblick. Der Lehrer nickte und vielleicht sagte er auch etwas. Louis nahm sein Papier, trat aus der Bank und schritt durch den Gang nach vorne. Nun, er ging gerade und sicher, die Blicke rechts und links liefen an der Maske ab und sahen nur, daß sein Frack ausgezeichnet geschnitten war und daß seine Beine, gerade Beine, in vorbildlich engen und straffen Steghosen saßen. Er stolperte nicht einmal die Stufen zur Rednertribüne hinauf. Wäre er gestolpert, so hätte man ihn noch lieber gehabt.
Oben legte er wieder sorgfältig sein Papier zurecht und hob nicht den Kopf. Die Versammlung der Rhetoren, gewählt vom Volk des rhetorischen Gehörs und Gefühls, war nicht gewohnt, daß ein Debütant seine Jungfernrede ablas. Aber für den Schüler mit dem Mandarinbart gehörte es sich, und alles rundete sich zum rechten Bilde. Die Augen klebten am Manuskript – warum nahm er nicht den Zeigefinger zur Hilfe, um die Zeile nicht zu verlieren? – die Stimme, eine angenehme Stimme, begann leise: »Bürger Repräsentanten« und kippte unerwartet ins Forsche wie der stimmbrüchige Jüngling vom Falsett in männlichen Tenor: »Es ist nicht erlaubt, das Schweigen zu bewahren, nach den Verleumdungen, deren Gegenstand ich gewesen bin.« Oho, welcher kühne Sprung mitten in die Dinge und was für ein hartes Französisch! Dieser Napoleon war charmant. Doch was er jetzt las, war von vollkommener Artigkeit und, übrigens, stilistisch ausgezeichnet. Die Vermutung lag nahe, daß der Text von Professor Le Bas stammte. In glanzvollen Sätzen, aber mit alemannischem Akzent, will unser Napoleon die wahren Gefühle offenbaren, die ihn beseelen und immer beseelt haben. Hört nur, was ihn schon in Straßburg beseelte, auf dem Kopf den kleinen Hut. Nach dreiunddreißig Jahren Verfolgung und Exil findet er endlich Heimat und Mitbürger wieder. Die Republik tut ihm dieses Glück an und die Republik empfange seinen Schwur der Dankbarkeit und der Ergebenheit. Brav, brav, das will man hören und das will man auch glauben, das glaubt man diesem Gesicht viel eher als seinem Namen. In üppigen Perioden rollte die Liebe für die demokratischen Einrichtungen heran, mit denen er sich schon in der Verbannung und im Kerker von Herzen befaßte, die Versicherung eines untadligen und pflichtgetreuen Betragens, die tiefe Achtung vor dem Gesetz und die innige Bereitschaft, die Ordnung und die Festigkeit der Republik zu verteidigen. Sehr gut, was wollte man mehr? Wie brav auch hatte er gelesen, die Zunge stolperte so wenig, wie vorhin sein Beine, und man hätte es ihm gerne verziehen, es hätte vielleicht zu dem vollkommenen Erlebnis gehört. Nicht alles, was er redete, mochte aus der Seele kommen. Was tat es? Das schlichte Herz war mehr wert in seinem Falle. Der Mann war harmlos, mochte er heißen, wie er wolle. Der Saal klatschte, viele waren belustigt, einige gerührt – denn dieser Napoleon war rührend – und alle erleichtert. Louis ging ab, schneller als er aufgetreten war, nicht mehr so kerzengerade, und keine Muskel rührte sich in dem Gesicht, das noch gelber oder grauer schien als vorhin. Doch es war ein gelbgrauer Tag, der durch die sehr hoch gelegenen Fenster fiel. –
Der Regen trommelte noch immer auf die standhaften Regenschirme. Die Skeptiker hatten unrecht gehabt: es gab diesen Napoleon, er war schon lange in der Scheune, auch Pappkartonsaal gelästert, schon vor Beginn der Sitzung, er hatte auch schon gesprochen, er hatte herrlich gesprochen – dies alles war durch die Ritzen ins Freie gedrungen, man war schon lange naß und konnte auch noch die kleine Zeit bis zum Sitzungsschluß durchstehen, um das Versäumte gutzumachen und wenigstens den Weggehenden zu feiern. Der Aufbruch der Abgeordneten begann, man wollte aufpassen.
Le Bas stand schon als Vorposten im Portal und wartete auf den Wagen, der sich im Schub der auf dem Bourgogneplatz wartenden Gefährte langsam genug heranbewegte. Louis, schon vermummt, wartete drinnen zwischen Windfang und Garderobe in einer dunklen Ecke. Jemand trat zögernd an ihn heran – es wird Le Bas sein, der ihn holt und ihn im halben Licht nicht gleich erkennt. Louis ging ihm entgegen und hob den Kopf aus dem aufgeschlagenen Mantelkragen. »Herr Vetter?« fragte die Gestalt und Louis stand still. Die Gestalt lüftete den Hut und in dem Band der grauen Helle, die aus dem Windfang flatterte, erkannte Louis das ungewisse Gesicht des Canova-Kaisers. »Da bin ich,« sagte Leon sehr pariserisch, »ich war dabei, oben auf der Tribüne, es war ausgezeichnet, ich beglückwünsche Sie, ich freue mich …«
Louis rannte an ihm vorbei, Leon war zur Seite gewichen und so hatte er ihn wenigstens nicht zu streifen brauchen. Er hörte ihn noch lachend rufen: »Aber Napoleon!«, lief schon durch den Windfang, war schon im Portal. »Kommen Sie, kommen Sie!« befahl er dem verblüfften Le Bas. »Aber der Wagen …« rief Le Bas und lief ihm nach. Die Regenschirme wichen vor den beiden eiligen Männern zurück. Der Regenwind legte Louis' schützenden Kragen um. Es gab genug Augen, die sein enthülltes Gesicht ansahen, in der kleinen Sekunde seines Vorbeilaufs. Sie schienen kein besonderes Gesicht zu sehen. Louis brauchte nicht mehr zu versuchen, den Kragen mit den Händen in die Höhe zu halten. Es war bei diesem Wetter angenehmer, die Hände in die Taschen zu stecken. Erst am Quai d'Orsay fanden sie ein freies Cab.
Der zweirädrige Wagen wiegte über die Brücke. Der Regen kam plötzlich von der Seite, ganz schräg, fast wagerecht, als ob es die dunkelgraue Seine sei, die heraufregnete. Die Regenschirme, die auch hier noch standen, senkten sich gegen den Westwind. Es war fast so, als hielten die Leute ihre Schirme zwischen sich und dem vorüberfahrenden Wägelchen mit Napoleon. Louis lächelte traurig vor sich hin. Le Bas beobachtete ihn. Was hat er nur vorhin gehabt? – Auch auf dem Konkordienplatz standen Menschen. Louis schüttelte den Kopf und schloß die Augen. Plötzlich sagte er: »Es ist verteufelt schwer.«
»Was ist schwer?« fragte Le Bas.
»Nicht zu verzweifeln,« antwortete Louis.
Was für eine Antwort! »Aber Sie können doch sehr zufrieden sein, Louis!« rief Le Bas verwundert. »Sie haben unzweifelhaft Erfolg gehabt und das Mißtrauen gelockert. Man will Ihnen glauben, und das ist doch die Hauptsache.«
»Ja, ja,« sagte Louis wie einst als Schüler. Zur Rivoli zu siegte der Pulsschlag der Stadt über die Neugierde auf Napoleon und der Wagen konnte schneller fahren.
»Darf ich Sie etwas fragen, Louis?«
»Aber gewiß doch, Philipp.«
»Warum haben Sie eigentlich diese Frau mitgebracht?«
»Meine Venus?« lachte Louis. »Weil sie mich liebt, als sei ich der Knabe Adonis – nein, als sei ich der Held Napoleon – ganz so wie alle die guten Leute im Regen.«
»Sie sollten im Augenblick möglichst wenig Angriffsflächen bieten, Louis.«
»Bietet meine Venus andere als angenehme Angriffsflächen?«
Das Cab bog in die Castiglione. Man hatte einen freien Blick an dem nassen, braunen, ohrenwackelnden Pferd vorbei; denn der Kutscher saß hinten und lenkte über das Dächlein des Wagens hinweg. Man sah schon die Vendômesäule mit dem Napoleon hoch in der gesträhnten Luft. Louis wandte den Kopf mit einem Ruck dem Lehrer zu. »Sie wollen wissen, warum ich Miss Howard mitgebracht habe? Weil sie meine erste Wahl finanziert hat und jedenfalls auch meine zweite.«
Le Bas bereute seine Frage. Doch warum warf ihm Louis diese üble Wahrheit an den Kopf? Er verstand doch zu schweigen und auch zu lügen – großer Gott, vielleicht hatte er heute schon genug gelogen … Le Bas war kein glücklicher Lehrer.
Das Cab hielt vor dem Hotel du Rhin. Eine Stunde später empfing Louis einige sozialistische Führer, denen er Grüße von Louis Blanc überbrachte. Als die Herren von ihm schieden, glaubten sie halbwegs an sein gutes Herz, von dem ihnen der Freund aus London geschrieben hatte.
Louis konnte zufrieden sein. Diese Tage, in denen mit der ganzen Leidenschaft eines politisierten Landes um das Präsidentenwahlgesetz gekämpft wurde, verlangten nur dies: daß ihn das Volk nicht fand und daß ihn das Parlament belächelte. Es gelang so gut, daß Louis etwas trübe und wortkarg zu den zuversichtlichen Reden Le Bas' und Persignys blieb, die dieses Mal mit einander übereinstimmten. Doch der Lehrer wollte die demokratische Einordnung des Namens, der Prophet wollte den Sieg über den demokratischen Umweg. Louis sah beklommen, wie glatt die Absicht im politischen Geschehen aufging. Das Volk sah den Namen und nicht ihn, das Parlament sah ihn und nicht mehr den Namen. Die Unterscheidung konnte gemach für ihn gefährlich werden; denn in seinem Herzen glaubte er ja selber an sie. Es genügte eine Erscheinung wie Leon, es genügten die Augen, die ihn suchten, ihn sahen und dennoch nicht fanden, um ihn an sein Gesicht zu erinnern. Und dann war es für Augenblicke, als sei das Leben nicht zu ertragen, weil das eigene Gesicht es der Lüge zieh.
Doch Louis kannte diese Augenblicke und überschätzte sie nicht. Sie gingen vorüber. Und was im Herzen saß, machte das Herz schwer, schon lange. Aber wer sah in sein Herz? Er erfüllte gewissenhaft und umsichtig die Forderungen dieser Tage. Er wohnte im strengsten Inkognito im Hotel du Rhin, das nicht zu den glanzvollsten Gasthäusern der Kapitale gehörte, und Miss Howard, die zu schön und elegant war, um nicht aufzufallen, wohnte nicht bei ihm, sondern im nahen Meurice an der Rivoli, dem englischsten und teuersten Hotel von Paris. Dort gehörte sie auch hin; denn sie war eine große Lady, eine schöne, kalte Lady, kannte keinen der Jokey-Klub-Herren, die sie doch aus unfernen Londoner Zeiten kannten, ertrug dennoch mühelos die Klausur, die Louis über sich verhängte, und vertrieb ihre Zeit und ihr Geld zur Freude der Modegeschäfte von der rue Royale bis zur Castiglione und der Juwelier-Lords der rue de la Paix. Ihr einziger Kavalier war der Vicomte de Persigny, der sich wiederum kaum mit Louis sehen ließ – soweit ging seine Vorsicht – und sich dafür mit innigem Vergnügen der Pflicht unterzog, das mögliche Gerede um die Venus auf seine Person zu lenken. Der leidenschaftliche Mann war sogar bereit, für das mögliche Gerede den tatsächlichen Grund zu liefern. Aber Miss Howard, an seine Liebeserklärungen schon von London her gewöhnt, an viele Liebeserklärungen gewöhnt, marmorkalt von Natur und ohne Schwierigkeit treu, lachte nur süß und unschuldig. Der Prophet pflegte sie dafür mit Geschichten von Miss Gordon zu bestrafen, der großen Bonapartistin, ebenfalls einer Göttin; denn er wußte, daß Miss Howard eifersüchtig war, von einer Eifersucht, die so kalt und fest war wie ihre Liebe, und außerdem liebte er Miss Gordon noch immer. Auch Miss Gordon durfte sich im Hotel du Rhin nicht blicken lassen, trotzdem sie nur gekommen wäre, um Louis an Lore Vergeot zu erinnern. Keinem Bonapartisten war es erlaubt, das Hotel zu betreten, wohl aber empfing Louis Politiker aller Parteien. Er ließ sie reden und fragen, gab mit anmutiger Schüchternheit und bescheidener Aufrichtigkeit Auskunft, lachte mit ihnen über die beiden bekannten Jugendstreiche verlegen mit und zeigte allen von neuem sein schlichtes Herz.
Louis konnte zufrieden sein. Das Parlament tat ihm den Gefallen, ihn, einen stillen und stummen Novizen, bei den mächtigen Redekämpfen um die Präsidentenwahl kaum noch zu bemerken, und die Menge, enttäuscht oder ahnungsvoll, stand nicht mehr vor dem Portal. Dann kam die entscheidende Sitzung. Der große Dichter ritt die glorreiche Schlußattacke für die Volkswahl. Durch den Saal rauschten die edlen Worte der edlen Stimme, Louis blinzelte auf sein kleines Pult. – Er ist kein Politiker, dachte er; denn seine Artistik gehört auf die Seite, die er bekämpft, und der Glaube an seine Volkstümlichkeit ist ein Irrtum, weil das Volk seine Sprache garnicht versteht; und er ist nicht einmal der reine Geist, weil er mit alledem doch an seine eigene Kandidatur denkt; und er nimmt seinen Platz nicht mehr ein, seitdem ich ihm im Rücken sitze, ich, der unreine Geist oder der Ungeist, und hilft mir doch am meisten von allen. – Der Parlamentsdiener kam mit der Abstimmungsurne. Louis warf den blauen Zettel, der seinen Namen trug, hinein, Le Bas neben ihm den weißen Zettel. Weiß war die Annahme, blau die Ablehnung. Man wird morgen im »Moniteur« lesen können, daß der Abgeordnete Louis Bonaparte zu den Verwerfern der Volkswahl gehörte. Was will man mehr von dem schlichten Herz? Louis stützte die Stirn in die Hand: ja, sein Herz klopfte. Der Kammerpräsident verlas das Abstimmungsresultat: die Wahl des Präsidenten durch die Nation in direkter und geheimer Wahl war mit fünffacher Mehrheit angenommen. Louis hob nicht den Kopf. Alles gelang! Alles gelang! Wie konnte es sein, wenn nicht der Trieb des wunderbaren Lebens oder die lenkende Hand über dem Leben das Rechte taten? Wie konnte es Unrecht sein, Gaukelei und Lüge? – Man klatschte und rief Bravo. Es war gewiß, daß die Beifälligen nicht an den geduckten Novizen dachten. Aber an wen dachten Sie? An den reinen Geist oder an den starken Mann auf der Regierungsbank; denn das waren die Kandidaten der Versammlung. Louis fuhr zusammen und drückte die Augen zu, auf der Tribüne schrie eine Stimme:
»Napoleon!«
Es war irgend jemand, ein Idiot oder ein Hetzer – nein, es war Leon, ich behaupte, es war Leon! Louis biß sich auf die Lippen. Die Präsidentenglocke läutete aufgebracht.
Le Bas, der gütige Mann, sprach leise herüber: »Das will nichts mehr besagen, Louis.«
»Oh, das besagt sehr viel, mein Lieber!«
Da stand ein Abgeordneter der Regierungspartei auf der Rednertribüne, ein noch junger Mann mit einem Mund wie ein Strich, und meldete mit heller strenger Stimme einen Zusatz zum neuen Wahlgesetz an: »Kein Mitglied einst regierender Familien darf zum Präsidenten oder Vizepräsidenten der Republik gewählt werden.« Der Saal begann zu kochen. Louis nahm seinen Bleistift und zog heftige kleine Striche auf dem Notizblock. Der Abgeordnete begründete mit der gleichen scharfen und pausenlosen Stimme den Antrag, er peitschte nur wenige Sätze von den Lehren der Geschichte und den natürlichen Feinden der Republik in die aufgerührte Versammlung, er nannte nicht den Namen, aber er starrte boshaft in die gegebene Richtung. Louis fühlte Peitsche und Blick, die Augen auf seinem kleinen Pult, keine andere Deckung als die Maske des Gesichts; denn der Dichterplatz vor ihm war frei, der reine Geist gönnte ihm nicht einmal den Schutz des Rückens. Louis sah, daß er immerzu das große N gemalt hatte, und verdeckte die blitzzackigen Buchstaben mit dichten Bleistiftstrichen. Die Unruhe wuchs, Abgeordnete traten aus den Bänken auf das Halbrund vor dem Rednerpult und meldeten sich zur Entgegnung. Auch Le Bas stand auf, machte die dünnen Robespierre-Lippen, und die Brauen über den tugendhaften Augen gingen vor Kampflust auf und ab. Louis zog ihn zurück. »Lassen Sie es,« bat er. Der erste Debatteredner wandte sich gegen den Antrag, auch der zweite, es waren unberühmte Leute und der Saal blieb unaufmerksam. Doch dann trat der große Dichter auf, und es wurde still wie immer, wenn die wunderbare erste Geige des Parlaments zu tönen begann. Es war dieses Mal ein kurzes Solo, ganz gegen seine Gewohnheit. »Was verlangt man? Ein Gesetz gegen einen Mann! Ein Gesetz gegen einen bestimmten Mann! Und er ist hier!« Der Dichter machte mit dem ausgestreckten Arm eine große schwingende Bewegung von rechts nach links, als risse er einen Vorhang zurück – es sah prachtvoll aus, gerecht und gebieterisch – der Arm blieb stehen, auf die Linke gerichtet, und der Zeigefinger wies auf den bestimmten Mann. »Er ist hier! Er möge sich erklären!«
Louis fühlte den Finger im Gesicht wie eine Nadel und die tausend Blicke, die ihm folgten, wie tausend Nadeln. Sein Gesicht brannte, als stünde es in der verhaßten Sonne. Sein seltsames Gesicht wurde doch nicht rot, sondern noch gelber, es vergilbte im Brand. Es war der Sonnenbrand von Straßburg, von Boulogne, von allen Niederlagen seines Lebens, – sich sammeln! sich sammeln! – die böse Sonne schoß immer schon und immer wieder auf die alte Wunde des Gesichts. Das ist keine Heldentat.
Dem Finger folgten die Blicke und den Blicken folgte das gemeinsame Geschrei, der Chor der Grausamkeit, der Schadenfreude, der Neugierde: »Sprechen! Sprechen!«
Louis erhob sich langsam und bat ums Wort. Er trat aus der Bank – oh, er ging kerzengerade durch den Sturm und keiner sah, wie ihm das Gesicht brannte. Er stand auf der Tribüne und es war ihm, als wüchse in der allgemeinen Sicht sein Kopf, damit das Gesicht noch größer sei als Wunde. Er klammerte sich mit den Händen an die Balustrade und auch mit den Augen an das blanke, braune Holz unter ihm, als trüge es wieder, sorglich ausgebreitet, das Konzept der Rede, daß er sie verlese. Aber dort lag nichts. Der Saal war ganz still.
»Ich will nicht gegen den Zusatz sprechen …« Wie schwer das Kinn war, wie entsetzlich schwer, diese Sprache zu sprechen! »Ich bin so dankbar gewesen, meine Bürgerrechte wiederzuhaben, genügend dankbar, um keinen anderen Ehrgeiz zu haben … Ich will auch nicht wieder mein Gewissen gegen die Verleumdungen, gegen den Namen des Prätendenten …« Welche Qual zu sprechen, wenn ihr mir das Gesicht zersichelt! Louis stockte schon wieder, schloß die Augen und ballte die Fäuste vor Schmerzen. »Ich verwahre mich …« stelzte er mit steifer Zunge, »man gibt mir immer den Namen des Prätendenten …« War das noch die Sprache dieses Landes? Sein feines Ohr war noch voll von den üppigen und vollkommenen Sprachformen dieses Raumes, er erkannte den Unterschied; aber was war das Leid des Gehörs gegen das Leid des Gesichts! Das Gesicht war am Ende. Louis keuchte: »Ich verwahre mich, daß man mir immer den Prätendenten an den Kopf wirft!« Er schlug mit der Faust auf die Balustrade. Das war der Schlußpunkt der Rede, wahrhaftig: Napoleon wandte sich heftig vom Saal ab, er stieß sich von der Tribüne ab und stieg, sich am Geländer haltend, das Treppchen hinunter. Er eilte zu seinem Platz zurück, er lief fast, gelb, blicklos, mit hängenden Schultern, und alle sahen jetzt, daß er einen sehr kurzen Hals hatte. Er war auch ein klein wenig verzeichnet; aber das wußte nur der große Herrenschneider Staub zu London, und so bemerkte es jetzt keiner.
Der Saal blieb lautlos. Die Versammlung der Meisterredner hatte noch keine rednerische Unzulänglichkeit erlebt, die nicht mit Kritik, Protest oder Gelächter belegt worden wäre. Dieser arme Teufel namens Napoleon aber, der nach jedem barbarisch gesprochenen Wortfetzen erstarb und in zehn Minuten fünf Sätze zusammenstammelte, ließ einem das Herz erstarren. Louis saß schon auf dem harten grünen Samt seiner Bank und drehte unablässig den Bleistift zwischen den Fingern. Er fühlte, daß diese Stille noch viel grausamer war als sprachloses Mitleid: daß sie das dünne Eis über dem Abgrund des Hohnes war, mit einem Fußtritt einzutreten. Der Antragsteller des Zusatzes bestieg die Estrade, sein Mund war wie ein Strich und doch ein anderer Mund als vorhin, ein grausamer Strich, kein strenger Strich mehr. Er sagte – und wie er den Mund öffnete, strömte der Hohn des ganzen Saales in seine laute Stimme: »Nach dem, was soeben zu sehen, zu hören und festzustellen war, ziehe ich meinen Zusatzantrag zurück – als von nun an gegenstandslos und unnütz.« Der Saal hielt den Durchbruch des reinen Hohnes nicht aus, er verwässerte ihn mit Gelächter. Den Saal schüttelte das Gelächter, es wurde schon niedrig und töricht und rüttelte die Witzbolde auf:
»Hoch Napoleon!«
Louis saß mit unbeweglichem Gesicht, über dem Blick die Wolke. Nein, auch sein Gesicht, ausgebrannt und aschkalt, war anders geworden und hatte seinen besonderen Teil von der Ausschüttung der Grausamkeit abbekommen. Das sah nur Le Bas, und er konnte nicht fortsehen: eine so fremde, tiefe und stille Wut war auf Louis' Gesicht – so wie damals in Wimbledon Conneau von dem Gesicht nicht fortsehen konnte, als Louis schießen wollte, schießen und treffen. Den Lehrer fröstelte es wie damals den Arzt.
Der Prophet war glücklich. Er hatte es leicht, er trug keine Zweifel, für ihn war alles Absicht, nichts galt ihm als der Erfolg und der Erfolg war da. Er sprach von einer Meisterleistung und hatte noch andere große Worte für seinen müden und verstockten Herrn. Jetzt war die Straße frei, jetzt konnte er arbeiten – »Sire, was ist für mich das Leben ohne Arbeit, ohne unser herrliches und sieghaftes Werk!« – jetzt wird das Komitee einberufen, jetzt werden die Organisationen kunstreich und planvoll über das Land gesponnen und niemand wird doch den Heizkessel sehen und hören und riechen – »Sire, nicht wir stellen Ihre Kandidatur auf, kein Komitee, keine Clique, keine Partei: das souveräne Volk stellt sie auf!« – jetzt wird in die Zeitungen lanciert: Napoleon wohnt am Vendômeplatz, Napoleon wohnt bei der Säule Napoleons, neben dem Heiligtum der Gläubigen! Der Prophet kam ins Schreien. Vielleicht strengte er sich so an, weil die Venus dabei war und ihn mit ihren blauen Staunaugen anstrahlte. Louis legte die Finger an die Schläfen und bekam die Augen nicht mehr auf. Er sagte »Ja ja,« und nochmals »Ja ja« und bat dann unvermutet den stürmischen Mann, ihn nunmehr mit der Dame allein zu lassen. Der Prophet blieb in ausschweifender Gestikulation stecken, ließ dann gekränkt die Arme fallen und ging gekränkt, auch etwas eifersüchtig.
Miss Howard schaute ein wenig unsicher. Sie hatte die komplizierten politischen Vorgänge nicht recht begriffen, aber sie war mit einemmal ins Hotel du Rhin gerufen worden, der Bann schien gebrochen, sie durfte bei den verwirrenden Gesprächen über die Lage dabei sein und Persigny triumphieren hören. Diesen Mann begriff sie viel leichter als den abgespannten Louis, der eher nach einer Niederlage aussah als nach einem Sieg. Der Erfolg sei da, sagte der Prophet und Louis bestritt es nicht. Warum schaute er so trübe wie ein Erfolgloser und warum schickte er den Freund mitten aus der Siegesfreude aus dem Zimmer? Es war nach ihrer Erfahrung kein gutes Zeichen, wenn ein Mann den anderen entfernt, um mit der Frau unter vier Augen zu sprechen. Aber sie hatte ein reines Gewissen. »Was hat denn mein Loulou?« fragte sie, für alle Fälle zärtlich.
»Ich hätte nur gerne gewußt,« meinte Louis freundlich, kreuzte die Arme und schob die Hände unter die Achseln, »ob dich Persigny auch jetzt wieder für seinen Wahlfeldzug beansprucht.«
Miss Howard war überrumpelt. Ein gänzlich unvermuteter Augenblick wie dieser pflegte ihr um das Hirnchen eine Klammer zu stülpen, eine häßliche Klammer mit einer winzigen Lücke: kleinlaut und rührend die Wahrheit zu sagen. Wenn früher in solchem Augenblick ein Mann die bekannte Frage stellte: »Hast du mich betrogen?« – eine lächerliche Frage, die in jedem anderen halbwegs vermuteten Augenblick zu Tode gelacht oder gelogen werden konnte – dann mußte sie hastig, süß und mit ganz großen Augen Ja sagen. Louis war ein Mann, dessen sie sich niemals sicher fühlte und vor dem sie immer ein wenig Angst verspürte, sonderbarerweise die Angst des schlechten Gewissens, trotzdem sie doch noch gegen keinen Mann ein so gutes Gewissen gehabt hatte wie gegen ihn. Sah er sie an, selbst in der Liebe, mit niemals unverhülltem Blick, aus niemals nahen Augen, dann fragte sie sich: habe ich nicht doch etwas Unrechtes getan? oder das Herz, sonst so ruhig, fragte es mit ein paar jähen Schlägen. Was er jetzt wissen wollte, war wahrlich keine böse Tat, seine Frage war sanft und unbestimmt, kam nicht aus strafsüchtigem Herzen. Aber ihre Gedanken flatterten ängstlich im Käfig – vielleicht war es das Unrecht gegen ihn, das sträfliche Tun – und die Wahrheit drängte sich eilig und ängstlich durch die Lücke. Sie riß die Augen auf und flüsterte: »Ja«, als gestände sie ein Verbrechen.
»Wie lieb von dir,« sagte er leichthin, und sie wußte nicht, heftig verwirrt: war es lieb von ihr, daß sie die Beanspruchung zugab oder daß sie wieder Geld zu geben willens war. Er hatte doch eben zu verstehen gegeben, daß er von ihren früheren Wahlgeldern wußte, er hatte ihr mit einem unscheinbaren Wörtchen das große Geheimnis abgenommen und konnte es ihr vorwerfen. Wird er es jetzt tun oder nicht? Ihr Herz klopfte. Louis strich mit dem Mittelfinger über die Augenbraue. Hatte er Kopfschmerzen? Dachte er nach? Dachte er Freundliches oder Unfreundliches? Während der langen Stille strich er über die Braue, als magnetisierte er sich selber. Es war für sie eine quälende Bewegung. »Wie Herr Persigny weiß,« begann er endlich, »hoffe ich, durch meine Bankiers für die acht Wahlwochen ungefähr zwanzigtausend Francs wöchentlich aufzubringen. Das ist zu wenig, auch wenn bei dieser Volkswahl das Geld eine geringere Rolle spielt als …« Er stockte und strich über die Braue. »... als die innere Bewegung,« schloß er unbestimmt und beinahe zaghaft.
Wie sprach er zu ihr, wie fern von jedem Vorwurf, wie vertraut! Sie wäre gerne näher gekommen, er saß sehr weit von ihr; aber sie wagte es nicht. Er ließ die Hand über die Augen gleiten. »Aber man darf nichts versäumen,« sagte er dabei viel lauter, »man hat ja nicht nur die gute Hoffnung allein, man hat auch die böse Erfahrung mit den Menschen, die genug an das Mittel des Geldes erinnert, man sieht auch den Berg von Mißtrauen und Haß, der noch abzutragen ist, abzutragen oder abzuzahlen, Berge von Verachtung, von Dreck, von Dreck!« Miss Howard fuhr zurück, sie war eine Lady und hatte das häßliche Wort schon recht lange nicht mehr gehört, er war ein vollkommener Gentleman und mußte, da er das häßliche Wort zweimal und mit wahrer Lust aussprach, ganz gewiß an ihrer Gegenwart vergessen haben oder doch daran, daß sie eine Lady war. – Ja, er hatte sie vergessen, er zog die Hand von den Augen und sah sie wieder. Er fragte freundlich: »Und welche Beträge erbat Herr Persigny von dir, liebe Lizzy?«
Sie antwortete eifrig, ein wenig noch benommen: »Zwei Wochen zu je fünfzigtausend, vier zu je vierzig, zwei zu je dreißig.«
»Und hast du die Mittel denn flüssig?«
»Ich glaube bestimmt, Louis.« Sie war stolz, sie war glücklich, sie kam lächelnd heran.
»Und wer weiß es bestimmt?« fragte Louis kalt.
Sie blieb stehen. Warum wechselte er jetzt den Ton? »Herr Young-Fitz-Roy,« sagte sie eilig.
»Du lieber Gott!« rief Louis.
»Aber er kommt ja schon in diesen Tagen,« wollte die törichte Venus begütigen, »ich schrieb ihm schon …«
»Wenn er kommt,« unterbrach Louis heftig und stand auf, »werde ich den Polizeipräfekten bitten müssen, ihn festzunehmen und abzuschieben.«
Seine Worte waren böse, seine Augen waren böse: sie hatte also einen groben Fehler begangen. Die Wechselbäder der Gefühle, in die sie getaucht wurde, griffen sie an. »Ich habe ihm noch garnicht geschrieben,« gestand sie mit großen Augen.
Louis lächelte und mußte sich sogar abwenden. Dann kam er zu ihr und nahm ihre Hand. »Das darf auch niemals geschehen, Lizzy – begreifst du denn nicht, warum?« Sie begriff es nicht; aber er war gut zu ihr, das begriff sie. »Willst du mich wirklich diesem Mann ausliefern, Lizzy, auf Gnade und Ungnade, daß er mich an den Meistbietenden verkaufen kann, wohl nicht für dreißig Silberlinge, aber vielleicht schon für dreihundert?«
Was für furchtbare Worte! Ihre Augen wurden blank vor nahen Tränen, sie sah wunderschön aus. »Das tut er nicht!« versicherte sie verzweifelt.
»Warum nicht?« fragte Louis zurück; »er ist Geschäftsmann – so bezeichnete er sich mir selber, als er im Juni zu mir kam und sich, um meine Aussichten bangend, von mir einen Schuldschein geben ließ – über die erste Wahlsumme.«
Miss Howard war so erschüttert, daß Worte aus früheren Zeiten in ihr aufstiegen. »Dieses Schwein!« rief sie in blanker Empörung, sie rief auch noch andere Worte, häßliche Worte, und sie klangen befremdlich aus ihrem süßen englischen Mund. Alle Rätsel des schlechten Gewissens schienen sich zu lösen, alle unbekannten Missetaten gaben sich schrecklich zu erkennen. Sie schimpfte, und dann weinte sie.
»Aber ohne ihn,« weinte sie, »ohne ihn kann ich kein Geld …«
Sie sah ihn unglücklich durch die Tränen an. Wie schön muß die weinende Venus sein, wie rührend auch: sie selber erkannte es; denn er lächelte und nahm ihren Kopf zwischen die Hände.
»Das bedachte ich schon geraume Zeit, liebe Lizzy, und deshalb dachte ich auch an dein Gut bei Civita Nuova und deshalb habe ich es von einem Genueser Bankier schätzen lassen – und er beleiht es mit sechzigtausend Römischen Talern, das sind dreihundertvierundzwanzigtausend Francs und für diese Summe kaufe ich es dir ab, liebe Lizzy, auf Kredit – und es wird kein schlechtes Geschäft für dich sein.«
Venus begriff das Geschäft nicht gleich, aber sie billigte es sofort. Ob es gut war oder nicht, stand ihr nicht im Sinn. Auf welchem Grad des Gefühles seine letzten Worte standen, vermochte sie in dem bedenklichen Auf und Ab dieser Stunde nicht mehr zu erkennen. Aber sie wußte, daß nun alles gut sei, küßte ihn und fragte schon etwas ganz Anderes: »Ist diese Miss Gordon wirklich eine so wichtige Person, Loulou?«
»Alle sind wichtig,« antwortete Louis; doch weil er sie beruhigen und belohnen wollte, fügte er lächelnd hinzu: »Aber niemand ist so wichtig wie du, liebe Lizzy.«
Das wollte sie hören. Es gab viele Sieger an diesem Tag.
Wenn die Rufe auf dem Platz von einer bestimmten Stärke waren, trat Persigny in den Salon und sagte: »Sire, bitte zeigen Sie sich.« Louis erhob sich gehorsam und sah in den Spiegel, aus Gewohnheit, nicht mehr in ängstlicher Prüfung; denn das Gesicht war schon lange wieder hinter den Namen zurückgetreten. Der Prophet öffnete die hohe Fenstertür, Louis trat auf das Balkönchen. Er stand hoch über den Rufen. Er sah auf den wunderbar geschlossenen Platz und auf die Menschenmenge, aus der die bronzene Säule in die Höhe schoß, zu dem ewigen Mann mit dem kleinen Hut. Bei den ersten Malen war es die Entrücktheit und Unerreichbarkeit des Hotelbalkons, die Louis beruhigte. Dann härtete und sicherte der mächtige Hall des Namens das Gesicht. Es konnte die Sonne scheinen und das Herbstlicht konnte weich oder spröde sein: das Gesicht blieb heil. Vielleicht hatte der Name das Gesicht geformt, weil es die gläubige Macht der Augen, die es zu sehen wünschten, so wollte. Vielleicht stand schon der Sieg auf dem Gesicht, und der Sieg macht stark. Louis blieb eine kleine Weile auf dem Balkon, unbeweglich über der Begeisterung, ohne Gruß und Lächeln, wie der noch höhere Mann auf der Säule; dann trat er zurück.
Je näher der Wahltag kam, desto stürmischer wurden die täglichen Demonstrationen auf dem Platz. Je näher dieser 10. Dezember rückte, desto breiter strömte der Name durch das Land. Der Name war zauberisch und der Prophet ein kluger Zauberer. Die Alten hörten die Legende, die Jungen den Liberalismus, die Aengstlichen die staatliche Ordnung, die Betrogenen und Unterdrückten die soziale Gerechtigkeit. Was war der starke Mann, den die Regierung präsentierte? Der Bluthund vom Juni, der Diktator, der Ausnahmezustand. Was war der große Dichter, der sich selber anbot? Der reine Geist, dem Volk unsichtbar und unverständlich. Die Regierungspresse wälzte Berge von Abneigung und verächtlicher Kritik in den Strom, die Witzblätter und Winkelblätter leiteten alle Abwässer des Hohnes und des Schimpfes hinein – er riß alles mit sich fort, auch die Jauche. Louis las pedantisch alle Angriffe; ihn schien nur der Gegner zu interessieren, nicht der neue und billige Heroismus der frisch entstandenen Prophetenpresse, die ihm alle Requisiten des großen N freigiebig übertrug, vom großen Blick bis zum kleinen Hut und von der Sonne bis zum Degen von Austerlitz. Louis las gerne und genau die andere Seite, und wenn er erfuhr, daß er in New York Zuhälter war und in London ganze Bordelle für sich in Anspruch nahm, daß er in Boulogne einzog, auf dem Hut einen lebenden Adler, und daselbst die armen Zweiundvierziger reihenweise mit eigener Hand erschoß, konnte er lachen (er lachte doch selten, er lächelte nur oft). Persigny wollte ihm wenigstens die neuen Paraphrasen über das alte Lied vom falschen Louis vorenthalten; doch Louis verlangte sie zu lesen und dann fragte er ihn lächelnd: »Wußten Sie das nicht?« Der Prophet tat verlegen. Ob er ablenken oder im heimlichen Zusammenhang bleiben wollte: er zog aus dem schönen, rotledernen, überaus ministeriellen Mappendeckel ein Wahlplakat und legte es vor. Die Ueberschrift lautete: Graf Leon an den Prinzen Napoleon Louis Bonaparte. Louis schob es beiseite. »Gehört es zum Schmutzhaufen?« fragte er. – »Durchaus nicht,« versicherte Persigny, »lesen Sie es ruhig.« Louis las flüchtig den langen, dreispaltig gesetzten, seltsam verblasenen Brief. Leon erinnerte ihn an seine Berufung, zitierte den toten Propheten Coëssin und den toten Kaiser und beschwor den Präsidentschaftskandidaten im Sinne der beiden leonischen Väter, des geistigen und des leiblichen, die sozialreligiöse und napoleonische Republik zu errichten. Louis schob ihm das Plakat zurück und sah so aus, als wolle er darüber kein Wort verlieren.
»Das ist doch gar nicht übel,« fühlte Persigny vor.
»Und warum zeigen Sie es mir?« fragte Louis mißtrauisch.
»Weil mir der Graf nicht ohne politischen Wert zu sein scheint.«
»Von dem persönlichen Wert des Comte waren Sie schon in London halbwegs überzeugt, Herr Vicomte. Nach dem Duell allerdings schrieben Sie die Biographie des Napoleons der Zuhälter, wenn Sie sich daran erinnern.«
»Ich schrieb sie anonym,« versetzte Persigny schamlos, »und würde sie jetzt nicht schreiben. Denn sie könnte eine andere Antwort zur Folge haben als dieses Wahlplakat.«
»Sie verstehen sich nicht übel,« näselte Louis, »das liegt jedenfalls am Standesbewußtsein.«
»Das liegt an der politischen Klugheit,« entgegnete der Unverwundbare, »Graf Leon gehört schon seit März zum Pariser Aktionskomitee, er ist unser Obmann von St. Denis, er ist tüchtig – und außerdem natürlich ein Erpresser. Er weiß ja alles mögliche.«
»Nur das Lied vom falschen Louis,« meinte Louis und trommelte auf die Tischplatte, »und es steht ja sogar wieder in den Gazetten. Aber ich weiß von ihm auch alles mögliche, und ich meine damit nicht seine vergangenen und gegenwärtigen Geschäfte – die kennen viele und am besten die Polizei –, sondern seine Zukunftspläne als Tyrannenmörder.«
War das wieder einer von den vertrackten Louisschen Witzen? Persigny überging ihn wie gewöhnlich. »Sire ich halte es nicht für klug, einen solchen Menschen vor den Kopf zu stoßen.«
»Das tue ich auch nicht,« sagte Louis, »weil mir meine Hand zu schade ist und weil er mir nur einmal einen Schuß Pulver wert war.«
Der Prophet schüttelte den Kopf. »Sie empfangen ihn also auf keinen Fall? Er bittet mich darum, so oft er mich sieht, und er bemüht sich doch durch seine Leistungen, dieses Lohnes würdig zu sein.«
Louis hatte schon müde Augen. »Fragen Sie ihn nach der Abstandssumme. Geben Sie ihm fünfhundert Franken statt der Audienz. Das ist die einzige politische Klugheit, die ich jetzt für ihn auswerfe. Später mag es Cayenne sein. Aber das brauchen Sie ihm noch nicht zu sagen.« Persigny schwieg gekränkt. Louis sah auf seine Finger und sagte: »Es gibt ja noch andere echte Illegitime. Meine Familie ist groß und sonderbar.«
»Walewski war noch nicht bei uns im Konventikel,« sprach Persigny sofort, der kundige Mann, »aber sein ›Messager‹ ist klar für uns, und daß der ›Constitutionnel‹ mitsamt dem Thiers plötzlich umgefallen ist, genau am 15. November, und jetzt auf unserer Seite liegt, das wissen Sie ja.«
»Es fallen alle Klugen um,« sagte Louis, »es kommen alle.«
Der Prophet strich mit dem Handrücken die Backenbartbüschel auf. »Gestern kam ein interessanter Gast ins Konventikel, von Plonplon eingeführt, ebenfalls aus dem Kreis des ›Constitutionel‹, ebenfalls bekehrter Royalist.«
»Der Doktor Véron?« fragte Louis.
»Nein,« antwortete der Prophet und lächelte nicht angenehm, »der August Morny.«
Louis wandte ihm das Gesicht zu, zögerte kaum und fragte: »Was ist mein Bruder für ein Mensch?«
Er hatte noch niemals von ihm gesprochen. Er nannte ihn jetzt Bruder, ganz ohne Ironie. Er schien vorauszusetzen, daß der Prophet, der alles wußte, auch über die sonderbare Familie unterrichtet war. Persigny war unterrichtet und diese dynastischen Geheimnisse gehörten für ihn nicht zu den schwierigen, wenn auch zu den diskreten Erkenntnissen. So war er froh, daß Louis es ihm ersparte, sein Wissen zu verleugnen und sich peinlich aufklären zu lassen. Persigny war ein respektvoller Mann. »Was für ein Mensch?« wiederholte er und lächelte wieder, halb wie ein Augur, halb wie eine Schranze, »ein kluger Mensch natürlich, sonst käme er nicht zu uns – aber ein undeutlicher Mensch.«
Die Beiden sahen sich an – sie sind sich ähnlich, dachte Persigny. – Louis dachte an seine Mutter Hortense, an Mornys Mutter Hortense. – Vielleicht wird er es mich büßen lassen, dachte er, daß ich sie ganz für mich verbrauchte.
Herr Thiers war von so kleinem Wuchs, daß sogar Louis gegen ihn ein hochgewachsener Mann war. Doch die Existenz des Herrn Thiers war ein neuer Beweis für das Gefallen des großen Geistes am kleinen Körper. Der politische Wind wehte seit der Novembermitte deutlich genug, um auch die Mittelklugen von der Richtung zu überzeugen. Doch Herr Thiers war zu klug und zu bedeutend, um nur einer von den vielen Ueberläufern zu sein und sich mit dem schönen Gefühl zu begnügen, daß er nach menschlicher Voraussicht auf die richtige Seite zu liegen komme. Er war Psychologe und hatte den Mann mit dem Namen studiert. Hinsichtlich des Namens war er, der Historiker des Konsulates und des Kaiserreichs, von anerkannter Kompetenz, er kannte auch den Gegenwartswert des Namens und stellte ihn nicht das erste Mal in die politische Rechnung. Was den jungen Mann betraf, so hielt er ihn nicht für dumm – schon weil nach der Erfahrung seines anspruchsvollen Lebens der Dumme nicht das Glück hat, nicht dieses Glück –, sondern für angenehm mittelmäßig. Nachdem sich die Hoffnung auf die eigene Kandidatur rasch verflüchtigte, zeigte sich dem Blick das besondere Bild eines mittelmäßigen Glückskindes namens Napoleon. Was mit einem etwas mehr als mittelmäßigen König und seiner fettbürgerlichen Zeit nicht gelang, konnte jetzt gelingen. Man wird mit einem lenksamen Mann regieren, und zwar mit dem Namen Napoleon – welch ein Kothurn sowohl für einen kleinen Mann als auch für einen großen Geist! Herr Thiers hatte Herrn Bonaparte gestern noch mäßig beschimpft. Er drehte sich um, er ließ sich einfach vom heftigen Wind drehen und lobte Herrn Bonaparte für das schicksalhafte Verdienst, Napoleon zu heißen. Dann ging er zu ihm, nicht als Ueberläufer, sondern als Mentor, als Gönner, als Ratgeber, stand mit durchgedrücktem Kreuz vor ihm, gar etwas zurückgebogen vor Gradheit, und brachte ihm, was ihm fehlte: die Klugheit, die Erfahrung, die Kunst des Regierens. Herr Bonaparte war ganz so, wie die Psychologie ihn einschätzte: ein vornehmer Mann, der sich so bescheiden gab, wie er war, gerne zuhörte, wenig sprach und immer der gleichen Meinung zu sein schien wie der Vortragende – ein liebenswürdiger Mann, der ein stilles Lächeln zeigte, als Herr Thiers wie von ungefähr auf sein Herz anspielte, das schon für Boulogne geschlagen und auch gelitten habe. Es war ein Lächeln nachträglicher und zukünftiger Dankbarkeit. Meister Thiers war mit der ersten Lehrstunde zufrieden, bog sich zurück und warnte durch die rhetorische Blume vor dem Grafen Molé, der ihm auf dem Fuße folge. Louis dankte ihm, stellte sich dem Grafen Molé zur Diagnose und empfing Ratschläge, die sich unter anderem auch, in vornehmer Form, gegen die Advokatenhänse in allen Gassen richteten. Louis lächelte liebenswürdig und schien den Hinweis nicht zu verstehen; denn er sagte: »Ich danke Ihnen, Graf, ich freue mich, und auch Herr Thiers gestand mir seine Freude über Ihre Mitarbeit.« Er ist etwas simpel, aber reizend, dachte Molé und war zufrieden. Auch der große Redner Berryer war zufrieden und gewann eine sehr gute Meinung von dem überaus geduldigen Zuhörer; denn die Geduld des Zuhörens war der Prüfstein des Redners Berryer, eines strengen Examinators.
Louis nahm alle Geber und alle Gaben. Er nahm auch dankend die größte Gabe des Herrn Thiers, das völlig ausgearbeitete und nur noch zu vervielfältigende Wahlmanifest. Er tat es in die Schreibtischschublade, wo schon ein anderes Manifest lag: von der Hand des Propheten. Er arbeitete an dem eigenen Präsidialprogramm weiter. Dann las er es den alten und neuen Freunden vor. Thiers und Persigny machten zuerst saure und dann betroffene Gesichter. Sie hörten keinen von ihren klugen oder hinreißenden Sätzen, aber sie hörten das Bekenntnis eines männlichen Denkers und eines großzügigen Sozialpolitikers. Louis las langsam, ruhig, mit seiner schweren Aussprache. Die Sätze waren von einer edlen Nüchternheit, eindringlich und wirksam. Das Manuskript war gut, überraschend gut. Persigny hörte bewundernd zu, er war nur der Prophet dieses seltsamen Geistes. Le Bas saß benommen, er wollte sich über diesen Schüler freuen; aber das viel zu schwere Herz ließ es nicht zu. Thiers lauerte wie ein Luchs.
»Ich möchte meine Ehre einsetzen, nach Ablauf der vier Jahre meinem Nachfolger die gesicherte Macht, die intakte Freiheit, den wahrhaften Fortschritt zu hinterlassen …«
Der Meister Thiers hatte endlich einzugreifen. »Was denn! Was wollen Sie denn damit! Streichen Sie diesen Satz, er ist unklug, streichen Sie ihn! Hüten Sie sich vor solchen Verpflichtungen! Verpflichten Sie sich zu nichts! Behalten Sie sich alles vor!«
Louis hob langsam den Kopf und sah seinen Lehrer an. Le Bas war bleich. War diese Unverfrorenheit erhört? Wurde die schändliche Spekulation mit dem Staatsschicksal schon in dieser Stunde laut! Er rief erregt: »Wenn Sie Ihre Ehre einsetzen, Louis, dann gilt der Satz – wenn nicht, dann streichen Sie ihn schnell!«
»Der Satz gilt,« sagte Louis leise und senkte den Kopf. Dann las er weiter.
»Gut,« lobte Thiers am Schluß, »sehr bemerkenswert, geschickt, politisch, glücklich formuliert – ich würde nur das Wort »übrigens« zu Anfang des letzten Satzes streichen.«
Louis legte das Manuskript schweigend in die Schublade. Der Pädagoge Thiers erkannte, daß das Lob den jungen Mann halsstarrig machte. Er bog sich zurück und prüfte ihn durch die blinzende Brille. »Prinz, wollen Sie nicht als Präsident die etwas sehr langen Schnurrbartenden ein wenig kürzen?«
Louis' lange Nase zuckte. »Wenn das Volk mich mit Schnurrbart wählt, lieber Thiers: wie darf ich es um die Enden betrügen?«
Man lachte, auch Thiers. Er hatte eine etwas hohe Stimme, und wenn er lachte, krähte er. »Köstlich!« krähte er; »aber weiter, zur Hauptsache. Das Kabinett hat unmittelbar nach der Proklamation zurückzutreten. In Parenthese: Sie vergessen dann um Gotteswillen nicht, Prinz, als erstem dem armen Cavaignac die Hand zu geben. – Wie steht es also mit der Ministerliste? Ist sie fertig? Dürfen wir Sie beraten?«
»Vielen Dank,« sagte Louis, »das ist die Aufgabe des Mannes, den ich mit der Kabinettsbildung beauftrage.«
Thiers war kein Zauderer, er tat schon die große Frage: »Haben Sie sich schon entschieden?«
»Ja,« sagte Louis, und durch die Herren ging ein Ruck. Louis sah langsam und aufmerksam von einem zum andern. Da saßen der berühmte Thiers, der berühmte Molé, der berühmte Berryer, Chefredakteure und Generäle – da saß der Prophet und sein rotbäckiges Gesicht schwang erregt nach rechts: lauter erhitzte Ministerpräsidenten, und nur der liebe Le Bas, dem er das Unterrichtsportefeuille angeboten und der es beinahe böse abgelehnt hatte, schaute blaß und gleichgültig in die Luft. »Ich bin ja noch nicht gewählt,« sagte Louis und lächelte, als wollte er sich entschuldigen, »aber ich habe lange nachgedacht und mich für einen Staatsmann entschieden, der nicht durch meine Vergangenheit belastet ist und dennoch gut zu mir war, als es mir schlecht ging. Ich bin nicht undankbar und vergesse nichts, und wenn es auch nur ein guter Brief war.«
Der Prophet schluckte und dann war die Enttäuschung verschluckt. War er nicht mehr als Kabinettschef? – Die Anderen suchten nach dem guten Brief.
»Es ist Herr Odilon Barrot,« sagte Louis endlich und lächelte wieder, »er ist nicht hier, er gehört zu den Spröden.«
Die anderen waren sehr still, mit der neuen Diagnose beschäftigt; denn die alte war fehlerhaft.
In der Mitte des festlichen Tisches stand ein Korb mit weißen starkwüchsigen Kamelien. Das war ein Geschenk Elizabeth Howards. Sie trug ein weißes Kleid, das tief unter den weißen Schultern begann, und eine Kamelie im Ausschnitt des Busens. Sie hatte jeden der Herren mit der Blume belehnt, sie liebte Kamelien. Louis, der alte Graf Flahaut, sein Sohn August Morny, Alexander Walewski, Persigny und Le Bas trugen Kamelien im Knopfloch des Frackaufschlages.
Es war der Abend des Wahlsonntags. Der Platz beruhigte sich nicht. Immer wenn die Boule-Uhr auf dem Kamin mit zarter Terz die volle Stunde anschlug, erhob sich der Prophet und ging ins Nebenzimmer. Man hörte ihn Vorhänge zurückziehen und ein Fenster öffnen. Dann zeigte er sich in der Verbindungstür, einen Pelzmantel über dem Arm. Louis stand auf und ging hinüber. Die Zwischentür schloß sich hinter ihm, die Rufe draußen brausten auf – dann kam er wieder zurück und etwas später Persigny. Alles geschah gleichsam diskret.
Es war eine verlegene Tafelrunde. Louis konnte nicht den schönen Walewski ansehen, ohne an Leon erinnert zu werden, und er wollte doch mit diesem gutmütigen, etwas vollen Kaisergesicht das andere, das fatale überwinden. »Warum sind Sie so spät zu mir gekommen, Herr Vetter?« fragte er plötzlich.
»Ach Gott,« meinte Walewski zögernd, »ich hatte begreifliche Bedenken, ich wußte nicht, ob ich angenehm sei …«
Er hatte die traurigen Augen von der Mutter und sie saßen anziehend und begütigend unter den strengen geraden Brauen und der cäsarischen Stirn.
»Sie sind sehr angenehm,« sagte Louis freundlich.
»Ich wollte Sie nicht kompromittieren – das wäre doch möglich gewesen.«
»Schon lange nicht mehr,« lächelte Louis.
»Ich wollte auch mir selber angenehm bleiben,« sagte Walewski; »denn ich war ein Freund der Königssöhne.«
»Das waren Sie doch auch, Herr Graf?« fragte Louis den Bruder.
»Ich bin es noch,« sagte Morny kurz. Er hatte bereits einen kahlen Kopf; aber es war nicht allein vom vergnüglichen Leben gekommen, sondern lag in der väterlichen Familie: dem Grafen Flahaut gingen schon die Haare aus, als er noch der Königin Hortense diente; der Großvater Talleyrand brauchte sich keine Tonsur schneiden zu lassen, als er einst im Dixhuitième Kleriker wurde. Morny hatte eine gewaltige Tonsur, erst in der Höhe der Schläfen saß der Kranz der Haare und nur über den Ohren standen sie in zwei dichten Büscheln ab. Seine weichen Backen waren glatt rasiert. Ein dunkler Schnurrbart verdeckte die Oberlippe, ein Knebelbärtchen das Kinn, die schweren Lider verdeckten die Augen, er war ein verdeckter Mann. Er hatte Hortenses lange, gerade Nase. Der Bruder sah ihn nicht gerne an. Sie waren sich so ähnlich wie die beiden Napoleoniden.
»Ich liebe Kamelien,« flötete Miss Howard, die sich vernachlässigt fühlte. Sie wurde vernachlässigt. Das Gemeinsame dieser Männer, die ihre Bindung mit keinem Wort, aber mit allen Gedanken belasteten, das Signum, das große N, das an ihren Anfängen stand, ihr Leben unterschiedlich beeinflußte und sie jetzt um diesen runden Tisch sammelte, war so erregend, mit neuen Fragen behangen, mit Hoffnungen, Zweifeln, Vorteilen und Zweideutigkeiten, doch vor allem mit der Zukunft jedes Einzelnen von ihnen, daß sie die gewohnte Galanterie nicht zu üben vermochten.
»Daß ich dieses Glück noch erlebe,« flüsterte Graf Flahaut, sah in die Kerzen und schüttelte den großartigen Kopf, den vielgeliebten, den von Hortense geliebten (und einmal von ihr im Takt der grausamen Salutschüsse geschlagenen). Er war jetzt dreiundsechzig und am Tisch der Einzige, der das Gemeinsame anzudeuten und ins Gefühlvolle umzusetzen wagte. Es war in diesem Kreis von Eingeweihten nicht ungefährlich, in solcher Form des Gemütes zu sprechen – sieh, die Brüder zogen die Brauen auf ganz ähnliche Art hoch –; denn Flahaut hatte viel Glück erlebt, Glück des Schönen und Behenden, Glück bei Frauen, Geliebter der Hortense und dann Gatte der Lady Keith (und seine dritte Tochter nannte er Hortense), Glück durch alle Szenen der Historie, General des Kaisers, schottischer Grande während der Restauration, General und Freund des Julikönigs und Pair und Botschafter. – Warum sagte er nicht: daß ich auch dieses Glück und immer nur Glück erlebe …
»Welches Glück?« fragte Louis grausam.
Flahaut war etwas schwerhörig, sonst fehlte ihm nichts. Sein Sohn antwortete für ihn: »Das Glück Ihrer Wahl.«
Die Brüder blickten sich wieder an; aber sie fanden sich nicht, beide in Deckung, beide mißtrauisch gegen das heimliche Gefühl, daß sie dennoch zusammengehörten.
»Das Resultat ist noch nicht bekannt,« sagte Louis, nur um ihm zu widersprechen; »jede Wahl kann Ueberraschungen bringen.«
»Es gab noch niemals eine Wahl so bar aller Ueberraschungen,« meinte Morny gelangweilt, »noch keine, die es jedermann erlaubte, ungestraft den Propheten zu machen. Die einzige offene Frage ist, ob Sie drei Viertel oder vier Fünftel der Stimmen bekommen.«
Louis lächelte. »Und wen haben Sie gewählt, Graf Morny?«
Der Bruder blieb ernst: »Ich habe Sie gewählt, Hoheit.«
»Warum eigentlich?«
»Aus Ueberzeugung.«
»Aus republikanischer Ueberzeugung?«
»Nein.«
Alle schwiegen. Die vielen Kerzen auf dem Tisch flackerten. Der Prophet, ohne feine Manieren, wohl auch aus Verlegenheit, trank seinen Wein schlürfend und schmatzend. Der Platz war laut. Die Göttin spielte mit ihrer Blume und sagte: »Ich liebe Kamelien.«
Louis sah Le Bas an, der still und leidend auf den Blumenkorb blickte und so blaß war wie die Kamelien. Louis dachte: ich hätte ihm diese Pein erspart; aber er wollte heute abend bei mir sein, gewiß nicht wegen des Triumphes, sondern wegen des Gewissens; er glaubt, er muß mein Gewissen sein, der liebe Mann. – Er wandte sich an den Bruder: »Vielleicht haben Sie dann falsch gewählt, lieber Graf.«
»Dann teile ich meinen Fehler mit drei Vierteln oder vier Fünfteln von Frankreich.«
»Das ist eine kühne Behauptung, Morny, oder sogar eine Blasphemie.«
Der Bruder zuckte mit den Achseln. »Man sieht Gottseidank nicht auf den Grund des Herzens – der ist gerne blasphemisch. Das Herz auf der Zunge ist es nicht, nicht wahr? Was schreien denn die Leute draußen, wenn Sie auf den Balkon treten, Prinz?«
»Den Namen,« sagte Louis leise. Er sagte nicht: meinen Namen.
Morny nickte, das gefiel ihm. – Er ist sehr klug, dachte er. Dann sagte er: »Der Name ist eine republikanische Blasphemie, dafür können Sie nichts, Hoheit, und wenn die Leute der Deutlichkeit wegen den Namen als Titel schreien, dann können Sie auch dafür nichts. Kaiser kommt nun einmal von Cäsar.«
Le Bas preßte die Hände zusammen; man sah auch, daß er die Zähne aufeinanderbiß. Louis sagte – und er fühlte, es geschah nur aus Liebe für Le Bas: »Falsch, Graf Morny, ich habe für alles einzustehen, auch für die Rufe, ich habe zwischen Namen und Titel Unterschiede zu machen, und meine erste Amtshandlung wird sein, lieber Herr, den Staatsanwalt gegen die Titelrufer vorzuschicken.«
Morny lächelte: »Warum haben Sie den Namen nicht abgelegt, Bürger Präsident, dann kämen die armen Teufel nicht ins Gefängnis und Sie …«
Er stockte, Louis lächelte ganz wie der Bruder: »... und ich nicht ins Elysée, gewiß. Aber kann man den Namen ablegen, wenn nun einmal das Leben daran hängt?«
»Das kann man nicht,« sagte Morny ernst, »und ich weiß nicht, ob Sie zu beneiden sind.«
Es stand etwas zwischen den Brüdern, es war wohl die Mutter Hortense; doch Louis wußte jetzt schon nicht mehr, ob sie sie trennte oder gar verband.
Graf Flahaut nickte versonnen vor sich hin und tat um des vollen Gefühls willen viel älter als er war. »Ja ja,« nickte er, »das Leben ist wunderbar.«
»Oh yes,« sagte Miss Howard und bettete das Gesicht in zwei Kamelien und das blonde Kerzenlicht streichelte ihr blondes Haar.
»Das finde ich auch,« gestand Louis und sah dem Napoleoniden Walewski in das Casanova-Gesicht. »Kennen Sie eigentlich, Graf Alexander, einen Kerl namens Leon?«
»Leider.«
»Halten Sie ihn für fähig, mich zu ermorden? Er sprach einmal davon.«
Die Göttin schrie auf und verbarg sich in den Blumen.
»Es kommt auf die Bezahlung an,« antwortete Walewski mit Gleichmut, »Geld macht ihn unfähig zu allem.«
»Ich werde zahlen,« sagte Louis. Morny lächelte.
»Wenn man so zurückdenkt …« flüsterte Vater Flahaut aus weiter Ferne, über sein Glas gebückt, und sah in das braune Rot des alten Burgunders. Auch der Wein bebte gerührt. Die Kaminuhr spielte mit süßen Glöckchen die Stunde auf. Dieses Mal erhob sich Louis noch vor dem Propheten und ging hinaus, von Persigny gefolgt.
Der Platz lärmte. »Wie muß er glücklich sein!« staunte Flahaut ganz für sich; denn er hörte den Platz nicht.
»Er kann es nicht zeigen,« sagte Venus mit großen Augen.
»Er ist nicht glücklich,« sagte Le Bas und es war wohl sein erstes Wort an diesem Abend.
»Natürlich ist er glücklich,« sagte Morny wegwerfend.
»Er weiß nicht einmal, was Glück ist,« beharrte Le Bas feindselig; »er hat es nie gewußt und nie erfahren.«
»Er hat es zeitlebens gewußt und erfährt es jetzt.«
»Welches Glück denn, Herr Graf, – was ist denn sein Glück?«
»Die Macht, Herr Professor, natürlich die Macht.«
Louis saß nebenan in einem Sessel und legte müde den Kopf zurück. Die Balkontür stand schon offen, der Platz schickte Kälte und Jubel ins Zimmer. Die Luft in ihrer besonderen Mischung tat wohl; Louis hob den Kopf und sah in den Ausschnitt der Nacht. Die große, laute Freude fuhr eiskalt herein und wärmte doch das Herz. Er stand auf, Persigny legte ihm den Mantel um: »Hören Sie, Louis, wie es zugeht – vielleicht kursieren schon Wahlziffern …« Der Prophet wurde vertraulich vor Freude, er tat, als wollte er den Mantel ordnen, und drückte die Arme des Herrn.
Louis trat in die Tür, genau an die Stelle, wo ihn das volle Licht der Zimmerlüster noch überschüttete. Der Prophet hatte den richtigen Stand mit einem Kreidestrich markiert. Louis war geblendet und sah nicht viel: Laternen mit Nebelhauben und Fensterlichter, die die Nacht durchstachen. Allmählich ging die Kontur der Säule ungewiß in seinem Blick auf; aber der Kaiser blieb verborgen in seiner schwarzen Höhe. Allmählich ließ sich das Meer der Köpfe sehen oder doch ahnen und über ihm und seinem Jubel blinkten hier und dort Tücher und Fahnen wie Irrwische. Louis lächelte, vielleicht sah man es. Er fühlte sich sicher wie noch nie, vielleicht war es die Freude. Er stand im Licht, allein und erhoben, das Licht war mild und ergeben. Vielleicht ergäbe sich ihm jetzt auch die Sonne, schiene sie. Er hörte hinter sich im Zimmer eine kleine Unruhe; aber er konnte sich nicht umdrehen und stand seine Zeit, sogar ein wenig über die Zeit. – »Ich freue mich,« sagte er laut und doch allein für sich, als er zurücktrat.
Der Prophet hielt Zettel in der Hand – wahrhaftig, er hatte Tränen in den Augen. »Die ersten Pariser Resultate – Louis, es ist wunderbar …«
Louis flog die Zettel durch. Er lächelte. »Es ist nicht wunderbar, sagt mein Bruder. Sie hörten es doch. Mein Bruder hat recht, das ist alles.« Aber die Zettel in seiner Hand zitterten. Er steckte sie in die Tasche und ging im Zimmer auf und ab. Er blieb vor Persigny stehen und legte ihm den Arm um die Schulter. Das hatte er noch niemals getan. »Hören Sie, alter Freund, wir sagen drüben garnichts, wir bringen ja keine Ueberraschung, sagt mein Bruder – und ich habe Angst vor den Glückwünschen meiner Familie …«
Sie gingen zurück. Der Raum war heiß und roch nach verbrannten Buchenklötzen, Wachskerzen, Parfüm und Speisen. Louis setzte sich still.
»Dieses Mal haben Sie lange gearbeitet, Hoheit,« bemerkte der Bruder.
»Oh!« rief Venus mit ganz hoher Stimme, »Sie haben meine Kamelie verloren, Loulou!« Und sie schmückte ihn mit einer neuen.
Es war schon spät, der Platz schwieg schon lange. Louis und Le Bas waren allein. Der Lehrer ging auf und ab, ruhelos.
»Quälen Sie sich nicht so, Philipp,« bat Louis.
»Ich quäle mich, Louis, weil Sie sich nicht quälen.«
»Ich habe keinen Grund.«
»Sie sind jetzt glücklich, Louis?«
»Ich glaube beinahe.«
»Weil Sie die Macht haben?«
»Vielleicht ist es wirklich wegen der Macht.«
»Das klingt nach Herrn Morny.«
»Er ist ja auch mein Bruder.«
»Sie beriefen sich früher auf keinen Bruder, Louis, und dieser politische Freibeuter bekannte schlimme Sentenzen.«
»Ich schalt sie blasphemisch, Lieber.«
»Es gibt Lästerungen, die sich erfüllen.«
»Was sich erfüllt, ist Schicksal, und das steht nicht in unserer Hand.«
»Und das Volksschicksal, das in die Hand des Mächtigen gelegt ist?«
»Ich will meine Pflicht tun, sonst nichts,« sagte Louis ruhig.
Le Bas blieb vor ihm stehen. »Louis, was ist Ihre Pflicht?«
»Mit aller Macht dem Volk zu helfen.«
»Louis, sind Sie aufrichtig?«
»Jetzt kann ich es sein.«
»Sind Sie noch Prätendent?«
»Seit heute Präsident.«
»Louis, genügt es Ihnen?«
»Es genügte sogar einem noch heftigeren Ehrgeiz, als es der meine ist.«
»Und wenn Herr Morny will, daß Sie Kaiser werden?«
»Dann lache ich ihn aus oder verhafte ihn.«
»Und wenn das Volk will, daß Sie Kaiser werden.«
»Dann werde ich …«
»Louis,« unterbrach Le Bas und schrie fast aus der Angst des Herzens, »Sie müssen den Eid auf die Verfassung schwören!«
»Ich werde schwören,« sagte Louis.
Louis lag schon im Bett und las in den schönen Gedichten des großen Dichters. Das edle Gleichmaß der Verse pflegte ihn einzuschläfern. Thelin steckte den Kopf durch die Tür, der Herr Vicomte de Persigny bittet dringend, ihm noch ein paar Minuten zu schenken. Louis nickte.
Der Prophet erschien, rotbäckig zwar, doch mit verwirrten Augen. »Läßt Sie das Glück nicht schlafen?« fragte ihn Louis.
»Nein, Sire, das Glück nicht und ein paar Gedanken nicht …« Louis zeigte auf einen Stuhl. Persigny setzte sich und strich mit dem Handrücken über den Bart.
»Es ist bald zwei Uhr,« bedeutete Louis, »ich lese schon das zweite Gedicht meines Konkurrenten mit 0,2 Prozent der Stimmen. Beim dritten Gedicht wäre ich eingeschlafen.«
»Sire,« sagte Persigny, sonderbar erregt, »wir wollen zu Ende denken. Wir haben noch acht Tage Zeit bis zu Ihrer Amtseinführung. Wir haben die ganze Armee, die Nationalgarde und drei Viertel der Bevölkerung. Wir können in vierundzwanzig Stunden die Staatsform ändern …«
Er schwieg. Louis lächelte, den Kopf auf die Hand gestützt. »Das nennt man Hochverrat, lieber Freund. Aber ich bin noch nicht im Amt und will es vergessen haben, wenn ich morgen früh aufwache.«
»Louis,« flüsterte der Prophet und beugte sich vor, »begreifen Sie doch – es ist doch … es soll doch verhüten … – Sie müssen sonst den Eid …«
»Ich werde schwören,« sagte Louis.
»Nein!« rief Persigny und sprang auf.
»Ich werde schwören.«
Der überfüllte Saal der Nationalversammlung hielt den Atem an. Napoleon stand auf der Estrade des Parlamentspräsidenten. Es war vier Uhr nachmittags. Die großen Lüster brannten schon. Ein Diener stellte zwei feierliche Leuchter auf den Tisch. Hinter dem einen stand der Präsident, hinter dem anderen stand Napoleon und bewegte nicht das Gesicht.
Der Präsident sagte: »Ich lese jetzt die Schwurformel: Angesichts Gottes und vor dem französischen Volk, vertreten durch die Nationalversammlung, schwöre ich, der demokratischen, einen und unteilbaren Republik treu zu bleiben und alle Pflichten zu erfüllen, die mir durch die Verfassung auferlegt sind.«
Napoleon hob die Hand und sagte mit sanfter Stimme und harter Aussprache: »Ich schwöre es.«
Der Präsident wandte das Gesicht dem Saal zu und sagte: »Ich nehme Gott und die Menschen als Zeugen dieses Schwurs.«
Gott blieb still. Die Menschen draußen schrien den Namen.