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Fortuna infortuna fortuna
Epitaph der Hortense
Die Legende ist zerschlagen. Tod und Leben gehören nicht zusammen. Name und Narrheit, Ruhm und Rebellion müssen geschieden werden. Der Kriegsgott kommt ins Pantheon, der Paria kommt in die Zitadelle, für immer.
Der Baum lebt länger als der Mensch, der Stein ist die Dauer. Holz ist härter als Fleisch, Stein ist hart wie die Leblosigkeit. Nur Gott in seinen alten Häusern erweckt den Stein zu Geist. Zitadellen sind nichts als Härte und Dauer, sie sind böse. Sie sind böser als Leben und Tod, sie strafen Leben und Tod Lüge, sie stehen zwischen Leben und Tod als der grimmigste Versuch mit der Starre des Irdischen. Louis war zweiunddreißig Jahre, die Zitadelle achthundert Jahre alt, als sie ihn schluckte.
Der Kampf des Lebens mit der Dauer ist sehr grausam und hoffnungslos. Das Urteil, das ihn, den jungen Menschen Louis, auf Lebensdauer gegen die Quadern hetzt, wird keine Rille in dem Stein zurücklassen; denn für den Stein ist der neue Mensch nicht mehr wie eine neue Mauerassel in seinen alten Fugen. Louis weiß es; denn er kennt alle Zitadellen der Erde aus seinen bösen Träumen, und die Träume kamen von den wachen Angstblicken auf die Engelsburg, als er die römische Komödie aufführte, und auf die Rocca von Spoleto, als er sich von dem gütigen Gottesmann Mastai verstecken ließ, und auf die nachtböse Festungsmauer von Straßburg, als er sich zur Hauptprobe für das plagiatorische Napoleonstück in die Stadt hineingähnte. Die Forts standen hinter den unernsten Aufführungen seines Lebens wie heftige Verweise, und da er selber, der ernste Mensch, unter den Komödien litt, zu denen er sich verurteilte, war die dunkle Angst vor den Zitadellen zugleich auch das Gefühl, daß das Leben einmal so schwer sein würde wie seine schwere Seele. Es gibt eine Beziehung zwischen dem Sinn und dem Bild der Angst, die nicht nur die Ahnungen herstellt, sondern auch das innere Schicksal schon längst nach dem Bild geformt hat. Der eingeschlossene Louis, ein verlorener Mensch, entdeckt jetzt, daß seine Seele schon lange eingeschlossen ist. Vielleicht ist es ein kleiner Trost. Die Ahnung hing nicht an fremden Bildern; denn die Geduld, in der du schon lange wohnst und dich auskennst, ist eine Zitadelle und, Louis, die Legende war auch eine Zitadelle.
Es gibt nicht den kleinsten Trost, in das Verließ die Verlassenheit mitzubringen. Es ist das Ende des Kampfes vor seinem Beginn, das Ende der Hoffnung, das Ende des Lebens: zu erkennen, daß das Schicksal keinen Seitensprung gemacht hat. Das Leben weiß nicht, was das Endgültige ist; die Zitadelle vermißt sich zu wissen, was nur der Tod weiß. Louis klopfte in Boulogne mit seinen unfesten Fäusten an das felsenhafte Festungstor, daß es sich ihm öffne; er klopfte von außen. Jetzt, in Ham, müßte er von innen gegen die Jahrhundertkruste der Sperre klopfen, mit der Leidenschaft des jungen Lebens, die aus den Fäusten Hämmer macht. Warum tat er es nicht? Weil Ham das steinerne Ende vom Lied war.
Die Zitadelle von Ham hat ihr klobiges Viereck mit den vier brutalen Rundtürmen und den drei Mauerwällen so heftig in die picardischen Sümpfe geschlagen, daß man meinen könnte, der Steinblock, älter als das Moor, habe schon der Landschaft so weh getan wie den armen Menschen, für die er gebaut war, und das tote Wasser ringsum sei der Angstschweiß der getroffenen Erde. Und dann war es Herbst, als Louis in die Festung kam, die Jahreszeit galt nichts dem Stein, der sie nicht fühlte und nicht zählte, aber sie bedeutete viel für die gestempelte Landschaft und die gestäupte Seele. Der Herbst war ein endloser Regen der Melancholie, so weit der Blick reichte, die Landschaft tropfte vor Oede und schwamm in Traurigkeit, die Welt war naß in Nebelschwaden und selbst unter der weinerlichen Sonne, bis zum Horizont zog sich die klebrige Lake der stehenden Wasser, alle Wasser standen schüchtern, zäh und ergraut um die wütige Darre der Festung, der Kanal von St. Quentin, der faul und faulig im Süden und Westen die Fortmauern entlang scheuerte, kroch so unwillig durch die große Feuchte, als möchte er in jedem Augenblick im allgemeinen Stillstand der wäßrigen Schwermut verenden; und unten hockte die Stadt Ham still und ernst wie ein Karthäuserkloster, und nur die Sonne glitzerte mit schmalem Leben durch die Ebene und die zahllosen Wasserhühner schnatterten dumm.
Louis war betäubt, als hätte ihn der Steinschlag der Hoffnungslosigkeit auf den Kopf getroffen. Die Fortgarnison hatte eine Tambourschule, sie trommelte hinkend und hilflos, immer wieder unterbrochen, immer wieder übend; und Trompeter lernten das Blasen, wimmernd, kreischend, hartnäckig auf eroberten Tönen turnend. Louis stöhnte und lief in seinen beiden Zimmern auf und ab, stundenlang. Das Leben lang? Was ist das: lebenslang? Vielleicht wirst du über diese Frage wahnsinnig und schlägst den Kopf gegen die Wand zum Takt der maßlosen Sekunden. Vielleicht ist das Leben gar nicht lang, und seine Abkürzung der Trost, der sich hinter der Verzweiflung hält.
Man behandelte ihn gewiß nicht unmenschlich. Er hatte zwei Zimmer, und das Innenministerium hatte sechshundert Franken für ihre Instandsetzung ausgeworfen. Im Wohnzimmer war ein großer Mahagonischreibtisch, eine alte Kommode, ein Kanapee, ein Sessel, vier Strohstühle und ein Tisch mit grüner Decke. Im Schlafzimmer stand ein breites Bett, eigentlich ein Ehebett, eine weißgestrichene Waschtoilette und ein Stehspiegel. War es nicht ein menschenwürdiges Gefängnis? Konnte er nicht im Hof und auf den Wällen spazieren gehen? Und hatte er nicht, eine besondere Gnade, zwei Mitgefangene, zwei Freunde, Montholon und den lieben Doktor Conneau, die im gleichen Stockwerk wohnten und mit ihm sprechen, speisen und Kartenspielen durften, und Thelin als persönlichen Diener? (Und der Prophet? Er saß in einer anderen Zitadelle, es gab genug, er saß für zwanzig Jahre in Doullens; aber er hatte vor dem Pairshof eine Rede gehalten, die noch viel großartiger war als Louis' leise, würdige und erschütternde Worte, er hatte in das Land gedonnert, von der Idee, vom Mut, von der Wahrheit und der rächenden Zukunft, daß die Zeitgenossen die unangenehmen Fragen und Feststellungen des Gerichts bezüglich des adligen Namens und des gräflichen Standes rasch vergaßen und sich sagten: welch ein Mann!)
Die Fenster waren vergittert. Es ist nicht erstaunlich, es gehört zur Natur der Zitadelle, daß sie ihre eisernen Tausendfinger über die Luftlöcher stülpt, die die Mauer den Menschen einräumen mußte; denn die Gefangenen, sterben sie auch ab, wollen nicht ersticken: doch sie sollen absterben und nicht davonlaufen. Die Fenster waren vergittert. Louis litt darunter, als stülpte ihm die marternde Zitadelle – weil er in ihrem Innern und gar noch in einem wohnlichen Winkel ihr Medusenantlitz nicht mehr sah – eine kleine Zitadelle über das Gesicht. Sie vergitterte seinen Blick, damit er sie keinen Augenblick vergäße; und er verhängte die Augen mit Lidern und Wolken, damit er sie nicht sehe. Ach es war sein alter Blick in die Welt; und scheute er sich nicht vor dieser Art Gedanken, die ihm ja nichts halfen, sondern ihn noch unglücklicher machten, so könnte er zu seiner Zitadellenseele noch die immer verhangenen Augen rechnen. – Ich glaube, ich bin schon sehr krank im Gemüt, und Conneau sieht mich immer an und weiß nicht mehr, was sagen. – Louis vernebelte das Gitter oder er kam mit dem Gesicht so nahe an die Stangen, daß er zwischen sie hindurch sah und sie schon aus dem Blick verlor, als gäbe es keinen Augenkäfig. Dann sah er die Wasserleiche der Landschaft, die er auch nicht sehen wollte, und unter sich sah er den Exerzierplatz. Er schaute den Soldaten zu, wo er nur konnte, aus dem Fenster und von den Wällen, aus Langeweile, Kummer, Einsamkeit und aus Bosheit. Denn auch die Achselklappen der Soldaten zeugten von Bosheit Die Fortbesatzung bestand aus vierhundert Mann Infanterie, und sie war zusammen mit dem Gefangenen eingerückt, ihm zur Unehre. Sie setzten sich aus Straßburger Sechundvierzigern und Boulogner Zweiundvierzigern zusammen, aus den Siegern über den Rebellen. Es waren Straßburger, die den kleinen Hut gesehen, und Boulogner, die die Proklamationen ohne Datum gelesen hatten, und alle hatten den neuen Napoleon sprechen hören und scheitern sehen, und jetzt durften sie ihn bewachen, lebenslänglich. Der Fortkommandant war der Platzkommandant von Boulogne, Major Demarle, ein großer, fülliger, freundlicher, aber sehr genauer Herr. Die Regierung verstand sich auf Pädagogik und sie war boshaft, aber doch auch ängstlich. Sie traute den Siegern nicht völlig, trotz aller Bewährung. Sie gab einen Befehl, der sonderbar war oder sogar grausam, wenn nicht die Zitadelle die kleinen Grausamkeiten der Menschen verschlucken würde wie ihre kleinen Gutmütigkeiten. Der Befehl lautete: kein Soldat darf den Gefangenen ansehen. Es ist sonderbar oder sogar grausam, einen Menschen nicht ansehen zu dürfen. Ein Zivilist würde vielleicht die Härte durch die vielen geschmeidigen Arten des Uebersehens und Vorbeisehens mildern können. Der Soldat hat Order zu parieren, augenfällig, durch den Ruck. Die Ehrenerweisung des Soldaten kennt den Ruck des Kopfes in das Blickfeld des Gegrüßten. Die Angsterweisung der Hamer Fortmannschaft war der Ruck des Kopfes dorthin, wo der neue Napoleon nicht stand. Der arme Louis war boshaft; er sah die armen Soldaten an, wo er nur konnte, auf den Gängen, im Hof, auf den Wällen, – und die Käppis rückten wie gestoßen auf die andere Seite. Aber die Bosheit des Befehls war stärker als die Bosheit des Paria. Das Menschengesicht ist geschaffen, um angesehen zu werden. Das ist seine Würde und seine Ehrung Gottes. Das unangesehene Gesicht wird blind und trüb und sinnlos. – Ach mein Gesicht, immer mein Gesicht, mein unansehnliches Gesicht! – Unansehnlich. Louis quälte sich mit diesem Wort. Es ging ihm nicht gut, die Gedanken rannten im Kopf umher, wie er in seinem Gitterfensterzimmer, die Assoziationen schüttelten ihn und nahmen ihn sehr mit, er stieß sich innen und außen an der Zitadelle. Unansehnlich! Es hörte nicht auf mit dem Gesicht, und wie lange war es her, daß es damit begann! – Die Soldaten sehen mich nicht an, o sie haben mich begriffen, ich wollte es ja in Straßburg, daß sie mich nicht ansehen, der helle Tag tat mir weh, ich wünschte mir Schatten für den Sonnenbrand – und jetzt habe ich alles gefunden, was in mir versteckt war: die Zitadelle und die Unansehnlichkeit!
Er preßte die Fäuste gegen die Schläfen, er rief Montholon, Conneau, Thelin. »Mich ansehen!« flehte er und sein Blick bettelte von einem Gesicht zum andern. »Seht mich an, seht mich doch an!«
Die drei Freunde schenkten ihm den Blick, so oft er danach begehrte – ja, die drei Freunde; denn es waren nicht zwei Freunde und ein Diener. Dieser Diener Thelin mit dem unjungen Gesicht, dessen steifgebügelte Respektsfalten in diesem Leben nicht mehr gestört oder verschoben werden konnten, war ein Freund besonderen Grades; denn er war kein Gefangener, man hatte ihn an Bord der »Edimburgh Castle« verhaftet oder eigentlich nur zusammen mit der Geldkasette beschlagnahmt, das Geld behalten und ihn laufen lassen; denn der Staat richtet den Usurpator, aber nicht den Lakai. Doch der Lakai lief nicht fort, er blieb im Dienst; Arenenberg, Carlton-House, die Conciergerie und die Hamer Zitadelle unterschieden sich nur durch das Vorhandensein oder den Mangel an Komfort für den Herrn, der ein guter Herr war, die Festung hier war schon wieder viel besser als das Pariser Gefängnis, die nächste Steigerung brachte möglicherweise wieder ein Schloß, hoffentlich kein zu großes, weil zahlreiche Dienerschaft für ihn, Thelin, nur Aerger und wenig Entlastung bedeutete – und wenn der Herr die Pantoffel haben wollte, ob hier oder da oder dort, so brachte er ihm die Pantoffel, und wenn er angesehen werden wollte, so sah er ihn an.
Die Augen des Generals Montholon waren müde und hoffnungslos, zwanzig Jahre Festung auf achtundfünfzig Jahre des Lebens ergeben eine Summe, über die der Blick nicht hinwegkommt. Louis verstand sich auf den Ausdruck des Gesichts, das mit der Aussicht auf das Lebenslängliche nicht fertig wird. Montholons Augen also gaben weder Trost noch Ruhe. Die Augen des Freundes Conneau waren zu besorgt und ärztlich und sie glichen zu sehr dem Blick hinter der Boulogne-Säule. Sie erinnerten zu sehr an den Angstschrei und an die Pistole, an das Mißverständnis also, – und daran, merkwürdigerweise, wollte man nicht denken. Nur der Blick des Freundes Thelin war so wie immer, kühl, unaufdringlich und artig, wie in London und wie in Arenenberg, er gab wenigstens die Sicht in die Vergangenheit frei; und so bemühte sich Louis, im Sessel hockend und den Kopf an die steife Lehne legend, Hortenses berühmte Augen wieder zu sehen. Es war nicht leicht, er konnte sie beschreiben, er konnte sich erinnern, daß die Zärtlichkeit im Wimpernkranz das ewige Licht dieses Mutterlebens war: aber er sah die Augen nicht mehr, und das Hortense-Bild an der kahlen Kalkwand unterstützte nur die Erinnerung, aber machte nicht den Blick lebendig. Und die andern Frauen, die ihn angesehen hatten? Louis dachte heftig an die vielen Geliebten; aber sie wurden nicht deutlich, die ungewissen Konturen zerflossen, es rächte sich jetzt, daß seine geschwinde Sinnlichkeit über die Frauen hinfuhr, ohne sie sich einzuprägen: jetzt täte es ihm gut und jetzt sah ihn keine an. – Mein Gott, dann mögen Miss Gordons süchtige Dauerblicke auftauchen! Weiß der Himmel, wo sie ist, sie wurde nicht verhaftet, sie scheint verschollen, jemand sagte, sie gebe in Rußland Konzerte, sie denkt gewiß an mich, sie macht gewiß aus ihrem treuen Dienst eine Mitschuld an meinem Unglück und quält sich unter der Gewissenslast und wird noch rascher alt: aber ihre hungrigen Augen sehe ich nicht. – Die Zitadelle versperrte seinen Blick, wohin er auch schaute, sie war rund um ihn herum, oben und unten, vor und hinter der Zeit, innen und außen, sie war allgegenwärtig und endgültig. Was konnte jetzt noch kommen, außer dem äußersten Gedanken, gegen den man sich hitzig zu wehren vermochte, weil man an ihn nicht glaubte, immer noch nicht glaubte?
Es kam das kleine Wunder.
Es duftete plötzlich nach frischer Wäsche. Was ist das für ein guter, neuer Geruch und wie duldet ihn die Zitadelle, die doch nichts als unduldsam ist? Er schaute auf. Ein Mädchen mit einem Korb geplätteter Wäsche ging hinter Thelin durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Sie sah im Vorbeischreiten den Gefangenen an, sehr neugierig und etwas verlegen. Sie hatte ein lustiges Gesicht und Augen, die vor Leben blitzten. Sie war sehr jung. Ihre Neugierde war viel stärker als ihre Verlegenheit. Jetzt stand sie im Schlafzimmer so, daß sie durch die offene Tür den Gefangenen sehen konnte. Thelin nahm die Wäsche aus dem Korb, er war ein flinker Mensch, man konnte ihn nicht gut bitten, keine Eile zu haben. Das Mädchen kam zurück. Es duftete wieder nach frischer Wäsche, und ihr Korb war doch leer, es duftete nach Frische, es war ein unglaubhafter Durchzug von Jugend durch den vergreisten Raum.
»Halt,« sagte Louis, »halt!«
Das war die Siegerin über die Zitadelle, Eleonore Vergeot, zwanzig Jahre alt, Tochter eines Hamer Fabrikwebers, Plätterin bei der Frau des Festungstorschließers, dann Aufwärterin bei dem Staatsgefangenen Louis, dann seine Freundin. Sie war groß, kräftig, fast ein wenig drall, braunhaarig, blauäugig und weder in der Arbeit noch in der Liebe zimperlich. Sie war jung und lustig, sie brannte vor Jugend und Lustigkeit und wo sie war, war es hell. Sie wußte nichts von ihrer Magie, sie war wie ein Kind unverdüstert und ungeteilt; aber Louis sah ihre Kraft auf den ersten Blick, er griff nach ihr und hielt sich an ihr; denn er war ein Ertrinkender. Er wollte sie um sich haben. Sie mußte ihm die Speisen reichen, damit es ihm schmeckte. Als sie das erste Mal des Nachts zu ihm kam, nach frisch geplätteter Wäsche duftend, zutunlich zärtlich und nicht ohne Stolz über diesen Liebhaber, der nicht der erste, aber der wunderbarste war, der Märchenprinz im Kerker, war er über ihren jungen Körper glücklich wie noch nie und gut zu ihr wie noch zu keiner Frau. Die Zitadelle gab klein bei, das kahle Schlafzimmer wurde warm und heimlich durch ihre Liebe, die Gitterfenster selbst schützten ihre Liebe. Dann schlief sie neben ihm in dem breiten Ehebett, ruhig, sorglos und zufrieden, und. selbst ihr Schlaf war heiter und erheiterte die ernste Nacht. Louis lächelte, er schlief nicht, er hörte auf ihre festen Atemzüge. – Ich dachte nicht daran, das Leben aufzugeben, ich denke nicht daran, das Leben hat mich lieb! – In der Frühe wollte sie in ihre Kammer schleichen, ganz wie eine Magd. »Nein,« sagte Louis, »du bleibst. Ich denke nicht daran, dich zu verheimlichen. Ich habe dich sehr lieb, Kindchen.« Sie blieb; aber sie hatte ein wenig Angst. Um acht Uhr kam der Kommandant, wie an jedem Tag. Louis empfing ihn im Schlafrock, wie immer, und sagte lächelnd: »Major, Sie dürfen einen Blick ins Schlafzimmer werfen, um ein für allemal die Augen zuzudrücken.« Der Kommandant tat es und sagte: »Prinz, das geht nicht.« – »Demarle,« meinte Louis voller Ruhe, »das ist meine Frau. Durch sie ertrage ich dieses Leben. Wenn Sie sie mir wegnehmen, breche ich aus. Wenn Sie mich einfangen, breche ich wieder aus. Wenn Sie mich wieder fangen und mich mürbe kriegen, hänge ich mich auf. Ueberlegen Sie es sich.«
Eleonore blieb bei Louis. Sie wohnte bei ihm, sie sorgte für ihn, sie liebte ihn, sie war seine Frau. Sie war keine Plätterin mehr, aber sie roch immer nach frischgeplätteter Wäsche. Sie sang, lachte, schwätzte, wenn es ihm gut tat, sie zu hören; sie war ganz still und plötzlich unsichtbar und nur spürbar wie ein guter Geist im Raum, wenn er am Schreibtisch saß oder mit den Freunden und bald auch mit Besuchern ernste und etwas schwer verständliche Gespräche führte. Sie hatte die erstaunliche Gabe zu fühlen, wann ihre laute und wann ihre leise Lebensfreude am Platz sei. Ihre frauliche Anmut fand ganz aus dem Gefühl den Sinn ihrer Bedeutung für ihn. Im Handumdrehen bannte sie mit Decken und Deckchen, Wandverkleidungen und Vorhängen die letzte Grämlichkeit aus den beiden Räumen. Die Soldaten, die den neuen Napoleon nicht ansehen durften, grinsten seine Frau an und nannten sie auch: die Kaiserin. Eleonore hörte es nicht ungerne; sie war außerhalb der beiden Zimmer ein klein wenig hoffärtig, und wenn sie durch die Gänge und Höfe des Forts oder, hin und wieder, durch die engen Hamer Gäßchen schritt, ganz hell durch die sonderbare ernste Welt, trug sie ihren jungen Ruhm und ihren jungen Körper wie eine Königin, wie eine heitere Kaiserin mit lustigen Augen.
»Sie haben eine gute Partie gemacht. Louis,« sagte Conneau.
»Ich weiß es,« sagte Louis und lächelte, »ich bin ein Glückspilz.«
»Es stand sehr schlimm mit Ihnen, Louis, jetzt darf ich es Ihnen sagen. Ich sorgte mich sehr.«
»Sorgen Sie sich nie um mich, Doktor, das tut schon das liebe Leben!«
Es war eine glückliche Ehe und ein stilles Wunder. Die Zitadelle hatte klein beigegeben und die Zeit, die miteingesperrt schien – ein Doppelkreisel des Wahnsinns in den Mauern und im Kopf – begann zu verströmen, zugleich sanft und hurtig.
Louis schrieb an einem dick aufgetragenem Kaisergruß – ja, er war hartnäckig, er hatte kaum den Köpf aus dem Sumpf, als er wieder seine sanfte und zähe Stimme hören ließ. Er rief nicht um Hilfe, o nein, er rief den großen Heimkehrer an, herzusehen zu dem versenkten und halbertränkten und unnachgiebigen Erben, der lebendig Begrabene grüßte den Toten im Prunksarg.
Da es das große N nicht vernehmen konnte, sollten es die Zeitgenossen in allen Oppositionsblättern lesen, und da aus der heroischen Legende eine sentimentalische Revue gemacht worden war, sollte ein Nebenfluß des feerialen Tränenstroms nach Ham geleitet werden. Louis schrieb mit zuckender Nase. Die Welt sah von der Zitadelle nur die brutale Schale, aber nicht den süßen Kern, von dem er jetzt lebte. Um sein Unglück ausstellen zu können, muß man die Kraft haben, es so gering zu achten wie die Neugierigen. – Der Paria ist wieder gesund und fest und klar zur Prostitution, dachte Louis böse. Er schätzte die Zeitgenossen nicht, er schätzte sie immer weniger.
Der Kommandant klopfte an und hoffte, nicht zu stören. Er wurde immer freundlicher und gefälliger, wie seine Zitadelle. Es war weder die Inspektionstunde noch die Whistzeit. Vielleicht kam er, um Leonore ein bißchen lachen zu hören. Ein Festungskommandant ist ein halber Gefangener, die andere Hälfte besetzte die Kommandantin, die verdrossen, schwerfällig und alt war, so als sei sie dem Gebäude ihres Lebens nachgeraten. Der Major sah gerne die Kaiserin, die er amtlich übersah. »Wenn Sie sich ein paar Minuten zur Kleinen setzen wollen, Demarle,« meinte Louis, den der Mutwillen stach, »dann lese ich Ihnen ein kurzes, aktuelles Poem vor, das für die böse Linkspresse bestimmt ist. Ich bin gleich fertig.« Doch der Kommandant kam nicht aus Langeweile oder Mißmut: er hatte eine Nachricht für den Gefangenen, möglicherweise eine angenehme Nachricht, wie er mit einem runden Lächeln hinzufügte; er habe einen Besuch anzukündigen, eine Dame, die im Besitz einer Sondergenehmigung des Innenministeriums sei – eine Frau Brault-Gordon.
Louis hob überrascht den Kopf. »Ach,« sagte er, »eine Frau Gordon.«
»Sie kennen sie doch?« fragte der Major und verriet dadurch zum zweiten Mal, daß er über die gerichtsnotorischen Zusammenhänge nicht unterrichtet war.
»Ich habe sie ein paar Mal singen hören,« meinte Louis mit einem unbestimmten Lächeln, »eine bekannte Sängerin, wie freundlich von ihr! – In zehn Minuten bin ich fertig und zu ihrer Verfügung.«
Er brauchte keine zehn Minuten mehr, er stand im letzten Satz. Aber er wollte Zeit gewinnen, um Eleonore über den Besuch aufzuklären oder sie wegzuschicken. Das Mädchen hatte die Tür zum Schlafzimmer ganz leise geschlossen, damit er nicht gestört sei. Er befahl es nie, sie erkannte an seinem Gesicht den Wunsch, allein zu sein. Man hörte sie nicht, vielleicht stickte sie, vielleicht sah sie auch nur mit den lustigen Augen in die Luft. Er dachte zärtlich: warum soll ich sie fortschicken, warum soll ich ihr dies und das erklären und ihr gar dumme Schatten über die lieben Augen jagen? Er kehrte zum Schreibtisch zurück und las den letzten Satz: »Sire, aus der Mitte Ihres feierlichen Zuges warfen Sie für einen Augenblick Ihre Blicke auf meine traurige Wohnung und Sie dachten an die Zärtlichkeiten, die Sie mir als Knaben zuteil werden ließen und …« Louis schüttelte den Kopf. – Es ist närrisch, dachte er und er schrieb weiter: »... Sie sagten zu mir: ›Freund, du leidest für mich? Ich bin mit dir zufrieden‹.«
Das ist das Pathos des Gemütskranken. Das ist nicht närrisch, sondern tragisch, nicht wahr? Das ist nicht verlogen, vermessen und grauenhaft geschmacklos, sondern das Fieber der Verzweiflung. Nun, liebe Zeitungsleser, glaubt ihr, eure Zitadellen schlagen nur den Körper und nicht auch den Geist? Glaubt ihr, das Gemüt bleibt gesund, wenn ihr den jungen Leib – mein Prophet würde sagen: den jungen Aar – in euren tausendjährigen Käfig sperrt, für immer, für immer? –
Miss Gordon trat ein, massig und befangen. Sie hielt den Körper gebückt, als träte sie in einen niedrigen Keller. Louis ging ihr heiter entgegen und reichte ihr beide Hände. Sie sah ihn verwirrt an; sie erwartete nach dem bösen Eindruck der Feste das rücksichtslose Mittelalter des Verließes und das krasse Leid des Gefangenen. Louis aber gab sich nicht viel anders wie im Salon von Carlton-House, er sah auch nicht schlechter aus, seine Hautfarbe war niemals gesund gewesen – sie war eigentlich immer wie von einem Häftling –, das Gesicht war sogar voller und die Augen – was war es mit den Augen?
»Also immer noch gute ministerielle Beziehungen,« plauderte er. Ja, er plauderte, er stellte Liquor und Gläser auf den Tisch, auf dem eine kokette Spitzendecke lag, er zog einen großen Paravant, der mit einigen Karikaturen aus dem »Charwari« beklebt war, näher heran, »es zieht hier,« plauderte er, »die Picardie bläst ihr Lied vom Rheumatismus bis in den Sommer hinein; das ist etwas unangenehm. Aber schließlich waren Arenenberg und London nicht die schlechtesten Vorschulen für das Zipperlein.«
Was ist das für eine Sprache in Ham? fragte sie sich, verstellt er sich, macht er mir Bravourstückchen des sattelfesten Geistes vor? »Die Regierung hat mich ungeschoren gelassen,« sagte sie, »ich hätte mich gar nicht zwei Monate in Brüssel zu verstecken brauchen; und das Innenministerium hat mir ohne Weiteres die Erlaubnis gegeben, Sie zu besuchen. – Vielleicht ist das der Dank,« fügte sie verbittert hinzu.
Louis sah sie an. Nur noch ihre Augen waren schön und nur noch ihre Nase war kühn und straff; das Gesicht aber begann auseinanderzulaufen und die Formlosigkeit des mächtigen Körpers einzuholen. »Ich glaube, Miss Gordon, den Herren werden die dankbaren Gefühle noch einmal vergehen.«
»Ich glaube es auch,« sagte sie leise und hatte etwas in den Augen.
Louis scherzte: »Sie sind also gleichsam dauerhafter, Miss Gordon, als unser aller Thiers; denn der ist gestolpert und gefallen, natürlich nicht über mich, sondern über die orientalische Frage und über den unhandlichen Säbel, mit dem er die Großmächte anfuchtelte, bis Frankreich mit einemmal isoliert war und wieder einmal reichlich verhaßt …« Louis hob die Brauen und blinzelte durch die Wimpern.
»Immer noch die Politik …« flüsterte sie traurig.
»Immer noch,« sagte er kühl; denn er fühlte, daß sie ihm auf den Leib rücken wollte, »immer noch, immer wieder. Und Thiers fiel natürlich auch über mich, wie alle über mich fallen werden, alle!«
Miss Gordon sah auf ihre Hände. »Ich weiß nicht,« meinte sie still und hob nicht den Kopf, »man hat jetzt keine Angst mehr vor Ihnen.«
Sie schaute nicht auf, sie riskierte, ihn zu verstimmen. Aber wie sollte sie anders seine feste Stimmung, die sie nicht erwartet hatte und an die sie nicht glaubte, auf ihre Echtheit prüfen? Wie anders sollte sie weiter und an ihn heran kommen?
Louis war einen Augenblick still, dann lachte er. Er lachte nicht gezwungen, sondern herzlich. »Angst vor mir! Wie sollte man auch! Haben Sie sich diesen festen Ort recht angesehen, Madame? Ein fester Ort! ein fester Ort! Ein Ungetüm von einem Sarg und nicht transportabel wie der andere, vor dem sie jetzt auch keine Angst mehr haben. Ich sitze fest, ich habe schon mein übertriebenes Monument, sie haben mich kolossalisch mumifiziert. Mich brauchen sie nicht zu fürchten, sondern das fürchterliche Pantheon, in das sie mich gesteckt haben. Fielen sie nur über mich, so verstauchten sie sich nicht einmal den Daumen und landeten ziemlich intakt im Abgeordnetenhaus wie der Expräsident und Deputierte Thiers; aber sie werden über meine Zitadelle fallen und sich dabei das Genick brechen.«
Sie sah beklommen auf den Paravent und ihr Blick fiel auf eine grausame Zeichnung: Louis als Napoleon-Travestie mit dem kleinen Querhut und dem grauen Uniformmantel, fast ohne Augen – so tief sitzt der Hut –, mit gewaltiger Nase und statt des Kinns ein Ziegenbärtchen, hält in der Rechten eine Flasche Rotwein und in der Linken ein gefülltes Glas, das er einem Straßburger Infanteristen reicht; neben ihm steht eine komisch mächtige Frau – das ist sie, Miss Gordon –, die singend den Mund aufreißt und ein Notenblatt in der Hand hält; hinter ihnen steht Vaudrey, bebändert und bebüschelt, schnauzbärtig und schön wie ein Nußknacker; der Soldat aber steht unerschütterlich und unverführbar und richtet das Bajonett gegen die dürftige Napoleonbrust. – Warum hängt er sich diese Verhöhnung auf? Als Buße, aus Trotz, als Hohn des Hohnes, aus Ueberlegenheit, aus grenzenlosem Hochmut? – Sie blickte ihm ins Gesicht, er lächelte die Zeichnung an und dann sie.
»Man braucht mich also nicht zu fürchten,« sagte er wieder.
»Louis,« sprach sie erregt, »Sie haben mit dem, was Sie mir eben sagten, so recht, wie Sie es vielleicht selber nicht wissen, und Sie irren sich zugleich sehr in Ihren Folgerungen. Man ist klug genug, es nicht so weit kommen zu lassen. Man ist klug genug, es bei Ihrer offenbaren Ungefährlichkeit bewenden zu lassen. – Louis, dieses Mal blieb ich nicht bei den Dunkelmännern stecken, dieses Mal gelangte ich zum Minister, ohne Absicht und ohne recht zu wissen, wie mir geschah, und Herr Duchâtel, Exzellenz und würdig und einen schönen Stern auf dem schwarzen Frack, sagte mir, daß er nicht unglücklich sein würde, wenn ich die Absicht haben sollte, Ihnen zur Flucht zu verhelfen, daß er allerdings nicht dem Festungskommandanten befehlen könne, uns die Tür aufzumachen und den Rücken zuzudrehen, daß er es aber nicht für übermäßig schwer halte, mit Hilfe einer Soldatenuniform bis nach Ham zu gelangen, und daß er dorthin einen Vertrauensmann beordern könne, mit Geld, Paß, Fahrkarte nach Mexiko – und einer zu unterschreibenden Verzichtserklärung.«
Er hörte ihr ruhig und freundlich zu, er verhängte nicht einmal seine Augen, es war eine Klarheit um ihn, die ihr fremd war und die sie ängstigte. Er sah so aus, als könnte sie ihm noch lange und viel erzählen; er würde zuhören und nicht das Gesicht verziehen: und dabei plaudert sie doch nicht dies und jenes – großer Gott, was sie zu sagen hatte, sollte den gefangenen Menschen ans Herz packen, daß ihm die Augen übergingen vor Glück, ja, vor Glück, und sie hatte kaum das Glück, das sie ihm mitbrachte, aushalten können, sie wurde von den Reisestunden gefoltert, so als könnte das Glück sie sprengen, bevor sie es zu ihm geschleppt hätte, sie war von ihrer Sendung so besessen, daß sie selber nicht froh werden konnte und aus dem letzten Winkel die Angst zusammenkratzte, die unwahrscheinliche und angesichts der Zitadelle ganz törichte Angst: daß er nicht wolle. Und jetzt sah er sie an oder sah durch sie hindurch, die Stille war schon so lang wie es ihr Monolog war, er fühlte nicht, daß solche Worte nicht in Schweigen versickern dürfen, er ließ seelenruhig schönes, klares, frisches Wasser im Wüstensand versickern, er mußte doch durstig sein – oder war dieser Napoleon so groß und hartnäckig, daß er lieber verdurstete als sich zur Quelle zu bücken? Ach, er fühlte nicht, wie grenzenlos sie ihn liebte und wie sie jubeln würde, wenn er sich klein machte und aus dem mörderischen Panzer des Namens, der Idee, der Oeffentlichkeit schlüpfte und in ein kleines namenloses Leben verschwände – mit ihr, mit ihr. Es kommt ein Augenblick auch für die heimlichste Sehnsucht, wo sie schreien muß, als stecke sie am Spieß, rücksichtslos. Die Frau war klug und hellsichtig; sie wußte ganz genau, daß es der falsche Augenblick war zu sagen, was das Herz qualvoll an die Lippen drängte. Sie sagte es schwer und getrieben, sie mußte es sagen, und es war schon sehr viel, daß sie nicht so laut war wie das Herz. »Ich, Louis, ich würde mit Ihnen gehen …«
Louis sprach fast in ihre Worte hinein: »Es geht mir gut hier.«
Es geht ihm hier gut. Er sagt es klar und ruhig oder gar heiter, Er hat sein Leben lang in der Zitadelle zu sitzen, im Mammutsarg, in trostloser Landschaft, Wind und Feuchte, er droht mit der Propaganda der Entsetzlichkeit, die Ham für ihn treibt; aber er sagt nicht: ich will hier aushalten, mit meiner ganzen Hartnäckigkeit, die Machthaber ins Unrecht setzen, Märtyrer sein und die Gloriole der echten Popularität verdienen; nein, er sagt: es geht mir gut hier. Und da ist etwas Wahres daran, es ist etwas Gutes hier, etwas, das mich schlägt, als sei ich und meine Liebe etwas Böses. Und er sagt es wie die Antwort auf meine Bereitschaft, mit ihm zu gehen. Ja, es ist seine Antwort …
Vielleicht fühlte Louis das Unglück der Frau, vielleicht wollte er seine heitere Härte mildern. Er sagte: »Ich bin in Frankreich. Ich bin zu Haus. Ich bin lieber Staatsgefangener von Ham als Kaiser von Mexiko.«
Das war wieder Phraseologie, das war wieder die halbe Lüge seines Prätendentenstils, den er nicht vor ihr zu üben brauchte. Sie drückte gequält die Hände gegeneinander, sie konnte damit nichts anfangen.
Er rief: »Ich will nicht vom Volk vergessen werden! Ich will ihm nicht aus den Augen kommen! Ich will nicht!«
Das war wieder Wahrheit und sie fühlte den sehnigen Willen, der nicht mit Muskeln protzte und nicht zu bändigen war. Sie glitt wieder an ihm ab, wie oft schon, er war nicht zu fassen, sie konnte ihn nicht mehr auf das Sofa tragen wie ein Kind, sie hatte Unrecht, ihm die Resignation als Glück mitzubringen, er war ein großer Mann und sie eine kleine Frau, es ging ihm gut, sie wußte nicht weshalb; er wollte hier aushalten, sie begriff es und bewunderte es: ach, es mag der Sinn seiner Größe sein, daß es ihm hier gut geht, nur weil er nicht nachgibt und an seinen Sieg glaubt. Fehlt ihm hier nichts, fehlt ihm hier garnichts? Ist sie hier zu nichts nütze? Zetert ihr Herz ganz umsonst?
Louis lehnte sich im Stuhl zurück, plötzlich unnahbar. Sie war blutrot.»Ich begreife …« stotterte sie, »ich bewundere Sie, Gott wird …« Sie sah seine Abweisung, sie brauchte sie nicht zu ahnen wie vorhin, als sie die Worte vom Mitgehen sprechen mußte; aber sie konnte nicht anders, das blinde Herz trieb sie vom Stuhl hoch und auf ihn zu, sie war furchtbar groß und fett und der Busen wogte viel zu tief, sie war häßlich geworden und früh gealtert, sie wußte es mit einemmal. »Louis,« flüsterte sie, »Sie sind so lange allein, Louis … – ohne Frau …«
Louis stand auf, er wollte etwas Böses tun, er wollte Eleonore rufen. Er konnte dann zum Beispiel sagen: »Liebling, hast du ein paar Zigaretten?« oder: »Eleonore, ich möchte dir meine langjährige Emissärin vorstellen.« Eleonore? So hieß ja Miss Gordon auch. Das gäbe die Situationskomik eines Lustspiel-Stichworts. Er wollte die Kleine nicht rufen, sondern nur die Tür öffnen. Er ging zur Tür.
»Verzeihung,« flüsterte Miss Gordon hinter ihm.
Er blieb stehen und überlegte. – Wie häßlich wäre es von mir, dachte er, wie unrecht und wie unnötig! Er trat an den Schreibtisch. »Ach ja,« sagte er unbefangen und nahm das Manuskript seiner Kaiserbotschaft, »da hätte ich noch eine Bitte. Sie fahren doch nach Paris zurück. Sie sind so lieb und nehmen diesen Zeitungsaufsatz an sich, vervielfältigen ihn und geben ihn an die Redaktionen nach unserem Verteilungsschlüssel. Sie ersparen mir dadurch viel Zeit und Arbeit.«
Er sah sie an, sie sah aus wie verloschen. Sie dachte: er ist so gut zu mir, wie er nur sein kann, vielleicht hat er es nicht gehört – und jetzt weiß ich, was mit seinen Augen ist: sie sind wolkenlos, so gut geht es ihm.
Sie tat ihm sehr leid. Er lächelte ihr freundlich zu und sagte: »Jetzt lese ich es Ihnen auch noch vor, Eleonore, zur Stützung Ihrer Bewunderung für mich.«
Louis trug ein brennendrotes Offizierskäppi mit blitzenden Goldstreifen, wenn er auf den Wall ging. Das Käppi war ein lauter Gegensatz zu seinem stillen und traurigen Gesicht – er schleppte immer ein trauriges Gesicht auf den Wall, auch wenn er eben noch mit der lustigen Eleonore gelacht hatte –, das Käppi machte seine Haut noch gelber und stand schlecht zu dem dunklen Ueberrock, den er zu tragen pflegte. Es sah sogar ein wenig närrisch aus, doch so, daß man nicht lachen konnte; denn die grelle Kopfbedeckung machte das graue Los des Trägers noch grauer. Der Staatsgefangene ging täglich auf den Wall und arbeitete in seinem Blumengärtchen. Das war ein vierzig Meter langer Wallstreifen, den ihm der Kommandant zur Verfügung gestellt hatte. Ueber dem Gärtchen lag der Segen Gottes. Die Natur gewährte dem Gärtner Erfolg und Freude, als wollte sie auf diesen vierzig Metern gut machen, was das Schicksal diesem Leben auf unabsehlicher Strecke antat. So fühlten auch die Hamer, religiöse und gemach in den Blumengärtner vernarrte Leute. Das bunte Gärtchen saß auf dem grauen Stein wie das grelle Käppi auf dem traurigen Mann. Das Gärtchen war der steinbösen Zeit holde Uhr, die im März zu schlagen begann und bis tief in den Herbst läutete. Es klingelte den Frühling mit Schneeglöckchen ein, mit den sattgelben Sternen der Adonisröschen, mit der Massenblüte der Tausendschönchen, rosa Bergenien und Iris, Hyazinthen und orangeroten Clivien und Andromeden und Hortensien, es kommen weiße Samtblumen und Phlox und die Farbenorgel der Tulpen, Narzissen und das frühe Rhododendron, schütterer Schnee der Sternmagnolie, und der Mai mit Azaleen, Verbenen und Aurikeln, und dann die Nelken und dann die Lilien und dann die Rosen. Ueber den Blumen leuchtete die rote und goldene Kappe des Gärtners Napoleon, man sah sie weit aus der Ebene, sie war das Signal vom Wall, das der liebe traurige Mann bereit sei, sich sehen zu lassen und mit dem Austausch der reinen und stummen Gefühle zu beginnen. Dann kamen die Menschen zum Wall, wenn sie nicht schon unterhalb des Gärtchens auf die bekannte Stunde warteten; sie kamen aus der mönchischen Stadt Ham oder aus der weiten, ewig berieselten, immer weinenden Ebene, zumeist Frauen und Mädchen, aber auch Männer und selbst Hamer Honoratioren, viel weniger Neugierige als Mitleidige aus christlicher Barmherzigkeit und der Melancholie der Landschaft, die nicht Neugierde weckt, sondern Leidverständnis. Dennoch aber war der Gang zum Wall weder eine Wallfahrt noch eine politische Demonstration: es war ein sehr zartes und beinahe zärtliches Hin und Her der Grüße. Es gab viele Gärten in Frankreich und es ging nicht um das wundersame Zitadellengärtchen, das milde über der Härte schwebte, sondern um seinen einzigartigen Gärtner. Aber es waren doch die Blumen, die den Mittler zwischen dem stummen und gestenlosen Mann oben auf dem Wall und den angetanen Leuten unten auf der Wiese machten. Es fügte sich ein Blumenhandel von besonderer Art. Der gefangene Mensch, traurig ernst oder traurig lächelnd, warf den freien Menschen einen Blumenstrauß hinab, und wenn es sehr viel freie Menschen gab, nur eine Blume, und kein Gesicht, das unter ihn hintrat und sich zu ihm aufhob, ging mit leeren Händen: und die Freien zahlten dem Gefangenen mit dem Gruß, in dem Gruß stak der Dank und im Dank die Liebe.
Während die Wallblumen durch die Häuser wanderten, im Takt der Jahreszeiten und ohne die ängstliche Pflicht, Reliquie zu sein und länger leben zu müssen als sie leben konnten – denn sie konnten immer wieder erneuert werden, so lange es Blumen gab –, erreichte Louis, wirksamer Mann des Unglücks, vom vorgesetzten Innenministerium immer mehr Zugeständnisse. Es schien an der verantwortlichen Stelle einen starken Eindruck gemacht zu haben, daß er die Hintertür nicht passierte, die man ihm auf einen Spalt zu öffnen bereit war. Jeder durfte ihn besuchen, nicht nur der persönlich, sondern auch der politisch Interessierte, und mit ihm ohne behördliche Kontrolle sprechen. Die Nationalbibliothek wurde angewiesen, alle Bücherwünsche des Gefangenen zu erfüllen, und seine Wünsche waren so vielfältig und umfangreich, wie das Bildungsbedürfnis, das ihn erfüllte. Man gewährte ihm auf seinen Antrag einen dritten Raum und stattete es ihm als Laboratorium für seine chemischen, physikalischen und elektrotechnischen Versuche aus. Es war, als bereitete er sich auf ein ungeheueres Examen vor.
Seine Post wurde überwacht; doch es störte ihn nicht und er verlangte nicht ihre Freigabe. Es war eine treffliche Art, der Behörde das zur Kenntnis zu bringen, was sie von ihm wissen sollte; sein unentwegtes, durch nichts zu linderndes und nur durch den Lern-Aufwand des Geistes zu betäubendes Unglück. Zu welchem Zwecke sonst betrieb er Geschichtsphilosophie, Soziologie, Strategie und Naturwissenschaften? Was die Zensur nicht lesen sollte – die politischen Informationen Le Bas' und der zu den radikalen Führern dirigierten Miss Gordon und seine Bemühungen um die Freundschaft der republikanischen Partei –, leitete er über seine Hamer Blumenfreunde. Briefträger war Thelin, freiwilliger Insasse der Zitadelle, oder Eleonore, die Kaiserin, die er seit dem Besuch der Dame Gordon Lore nannte.
Es war ein Erfolg seiner Werbearbeit, daß Le Bas bei einem seiner Besuche Herrn Louis Blanc, den jungen und schon berühmten Arbeiterführer und Parteitheoretiker, mitbringen konnte.
»Ein Sozialist kommt zum andern,« scherzte Le Bas, jetzt Archäologieprofessor und Universitätsbibliothekar und das reine Herz immer noch in den reinen Augen. Aber es war ihm bei dieser Konfrontation nicht ganz wohl. Er kannte beide, den Prätendenten und den Revolutionär, beide waren klug und willensstark, doch der eine verdeckt und schmiegsam, der andere sehr offen und geradeswegs – sie paßten nicht zusammen, im Grunde nicht und im Ziele nicht. Der eine war auf die gefährlichste Art bereit, beides zu sein: Prätendent und Revolutionär; der andere, einseitig bis zum Fanatismus, war jedenfalls nur mitgekommen, um die Gefährlichkeit des Doppelbodigen festzustellen und sie ihm an den Kopf zu werfen. Dem guten Le Bas war nicht wohl zu Mute; denn nur einer von den beiden hatte den reinen Geist und die saubere Absicht wie er selber, und das war nicht sein Schüler Louis, das unheimliche Kind, das er geliebt hatte, und der unklare Mann, dessen Unglück sogar noch undurchsichtig war und den er dennoch auch heute so liebte, wie er war. Vielleicht kennt auf dieser Welt kein Mensch den Louis Napoleon so gut wie er, der Lehrer Le Bas, der ihm von seiner Humanität und seiner Vernunft so viel gegeben hatte, als er besaß (und alles nahm ihm der Schüler ab) und der ihn dennoch um keines Haares Breite aus dem Bereich des unvernünftigen und unmenschlichen Erbes hatte bringen können. Was für eine Unersättlichkeit war es um dieses Leben, das von allen Seiten nahm, alle Winde benötigte, mit Glück und Unglück, Segen und Fluch, Rechts und Links, Kaiserkrone und phrygischer Mütze ruderte und sich keineswegs zu wundern schien, daß er nicht von der Stelle kam? Oder kam er von der Stelle, merkte es nur nicht ein so schlichtes Herz wie Le Bas? Er, Le Bas, hatte den halben Knaben bewundert, als er als Carbonaro aus Italien kam, er hatte um den Putschisten gezittert, ohne dem falschen Napoleonshut und dem blasphemischen Kaisersargspekulanten fluchen zu können, er hatte für den Paria Europas gekämpft und über die gemütskranken Dialoge der Zitadelle mit dem Pantheon den Kopf geschüttelt, er staunte über die unerwartete Heiterkeit des Gefangenen, die in Nichts der offiziellen Tragödie entsprach, er bewunderte die neue Philosophie der Arbeit und mißtraute der neuen Politik, die sich mit der äußersten Linken befreunden wollte –, er, Le Bas, schwankte neben diesem seltsamen Leben wie ein Pendel hin und her, von Zustimmung zur Abwehr: das ist von mir, das ist nicht von mir – vom Glauben zum Zweifel, von der ironischen zur ängstlichen Frage: dieser blinden, lendenlahmen, fettherzigen, börsianischen Zeit Neuer Cäsar?
Louis sah in das regelmäßige bartlose Gesicht des jungen Politikers und in seine wachsamen Augen, weiche Augen, die übertrieben fest zublickten, um die ganze Strenge der Ueberzeugung darzustellen. Er wußte sofort, daß jener gekommen war, um ihn zu prüfen und abzulehnen. Louis besaß einen Tastsinn für Neigungen und Abneigungen. Er hatte auch einen Blick für Charaktere, die nicht in sich fest waren, sondern die Sicherheit hissen mußten wie eine Flagge. »Mein alter Le Bas hat recht,« sagte er, »ich denke sozial und verstehe mich ein wenig, Herr Blanc, auf Ihre »Organisation der Arbeit,« die ich gut kenne.«
»Sehr freundlich,« meinte Louis Blanc zurückhaltend, »man kennt ja auch Ihre Bemühungen, zwischen Ihrem Namen und der Bewegung des vierten Standes eine Verbindung herzustellen.«
»Nicht zwischen meinem Namen und einem numerierten Stand, Herr Blanc, sondern zwischen meiner Idee und dem Volk.«
»Ist nicht Ihr Name Ihre Idee?« fragte Blanc und hatte feindselige Augen.
Louis lächelte. »Ach, Sie spielen auf meine »Napoleonischen Ideen« an, lieber Herr. Aber der Name bezieht sich nicht auf mich, sondern auf den andern. Ich heiße nur zufällig ebenso.«
Le Bas sah unruhig von einem zum andern, die Debatte begann denkbar unglücklich, Blanc vertrug nicht viel Widerspruch und am allerwenigsten Ironie, und Louis legte bisher das Gespräch nicht auf Liebenswürdigkeit an.
»Sie haben aber bisher die Namensgleichheit weidlich gelten lassen,« fuhr Blanc auf.
»Daß es den Anschein hatte,« meinte Louis sanft, »und daß vielleicht das Ungeschick und der Uebereifer einiger Propagandisten die unziemliche Identifikation förderte, ist mein Unglück. Mein Credo ist das Imperium, – das ist nicht dasselbe.«
»Sie jonglieren nun einmal mit gefährlichen Assoziationen, Prinz. Sie unterschreiben ihre napoleonische Idee mit Napoleon, aber sagen Imperium für Kaiserreich. Das ist unmögliche Haarspalterei.«
»Vielleicht gelingt es mir, das Haar zu spalten, Herr Blanc, und vielleicht bin ich schon damit zufrieden.«
»Es kann nicht gelingen,« entgegnete Blanc heftig. »Das Imperium ist der Imperator. Der Imperator ist gewesen und wird nicht mehr sein Grab verlassen. Die Erscheinung war so einmalig, daß Sie sich mit Recht dagegen sträuben, die Tragikomödie seiner Kopie darzustellen.«
»Das Imperium ist das Haus, in dem das Volk einmal groß und glücklich war. Man wird es renovieren und mit modernem Komfort ausstatten, sogar mit dem modernsten: mit dem Selbstbestimmungsrecht.«
Louis Blanc sah ihn prüfend an. »Das wiedererrichtete Kaiserreich,« sagte er, »kann nur in der alten Form existieren: als blutig roter Meteor.«
»Nein,« entgegnete Louis, »nein; denn der Kaiser ist tot. Streichen Sie doch den toten Kaiser: dann bleibt das Reich. Wagen Sie es doch, aus dem Kriegstempel einen Friedensdom zu machen!«
»Ich wage es nicht,« sagte Blanc; »denn ich bin nur ein Realist.«
»Was sind Sie?« lachte Louis. »Wie kann der Evangelist sagen, es gehe ihm um die Wirklichkeit! Sie sind der Verkünder des Sozialismus und der Sänger vom allmächtigen Staat, Sie predigen dem Arbeiter das neue Recht auf Arbeit, das neue Wahlrecht, das allgemeine Stimmrecht, das Recht auf Mitregierung, das Recht auf das allgemeine Paradies. Daß Sie es tun, ist Ihre Ruhmestat, um die ich Sie beneide. Aber wissen Sie auch genau, wie die neue Wirklichkeit sein wird? Wissen Sie auch, daß die Realität das Passional jedes Heilandes ist?«
Louis Blanc war sehr ernst. »Es geht mir wahrhaftig um die Wirklichkeit,« und nach einer Pause setzte er hinzu: »... wie Ihnen doch auch.«
»Gewiß,« bestätigte Louis; »aber das eben ist der Unterschied zwischen uns beiden und mein entschiedener Vorteil. Ich habe schon eine Realität, das leerstehende Haus des Imperiums, das gut gebaute und wohlbewährte. Doch Sie, Herr Blanc, sind ohne Dach über dem gutgläubigen Kopf, Sie sind gänzlich unbewährt gegen die Wirklichkeit. Sie sind der Vater einer Idee, die brav und rührend in Ihrem Herzen, Ihrem Kopf und Ihren Büchern ruht. Aber Sie kennen nicht die Idee als Tatsache, Sie können keine Vorstellung haben von dem, was ist, wenn Ihnen die Idee über den Kopf wächst und mit einem Schlag auf der Straße steht, mit dem Schlag der Revolution. Ich habe meine Vorstellung davon, Herr Blanc, und ich will sie Ihnen sagen. Wenn die Revolution da ist, über Nacht wie jede Revolution – man denkt an sie, ahnt sie, spürt sie, berechnet sie, ein Jahr, fünf Jahre, zehn Jahre lang, und sie kommt über Nacht, überraschend und erschütternd für jeden und am meisten für ihre Väter – wenn sie da ist und das Wunder will, wie jede Revolution, das versprochene, besungene, unendlich bekannte – das programmatische Wunder, Herr Blanc, wenn die Arbeiter ihr Recht wollen, ihre Arbeit, ihr Geld, ihr Glück, ihr Dach, ihr Paradies, wenn es nicht da ist – es kann ja nicht da sein, Herr Blanc, es muß ja erst geschaffen werden –, wenn nur ich da bin und mein festes Haus, das ich nicht baute, sondern erbte und umbauen werde (ach Herr Blanc, ich schreibe gerade an einer neuen Werbeschrift für mein Haus, mit einem Titel, den selbst Sie nicht auszudenken wagen: »Die Ausrottung der Armut,« Herr Blanc, Arbeitersparkassen, Arbeiterkreditbanken, Arbeiter-Ackerbaukolonien für die neun Millionen Hektar unbebautes Land in Frankreich): wenn Sie dann nicht sich und Ihren Sozialismus in mein festes Haus retten, Herr Blanc, dann wird man Sie kreuzigen.«
Louis Blanc war blaß; er konnte auch nicht antworten. Le Bas sah seinen Schüler an. Was war das? Er biederte sich nicht an, er schwang nicht den geölten Lasso seiner Liebenswürdigkeit, er trieb nicht Menschenfang, er ließ sich nicht prüfen, er schacherte nicht um die gute Zensur – nein, er drohte.
»Und Sie,« fragte Le Bas leise, »und Sie, Louis, was tun Sie dann – nach der Kreuzigung, was tun Sie?«
»Ich?« meinte Louis und hatte um den Mund das undeutliche Lächeln, das der Lehrer kannte und nicht vertrug, »was soll ich anders tun als mein Haustor offen zu halten wie vorher auch und für alle, die dann hinein verlangen, für alle Läufer von Pontius zu Pilatus – und für alle Chamäleons von Saulus zu Paulus.« –
Zum Abschied küßte er Le Bas und dann umarmte er auch Louis Blanc, mit plötzlicher und sonderbarer Heftigkeit. »Seien Sie mein Freund,« bat er, »und vergessen Sie mich nicht. Das genügt mir. Ein Mensch in der Zitadelle hat nur Angst vor dem Vergessenwerden.«
Louis Blanc schüttelte stumm den Kopf. Das sollte wohl heißen: er werde ihn nicht vergessen. Es sollte wohl nicht heißen: er lehne es ab, sein Freund zu sein. Herr Blanc war mitgenommen und etwas aus dem Gleichgewicht. Es war nicht übermäßig schwer, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wußte es und das war sein Leid. Er und Le Bas sprachen während der Rückfahrt nach Paris kein Wort über den Gefangenen.
Die Zeit verging und Louis merkte sie immer noch nicht. Er hatte viel zu tun, er rottete die Armut aus, schrieb nicht uninteressante Untersuchungen über die Theorie der galvanischen Säule, gab eine Analyse der Zuckererzeugung in sehr protektionistischem Sinn, trieb seinen romantischen Blumenhandel vom Wall herab und brachte der blankäugigen Lore ein wenig Rechtschreibung bei. Es kam der Tag, wo die Augen des Mädchens so heftig glitzerten, daß man auch an Tränen denken konnte; er fragte sie und sie sagte: »Ich bekomme ein Kind.« Er strich ihr über das Haar und sagte nichts. Sie lachte verlegen, sie dachte gar nicht ans Weinen; aber sie dachte: er freut sich nicht. Er dachte, daß sich jetzt ihr Körper verändern würde. Er hatte plötzlich Angst vor Veränderungen.
Lore war eine sehr kluge und hellsichtige Frau. Sie sah in ihn hinein und sah alles, was sich auf ihre Liebe bezog. Das andere ging sie nichts an. Sie war immer lustig und ihre Augen blieben blank. Dann kam der Tag, wo sie sagte: »Jetzt gehe ich zu meiner Tante Noëmi nach Péronne, bis es vorbei ist.«
Louis war allein, und die Zitadelle rückte wieder auf ihn zu. Die Zitadelle war feige; sie griff ihn an, weil er allein war. Er kam in eine Raserei der Arbeit und baute sein festes Haus aus, um sich gegen die Zitadelle zu behaupten. Er schrieb sein Bekenntnis für das allgemeine Wahlrecht, für die Parlamentsreform und das Plebiszit, er schrieb gegen die Abgeordneten-Minister und für Fachminister, gegen das schädliche Rotieren der Parteikabinette, gegen die Befestigungen von Paris, gegen übergroße Militärbudgets, gegen den Angriffskrieg, gegen Ultramontanismus und Atheismus im Bildungswesen, gegen die Maschinen als Erreger der Arbeitslosigkeit, gegen die Uebersteigerung des Kolonialgedankens und für die Volkssouveränität, immer wieder für die Volkssouveränität – er streute seine schönen Aufsätze über das Land wie seine schönen Blumen über die Wallbesucher. Sein Freund Conneau fragte ihn: »Glauben Sie an dies alles, Louis?«
»Ich glaube, daß dies alles das Rechte will.«
»Werden Sie dies alles halten, Louis?«
»Werde ich je in die Lage kommen, dies alles zu halten oder nicht zu halten?« rief Louis, plötzlich verzweifelt.
Lore kam zurück. »Ich kann den Jungen ja nicht in die Zitadelle bringen,« sagte sie und ihre Liebe war groß.
Aber ihr Körper war verändert. Er ging auseinander und wurde schwer wie die Zeit. Und die Zeit hatte einen großen Bauch wie ihr König: ginge es nach ihr, so stände sie still vor Fett und Gehbeschwerde. Denn den Bäuchen ging es gut und sie taten, als gäbe es nur Bäuche. Das war bequem, so sah man nicht die Millionen Hungerleider. Zweihunderttausend Bäuche durften wählen und ihre vierhundertsiebzig Abgeordneten sorgten für die schöne Ruhe. Das war bequem, das Gesetz herrschte, die Ordnung herrschte, gegen kleine Unruhen gab es die Polizei, gegen größere das Militär. – Wie lange noch! wie lange noch! stöhnte Louis, und da es kein Mensch wußte, wie lange noch der Bauch über dem Land liegen würde, begann er die Jahre zu zählen, die er schon in der Zitadelle war: vier Jahre, fünf Jahre – es ging nicht vorwärts. Die toten Wasser standen ewig um den Stein, Wind und Nässe trafen nicht ihn, sondern seine Menschen, Louis wurde rheumatisch und blasenleidend und dennoch verschaffte er sich die Erlaubnis, im Festungshof zu reiten, er ritt, als wollte er aus der Zeit galloppieren, aber er ritt ja immer im Kreis, wie im Zirkus, auf dem Kopf das bekannte Käppi – es sah ein wenig närrisch aus – er ritt, bis ihm der Kopf drehte oder der Leib stach.
Conneau wurde amnestiert; aber er blieb ohne viel Aufhebens, freiwillig wie Thelin. »Geduld, Louis,« bat er täglich, »Sie sind noch so jung …«
»Geduld!« lachte Louis böse, »der Geduld nach bin ich ein Greis! Und ich werde wieder über die Artillerie schreiben und über die preußische Armee, die die beste der Welt ist, und über die englische Geschichte und über einen nikaraguanischen Kanal vom Atlantik zum Pazifik und über Karl den Großen und über Cäsar, natürlich über Cäsar – und wenn ich dann immer noch nicht älter bin und immer noch hier sitze, dann, Conneau, experimentiere ich über den Unterschied der Härte meines Schädels und der Zitadellenmauer …«
Fünf Jahre, sechs Jahre: Louis schrieb nicht mehr, das Wundergärtchen verwilderte, das rote Käppi mit den Goldschnüren rief nicht mehr, über dem Wall leuchtend, die Wallgemeinde zusammen, er verstreute keine Blumen und keine Aufsätze mehr – er war leer, er war fertig. Aber er rannte auch nicht mit dem Kopf gegen die Wand und selbst Conneau hatte die Drohung nicht ernst genommen. Louis lebte aufgedunsen und schläfrig durch die Tage, melancholisch und müde freundlich durch die immer gleichen Tage, durch die endlose Perlenschnur der Tage. Im Orient haben die Männer Kugelschnüre aus Holz oder Stein, Rosenkränze der Monotonie, mit denen sie endlos spielen, wo sie gehen und stehen. So ließ Louis die Tageskugeln durch die schlaffen Finger rollen, schläfrig und hoffnungslos. General Montholon sagte jeden Tag seit vier, fünf, sechs Jahren, daß er in der Zitadelle sterben werde; keiner bestritt es, dann spielten sie Whist. Lore wurde wieder schwanger. Es gibt eine Trostlosigkeit, die nichts anders mehr weiß, als mit aufgereihten Kugeln zu spielen. Es gibt eine Trostlosigkeit, die mit den aufgereihten Gewohnheiten zu spielen anfängt wie mit den abgegriffenen Whistkarten: auch mit der Lust. Lore verschwand und kam wieder. Sie lachte schon lange nicht mehr, weil es umsonst war. Louis gab nichts mehr auf Lachen. Lore ging immer mehr auseinander, wie die Zeit, wie Louis. Conneau war dick geworden. Montholon fett, Thelin behäbig, Major Demarle kugelrund. Der allgemeine Bauch ging um.
An was dachte der lethargische Louis, wenn es schon nicht der Tod war und wenn sich der Gedanke an dieses tote Wasser des Lebens doch nicht mehr verlohnte? Er schien die Augen nicht mehr aufzubekommen, so wenig lohnte sich der Blick. Aber er hatte immer schläfrige Augen, und früher waren sie kein Zeichen, daß er einschlafen würde. Früher waren sie oft die Abblendungen einer Wachheit, die keiner zu bemerken brauchte. War Louis am Ende der Verstellung? Er ließ Miss Gordon kommen, zum ersten Mal wieder seit ihrem peinlichen Besuch, der soweit zurück lag, daß Louis nur noch vage wußte, er sei peinlich gewesen; aber er trachtete nicht danach, sich zu erinnern, was damals geschehen sei. Er war zu müde, um sein Gedächtnis auch für das Unwichtige wach zu halten. Eines nur war wichtig und wegen dieses Einen ließ er sie kommen. Sie aber hatte das gute Gedächtnis aller liebenden Menschen und sie erschrak sehr, als sie ihn wieder sah. Sie hatte den ersten Besuch bis in die kleinsten Einzelheiten gegenwärtig, konnte vergleichen und ermaß, wie schlecht es ihm ging. »Geduld!« flehte sie, »noch ein wenig Geduld, Louis, die Erde bebt ja schon und nur die regierenden Fettwänste wollen es nicht merken.« Louis hatte kein Interesse für die bebende Erde, die Zitadelle bebte nicht, er hatte kein Auge für die Frau, die auch ein Fettwanst geworden war, gleich als ob die bäuchige Zeit Freund und Feind aufschwemmte. Er hatte keinen Grund mehr, die dicke Lore Vergeot zu verheimlichen, und die zwei mächtigen Frauen sahen sich an, vertraut und mitleidsvoll wie zwei traurige Schwestern. »Helfen Sie ihm doch!« flüsterte Lore und Louis saß daneben wie ein Tauber. – »Ich?« fragte Eleonore mit ihrer schönen Stimme, und die Stimme war das Einzige an ihr, das schlank und jung geblieben war. Wie sollte sie helfen können, wenn es die Schwester nicht vermochte? Denn sie dachte nur an die Liebe in diesem Augenblick. – »Der Innenminister,« sagte Louis plötzlich und sah sie an, wie ein Bettler, »der Innenminister ist doch immer noch jener Herr Duchâtel …«
Miss Gordon wagte den Schritt, sie wagte alles für ihn, aber sie erreichte das Gegenteil. Der Königsbauch war grimmig geworden und glaubte nicht, daß die Erde beben könne, solange er unerschütterlich sei, er und das Gesetz. Lebenslänglich heißt: um keinen Tag kürzer als das Leben, die Milde, die vor sechs Jahren wenig kostete und nichts schadete, wäre jetzt kostspielig und dumm. Damals wollte der Bengel nicht davon laufen; wenn er heute Lust dazu verspürt, ist es ein Beweis, daß er die verdammte Morgenröte wittert. – Es fuhren aus dem leeren Himmel der Gewohnheit ministerielle Blitze in die Zitadelle. Der Kommandant hielt die gleichsam posthume Strenge gegen den totenstillen Staatsgefangenen für so unsinnig und ungerechtfertigt, daß er sie milderte, wo er nur konnte, und daß er selber an die Ueberlebtheit dieses schlagfüßigen Staates zu glauben begann. Sein tägliches Whistspiel mit dem Delinquenten war jetzt schon beinahe eine Heldentat und ganz gewiß die Opposition seines zwar verfetteten, aber noch nicht trägen Herzens: er für seine Person hatte den Louis Napoleon zu lieben und den Louis Philipp zu verachten gelernt und zeigte es auf diese Weise. Aber er mußte doch die Besuchssperre verhängen und wieder, wie im ersten Jahr, zwei Wächter dem Gefangenen an die Fersen heften, wenn er wirklich einmal in den Hof oder auf den Wall ging, und die Soldaten, die es schon verlernt hatten, die Rekruten, die es nicht mehr hatten zu lernen brauchen, mußten wieder vor seinem matten Blick mit militärischem Ruck den Kopf abwenden.
Louis hockte taub und stumm in dem ausgesessenen Samtsessel und hob hin und wieder den rechten Arm. Er versuchte, mit der Hand über den Kopf bis zum Nacken zu kommen. Ließen es die schmerzenden Gelenke nicht zu, dann kam wieder einmal der Winter. Er sah nicht mehr durch das Gitterfenster, er hatte keine Lust mehr zu sehen, er besaß auch keinen Kalender mehr, er hatte Angst vor der Zeitrechnung, als Barometer genügte ihm sein Rheumatismus. – Ich bin bald so krumm wie Hortenses ehemaliger Mann, dachte er, als ob ich die Gelenke von ihm geerbt hätte – er lächelte: stände nicht die Zitadelle dazwischen, so wäre das Rheuma gleichsam die Gegenprobe auf das alte Exempel vom falschen Louis, und eine kranke Blase hat er auch. – Louis beschäftigte sich seit einigen Tagen mit dem Vater. Er hatte aus Florenz die Nachricht bekommen, daß der alte Exkönig sehr krank sei. Louis-Vater war immer krank gewesen, die Krankheit gehörte zu ihm wie zu anderen Menschen der Beruf. Jetzt war er sehr krank; das konnte bedeuten, daß der hartnäckige Professional des körperlichen Leides den Beruf des unseligen Lebens aufgeben würde. Was tat es dem Sohn, der es niemals vergaß, daß der Boshafte die Mutter kaum kalt werden ließ, um einen krüppligen Freier zu machen, und der ihn niemals mehr Vater nannte, wenn er von ihm sprach? Louis hängte die Augen zu und dachte nach. Der Gedanke war unedel; denn er kroch wie eine Schmeißfliege auf das Bild Hortenses und flog hin und her von der kranken Mutter damals, zum kranken Vater heute. Was tat der Paria damals, was gab ihn dem politischen Leben zurück? Der Gedanke war quälend; denn er drückte auf die böse Beilast, die die Sohnesliebe damals von New York nach Arenenberg mitschleppte. Aber wenn einst die geliebte Mutter mit solchem heiligen Mut den Nebensinn seiner Rückkehr sanktionierte: warum sollte er jetzt nicht dem ungeliebten Vater die ähnliche und viel leichtere Aufgabe zumuten? Der Gedanke war ungut, doch er ließ sich nicht verscheuchen. Louis war am Ende und seine Müdigkeit wurde immer ehrlicher, er hatte in den Mitteln keine Wahl mehr und mußte auf den Rest seiner Energie sehr acht geben wie auf das ängstlich brennende Stümpfchen der letzten Kerze. Er hatte niemals mehr gesagt: »Mein Vater«; aber er hatte es immer in seinen spärlichen Briefen geschrieben. Er schrieb jetzt an den Vater den schlichten und schönen Brief des Sohnes, den es drängte, an das Krankenbett zu kommen. Vielleicht war der alte Louis weich geworden, vielleicht war er nur scharfhörig: er schickte sofort einen Vertrauensmann nach Paris und bat für den Sohn. Doch der alte Louis Philipp war hart und scharfhörig: er sagte nein. Der Staatsgefangene tat, als wüßte er nichts davon, er verstand, Briefe zu schreiben, er schrieb noble Gesuche an das Ministerium und an den König: er bitte um Urlaub nach Florenz, um den Vater noch einmal zu sehen, er bitte nur um Urlaub und werde sich wieder stellen, wenn es die Regierung verlange. – »Werden Sie sich wieder stellen, Louis?« fragte ihn Conneau. – »Die Regierung wird es vor der europäischen Oeffentlichkeit nicht verlangen.« – »Und wenn sie es verlangt?« – Louis lächelte. »Dann stelle ich mich – aber nicht allein, sondern mit der Revolution.« Die Regierung schlug das Gesuch ab. Louis war wieder bereit, das allgemeine Misere zu entfachen. Kannte man ihn immer noch nicht? Er schrieb an bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sogar an Herrn Thiers, der eilig und gewunden abwinkte, und an den berühmten Odilon Barrot, den legitimistischen Oppositionsführer, mit dem er schon lange in Korrespondenz stand, den Bruder des Hauptverteidigers der Straßburger und Boulogner Prozesse. Barrot war eine Macht, weil sein Einfluß von der rechten bis zur linken Opposition reichte. Man konnte annehmen, daß die Regierung es vermeiden würde, diesen Mann vor den Kopf zu stoßen.
Louis saß am Schreibtisch und las Odilon Barrots Antwort. Louis trug einen dicken, grauen, geblümten Schlafrock und Filzpantoffel, den ganzen Tag. Er war zu müde, sich anzuziehen, und der Schlafrock war warm. Er stützte das Gesicht auf die Hand, jetzt schloß er die Finger zur Faust und preßte sie gegen den Mund, als wollte er ihn verschließen. Sein Mund war ohnedies verschlossen genug. Guten Morgen, gute Nacht, ja, nein, danke, die paar notwendigen Whistworte und -zahlen: damit kam er aus. Conneau kam und dachte: wie ein alter Mann und noch nicht achtunddreißig – es geht nicht mehr lange. …
»Doktor?« fragte Louis, ohne sich umzusehen.
»Ja.«
»Da schreibt mir der Odilon Barrot.«
»Und?«
»Ein anständiger Mann, er meint es gewiß gut.«
»Aber?« Conneau trat an den Schreibtisch.
»Ich soll in aller Form um Gnade bitten,« sagte Louis in seine Faust hinein. Conneau wollte sagen: warum nicht? Er sagte aber nur: »Ach.«
Louis hielt die Augen geschlossen, so sah es wenigstens von oben aus. »Er hat mir sogar den Text des Gesuches aufgesetzt, den er scheinbar mit dem Innenminister vereinbart hat.«
»Das ist doch vielleicht günstig,« meinte Conneau leise.
Louis sah schnell zu ihm auf. »Ich soll in aller Form um Gnade bitten – wissen Sie, was das bedeutet?«
»Die Freiheit,« sagte Conneau leise.
»Den Verzicht,« sagte Louis laut.
»Wenn die Revolution kommt, Louis …«
»Wenn sie kommt,« rief Louis, »dann begräbt sie den Gnädigen und seine Gnadenempfänger!«
»Ueberlegen Sie, Louis!« bat Conneau dringlich, »Sie wissen nicht, wann sie kommt, und Sie halten es hier nicht mehr aus, Sie gehen hier zu Grunde, wir sehen es alle.«
»Auch der Kommandant?« fragte Louis unerwartet.
»Um Gotteswillen, Louis!« flüsterte der Arzt, »was ist das für eine unsinnige Hoffnung! Wenn Demarle die Augen schließen würde, sähe er sich vor dem Kriegsgericht. Er tut es nicht, verlassen Sie sich drauf. Er läßt auf Sie schießen, wenn Sie einen Fluchtversuch machen.«
»Natürlich,« nickte Louis, »natürlich. Und wer läßt sich gern kalt machen – oder kalt stellen …« Er zerriß das Gnadengesuch. Conneau hob die Schultern. »Geduld!« stöhnte Louis. »Geduld!« und dann legte er die Arme auf den Tisch und den Kopf auf den Arm, so daß man nicht sehen konnte, ob er weinte oder nur nichts mehr sehen und hören wollte.
Louis lag seit drei Tagen zu Bett; aber er war nicht krank. Er konnte den Arm bis zum Nacken heben – es war Frühling, der sechste Zitadellenfrühling, ein besonderer und großartiger Frühling. Louis wußte es seit einer Woche, als er auf den Korridor hinaustrat und ihn ein neuer Wind an den Haaren riß. Was war das für ein gänzlich unbekannter Wind, der das Treppenhaus hinauffuhr und Klopfen, Hämmern, Sägen im Gefolge hatte? Louis wurde neugierig und plötzlich erregt. Das Tor des Gefängnistraktes und alle Gangfenster waren ausgehängt. Gerüste kletterten die Wände hinauf, Zimmerleute hieben auf die zertretene Holztreppe, als wollten sie sie vollends zerstören: ach es war, als wüteten die vielen jungen Arbeiter mit den bedrohlichen Waffen ihrer Werkzeuge gegen die alte Zitadelle und als hätten sie schon eine Bresche geschlagen, damit der freie Frühlingswind eindränge. Gewiß, die Handwerker durften sich nicht nach dem Staatsgefangenen umsehen; aber Louis sah sie an, lächelnd und die Stirn durch den Luftzug sonderbar erfrischt; da sie keine Soldaten waren, sondern Leute aus Ham. Leute, die vielleicht einmal unter dem Wallgärtchen gestanden waren und mit ihren Frauen oder Mädchen auf die berühmten Blumen gewartet hatten, blinzelten sie zu ihm hinauf oder hinunter. – Sie würden mich sogar grüßen, dachte Louis, wenn nicht die beiden Aufseher hinter mir wären. Vor ihm ging ein Arbeiter in blauer, halblanger Bluse, kalkweißen Leinenhosen und lauten Holzschuhen, auf der Schulter ein Brett. Er schritt durch das breite und hohe Loch des torlosen Portals, er hatte einen wiegenden, athletischen und angriffslustigen Gang, er sah aus, als sei er es gewesen, der die Sperre zerschlagen hatte. Er klapperte über den Hof und ging wuchtig und gefährlich das Kasemattentor an, das sich schnell öffnete, als hätte es Angst, eingerannt zu werden wie das Gefängnistor. Louis stand im Hof und sah ihm nach. Dann ging er langsam zurück und lächelte im Stiegenhaus den Maurern und Zimmerleuten zu.
Lore beobachtete ihn. Er saß schläfrig und stumpf im Sessel, wenn der Kommandant oder Conneau oder Montholon ins Zimmer kamen. Er ging sehr wach und ruhelos im Zimmer auf und ab, wenn er allein war. Er kam spät ins Bett und schlief nicht. Lore fühlte es.
»Was hast du?« fragte sie.
»Ich denke nach,« antwortete er »ich habe einen Gedanken. Schlaf nur.«
Am folgenden Tag ging er wieder ins Stiegenhaus. Ihn schienen die Reparaturen zu interessieren, er blieb hier und dort stehen, und seine Nähe brachte die Arbeitenden sichtlich aus dem Gleichgewicht. »Monseigneur wollen weiter gehen,« befahl einer der Aufseher in dem kurialen Gefängnisstil, wie er sich im Laufe der Jahre herausgebildet hatte. Louis trat gehorsam auf den Hof und meinte liebenswürdig: »Ich finde, die Handwerker kommen kaum vorwärts.« Es entwickelte sich ein kleines Gespräch; Louis erfuhr, daß man für die Instandsetzungsarbeiten noch zwei bis drei Wochen rechnen dürfe, und blickte schläfrig um sich; denn er suchte seinen Schrittmacher. So nannte er für sich den Blusenmann mit dem Brett, vor dem die Zitadellentore aufsprangen. »Wieviel Uhr ist es eigentlich, Herr Camus?« – »Zehn Uhr vorbei,« antwortete der Aufseher. »Ich weiß gar nicht mehr die Zeit, Herr Camus,« meinte Louis und lächelte, als wollte er sich entschuldigen, »ich achte überhaupt nicht mehr auf die Uhr. Sie müssen sicher vormittags lange auf mich warten, Herr Camus?« Oberschließer Camus hatte einen dicken, graublonden Schnauzbart und war ein gutmütiger, etwas träger Mann, mit seinem leichten Dienst recht einverstanden. Er versicherte, daß er und sein Kollege niemals länger als eine halbe Stunde auf dem Gang vor der prinzlichen Wohnung zu warten hätten, um den Gefangenen zu begleiten oder zu erfahren, daß er nicht ausginge. – Sie treten also nicht vor neun Uhr an, dachte Louis. – »Außerdem warten wir gerne,« betonte Herr Camus. »Monseigneur wollen sich darüber keine Gedanken machen.« Louis nickte ihm freundschaftlich zu; dann legte er die Hand auf die Stirn; denn er sah den Schrittmacher über den Hof kommen. »Wie stark die Luft jetzt ist,« meinte er leise »ich bekomme immer Kopfweh.« Er wollte das Gesicht des Arbeiters sehen, er hatte seine Gründe. Der Mann sah aus, wie es sein fester Rücken versprach: er hatte ein derbes, bartloses Gesicht mit sehr roten Backen, das lange, schwarze Haar hing ihm in die Stirn und über die Ohren, die Nase war kräftig, krumm und etwas schief. Louis freute sich über die Nase, er hatte zumal über die Nase nachgedacht und sich ein heimliches Gottesurteil zurecht gelegt: lang oder kurz? – so wie man eine Münze in die Luft wirft: Kopf oder Schrift? und danach die Entscheidung fällt. Louis glaubte plötzlich wieder an seinen Stern und er lächelte wohl; denn der Schrittmacher lächelte ihn an, seine schwarzen Augen und seine weißen Zähne blitzten, er hob die Hand halbwegs militärisch an den schwarzen Schopf und rief lustig: »Salut!« – »Hier wird nicht gegrüßt, mon vieux,« verwies ihn Herr Camus ohne Strenge, ja mit einem gewissen Wohlwollen. – »Ich bin nun einmal verflucht höflich, Onkelchen,« lachte der Schrittmacher und war schon vorbei. Seine Holzschuhe klapperten fröhlich. Louis war glücklich, das Herz stach vor Glück bis in die Schläfen. »Diese Kopfschmerzen …« flüsterte er und drückte die Finger gegen die Schläfen. – »Monseigneur wollen doch nicht krank werden,« sprach Herr Camus besorgt.
In der Nacht lag Louis wieder wach. Er sah immer müde aus, sein Leben lang, aber er brauchte wenig Schlaf, er liebte nur eine Decke über seine Wachheit, wenn auch die anderen munter waren, und er war am innigsten allein mit seiner Wachheit, wenn es Nacht war und alles schlief. Jetzt konnte er wach sein und wachsam mit seinen Gedanken wie nie am Tag, jetzt konnte er an seinem Plan bauen, Steinchen für Steinchen, vernünftig, umsichtig und sinnreich, und zugleich auch, gelöst und grenzenlos wie die dunkle Stille, das fügsame Geduldspiel mit einer großen Freude an der Mühe und am Gelingen umhüllen, so als gäbe sich ihm die Nacht in die Hand wie ein großes, dunkles, weiches Tuch. Er arbeitete im Geist, es sah ihm keiner zu und sein Blick, so lebendig wie nie, brauchte nicht die Lider vorzuhängen und keine Wolken herabzuziehen. Es dauerte seine Zeit, dann waren die Gedanken bei Lore und bauten die Entscheidung über sie wie eine saubere und genaue Architektur. Lore lag darunter, still und ungefragt, und das ganze war ein wenig wie ein Mausoleum. Louis starrte in die schwarze Luft; aber er entdeckte in sich keine Traurigkeit und er dachte zu alledem: ich werde sie – später – gut verheiraten. Dann galt es, den ersten Schritt vom Plan in die Wirklichkeit zu tun, den nächsten Schritt, und am nächsten war die Frau neben ihm. Ja, ihr Körper lag noch neben ihm, nur ihr Schicksal lag schon im Mausoleum. Sie rührte sich nicht und ihr Atem war nicht zu hören. Schliefe sie wirklich, so wäre ihr Atem zu hören bis zum kleinen Schnarchen: so gut kannte er sie und jeden Winkel ihres Daseins, so entsetzlich genau, selbst die Ehe hier ist eine Zitadellen-Ehe – und nie mehr außerhalb der Zitadelle wird er eine Frau so lange in der Nähe haben können, so angewachsen an die eigene Einsamkeit. Er könnte sie jetzt gewiß anrufen und sie würde sofort antworten. Aber es herrschte in dieser engen Gemeinschaft ein bestimmter Respekt vor dem Anschein der Selbständigkeit, ein nobles Verleugnen des übergroßen Vertrautseins mit einander. Sie tat, als schliefe sie, und er tat, als glaube er es. Er sagte nicht: Lore, du schläfst ja nicht und ich habe mit dir zu sprechen. Nein, er stöhnte nur. Sie fragte sofort: »Louis, was hast du?«
»Ich? – Warum?«
»Du hast gestöhnt.«
»So, ich habe gestöhnt.« Dann schwieg er wieder, und da er in seine letzten Worte einen besonderen Ton hinein gelegt hatte, das Signal für die entscheidende Unterhaltung, wußte er, daß die Frau reglos wartete. »Da du nun einmal wach bist,« begann er, »möchte ich gerne mit dir etwas besprechen, Lore.«
»Ja …« sagte sie ganz leise und unsicher.
– Sie hat Angst, dachte er, und es wird scheinen, als ob ihre Angst vor meinem harten Herzen berechtigt wäre; aber ich kann sie doch nicht mitnehmen und will sie auch nicht hier lassen und als Mitwisserin ins Gefängnis bringen. »Wenn ich mich neulich nicht getäuscht habe, Liebe, ist dir Miss Gordon nicht unsympathisch gewesen.«
»Keineswegs,« flüsterte sie und zog vor Erstaunen die Silben in die Länge.
»Sehr gut,« lobte er; »dann möchte ich dich bitten, sehr bald nach Paris zu fahren, schon morgen oder übermorgen, und zunächst bei ihr zu bleiben.«
Sie blieb still und unhörbar, es war, als sei sie nicht da. Er ließ ihr Zeit und wußte doch selbst nicht für welche Antwort. Er mußte deutlicher werden, härter, hartherziger. Er stöhnte wieder und sagte hastig und laut: »Es geht nicht mehr, Lore, ich kann nicht mehr, ich halte es nicht mehr aus!« Ach, auch das war noch mißverständlich und konnte die Wahrheit bedeuten, die Zitadelle, und nicht die Frau. Sie sprach nichts »Es muß ein Ende haben,« sagte er, und er setzte grob hinzu, »mit uns!« es wurde ihm heiß, es war für ihn eine heftige Anstrengung, zu einer Frau grob zu sein, er stieß hervor: »Ich will allein sein!«
»Und warum darf ich dann nicht nach Hause zu den Eltern?« fragte sie ganz ruhig und schien gar nicht unglücklich, »oder zur Tante Noëmi nach Péronne, wo die Jungen sind?«
»Weil … wei …« stotterte Louis, ein Mann, der selten um eine Antwort verlegen war, »weil ich dich – weil wir uns nicht so nahe sein dürfen …«
»Oder vielleicht,« unterbrach sie und suchte seine Hand, »vielleicht weil man mich nicht finden soll, wenn man auch nach mir sucht?«
»Und ich werde dir auch einen braven Mann verschaffen,« sagte er harthörig, um ihre Gedanken von dem rechten Weg zu stoßen. Aber sie lachte, lustig wie früher, sie glaubte nur an die Kriegslist seines guten Herzens, sie glaubte nicht, daß es ihm auch mit dem Abschied von ihr ernst war. – Er ist geheimnisvoll und ritterlich wie ein Märchenprinz, dachte sie, er will mich aus der Gefahrzone bringen, er will, daß ich es unter Umständen auf meinen Eid nehmen könnte, nichts von seinen Gedanken gewußt zu haben; und wenn es ihm mißlingt, werde ich zurückkommen, weil er mich hier ja doch nötig hat, und wenn es ihm gelingt … Hier wollte sie nicht weiter denken; sie wünschte gewiß nicht, daß es ihm mißlänge. Aber es war ihm doch ernst mit der Trennung; denn sie gehörte ja zur Zitadelle.
Louis wollte auch die beiden Gefährten Montholon und Conneau aus dem Spiel lassen. Der General zumal war alt und mürbe, er hätte Louis' Absicht nicht ertragen und nicht in sich halten können, sie wäre aus ihm herausgelaufen wie aus einem brüchigen Gefäß. Aber Louis wollte auch den Arzt, der gewiß ein nützlicher Helfer gewesen wäre, von dem Gedanken unversehrt wissen. Er liebte diesen edlen Mann; es wäre ein schlechter Lohn für das reiche Geschenk seiner freiwilligen Zitadellenjahre, würde er ihn jetzt zum Komplizen machen und ihn die Mitschuld büßen lassen.
Nach Lores Abreise legte sich Louis zu Bett, um sich auf die wahrscheinlichste Art aus der Gewohnheit des Tages zu lösen, und dann auch, um ungestört überlegen und die Vorbereitungen treffen zu können. Conneau untersuchte ihn, und da er ein kränklicher Mensch geworden war, fand der Arzt genügend Symptome, die die Bettruhe rechtfertigten. Aber der Arzt wollte ihn auch pflegen und ständig bei ihm sein – dazu war er ja da: und so mußte Louis auch gegen ihn den Unleidlichen und Einsamkeitsbedürftigen spielen. Conneau litt es still und sanft und beschränkte sich auf kurze Visiten. Louis befahl als Pfleger den Freund Thelin, er war ein ungemein empfindlicher und menschenscheuer Patient und selbst der Kommandant durfte nur in der Frühe und Abends den Kopf zu ein paar mitleidigen Fragen durch die Schlafzimmertür stecken. Dann war der große Plan rund und vollkommen, den Tag durchklopften wieder die Handwerker wie gute Geister, die ihre Bereitschaft signalisierten, und an diesem Abend sagte er seinem Pfleger, daß er alles andere als krank sei, daß heute der 22. Mai sei, daß die Handwerker täglich um sechs Uhr früh mit der Arbeit begännen und daß er am 25. Mai genau um dreiviertel sieben die Zitadelle verlassen werde, er, Louis, mit ihm, Thelin. Er sagte es ohne Aufwand an dramatischen Worten, und Thelin war der Mann, zu dem man so sprechen konnte. Thelin war eine kalte und ruhige Natur, der Engländer, wie er im Buch steht, durch Amt und Erfahrung vertraut und einverstanden mit dem ungewöhnlichen Leben und den Ortswechsel schon lange erwartend. Denn so ging es nicht weiter, das fühlte Thelin so gut wie Louis; und mit dem Gefangenen ging es bergab, das sah Thelin noch besser als Louis und noch genauer als der Arzt – mit dem Gefangenen ging es bergab, weil man ihn, den peinlich Sauberen, den Mann à quatres épingles, den arbiter elegantiarum nächst Alfred d'Orsay, ja, weil man ihn schon hatte auffordern müssen, die Leibwäsche zu wechseln. Thelin war mit der Nachricht zufrieden; aber auch das zeigte sich nicht in seinem sauber gebügelten Gesicht. Er hörte korrekt und klug dem Herrn zu, der ihm jetzt kurz den Fluchtplan entwickelte und allerlei Aufträge für Ham gab, zum Teil recht sonderbare Einkäufe, morgen zu erledigen. Er schob ein wenig den Kopf und den Oberkörper vor und kündigte damit eine ergebene Bemerkung an: »Hoheit vergeben: Paß? Nicht für mich, ich habe ihn ja noch,: – für Hoheit.«
»Ich habe auch einen Paß,« sagte Louis, »schon ziemlich lange. Sie erinnern sich, Thelin, daß mich Exzellenz Peel besuchte: nun, damals habe ich mir von Sir Robert den Paß seines zweiten Kammerdieners geben lassen – für alle Fälle.«
Thelin nickte. Zwischen ihm und dem Herrn gab es keine Komplimente. »Also, alter Freund, Sie bestellen schon für halbsieben vom Fuhrgeschäft Fontaine einen Wagen zwischen Esplanade und Noyonstraße, Sie verstauen im Wagen schon am Abend vorher etwas Handgepäck, dann meinen Reisemantel, einen Hut und ein paar Schuhe. Wenn ich das äußere Kasemattentor passiert habe, kommen Sie nach, überholen mich, kennen mich nicht, steigen vor mir in den Wagen und drücken sich in den Fond. In St. Quentin Pferdewechsel. Die Hauptsache: wir erreichen in Valenciennes den Vieruhrzug nach Brüssel.«
»Wir sind schon vor zwei in Valenciennes,« berechnete der sichere Thelin. »Und der Herr Doktor ist natürlich unterrichtet.« Er fragte es nicht, er stellte es fest.
»Nein,« sagte Louis, »Conneau weiß nichts und soll auch nichts erfahren.«
»Aber Hoheit vergeben: wir brauchen doch Rückendeckung. Der Herr Doktor kann den Herrn Kommandanten unschwer vierundzwanzig Stunden hinhalten.«
»Schon richtig,« gab Louis zu, »ich will aber aus meinem Freund Conneau keinen Sündenbock machen.«
»Aber Hoheit vergeben …« Der Herr winkte ab; so mußte man schweigen, trotzdem man durchaus überzeugt war, mit seinem ergebenen Einwand im Recht zu sein. Es kam hin und wieder vor, daß man schwieg und dennoch tat, was man im Interesse des Herrn für richtig hielt. Thelin war eine kalte und ruhige Natur.
Thelin weckte ihn am Morgen des 25. Mai um dreiviertelsechs, wie befohlen. Louis hatte ein Schlafpulver genommen, er wachte nicht leicht auf und war etwas benommen.
»Hoheit vergeben,« sagte Thelin.
»Ich bin ja schon wach,« gähnte Louis.
»Hoheit vergeben,« wiederholte Thelin nachdrücklich.
Louis blinzelte ihn an, plötzlich unruhig, und wandte dann den Kopf zur Seite. In der Tür zwischen dem Schlafzimmer und dem Wohnzimmer stand Conneau.
»Schade,« sagte Louis, sonst nichts, und stand auf. Er gab Thelin, der ihm den Schlafrock umhängte, nicht einmal einen unfreundlichen Blick, er sah mit verschlafenen Augen an ihm vorbei und setzte sich auf den Stuhl vor dem ovalen Spiegel.
»Guten Morgen, Louis,« sagte Conneau.
»Guten Morgen, Doktor,« nickte Louis, »es ist gutgemeint, aber es belastet mich nun einmal.«
»Ich halte es für meine Pflicht,« entgegnete Conneau; »denn ich fülle die Lücke im Plan aus.«
»Drüben auf dem Schreibtisch liegen drei Briefe,« sagte Louis; »der an Sie ist jetzt ungültig und kann zerrissen werden; der an Montholon bezeugt seine Unschuld an der Affäre, Sie werden es überdies beschwören, Doktor, und dann sollte man den alten Herrn frei lassen. Der dritte ist an den Kommandanten, der mir leid tut; denn er wird das Kommando verlieren und um die Karriere kommen. Aber er wird rehabilitiert werden, durch die Revolution – oder durch mich …«
Er blinzelte in den Spiegel und hob die Enden seines Schnurrbarts in die Höhe. Thelin, der fischblütige Mann, trat so unbeteiligt heran wie es sich für einen Kammerdiener geziemt. Er hatte in der Hand eine Schere, Louis legte den Kopf zurück, der Bart fiel in dunklen Flocken zur Erde.
Conneau hörte zu und sah zu. Dann sagte er: »Unser Bartscher, der an alles denkt, hat sich unter der Hand bei einem Hamer Advokaten über das Strafmaß erkundigt. Ich bekomme höchstens sechs Monate, vielleicht aber auch nur drei Monate. Darauf kommt es uns nach sechs Jahren nicht mehr an. Dies zu Ihrer Beruhigung.«
Thelin seifte den Herrn ein. Louis sah ihn bei Conneaus Worten an, und da sich der weiße Schaum bewegte, wußte Thelin, daß Louis lächelte. »Die gute Lore,« meinte Louis, während er rasiert wurde, »ahnte die Zusammenhänge sogar ohne Indiskretionen. Ich habe mit meinen Versuchen, wirklich einmal anständig zu handeln, leider kein Glück.«
»Es kommt heute auf ein anderes Glück an,« bedeutete der Arzt, »und wenn Sie es haben, Louis, garantiere ich Ihnen, daß dem guten Kommandanten mindestens vierundzwanzig Stunden kein Blick auf das Krankenbett gelingt; denn Ihr Astralleib wird heute bis 39,5 Fieber bekommen.«
»Es ist die alte Komödie,« sagte Louis unter dem Handtuch; »aber zwölf Stunden genügen für sie; denn heute Abend bin ich schon in Brüssel – hoffe ich.«
Thelin hob das Handtuch ab, mit einer Geste, als enthülle er ein Denkmal. Ein ganz fremdes, nacktes Gesicht mit leichten Hängebacken kam zum Vorschein, die Nase riesig in Freiheit, von keinem Schnurrbart mehr besänftigt, und das winzige Kinn ohne die Prothese des Knebelbarts in fleischigem Bogen zum Hals zurückweichend. Und als ob die Enthüllung des neuen Gesichts das Zeichen für die Hilfsgeister gewesen sei: jetzt klopften die Handwerker durch das Haus, daß sie da seien und begonnen hätten.
Conneau sah den Veränderten an und sagte etwas beklommen: »Sehr gut – kaum zu erkennen …«
»Aber jetzt beginnt es doch erst!« rief Louis plötzlich gereizt, »jetzt wird es erst lustig – jetzt schminkt sich der Clown!« Thelin brachte ein Näpfchen mit Rouge und Louis machte sich die Backen rot. Thelin brachte eine schwarze Perücke. Louis setzte sie auf und kämmte die Haare in die Stirn und über die Ohren.
»Großartig!« sagte der Arzt und lächelte.
Louis wandte ihm das groteske Antlitz zu und hatte sonderbar gequälte Augen. »Lachen Sie doch!« rief er heftig und stand auf.
»Nein, ich lache nicht,« sagte Conneau ernst.
»Ich hasse die Lächerlichkeit,« flüsterte Louis und trat ganz dicht an den Freund heran, »ich fürchte nichts so sehr wie die Lächerlichkeit und mein widerwärtiges Schicksal gibt mir immer wieder Anlaß, sie zu hassen und zu fürchten – ja, und ich wollte aus Scham oder aus Hochmut den Menschen, die ich liebe, den Anblick dieses Gesichts ersparen, Conneau; das war der zweite und vielleicht der tiefere Grund, daß ich Sie nicht in die Komödie zog …«
»Sie sollten sich jetzt nicht in Erregung bringen, Louis …«
Louis packte ihn an die Schultern oder er hielt sich an ihm fest und seine Nebelaugen wohnten fremd und traurig zwischen dem falschen wilden Stirnhaar und den neuen roten Backen. »Ich habe ja Angst, Lieber,« flüsterte er, »ich habe ja solche Angst vor der Lächerlichkeit, und daß sie erwischt wird – ich habe mich damals hinter der Boulogner Säule nicht totschießen wollen, jetzt sage ich es Ihnen, und ich habe mir an der Zitadelle nicht den lieben Schädel eingerannt: ich habe eine Affenliebe für mein komisches Leben – aber heute, Conneau, heute bleibe ich nicht stehen, wenn jemand mit Gewehr Halt ruft; und wenn man nicht stehen bleibt, wird geschossen, nicht wahr, Doktor? – Heute will ich, daß man schießt; denn ich will nicht, daß man lacht!«
Conneau streichelte ihm die Hände und sagte: »Man wird nichts zu lachen haben, Louis.«
Louis ließ ihn los und kleidete sich an. Er streifte über den fertigen Anzug die halblange, blaue Bluse und die weiten, kalkweißen Leinenhosen. Ein rotes Halstuch verdeckte Kragen und Krawatte. Thelin zog ihm die Holzschuhe an.
»Sie sind nicht zu erkennen,« stellte der Arzt fest, »es wird gut gehen.«
Der einsichtige Morgen war trübe. Die Klopfgeister meldeten sich unentwegt.
Louis war aufgeregt; aber man sah es ihm nicht an. Er frühstückte wenig und sprach nichts. Er stand vor dem Spiegel und verbesserte noch dies und jenes an seinem Gesicht.
Thelin hielt die Uhr in der Hand.
Thelin sagte: »Dreiviertelsieben!«, steckte die Uhr ein, zog ein leeres Bücherbrett aus dem offenen Fichtenholzregal der Bibliothek und reichte es Louis, dem die Augenlider flatterten. »Und die Pfeife!« flüsterte er kurzatmig, »die Pfeife!« Thelin brachte ihm eine große verrauchte Tonpfeife. Dann nahm er aus dem Wandschrank zwei Flaschen mit Schnaps und trat auf den Gang. Conneau folgte ihm und blieb hart vor der angelehnten Tür stehen. Louis wartete im Zimmer mit Brett und Pfeife und drückte die Augen zu. Brett und Pfeife zitterten mit den Händen. Thelin trat auf den Treppenpodest und rief: »Jungens, wer will Korn, wer will Kümmel – Spende vom kranken Prinzen!« Er ging in ein leeres Flurzimmer, daß den Arbeitern als Eßraum diente. Die Handwerker drängten fröhlich lärmend nach: es war nicht das erste Mal, daß der gute Prinz einen Schnaps spendete.
»Jetzt!« sagte Conneau ins Zimmer. Louis fuhr auf, steckte die Pfeife in den Mund und schob, sie zu stützen, die Unterlippe vor. Er hob das Brett auf die rechte Schulter; denn der Posten unten am Haustor stand rechts.
»Glück!« flüsterte Conneau und schüttelte Louis hängende Linke, die naß und kalt war. »Mut!« Louis antwortete nicht und sah ihn nicht an, er starrte auf den Gang, die Pfeife wackelte im Mund und noch auf der obersten Stufe bebten die Knie. Dann war die Schwäche überwunden: die Treppe war leer. Louis stieg hinab. Conneau trat an das Gangfenster, das rechts über dem Portal lag, und beugte sich heraus. Der Posten unter ihm lehnte träge gegen das Schilderhaus, das Gewehr in den gekreuzten Armen. Als das Brett aus der Torlücke glitt, rief Conneau: »Posten! Heh, Posten!« Der Soldat schaute auf, er mußte sich nach rechts drehen: an seinem Rücken vorbei trat Louis aus dem Tor. »Ach, bitte, Posten,« rief Conneau, »ich brauche in zehn Minuten eine Ordonnanz, muß zur Apotheke schicken, der Prinz ist ernstlich krank …« Louis war schon vorbei, er hörte hinter sich die Stimme des Freundes, er lächelte, er klapperte über den Hof, er durfte nicht zu schnell gehen, er mußte einen wiegenden und kraftvollen Schritt gehen und spürte doch eine tolle Lust zu laufen. Ein Arbeiter kam ihm entgegen, in jeder Hand einen Kalkeimer. Louis hob das Brett von der rechten auf die linke Schulter; denn von links kam der Maurer und links neben dem Kasemattentor drüben stand der Posten. Louis drückte das Gesicht ans Brett und ging schneller. »Heh, Berthoud!« gröhlte der Arbeiter im Vorbeigehen. – »Heh! heh!« hüstelte Louis und die Pfeife im Mund wackelte. – Er heißt Berthoud, mein Schrittmacher, dachte er, sich weiterwiegend, und wenn er mir so gut ist wie ich ihm, dann kommt er mir nicht entgegen … – Das geschlossene Kasemattentor vor ihm wurde immer größer, das Herz klopfte so stark, daß auch das Tor im Blick bebte – ach, es bebte nicht, es stand fest, es versperrte den Zugang zur Welt seit sechs Jahren. Louis ging es an, wie damals der Schrittmacher: das Tor muß doch aufspringen … Jetzt blickte der Soldat nach ihm. Louis preßte die Wange an das glatte Holz und drehte das Brett ein wenig nach rechts, zwischen sich und den Prüfblick. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinunter; aber er wiegte weiter. Er sah unter dem Brett hindurch die Uniform an die Tür treten, er hörte, wie der Drücker ins Schloß gestoßen wurde: der rechte Torflügel sprang auf. »Schieb ab!« sagte eine Stimme. – »Danke,« flüsterte Louis, im Zweifel, ob Berthoud danken würde. Hinter ihm schlug die Tür zu. Louis blieb stehen, nahm die Pfeife aus den Zähnen und atmete, tief, aus offenem Mund. Der Kasemattengang war spärlich beleuchtet, der Weg bis zum Außentor ungefährlich. Louis ging langsam und wurde ruhig, er glaubte an seinen Stern. Vor dem Außentor blieb er stehen; er wußte nicht, ob der Außenposten links oder rechts stand. Er hob das Brett auf gut Glück auf die rechte Schulter, er glaubte an sein Glück. Er stieß mit dem Brett gegen das Tor. Der Flügel ging auf, der Posten stand rechts. Louis ging vorbei und war auf der Zugbrücke, er ging fünf Schritte; zur Linken am Rand der freien Welt stand der Schrittmacher, ein Brett auf der Schulter, bereit, ins Fort zu gehen. Er erblickte den Doppelgänger und trat einen Schritt nach rückwärts, mit großen Augen. Louis, weiterwiegend, nahm die Pfeife aus dem Mund und legte den Finger an den Mund.
»Salut!« sagte der Schrittmacher, seine Augen lachten und er hob halbwegs militärisch die freie Hand an den schwarzen Schopf.