Fridtjof Nansen
Durch den Kaukasus zur Wolga
Fridtjof Nansen

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IV.
Über den Rücken des Kaukasus.

Bei Passanaur vereinigt sich der von nordnordwestlich kommende Weiße Aragwa mit dem Schwarzen Aragwa, der aus den nordöstlichen Bergen herabfließt. Die Flüsse verdanken ihre verschiedene Farbbezeichnung dem Schlamm, den sie führen, und dieser wiederum ist je nach dem Gestein des Flußgebietes verschieden gefärbt. Wo das Gestein hart ist, bleibt das Wasser klar, der Fluß sieht dunkel aus, weil der Grund durchschimmert, und wird also »schwarz« genannt. Rinnt der Fluß über mürbes Gestein, so führt er Schlamm mit sich, dessen Farbe von der Gesteinsart abhängt.

Wir fuhren in nördlicher und nordwestlicher Richtung am linken Ufer des Weißen Aragwa entlang. Der Fluß strömte uns schäumend durch sein waldiges, üppig-grünes Tal entgegen. Die Ortschaften sind zum größten Teil noch georgisch. Vereinzelte ossetische Dörfer liegen auf dem Westufer, sie sind sofort an ihrer Armseligkeit zu erkennen. Wir eilten in schneller Fahrt talaufwärts. Die Steigung der Straße nahm zu. An der Westseite des Tales klebten an den steilen Abhängen ossetische Dörfer mit ihren alten Verteidigungstürmen. Die Halden sind dort so steil, daß Heu und Erntegut auf dem Rücken heruntergetragen oder mit Rutschen zu Tal gefahren werden müssen. Die Dörfer wurden wohl hauptsächlich aus Gründen der Sicherheit an so unzugänglichen Stellen erbaut. Da sie noch dazu durch ihre Türme geschützt waren, mag es schwer genug gewesen sein, sie einzunehmen. Karge Lebensbedingungen, ewiger Kampf, Verteidigung, Angriff, Raub und harte Mühe ums tägliche Brot – das war das Leben dieser Bergvölker. Auf der Ostseite des Tals, wo das Land der Chewsuren beginnt, sind keine Dörfer zu sehen. Die Chewsuren halten sich fern von der Verbindung mit der Welt und verkriechen sich in ihre Felsschluchten.

Auf der Wasserscheide. Im Hintergrund das Kasbekmassiv.

In der Darjalschlucht. »Die Straße schlängelte sich durch die wilde Schlucht an der Felswand entlang abwärts.«

Bei der Station Kasbek. ». . . aus den brodelnden Wolkenmassen drohte ein mächtiger weißer Gletscher zu uns herab.«

Hinter dem Dorf Mleti, das 1513 Meter über dem Meere auf hohem Felsabsturz überm Aragwa liegt, führt eine Brücke über den schäumenden Fluß. Hier beginnt das richtige Hochgebirge. Bis dorthin folgt die Straße dem sanft ansteigenden Talgrund am Fluß entlang. Hier stellt sich der Reisende unwillkürlich die Frage: Sollen wir an dieser senkrechten Felswand emporklimmen? Und wirklich, die Straße schlängelt sich in ungezählten Windungen an der Wand aufwärts, bis sie an der obersten Kante unsichtbar wird.

Unser Auto kroch in Haarnadelkurven hinauf. Tiefer und tiefer versank das Tal mit jeder Windung der Straße unter uns. Wir konnten den Absturz neben uns nicht sehen und wußten doch, daß am Straßenrand der Felsen Hunderte von Metern senkrecht abfiel. Einige Kurven waren so eng, daß wir mit dem Wagen bis an die äußerste Kante ausbiegen mußten, um die Kurve zu nehmen.

Je höher wir kamen, desto weiter wurde unser Ausblick über das Tal zu beiden Seiten. Der Aragwa glitzerte, ein schäumendes, weißes Band, tief unten im Abgrund, die Dörfer klebten wie Schwalbennester an den Felswänden jenseits des Tales, dazwischen lagen kümmerliche kleine Äcker und grüne Almweiden. In Richtung aufs Gebirge sahen wir bald die Schneegipfel einen hinter dem andern aufsteigen. Zuerst die »Roten Berge« und dann die »Sieben Brüder«, die aus rötlichen Vulkanmassen aufgetürmt sind. Schneeferner und Gletscher überall, durch tiefe Schluchten und Klammen getrennt, zwischen deren senkrechten Wänden in tiefem Grund der weiße Gischt der Flüsse brauste. Endlich war die obere Kante des Absturzes erreicht. Links vor uns blickten wir in den Gud-Chevi, die Teufelsschlucht, hinab, durch die der Aragwa vom Gebirge herabbraust, ein enger, schwindelnd tiefer Abgrund zwischen fast lotrechten Wänden. Hier schien ein Volk wild kämpfender Titanen in ewiger Versteinerung erstarrt zu sein.

Bald danach erreichten wir Guda-ur, die höchste Poststation auf der ganzen Strecke (2160 m überm Meer). Hier ist auch eine Wetterwarte eingerichtet. Noch weiter aufwärts führt der Weg an der Ostwand der Aragwaschlucht über schwindelnden Abgründen hin. Immer wilder wird die Landschaft. An mehreren Stellen waren Dächer zum Schutze gegen Lawinen und Steinschlag über den Weg gebaut. Wir begegneten mehrmals Kindern, offenbar waren es Hütejungen, die das weidende Vieh an den begrasten Halden beaufsichtigten. Sie tanzten vor unserm Wagen hart am Rand des Abgrundes hin und her und warfen uns nach der Landessitte kleine Blumensträuße als Willkommgruß zu, bettelten aber nicht. Endlich hatten wir den Höhepunkt der Straße, den Krestowipaß, erreicht. Diese Stelle (2345 m überm Meer) ist durch ein steinernes Mal gekennzeichnet. Darüber steht auf der rechten Seite der Straße ein altes Kreuz, das dem Paß wohl seinen Namen gegeben hat. Es soll von der Königin Tamâra errichtet worden sein. Bis hier herauf in die abgelegene Wildnis des Gebirges ist ihr Name groß. – An vielen Stellen fanden wir alte steinerne Kirchen oder Überreste von solchen, und sie alle sollen von Tamâra erbaut worden sein. Sie selber drang der Sage nach an der Spitze ihrer Krieger in die Hochgebirgstäler vor, unterwarf sich die wilden Bergstämme und brachte ihnen die Segnungen des Christentums. Bis auf den heutigen Tag klingt in ganz Swanetien ihr Lob von den Lippen des Volkes:

Und die Berge beugten das Haupt vor ihr,
Tâmar kam ins Swanerland,
trug die Krone im Haar.
— — — — — — — — — — — —
Tamârs Auge war gleich dem Edelstein.
Über seidenem Gewand die Brünne trug sie.
Tamârs Gürtel glänzte von Gold.
Tamâr trug um die Lende ihr Königsschwert.

Wohl möglich, daß die mächtige, gütige und starke Frau auf ihren Kriegszügen auch in diese entlegenen Bergtäler gekommen ist.

Hier endlich stehen wir auf der Wasserscheide zwischen den Quellen des Kura und denen des Terek, die nördlich entspringen. Hier nehmen wir Abschied von den schönen Tälern Georgiens, durch die der Hauch großer Erinnerungen zieht, Abschied vom georgischen Volk, das 2000 Jahre lang um seine Freiheit und Kultur gekämpft und das mit dem Blut seiner edelsten Söhne die heimatliche Erde getränkt hat. Bis auf den heutigen Tag singen die Kinder Georgiens:

Noch lebst du, Heimat, und dein teurer Boden
schläft nun entgegen neuen Tages Licht,
da man den Helden Siegerkränze flicht,
die einst um dich hinsanken zu den TotenVon dem georgischen Dichter Akaki Sereteli..

Herrliche Reiche trug die Erde! Wieviel Schönheit und blühende Kraft haben wir Menschen vernichtet, in Kampf und Krieg vertan – wozu?

*

Immer wilder und öder wurde das Gebirge, grau und nackt steilten sich die abgeschliffenen Felswände empor. Dann führte die Straße leise abwärts, und die Wasserläufe nahmen ihren Weg nach Norden. Wir fuhren in eine enge Schlucht ein und folgten einem Flüßchen, das in schäumendem Lauf dem Strom Terek zueilte. Diese Strecke ist im Winter und Frühjahr schwer von Lawinen bedroht, daher sind überall Schutzdächer errichtet. An einer kohlensauren Quelle, die aus dem Gestein hervorsprudelt, machten wir halt, wir wollten uns an dem frischen Wasser gesund und munter trinken. Einige Knaben und Männer versammelten sich um das Auto und boten Bergkristall und andere Mineralien an.

Der eigentliche Kamm des Gebirges lag hinter uns. Wir hatten die Wasserscheide überschritten, und unser Weg führte uns weiter zu Tal. Vor uns lagen aber noch die mächtigen Vulkanmassive, die über dem Urgestein am Nordhang der Erdfalte aufgebrochen sind und ihre mächtigen Krater, überragt von dem Riesen Kasbek, auftürmen. Von Zeit zu Zeit erschien der wild drohende Schneegipfel dieses gewaltigen Kolosses, M'kimvari heißt er in der Landessprache, durch eine Öffnung des wallenden Wolkenvorhangs in unserm Blickfeld.

Von hier aus nördlich ist die Gegend in der Hauptsache von Osseten bewohnt. In der Nähe der Station Kobi kamen wir an den Terek selbst, der von Westnordwest her zwischen den senkrecht abstürzenden Wänden der tückischen Trussowkluft hervorschäumt und das Tal südlich vom Bergmassiv des Kasbek durcheilt. Wir blieben am rechten Flußufer. Bei Kobi erhebt sich drohend eine hohe dunkle Basaltwand in sechskantigen Prismen. Das Tal weitete sich, doch blieben seine Flanken steil und nackt. Auf den Almflächen an den Hängen lagen kleine, meist ossetische Dörfer. Viereckige Wehrtürme erzählten von den unablässigen Kämpfen der Bewohner mitten in dieser armseligen Natur. Auch hier Geschlechterfehden, Blutrache und Räuberei.

Auf einem Felsblock, der das Tal beherrscht, liegt die alte Festung Sion (Ssioni). Ein Birkenhain in diesem Tal ist von den ossetischen Bauern seit alter Zeit sorgsam erhalten worden, denn er gilt für heilig. Er liegt ungefähr 1800 Meter über dem Meere. Endlich erreichten wir die bekannte Poststation Kasbek, an der ein großes Hotel errichtet ist. Wir waren inzwischen schon bis auf 1715 Meter über dem Meere herabgestiegen und befanden uns mindestens 600 Meter unterhalb der Wasserscheide. Auf der Westseite des Tales sahen wir auf einem hohen Gipfel Gebäude, vermutlich eine Kirche mit ihren Nebenbauten. Hinter ihr war die Sicht durch brauende Nebel verhängt, und wir ahnten hinter diesem Vorhang die Umrisse einer abenteuerlichen Welt.

Während wir nach oben starrten, öffnete sich der Schleier wie jäh zerrissen, und aus den brodelnden Wolkenmassen drohte ein mächtiger weißer Gletscher zu uns herab. Der Anblick raubte uns den Atem. Nur eine Sekunde lang war der schwindelnd hohe Gipfel deutlich sichtbar, dann versank das Traumbild wieder hinter Wolken.

Das war der Kasbek oder M'kimvari, 5043 Meter hoch, sein Gipfel lag 3300 Meter über unserm Standort. – Dort oben hatte einst Zeus den Prometheus in Fesseln gelegt, weil er das Feuer vom Himmel stahl und es den Menschen brachte und weil er den unbeugsamen göttlichen Gesetzen zum Trotz im offenen Kampf dem erhabenen Herrn des Himmels Macht und Glück rauben und den Menschen schenken wollte. Dort oben also, hoch über schwindelndem Abgrund, zerrt der verwegene Träumer an seinen Ketten, während der grimme Geier der Mißgunst seine Leber zerhackt. – Das ist die alte Sage vom ungestümen Menschengeschlecht, das den Himmel stürmen und das Glück erlisten will. Wehe, zwischen Himmel und Abgrund bleibt es gebannt. Das ist der Geist Kains, des Aufrührers, dessen Begehrlichkeit keine Grenzen kennt.

Die Bergbewohner erzählen, der alte Kämpfer trage nun weißes Haar, sein Bart walle bis zu den Füßen herab, der ganze Körper sei mit weißem Flaum bedeckt. Um Hüften, Hände und Füße sind Eisenketten geschlungen und an den Felsen festgeschlossen. Nur wenige Menschen haben ihn gesehen, denn es ist gefährlich, über die steilen Felswände und Gletscher emporzuklettern. Wer ihn aber einmal sah, wird ihn nicht wieder erblicken, denn keiner von denen, die es ein zweites Mal versuchten, kam je zurück. Nur einige alte Männer, die mit ihm gesprochen haben, hausen im Gebirge. Sie dürfen nicht alles erzählen, was sie gehört und gesehen haben. Aber der Alte dort oben freut sich, wenn er Menschen sieht. Nach drei Dingen fragt er sie: Ob noch immer Fremde das Land durchziehen und ob Städte und Dörfer gebaut werden; ob die Jugend im ganzen Lande in Schulen unterrichtet werde; und ob die wilden Obstbäume reiche Ernte tragen. Wenn er dann wahrheitsgemäß eine verneinende Antwort erhält, senkt er tief betrübt das Haupt. – Als erster gewöhnlicher Sterblicher hat der bekannte Hochtourist Freshfield den Kasbek erstiegen. Er führte sein Unternehmen im Jahre 1868 gemeinsam mit Moore, Tucker und dem Bergführer François Devouassoud aus Chamonix aus. Der Kasbek ist der höchste Berg in diesem Teil des Kaukasus. Weit von ihm in westnordwestlicher Richtung erhebt sich das andere mächtige Vulkanmassiv, das gleich ihm über dem Nordabhang des Gebirges aufgetürmt ist und dessen Krater noch höher sind. Der gewaltigste unter ihnen ist der Elbrus mit 5629 Meter über dem Meere.

Der überwältigende Eindruck dieser Vulkangruppen wird dadurch verstärkt, daß sie beide etwas abseits vom höchsten Rücken des Gebirges liegen und so von allen Seiten her auf weite Entfernung sichtbar sind.

In dem Dorf Kasbek und der größeren Ortschaft Gergeti, die gegenüber auf der andern Seite des Flusses liegt, wohnen Gebirgsgeorgier, dagegen hausen in dem Aul Gweleti, sieben Kilometer weiter nördlich, größtenteils Tschetschenzen, die als Steinbockjäger berühmt waren. Das Gebiet der Tschetschenzen dehnt sich auf der Ostseite des Terektals nördlich vom Chewsurenland aus. Das übrige Terektal ist von hier nach Norden bis hinaus in die Ebene von Osseten bewohnt.

In der Nähe des Dorfes Kasbek wurde ein alter Begräbnisplatz, vermutlich aus der Bronzezeit, entdeckt. Schon damals war also das obere Terektal bewohnt, und es muß über den engen Hochpaß schon ein Verkehrsstrom gegangen sein. Hier wie in vielen Gegenden des Kaukasus wurden zahlreiche Gegenstände aus der Zeit der Bronzekultur gefunden, die auf einen Phalluskult hinweisen. Sogar hier, im Bereich dieser erdrückend strengen Natur, haben die Menschen Lebenskraft und Fruchtbarkeit angebetet.

Die Straße lief am schäumenden Terek entlang talab. Der Fluß führt hier einen weißlichen, zum größten Teil wohl kalk- oder lehmhaltigen Schlamm mit sich. Noch immer hatten wir durch das Dewdoraktal aufwärts den Fernblick auf den Eisstrom, den die Gletschermassen des Kasbek entsenden.

Dieser Gletscher hat im vorigen Jahrhundert großes Unheil angerichtet. Er rückte weit vor und staute einen Fluß ab. Die abgesperrten Wassermassen brachen sich dann einen Weg durch den Eiswall und wälzten sich verheerend durch das Terektal.

Über eine Brücke fuhren wir auf die linke Seite des Tales. Die Wände rückten näher aneinander und stiegen zu beiden Seiten fast senkrecht etwa 1000 bis 1500 Meter empor, tief unter uns wirbelte der schäumende Fluß zu Tal. Die Wassermassen des Terek zwängen sich in der engen Klamm durch einen hohen Bergrücken vor uns in nördlicher Richtung durch. Kaum daß für die Straße Raum genug war, an vielen Stellen war die Fahrbahn in die senkrechten oder überhängenden Wände gesprengt, 100 Meter und tiefer unter uns sahen wir den reißenden Strom. Hoch türmten sich die Berge im Umkreis, teilweise waren sie zu steil, als daß Wald und Baumwuchs dort hätten Wurzel schlagen können. Nur wenige grasbewachsene Fleckchen waren über die steinigen Halden verstreut. Der Fels schien brüchig zu sein, Steinschlag und Bergrutsch hatten erst jüngst ihre Spuren hinterlassen.

Die Straße schlängelte sich durch die wilde Schlucht an der Felswand entlang abwärts. Die Telegraphen- und Telephondrähte waren von Pfahl zu Pfahl gezogen, oder sie hingen an den Felswänden und spannten sich über Abgründe. Unablässig tragen die dünnen Drähte lautlose Botschaft durch die zerrissene Bergwelt von Gemeinde zu Gemeinde. Vielleicht erzählen sie den neuesten Klatsch, vielleicht auch sind sie die Boten entscheidenden Völkerschicksals.

Wir fuhren nun durch die eigentliche Darjalschlucht (persisch Dar-i-Alan, das heißt Pforte der Alanen). Sie heißt wohl auch Pforte der Iberer (oder Sarmaten). Wie mögen hier, ehe diese Straße gebaut war, Menschen, Vieh und Karawanen vorwärts gekommen sein, von großen Heeren und Völkerwanderungen mit ihrem Troß gar nicht zu reden. Und doch wissen wir, daß schon im Bronzezeitalter, vor 4000 Jahren und vermutlich noch viel früher, hier Menschen ihres Wegs gezogen sind. Im 8. Jahrhundert v. Chr. kamen die Scharen der Kimmerier hier durch, fielen in Georgien und im Reich der Chaldäer, dem heutigen Armenien, ein und bedrohten Assyrien. Aus der Schilderung, die Strabo (XI, 3, 5) von seiner siebentägigen Reise übers Gebirge gibt, können wir folgern, daß auch zu seiner Zeit, etwa um Christi Geburt, dieser Weg vielfach benutzt wurde. Der Araber Jakut el Hamawi erwähnt um das Jahr 1230 n. Chr. den Paß als den Zugang zum Land der Alanen und spricht auch von einer Brücke über den Fluß (vgl. unten). Im Jahre 1769 marschierte der russische General Todleben mit 400 Mann und vier Kanonen durch diesen Paß auf Tiflis, und im Jahre 1783 schleppten die Russen wiederum vier Kanonen hier durch. Im Jahre danach nahmen sie den Bau einer Militärstraße von Norden bis hierher in Angriff. Die Straße wurde in ihrer heutigen Breite erst 1861 vollendet.

Schon in alter Zeit muß es einen Weg durch die enge Schlucht gegeben haben, der zum Teil von Menschenhand angelegt war, jedenfalls muß irgend etwas getan worden sein, um das Vorwärtskommen an den schwierigsten Stellen zu erleichtern, wo die Bergwände senkrecht zu den Stromschnellen abstürzen. Möglicherweise war zu bestimmten Jahreszeiten bei Niedrigwasser am Flußbett entlang ein gangbarer Weg. Führt aber der Fluß mehr Wasser, so füllt die reißende Strömung den ganzen Grund der Schlucht aus, und für Mensch oder Tier scheint es an den senkrechten Wänden kein Vorwärtskommen zu geben, es sei denn auf Flügeln. Um so leichter muß es zu allen Zeiten gewesen sein, den engen Durchlaß auch gegen das stärkste Heer abzuriegeln.

Wir kamen wieder zum Flußbett hinab und über eine Brücke auf das rechte Ufer. Die Schlucht wurde womöglich noch enger, wir hatten das beklemmende Gefühl, als sollten wir im Grunde dieser Klamm zwischen mächtigen, hochgetürmten Felsmassen begraben werden. So mag der Weg zur Hölle aussehen. Weiter vor uns scheint die Schlucht als Sackgasse zu enden. Hier kann es doch nicht weitergehen! Kommen wir ans Höllentor? – Dann aber öffnet sich doch auch hier wieder ein schmaler Schlitz, durch den der Fluß weiter hinabbraust.

Dies schien die eigentliche »Pforte« zu sein, ihr war auf dem linken Flußufer ein kleines russisches Fort mit starken, runden Ecktürmen vorgelagert. Die Türme waren oben flach, hatten eine Brustwehr für Schützen und Kanonen und Schießscharten in den Mauern.

Nach dem Bericht der alten georgischen Chronisten soll König Mirwan von Mzchetha im 3. Jahrhundert v. Chr. die Schlucht durch eine Mauer und starke Eisentore versperrt haben. Die Reste der Mauer sollen heute noch zu sehen sein. Strabo erzählt (um Christi Geburt), daß »eine schwere, uneinnehmbare Mauerbefestigung den Endpunkt der Straße verteidigt«. Plinius berichtet im 1. Jahrhundert n. Chr. vom »kaukasischen Paß, den manche fehlerhaft als Kaspischen Paß bezeichnen. Unter ihm stießt ein übelriechender Strom hindurch, und oben auf dem Felsen liegt diesseits des Passes eine starke Festung, Cumania genannt. Sie hat unzähligen Völkern den Durchgang verwehrt. So ist an dieser Stelle oberhalb der iberischen Stadt Harmastes die Welt mit Brettern vernagelt«. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung mit den Befestigungen bei Derbent, östlich vom Kaukasus, am Kaspischen Meere vor. Die Erzählung von dem stinkenden Strom kann mit den Naphthaquellen bei Derbent und den aus der Erde entweichenden Dämpfen zusammenhängen. Der arabische Geograph Jakut el Hamawi berichtet um 1230 n. Chr.: »Im kaukasischen Paß, durch den man zu den Alanen kommt, liegt die Burg Bab-Allan (Pforte der Alanen). Das ist ein merkwürdiger Ort, hier kann eine Handvoll Menschen den Übergang über das Gebirge sperren. Die Burg liegt uneinnehmbar auf einem steilen Berg und hat ihre eigene Quelle. Vor der Burg dehnt sich ein tiefes Tal, darüber führt eine Brücke bis dicht unter die Burgmauer, die Brücke wird ganz von der Burg beherrscht.« Wie dem auch immer gewesen sein mag, jedenfalls war es auch für ein großes Heer ohne neuzeitliche Geschütze unmöglich, hier durchzukommen, wenn nur eine Handvoll mutiger und geschulter Krieger, wie die Bergvölker sie hervorbringen, ihnen den Durchgang verwehrte.

Auf dem Berge, im Rücken des russischen Forts, standen die Ruinen einer alten Ossetenburg. Sie riefen uns gleichsam noch einmal zum Abschied aus dieser Märchenwelt, als letzten Gruß, den Zaubernamen Tamâra zu. Die Königin selbst hat die Burg wohl kaum erbaut, aber sicherlich reichte ihr starker Arm über den Felsenwall bis hierher, ihre kleine, wohlgeformte Hand hielt den Schlüssel der wilden Darjalschlucht fest, deren Engpaß die Pforte ihres Reiches war.

Ehe wir die Station mit dem anheimelnd nordisch klingenden Namen Lars erreichten, schwang sich eine Brücke über den Fluß zum linken Ufer. In dem engen Tal standen auf einigen vorspringenden Felsblöcken Wachtürme. Dann weitete sich das Tal, die Berge wurden niedriger, die Hänge waren bewaldet. Rechts oben lag ein Fort. Mehr und mehr traten die Berge zurück, die Straße wand sich zwischen grünbewaldeten Höhenrücken hin.

Endlich öffnete sich die Aussicht über die Ebene, die Stadt Wladikawkas (»Beherrscherin des Kaukasus«) breitete sich vor uns aus, und wir sausten durch die weite grüne Ebene, über der die Sonne lächelte, hinter uns die tiefe finstere Schlucht, die uns aus dem Schoß des gewaltigen Gebirgsblockes ausgespien hatte. Gegen Mittag erreichten wir die Stadt nach achtstündiger Fahrt – der eigenartigsten, die man erleben kann. Stunden, in denen neue Eindrücke in überwältigender Steigerung ununterbrochen auf uns einstürmten, so mannigfaltig, daß wir kaum imstande waren, sie zu fassen. Strabo schreibt, daß diese Fahrt zu seiner Zeit sieben Tage erforderte. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts brauchte der Reisende einen vollen Monat dazuSo C. F. Lehmann-Haupt: »Armenien einst und jetzt«, Band I, Seite 63. 1910., uns aber hatte die Unrast der europäischen Zivilisation vorwärts gepeitscht, wir konnten nicht langsam reisen, nicht Ruhepausen einlegen und in Muße die mannigfaltigen Wunder genießen, an denen der Weg uns vorüberführte. Viel sehen und viel erleben wir, aber wir bleiben an der Oberfläche, niemals haben wir Zeit zu Vertiefung und Gründlichkeit. Als wir über die Terekbrücke in die breite, von Linden gesäumte Hauptstraße von Wladikawkas einfuhren, bedauerten wir im Herzen die Unrast unserer Zeit.

In der Stadt schien ein Festtag zu sein, denn durch die Straßen schoben sich Demonstrationszüge, große Menschenmengen waren im Freien um Redner versammelt. – Zwei Abgesandte aus Dagestan erwarteten uns. Sie waren in die hübsche kaukasische Tracht, die enganliegende Tscherkeßka, gekleidet, der eine in schwarz, der andere in grau. Schlanke, schmalhüftige Gestalten mit prächtig gearbeitetem Dolch im Gürtel, mit dem breiten Patronengurt über der Brust und der kleidsamen Persianermütze auf dem Kopfe. Die beiden stattlichen Männer sollten uns mit dem Nachmittagszug nach Dagestan geleiten. Bis dahin nahm uns ein liebenswürdiger Privatmann als Gäste auf.

Wladikawkas liegt 700 Meter über dem Meere zu beiden Ufern des Terek in der weiten Ebene, die sich nördlich zu Füßen des Kaukasus hindehnt. Die Stadt wurde 1784 gegründet, als die Russen die Militärstraße über den Kaukasus zu bauen begannen. Das zaristische Rußland hat überall an den Grenzen des Reiches gute Straßen gebaut, um mit seinen Armeen Vordringen und andere Völker unterwerfen zu können. Heute ziehen auf den guten Straßen Männer des Friedens ihres Wegs.

Die Stadt wurde zum befestigten Hauptort der Provinz Terek und zum wichtigsten Stützpunkt für die ununterbrochenen Angriffe, die von Norden her gegen die Kaukasusvölker unternommen wurden. Als ehemalige Garnisonstadt ohne Tradition hat sie kaum Sehenswürdigkeiten zu bieten. Wir durchwanderten die Straßen. Sie sind überwältigend breit wie überall in dem weiträumigen Rußland. Der ehemalige Palast des Gouverneurs sah verlassen aus. Auf dem Platz davor wucherte zwischen den Pflastersteinen das Gras, und statt der strammen Soldaten und Offiziere im Paradeschritt, statt Generalen mit wehenden Federhüten waren als einzige Lebewesen nur ein großes Schwein zu sehen, das schnuppernd und grunzend über den Wandel der Zeiten philosophierte, und etwas abseits einige grasende Ziegen. Sic transit – aber vielleicht sind diese neuen Palastbewohner so nützlich wie die alten.

Der Verwalter des Museums empfing uns freundlich und führte uns durch die Säle. Die völkerkundlichen Sammlungen mit ihren mannigfaltigen Erzeugnissen der kaukasischen Völker interessierten uns sehr. Da waren unter anderm viele ossetische Geräte und Gebrauchsgegenstände. Vom Dach des Museums, das die Bäume des Gartens überragt, hatten wir freien Blick auf die mächtige Bergkette im Süden. Wie eine gezackte Mauer hebt sie sich aus der weiten Ebene, über die der Blick nach allen andern Richtungen unbegrenzt hinschweift.

Die Russen rückten mit ihren Heeren und Kosakenscharen in immer größerer Zahl von Norden über diese Ebene heran, aber am Fuß des Gebirges kam ihr Anprall zum Stehen. Bis heute sind sie im Grunde noch nicht viel weiter gekommen. An den steilen Waldhängen führten sie fast 100 Jahre lang blutige Kämpfe, um die tapferen, freiheitliebenden Bergvölker zu unterjochen. Die aber verteidigten sich mit ungebrochenem Heldenmut und verkauften jeden Zoll Erde in ihren Bergen mit Strömen von Blut. Niederlage um Niederlage fügten sie den russischen Heeren zu, bis endlich die immer neu anstürmenden Scharen zu übermächtig an Zahl wurden und die kleinen Häuflein schlecht gerüsteter Bergbewohner sich endlich verloren geben mußten. Viele wanderten lieber aus, als daß sie russische Untertanen wurden. Heute noch ist der Kaukasus weit davon entfernt, russisch im eigentlichen Sinne zu sein, die russische Kultur ist nur gerade in die vordersten Ausläufer des Gebirges vorgedrungen.

Fern im blauen Dunst lag die Felsenmauer, die Scheidewand zwischen zwei Welten. Eine graue Vorzeit, die heute noch mächtig ist, begegnet hier unserm ruhelosen Zeitalter.

Die Stunde des Abschieds schlug, wir mußten uns von unserm Freund »Napoleon«, eigentlich Narriman Ter Kasarian, trennen. Seit unserer Ankunft in Batum hatte er uns treulich auf der ganzen erlebnisreichen Reise begleitet. Drei Wochen waren seitdem vergangen, uns aber schien die Zeit viel länger zu sein. Er wollte auf dem gleichen Wege mit seinem armenischen Freund und den Damen zurückkehren und im Kasbek-Hotel übernachten. Uns war weh ums Herz. Wie gerne wären wir mit ihm noch einmal zurückgefahren, hätten noch einmal die große Märchenwelt gesehen, die sich dort oben aufbaut. Die gewaltigsten Mächte der Tiefe und der Erdoberfläche waren hier am Werk: der Überdruck der Erdkruste, die Vulkane mit ihren Feuer- und Lavaströmen, die leckenden Gletscher, die Sprengkraft des Frostes, donnernder Bergrutsch, reißende Wasserströme. Wochen hindurch, Tage und Nächte in dieser unbändigen Natur mit ihren großen Linien hoch über aller irdischen Kleinlichkeit und Mühsal, das wäre ein Leben nach unserm Herzen gewesen.

 


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