Fridtjof Nansen
Durch den Kaukasus zur Wolga
Fridtjof Nansen

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I.
Tiflis.

Wir waren eine Kommission von fünf Köpfen, die im Auftrag des Völkerbundes Armenien bereist hatte. Dort sollten wir die Möglichkeiten für eine Ansiedlung der armenischen Flüchtlinge prüfen, die sich damals in Türkisch-Armenien aufhielten, sich aber seither über Europa und andere Erdteile verstreut haben. Unsere Sendung war erledigt. In der Nacht zum Freitag, dem 3. Juli 1925, waren wir auf dem Heimweg. Wir saßen in dem Zug, der uns aus Eriwan entführt hatte.

Gegen Morgen, es war noch dunkel, hielt der Zug mit jähem Ruck. Ich hörte, wie man lärmend in das Nebenabteil eindrang und meine Reisegenossen weckte. Sie sollten sich schnell fertigmachen, die Autos nach Batum stünden schon bereit und der Zug fahre gleich wieder ab.

Was war denn los? Wo waren wir überhaupt? Der Zug stand im Bahnhof Leninakan, und hier waren Autos für die Fahrt nach Batum bereit. Der emsige Franzose Carle war im Umsehen aus den Federn und angekleidet. Er hatte die Autos telegraphisch bestellt. Der Engländer Dupuis stand noch ganz schlaftrunken in Unterhosen da und beschwerte sich nachdrücklich über diese Vergewaltigung. Kein Mensch habe ihm etwas von einer Autofahrt gesagt, und er denke gar nicht daran, mitzumachen. Auch der Italiener Lo Savio lehnte entschieden ab, drehte das Gesicht zur Wand und schlief weiter. Der Norweger Quisling verfolgte die aufgeregte Szene kalten Blutes – er wollte ja gar nicht nach Batum.

Es galt, in Batum das Schiff nach Konstantinopel zu erreichen. Einige Tage vor unserer Abreise aus Eriwan war die Nachricht gekommen, das Schiff gehe am 6. Juli ab, und wir richteten uns darauf ein. Dann aber kam ein Telegramm, der Dampfer gehe schon am 4. Juli. Wir hofften trotzdem, ihn gerade noch zu erreichen, da meldete ein neues Telegramm am Tage unserer Abreise aus Eriwan, dem 2. Juli, der Dampfer laufe schon am 3. Juli aus. Mit dem Zug war er nicht mehr zu erreichen. Ich telegraphierte an die Schiffsgesellschaft zurück, wir hätten uns auf ihre früheren Nachrichten über den Zeitpunkt der Ausreise verlassen und machten sie für den Schaden verantwortlich, falls meine Reisegenossen nicht rechtzeitig an Bord kämen und dann einige Wochen lang auf das nächste Schiff warten müßten. Der weltkundige Carle hatte gleichzeitig telegraphisch in Leninakan angefragt, ob nicht Autos zu haben seien, die ihn und seine Reisegenossen über das Gebirge nach Batum brächten, so daß sie doch noch am 3. Juli an Bord kommen könnten. Er hoffte, seine beiden Reisegenossen in Leninakan aus dem Zug zu bringen. Aber seine Abenteuerlust unterlag im Kampf mit dem Schlafbedürfnis der beiden andern. Der Zug rollte weiter.

Am Vormittag fanden wir bei der Ankunft in Tiflis die Drahtnachricht vor, das Schiff gehe doch erst am nächsten Tag. Kapitän Quisling und ich wollten die Heimreise über Rußland machen. Unsere drei Reisegefährten nahmen den Nachmittagszug nach Batum. Wir trennten uns schweren Herzens von ihnen, mit denen wir so erlebnisreiche Wochen verbracht und unserer Überzeugung nach fruchtbare Arbeit geleistet hatten. Quisling und ich nahmen dankbar das Anerbieten der Near East Relief an, während unseres Aufenthaltes in Tiflis unter ihrem gastlichen Dach zu wohnen.

Die Welt ist klein: in der fremden Stadt begegnete ich zufällig einer Frau Petroff, der Tochter meines Freundes Wurzel, des früheren Direktors des kaiserlich-russischen Eisenbahnbauamtes. Mit ihm zusammen hatte ich im Jahre 1913 Sibirien und das Amurland durchquert. Frau Petroff wohnte schon seit Jahren in Tiflis. Ihr Mann ist dort im Versicherungsgeschäft tätig, sein Hauptzweig ist Landwirtschaftsversicherung. Ich verbrachte mit den Petroffs und ihrem hübschen Töchterchen einen gemütlichen Abend in ihrem stillen Heim. Es ging ihnen trotz der schlechten Zeiten verhältnismäßig gut, sie litten weniger Not als viele andere. Man hatte ihnen die eigenen Möbel und ihre vier Zimmer gelassen, und sie wohnten also nicht gar zu eng. Die Wohnungsnot war in Tiflis im allgemeinen so schlimm wie in den meisten Großstädten der Sowjetunion. Viele Familien hatten nur je einen einzigen Raum.

Herr Petroff war geschäftlich viel in Armenien und Georgien herumgereist und kannte die Verhältnisse in den verschiedenen Gegenden genau. Auch der Ackerbau hatte unter dem Krieg mit der Türkei und während der folgenden Jahre schwer zu leiden gehabt. Besonders in Armenien hatte die türkische Soldateska die Bauern niedergemetzelt, ihre Ländereien verwüstet, die Dörfer geplündert und Ernte um Ernte vernichtet. Auch die Scharen armenischer Flüchtlinge, die ständig von Türkisch-Armenien her über die Grenze gejagt wurden, hatten viel Schaden angerichtet. Im Winter 1920/21 waren die Menschen zu Tausenden Hungers gestorben, die Leichen lagen in Leninakan, Eriwan und andern Städten auf den Straßen herum. Der Sommer hatte zwar hier keine Dürre gebracht, aber im Winter herrschten trotzdem ganz ähnliche Zustände wie in den Hungerbezirken an der Wolga. Verständige Maßnahmen hatten dann den Ackerbau wieder leidlich hochgebracht, doch blieb noch viel zu tun übrig.

Der junge Petroff sollte Ingenieur werden wie so viele Russen von heute. Man glaubt an die Entwicklung der russischen Industrie und betrachtet die Auswertung der reichen Naturschätze des unermeßlichen Landes als die große nationale Zukunftsaufgabe. Der Sohn des Hauses war zur Zeit als Arbeiter beim Bau des großen Staudammes für das Kraftwerk am Kura, nördlich von Tiflis, beschäftigt.

Ich hatte mit der transkaukasischen Regierung über die Vorschläge unserer Armenienkommission und über die Aufbringung einer Anleihe von 20 Millionen Mark für Bewässerung und Urbarmachung des armenischen Ödlandes sowie über die Ansiedlung der armenischen Flüchtlinge in diesen Landstrichen Verhandlungen zu führen. Armenien, Georgien und Aserbeidschan sind drei unabhängige Sowjetrepubliken mit je einer eigenen Regierung. Zusammen bilden sie die kaukasische Föderation, deren Regierung aus je einem Vizepräsidenten jeder Republik besteht und ihren Sitz in Tiflis hat. Die Föderation wiederum ist unter der obersten Moskauer Regierung mit den andern sowjet-sozialistischen Republiken vereinigt.

Die armenische Regierung in Eriwan hatte unsern Vorschlägen durchaus zugestimmt. Jetzt verhandelte ich darüber mit dem armenischen Vizepräsidenten in der transkaukasischen Regierung, Lukaschin. Der wohlbeschlagene armenische Ackerbaukommissar Ersinkian nahm an unsern Besprechungen teil. Lukaschin teilte uns die einstimmige Gutheißung unserer Vorschläge durch die transkaukasische Regierung mit und sah zu meiner freudigen Überraschung keine Schwierigkeit darin, daß die Anleihe unter Umständen vom Völkerbund ausgeschrieben werden sollte. Gerade in diesem Punkt hatte ich Hindernisse befürchtet, denn die Sowjetregierungen wollten ja den Völkerbund nicht anerkennen. Lukaschin stellte auch eine gemeinsame Bürgschaft der transkaukasischen und armenischen Regierung für die Tilgung der Anleihe in Aussicht. Seiner Meinung nach würden wohl auch die Moskauer Regierung und die russische Staatsbank auf Wunsch für die Anleiheverpflichtungen gutsagen. Angesichts dieser starken Sicherheiten konnte es nach Lukaschins Ansicht nicht schwerfallen, die Anleihe zu annehmbaren Bedingungen unterzubringen. Ich konnte seine Hoffnungsfreudigkeit in diesem Punkt nicht teilen, sondern fürchtete, die europäischen Banken würden handgreifliche Sicherheiten verlangen und sich nicht mit allgemeinen Zusagen begnügen, deren Wert vom Bestand der Regierung abhing. Lukaschin wies zwar mit Recht auf die Unwahrscheinlichkeit eines Staatsumsturzes hin, aber Banken rechnen bekanntlich auch mit den fernsten Möglichkeiten. Ich erwähnte, welche Schwierigkeiten bei Unterbringung einer ähnlichen Anleihe für die Ansiedlung griechischer Flüchtlinge überwunden werden mußten, obwohl damals der griechische Staat bestimmte Pfänder und Sicherheiten anbot, deren Wert den Anleihebetrag weit überstieg. Banken sind nun einmal keine herzbegabten Lebewesen, Erwägungen menschlicher Nächstenliebe sind ihnen fremd. Sie sind Rechenmaschinen – mögen auch ihre Rechenkunststücke oft noch so mangelhaft sein. Meiner Meinung nach wären unsere Bemühungen sehr erleichtert worden, wenn die Regierung für alle Fälle bestimmte Werte oder Einkünfte zur Deckung der Anleihe bereitgestellt und den Anleihegebern eine Kontrolle darüber eingeräumt hätte. Am einfachsten wäre es gewesen, das neu in Anbau genommene Land selbst als Pfand zu bezeichnen. Daran war aber nicht zu denken, weil alles Land dem Staat gehörte und daher unveräußerlich war. Lukaschin hielt die Hingabe von Pfändern für schwer erreichbar, er sah auch die Notwendigkeit gar nicht ein und hielt meine Bedenken für übertrieben. Wenn die Anleihegeber mit der mehrfachen Bürgschaft der armenischen, der transkaukasischen und der obersten Sowjetregierung in Moskau nicht zufrieden seien, so könne das nur als Mangel an Vertrauen gedeutet werden. Ich versicherte ihm, wir wollten es gewiß nicht an gutem Willen fehlen lassen, und ich wünschte nichts sehnlicher, als daß seine Hoffnungen sich rechtfertigen möchten, konnte ihm aber nicht verhehlen, daß ich große Schwierigkeiten voraussahLeider erwiesen sich meine Befürchtungen als begründet. Es gelang nicht, auf Grund der angebotenen Bürgschaften ohne feste Pfänder und Sicherheiten eine Anleihe für Armenien aufzulegen. Die Bankiers meinten, mein Vertrauen auf den guten Zahlungswillen der gegenwärtigen armenischen und Moskauer Sowjetregierung sei gewiß berechtigt. Aber ich wollte doch eine Anleihe mit 15jähriger Tilgungsfrist und wer könnte wissen, wie in fünfzehn Jahren Rußland und Armenien aussehen würden?. Wir schieden in bestem Einvernehmen.

Am Abend gab unser Freund Narriman Ter Kasarian im ersten Hotel der Stadt ein Essen. Er hatte uns in Vertretung unserer Gastgeberin, der transkaukasischen Föderationsregierung, durch Armenien und Georgien begleitet. Wegen seiner Ähnlichkeit mit dem letzten französischen Kaiser nannten wir ihn Napoleon. Als wir uns mit der üblichen Verspätung von zwei Stunden zur Tafel setzten, fanden wir sie in der gewohnten üppigen Weise gedeckt. Es gab auserlesene Speisen und kaukasischen Wein. Außer vielen andern waren der Vizepräsident von Georgien und ein hochstehender Armenier anwesend, der letzte entpuppte sich als eifriger Jäger. Die Wogen der festlichen Stimmung gingen hoch, die tönenden Reden folgten einander auf dem Fuß. Man pries die Arbeit unserer Kommission, pries Armenien und Transkaukasien, toastete auf unsern lieben Gastgeber Napoleon und auf das schöne Georgien. Das Sowjetsystem verachtet zwar alles, was an Fürsten erinnert – und doch wurden die stolze Geschichte Georgiens und seine Glanzzeit unter der schönen Königin Tamâra vor unserm geistigen Auge heraufbeschworen. Die Georgier waren allezeit Bewunderer weiblicher Anmut und ritterlicher Kühnheit. Das Hohelied dieser Tugenden, Schota Rustawelis Dichtung »Der Mann im Tigerfell«, klingt noch heute, nach 700 Jahren, von den Lippen des Volkes.

Nach dem Essen fuhren wir bei herrlichem Mondschein mit Autos in die Berge und saßen da bei Nüssen und Wein auf der Terrasse eines Restaurants. Neue Reden folgten, und dank den Erzählungen des Armeniers von seinen denkwürdigen Jagderlebnissen wurden wir immer lustiger. Ein unglaublich falsch klingender Leierkasten wimmerte beharrlich von der Straße herauf und lieferte die musikalische Begleitung zu unsern Gesprächen. Wir hatten Napoleon in Verdacht, den Leierkastenmann bestellt zu haben. An den schmalzigsten Stellen in den rührenden Liedern waren jeweils einige Töne abhanden gekommen. Die Wirkung war unwiderstehlich. Mit den übriggebliebenen Tönen war es wie mit den Zähnen in einem lückenhaften Gebiß: die Schönheit derer, die noch erhalten sind, wird durch die Lücken nicht gehoben . . .

Die Stadt lag tief unter uns im Kuratal und blinkte mit tausend Lichtern, die Kirchenkuppeln glitzerten silbrig über dem Gewimmel der Dächer, rings wuchteten die Berge vom Mond bestrahlt. Fern im Norden ahnten wir hinter dem Dunst die gewaltigen Kämme des Kaukasus.

Tiflis ist der Mittelpunkt dieses Teiles der Welt, dessen mannigfache Völkerschaften sich hier ein Stelldichein geben: Georgier, Armenier, Perser, Tataren, Kurden, Juden, Abchasier, Tscherkessen, Tschetschenzen, Swaner, Osseten, Awaren und Angehörige aller kaukasischen Bergvölker kann man in Tiflis finden. So bietet die Bevölkerung der Stadt ein buntes Bild: hochgewachsen und oft blond sind die Kurden, manchmal auch die Tscherkessen, dunkel die Tataren, braun und kurzschädlig die Awaren und Lesghier. Am buntesten ist das Leben in den engen Gassen und Winkeln der südlichen Altstadt, wo in Basaren und auf dem Markt geschachert und gehandelt wird. Der emsige, unternehmungslustige Armenier sucht dir dort seine Waren aufzudrängen. Der Preis, den er fordert, steht im umgekehrten Verhältnis zu der Zahl der Schritte, die du dich von ihm entfernst. Kann er dich nicht mehr zurückrufen, so läuft er dir nach. Der würdige Perser aber sitzt mit übergeschlagenen Beinen, ein Bild der Vornehmheit, hinter seinem Stapel, er überläßt es dir, ob du seinen Preis bezahlen willst, der gewiß auch nicht zu niedrig ist. Wenn der Volksmund recht hat, müssen vier Juden ihre Kräfte vereinigen, um mit einem Griechen fertig zu werden; vier Griechen könnten es vielleicht mit einem Armenier aufnehmen, aber vier Armenier müßten sich vor einem Perser noch in acht nehmen. Ich weiß nicht, ob die Zahlenverhältnisse genau stimmen, aber daß die Perser die gerissensten Kaufleute des Orients sind, weiß ich aus eigener Erfahrung. Hier gibt es persische und kaukasische Teppiche zu kaufen, die jedes Sterblichen Herz in Versuchung führen. Wenn nur der Weg nach Hause nicht so weit und die Fracht nicht so teuer wäre! – Dann kommt man in die Gassen der Gold-, Silber- und Waffenschmiede, die den Kaukasus berühmt gemacht haben. Die kaukasischen Waffenschmiede suchen dich von der unerreichten Güte ihrer Ware zu überzeugen, indem sie mit einem Kindschal (kaukasischen Dolch) gegen einen Stein schlagen und dir dann die schartenlose Klinge unter die Nase halten. Staunend sieht man da Ringpanzer und Schwerter, eisenbeschlagene Schilde und Helme aufgestapelt – keine Altertümer aus der Zeit der Kreuzzüge, sondern regelrechte Gebrauchsware. Einzelne Gebirgsstämme in abgelegenen Hochtälern des Kaukasus, vor allem die Chewsuren, sind noch heute mit solcher Wehr ausgerüstet.

In der Nähe von Guda-ur.

Jungens von Guda-ur.

Bei Mleti. »Tiefer und tiefer versank das Tal . . .«

Die kaukasischen Gold- und Silbergeschmeide sind seit alters hochgeschätzt, namentlich die ornamentalen Einlegearbeiten aus Gold und Silber auf einem Untergrund aus Bein oder Stahl. Waffen haben im Leben der kaukasischen Bergbevölkerung immer eine große Rolle gespielt, und so wurde dieses Kunsthandwerk bei Ausschmückung von Waffen aller Art fleißig geübt. Kindschale und kleine Dolche, Gewehre und Pistolen, Pulverhorn und Kugelbeutel, alles wird in eingelegter Arbeit zierlich hergestellt. Einzelne Dörfer und Täler waren ob ihrer schönen und guten Waffen besonders berühmt. Das alte Waffenkunsthandwerk ist zwar zurückgegangen, wird aber doch noch immer betrieben.

Wasserverkäufer ziehen durch die Straßen und preisen ihr köstliches Naß an. Sie lassen die großen, ledernen Wassersäcke von Eseln oder Pferden tragen oder schleppen sich auch wohl selbst damit ab. Das Wasser ist in Tiflis eine wichtige Handelsware, namentlich im Sommer, wenn Hitze und Trockenheit herrschen, ist es knapp und wird hoch bezahlt. Junge Burschen ziehen durch die Gassen, ihre Esel sind mit Körben voll Früchten und Gemüse beladen, und die köstliche Ware wird schreiend feilgeboten.

Der Fremde staunt über die ernste Gemessenheit, mit der sich diese Menschen auch bei Handel und Schacher bewegen, selten flackert die Lebensfreude auf, kaum daß ein befreiendes Lachen erklingt. Selbst die Frauen gehen ernsthaft ihres Wegs, im neuen russischen Stadtteil ebenso wie im alten orientalischen. Dort sieht man überhaupt wenig Frauen auf der Straße. Bei uns zu Hause pflegen die Frauen mit ihrer Stimme nicht so sparsam umzugehen, hier aber klingt alles gedämpft. Sollten wirklich wir europäischen Emporkömmlinge weniger Sinn für Anstand und Vornehmheit haben? Ich erinnere mich, daß ein chinesischer Diplomat einem europäischen Zeitungsmann auf die Frage, was er von unserer westlichen Zivilisation halte, die sehr undiplomatische Antwort gab: »Sie könnte sehr gut sein, wenn sie nur nicht mit soviel Geräusch verbunden wäre!«

Die Häuser in der Altstadt sind niedrig, meist haben sie nur zwei Geschosse, im oberen Stockwerk sind Balkone oder offene Galerien vorgebaut. Dort verbringt die Familie, vor allem die Weiblichkeit, den Tag und während der heißen Jahreszeit oft auch die Nacht. Gewöhnlich liegen zwei Galerien nach verschiedenen Himmelsrichtungen, damit die eine stets Schatten hat.

Südlich der Altstadt und ihrer Basare liegen die heißen Schwefelbäder, die seit alters bekannt und berühmt sind. Von ihnen hat vermutlich die Stadt ihren georgischen Namen Tbilis-Kalaki, das heißt: die warme Stadt.

Der Botanische Garten von Tiflis ist ein schöner und friedlicher Flecken Erde. Er liegt in einer engen Schlucht an dem steilen Berghang südlich der Stadt. Es tat uns wohl, aus der glühenden Hitze des Tages in die Kühle des langen Tunnels zu tauchen, der durch den steilen Felsen und unter der sogenannten persischen Festung hindurch von der Stadt zum Botanischen Garten führt. Der Fluß Sawkissi hat die enge, tiefe Schlucht in den Felshang eingeschnitten. An diesem Tage war der Fluß nur ein rieselndes Bächlein, doch sah man, daß er zu Zeiten nach starken Regengüssen zu einem reißenden, schäumenden Strom anwachsen und in wildem Wassersturz talabwärts brausen kann. Auf dem märchenhaft abwechslungsreichen Gelände des Botanischen Gartens wachsen an steilen Hängen in unvergleichlicher Üppigkeit die mannigfaltigsten Bäume und Sträucher des Südens. Dazwischen schlängeln sich unter dem Gehänge der Zweige schattige Wege am Bergeshang hin. Emsige Menschenhand hat fast alles Erdreich, aus dem die Pflanzen sprießen, mühsam in diese Felsenschlucht geschleppt. In schmalen Kanälen und Rinnsalen wurde das Wasser herbeigeleitet. Auf der andern Seite der Schlucht sahen wir unbewässerten Grund, auf dessen baumlosen Flächen nur braunes, dürres Gras stand. Weiter oben lag ein alter verfallener mohammedanischer Begräbnisplatz, ein Rest aus jener Zeit, da die mächtige Hand des Islam auch auf diesen uralten christlichen Ländern lastete, die fern von der Welt und in tiefster Verlassenheit ihren einsamen Kampf für Glauben und Freiheit führten. Mohammeds Arm ist erschlafft, die Zeit des Propheten ist vorbei. – Zuhöchst auf dem nördlichen Berggrat trotzen die Mauern der alten Perserfestung gen Himmel. Am Rand des Abgrundes hockt sie drohend über den Basaren der Stadt und den warmen Bädern. Weit schweift von dort der Blick über das Kuratal, der Fluß schlängelt sich, ein goldglänzendes Band, durch das Häusergewimmel der Stadt talwärts, die Kirchenkuppeln blinken, und im Norden dämmert blau die Felsenwand des Kaukasus, vom schimmernden Schneegipfel des himmelragenden Kasbek überhöht.

Auch heute waren wir von Napoleon zum Essen eingeladen. Noch ist der Orient nicht vom westlichen Zeitgeiz angesteckt – wir konnten lange warten, bis die Autos uns abholten. Uns ungeduldigen Europäern fällt das Warten so schwer wie dem Orientalen die Pünktlichkeit. Einer meiner Begleiter hatte sich einmal für Donnerstag mittag 1 Uhr verabredet. Der Partner erschien am Freitag mittag um 12 Uhr und sprach sein Bedauern aus, daß er sich »etwas« verspätet habe. Quisling und ich hielten es nicht so lange aus. Nach eineinhalb Stunden vergeblichen Wartens zogen wir allein auf Abenteuer aus. Wir nahmen unser Mittagessen in einem großen Garten ein, wo an kleinen Tischen gedeckt wurde. Das Essen war adrett und recht gut, auch nicht übermäßig teuer. Nur wenige Gäste speisten hier.

Der Mond ging auf und leuchtete freundlich durch die belaubten Bäume zu uns herab. Dunkle, lauschige Pfade luden ein, lustwandelnd von der glanzvollen Vergangenheit dieses Landes zu träumen. Einzelne Pärchen schwärmten durch die nächtliche Stille, deren erfrischender Hauch die Hitze des Tages abgelöst hatte. Hier sind wir in der Heimat der schönen Georgierinnen. Vor 250 Jahren schrieb der französische Juwelenhändler Chardin von ihnen: »Sie sehen und sich nicht verlieben, ist unmöglich.« Ob wir es wagen? –

»Schlag die Tschadra zurück! Was verhüllst du dich?«

Aber nein, laß sie sich hinter der Tschadra verbergen, noch immer war die Erwartung das Schönste im Leben.

Unter uns wälzte sich der Kura durch das Land großer geschichtlicher Erinnerungen dem Meere zu. Raunen seine Wellen nicht das Trauerlied der Georgier?

Aus alter Wunde sickert neues Blut . . .
Einst war, mein Land, dein Ruhm in aller Munde!
Vergessen liegt er auf des Flusses Grunde,
Und seufzend raunt dein Totenlied die FlutVon dem georgischen Dichter Elias Tschawtschawadse..

In dem Park war auch ein Varieté, doch konnten wir wegen des großen Andranges keinen Sitzplatz mehr bekommen. Es trat gerade eine Truppe reisender Moskauer Schauspieler auf. Sie machten ihre Sache vortrefflich und ernteten großen Beifall. Das russische Volk hat ja eine ausgesprochene Gabe für szenische Kunst aller Art, für Schauspiel, Drama und Tragödie, für Lustspiel und Posse, auch für die Oper, ganz zu schweigen von Tanz, Ballett und Umzug. Die Kaukasier scheinen mir in gleicher Richtung begabt. Das Volk liebt Aufführungen aller Art. Es ist bezeichnend, daß damals, als die Moskauer Sowjetregierung die Streichung des berühmten Balletts und der Oper wegen der hohen Unterhaltungskosten erwog, die ganze Arbeiterbevölkerung eine Bittschrift einreichte, man möchte doch von dieser Maßnahme absehen. Meines Wissens war dies der einzige Fall, in dem die Arbeiter sich zu einer gemeinsamen Eingabe an die Regierung entschlossen. Sie wollten ihr Ballett behalten, und die Regierung gab diesem Wunsche nach. Bei so ausgeprägtem Sinn für szenische Darstellung und prächtigen Aufzug fällt es auf, daß die Bevölkerung in ihrer eigenen Kleidertracht so gar nicht zu buntem Prunk neigt. Die Männer, die der Zahl nach bei weitem überwiegen, sehen in ihren grauen oder weißen Blusen mit der weichen, grauen Lenin-Mütze recht eintönig aus, und auch die Tracht der Frauen entbehrt der Farbenfreude. Nur da und dort ein bunter Schal oder eine farbige Bluse. Aber nirgends festliches Leuchten – ein farblos-grauer unkünstlerischer Alltag. Vielleicht verlangt es die neue Gesellschaftsgesinnung so. Die alten Zeiten mit ihrem Luxus, mit strahlender Pracht und prunkenden Festen, mit Gold und knisternder Seide – und mit hohen Steuerlasten auf den Schultern des arbeitenden Volkes, das alles ist vorbei. Künstlerischer Sinn und Aufmerksamkeit für die Vorgänge auf der Bühne sind aber bei den »proletarischen« Zuschauern, die jetzt Parkett und Logen füllen, wohl mindestens so rege wie bei der Mehrzahl der in Gold und Seide einherstolzierenden Damen und Herren von einst.

Während wir so in die Betrachtung des Volkslebens versunken waren, stand plötzlich unser Freund Napoleon vor uns. Er hatte uns mit der Schar seiner Genossen in den verschiedensten Vergnügungsstätten von Tiflis gesucht und endlich hier gefunden. An seiner Verspätung war die Mühe schuld, die er mit der Vorbereitung unserer Abreise für den nächsten Tag hatte. Jetzt aber wollte er uns durch kachetischen Wein und Musik entschädigen. Ein kleines Streichorchester spielte uns zum Abschied von der Hauptstadt Georgiens wehmütige georgische Lieder auf.

 


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