David Christie Murray
Ein gefährliches Werkzeug
David Christie Murray

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Fünfzehntes Kapitel.

Die Erleichterung, die Wyncott Esdens Brief den Bewohnern von Wootton House gebracht hatte, dehnte ihre wohlthätige Wirkung auch auf die Kammerjungfer Grainger aus. Noch immer hatte der schlaue Prickett sie im Verdacht, auf irgend eine Weise die Mitschuldige des Verbrechers zu sein. Die andern dienstbaren Geister betrachteten sie mit finstern Blicken und hatten sich selbst in der Zeit ihrer größten Hilflosigkeit ihrer nur widerwillig angenommen. Es war nicht zu verwundern, daß die ungebildeten Dienstboten ihr Stummsein für eine List und ihre Aufregung für einen Beweis der Schuld gehalten hatten. Nun aber hatte ein am Schlüsselloch geübtes Mädchen die Kunde in die Dienstbotenstube gebracht, daß die Juwelen in Bälde zurückgegeben würden, und die öffentliche Meinung nahm eine für die Grainger mildere und weniger mißtrauische Färbung an.

Das Mädchen empfand diese Veränderung in der sie umgebenden moralischen Atmosphäre und fühlte die Last, die sie bedrückte, leichter werden, als sie sich weniger beobachtet sah. Stark und kräftig und von entschlossenem Charakter, wie sie war, hatte sie sich von der Erschütterung so schnell erholt, daß sie schon nach achtundvierzig Stunden ihren Dienst wieder antreten wollte, allein ihre Herrin hatte dies Anerbieten ziemlich freundlich abgelehnt. Offenbar verstand die Grainger alles, was um sie her gesprochen wurde, allein ihre Unfähigkeit selbst zu reden, verursachte ihr beständige Pein und häufig endeten ihre vergeblichen Versuche mit einem Thränenstrom. Bei einem Mädchen von lebhafter Gemütsart hätte die Art der Krankheit diese Ausbrüche von Kummer erklären können, aber Elphinstone waren sie trotzdem ein Rätsel und er beobachtete den Fall mit Interesse.

Wenige Minuten nachdem Prickett das Haus verlassen hatte, saß sie im Dienerschaftszimmer. Ohne die Quelle ihres Wissens zu verraten, berichtete das mit dem Schlüsselloch so vertraute Hausmädchen ihren Genossinnen, daß Herr Wyncott Esden mit dem Dieb in Briefwechsel stehe, und daß Herr Prickett soeben einen Check von tausend Pfund für diesen erhalten habe, und daß das gestohlene Gut zurückgegeben würde. Als sie dies hörte, schlang die Grainger ihre Hände krampfhaft ineinander, stand auf und verließ mit blassen Wangen und roten Augen das Zimmer. Sie ging in ihr Schlafzimmer, warf sich fassungslos über den Koffer, der ihre wenigen Habseligkeiten enthielt, und brach in ein schreckliches Schluchzen und Weinen aus. Als dieser leidenschaftliche Ausbruch vorüber war, erhob sie sich mit verzweifelter Ruhe, wusch sich die Augen und blickte dann auf die friedliche Landschaft hinaus, die sich vor ihren Blicken ausbreitete. Geraume Zeit stand sie so, bis ihr Jammer sie aufs neue überkam und sie wiederum stöhnend die Hände rang. »Gütiger Gott, was soll ich thun? Was kann ich thun?«

Hatte sie gesprochen? Versuchte sie ihre Gedanken wieder auszudrücken? Erstaunt, fast erschrocken stand sie da und schien noch immer ganz deutlich ihre eigne Stimme zu vernehmen. Sie warf hastig einen Umhang aus schwarzem Spitzenstoff um ihre Schultern, band mit bebenden Händen ihr Hutband fest, zog ihre Handschuhe an und versicherte sich, daß sie ihre magere Börse in der Tasche trug. Nachdem sie dies alles in fieberhafter, ungeschickter Hast vollbracht hatte, verließ sie mit gemacht erschöpfter Miene ihr Zimmer und ging langsam die Treppe. hinab. Dann trat sie aus dem Haus und spazierte langsam an den Rhododendronbüschen entlang und schlüpfte durch die kleine Pforte, an der Prickett gelehnt hatte, ehe er seine Nachforschungen im Mondschein begann. Sie war Feuer und Flamme vor Ungeduld und wäre trotz ihrer Schwäche gelaufen, wenn sie nicht Angst gehabt hätte, gesehen und zurückgehalten zu werden.

Friedlich lag die Landschaft vor ihr; die großen Bäume schienen bei der glühenden Sonnenhitze in ihrem eignen Schatten zu schlafen, und blendend weiß dehnte sich die Straße vor ihren Blicken. Die Welt schien ihr so still und weit und einsam, daß sie sich zu fürchten begann, als wäre sie bei Nacht allein.

Plötzlich drangen fröhliche Kinderstimmen an ihr Ohr und um eine Wegbiegung kam ihr lärmend und spielend ein halbes Dutzend Dorfkinder entgegen. Ein etwa vierjähriger Schlingel marschierte langsam und feierlich, eifrig mit einem Stück Süßholz beschäftigt, baarhäuptig hinterdrein. Die andern waren aus dem Gesichtskreis verschwunden und die Grainger kniete, des Staubes nicht achtend, nieder und rief mit ausgebreiteten Armen: »Komm zu mir, Herzchen, komm!«

Hatte sie wirklich gesprochen? Sie konnte es nicht sagen; das Kind betrachtete sie mit orientalischem Ernst und gab keine Antwort.

»Lieber, kleiner Junge komm zu mir! Willst du nicht, mein Liebling? Willst du nicht?«

»Nein!« sagte das Kind. »Ich will nicht!«

Das Mädchen sprang auf und faltete die Hände.

»Gott sei Dank!« rief sie. »Gott sei Dank!«

Nun wagte sie ihre Schritte zu beschleunigen. Als sie sich dem Bahnhof näherte, bemerkte sie in der Ferne den Rauch eines sich nähernden Zuges. Aengstlich blickte sie um sich, als sie aber niemand sah, der sie kannte, eilte sie nach der Kasse. Allein aus lauter Angst, ihre neu gewonnene Fähigkeit zu reden möchte ihr wieder entschwunden sein, fand sie die Worte nicht, die sie suchte. Ein Bauer drängte sie beiseite und verlangte ein Retourbillet dritter Klasse nach London. Dies waren die Worte, die ihr fehlten, und aus Angst, sie wieder zu verlieren, sprach sie dieselben vor sich hin, während der Mann sein Geld gewechselt bekam. Dann faßte sie Mut, verlangte ihre Fahrkarte, wurde verstanden und bedient. Nun wartete sie auf dem Bahnsteig, bis der Zug einfuhr, und stieg in eine Abteilung dritter Klasse. Außer ihr fuhr nur noch eine pausbackige alte Bäuerin in dem Coupé und mit dieser wechselte sie ab und zu einige Worte, um sich immer wieder aufs neue zu überzeugen, daß sie nicht träume, sondern wirklich die Sprache wiedergefunden habe.

Auf dem Bahnhof von Ludgate Hill angelangt, stieg sie aus und eilte nach dem Temple. Sie stieg die hohen Treppen zu Esdens Wohnung hinan und stand, nachdem sie gepocht, die Hände aufs Herz gedrückt, atemlos vor seiner Thür.

Esden öffnete und sah sie mit Staunen vor sich stehen. Seine linke Seite war durch seine Nerven- und Zahnschmerzen noch immer entstellt, und dies gab ihm, im Verein mit den Spuren der schlaflosen Nächte, ein so ungewöhnliches Aussehen, daß er ihr beinahe Angst einflößte.

»Du hier!« sagte er mürrisch. »Was führt dich zu mir?«

Noch einen Augenblick blieb sie schweigend und nach Atem ringend stehen: als er aber Miene machte, die Thür wieder zu schließen, stürzte sie in den Flur hinein und packte ihn mit beiden Händen am Arm.

»Gott hat mir die Sprache wiedergeschenkt,« sagte sie, »und ich bin gekommen, Sie zu warnen.«

»Sehr freundlich,« erwiderte er, »aber ich weiß wahrhaftig nicht, vor was du mich warnen könntest.«

Ihre Augen durchbohrten ihn, aber er suchte ihren Blicken auszuweichen; die eine Hand lag noch immer bebend auf seinem Arm und mit der andern warf sie die Thür hinter sich ins Schloß.

»Wyncott,« sagte sie flüsternd, »ich sah Sie aus dem Zimmer kommen.«

Er schrak so heftig zurück, daß sein Kopf an die Wand stieß.

»Aus dem Zimmer! Aus welchem Zimmer? Bist du verrückt geworden?«

»Fräulein Pharrs Zimmer. Ich sah Sie mit dem Saffiankästchen in der Hand.«

Er versuchte zu antworten, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen und er konnte weder Worte noch Gedanken finden. Sie hatte ihn wieder mit beiden Händen gepackt, und als sie ihr schmerzliches Geständnis abgelegt hatte, neigte sich ihr Antlitz auf ihre Hände und Thränen entströmten ihren Augen. Lange, lange standen sie so, dann machte er endlich eine kleine Bewegung, um den kleinen Vorplatz zu verlassen. Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er auf das Sofa sank und mit abgewendetem Gesicht gedankenlos aus dem Fenster starrte. Was ging ihn dies alles an! Es war ihm gleichgültig, völlig gleichgültig.

Leise schlich sie sich an ihn heran und ergriff, neben ihm niederknieend, plötzlich die Hand, die regungslos an seiner Seite herniederhing.

»Wyncott,« sagte sie mit gebrochener Stimme, »ein Gentleman – ein Mann von Ehre –«

Thränen erstickten ihre Stimme, sie konnte nicht weiter reden, aber ihre Worte drangen ihm ins Herz und ihr Stachel erweckte ihn zu neuem Leben und zum Bewußtsein; wild sprang er auf und lief wie rasend im Zimmer hin und her. Eine Weile blieb sie unbeweglich knieen, dann stand sie auf, trat ihm entgegen und umklammerte ihn mit leidenschaftlichem Flehen.

»Du schickst sie zurück, nicht wahr – und auch den Check! Du wirst ehrlich – du wirst ehrenhaft handeln. O, mein Liebling, mein Liebling! Ich habe dich so heiß geliebt – mein Leben hätte ich für dich gelassen! Niemand weiß es – niemand soll es erfahren, aber du mußt sie zurückschicken! Du wirst ehrlich sein! Du hast es ja nie gewollt, Geliebter: ich weiß es, du bist schwer versucht worden – der Böse hat dich versucht!«

Sie hielt ihn umfaßt und schmiegte sich an ihn an und lächelte zu ihm auf mit mitleidigem Flehen. In Stimme und Antlitz und Bewegung legte sie herzbrechende, kleine, weibliche Schmeicheleien, während er von Scham überwältigt wortlos vor ihr stand.

»Ich kann nicht,« stöhnte er endlich, »ich kann nicht.«

»Du kannst nicht, mein Liebling! Du kannst nicht ehrlich sein!« Und wieder versuchte sie ihm mit ihrem herzbrechenden Lächeln das Heil seiner Seele abzuschmeicheln.

»Ich kann nicht,« wiederholte er; »ich bin gebunden an Händen und Füßen. Ich bin ganz in der Gewalt des niederträchtigsten Schurken der Welt!«

Und nun brach eine solche Flut von Verwünschungen und Flüchen gegen Gale von seinen Lippen, daß sie anfing, sich zu fürchten. Dieser wahnsinnige Ausbruch verschaffte ihm indes Erleichterung, und nachdem derselbe in zornigem Schweigen geendet hatte, ließ er sich in seinen Armstuhl sinken. Mit neu auflebendem Mut wollte sie sich eben wieder an seine Seite stehlen, als er sich mit erzwungener Ruhe zu ihr wandte und sprach: »Setze dich. Du weißt einen Teil der Sache, du sollst alles erfahren.«

Und nun erzählte er ihr, ohne sein Thun im mindesten zu beschönigen, alles von Anfang bis zu Ende, bis zu dem zweiten Raub der Juwelen.

Als er an diesem Punkt anlangte, sprang das Mädchen, das ihm bis dahin mit weit aufgerissenen Augen regungslos gelauscht hatte, von seinem Sitz auf, kniete neben ihm nieder, legte ihr Haupt auf seine Kniee und tastete nach seiner Hand. Er überließ sie ihr und fuhr anscheinend teilnahmlos in seiner Erzählung fort.

»Gale kam vergangene Nacht in dies Zimmer,« sagte er, »und teilte mir mit, daß er die Juwelen sowohl als auch die Belohnung wolle und wir beides miteinander teilen müßten.«

»Nein,« sagte sie und schob seine Hand zwischen ihr Gesicht und sein Knie. Ihre Stimme klang müde und liebevoll und ganz überzeugt, daß sie ihn gerettet und das geplante Verbrechen verhindert habe.

»Ich soll morgen nacht in einem baufälligen, alten Hause, zu dem er den Schlüssel hat – einem verrufenen, verödeten Platz – mit ihm zusammentreffen unter dem Vorwand, dem Dieb seinen Preis zu bezahlen und die Juwelen zurückzuerhalten. Ich soll dem Detectiv die Adresse in einem geschlossenen Briefumschlag übergeben und ihm sagen, wenn ich in einer Stunde nicht zurück sei, möchte er nach mir sehen. Er wird mich gebunden und geknebelt und das Geld verschwunden finden. Ich werde zerrissene Kleider und dergleichen haben und sagen, ich sei im Dunkeln von drei oder vier Schurken überfallen und so zugerichtet worden. Und dann,« schloß er mit unverändertem Ton, »dann werde ich wohl Reuben Gale ermorden.«

»Das alles wirst du nicht thun, Wyncott,« sagte sie in ihrem alten, müden, zärtlichen Ton.

»Doch,« antwortete er, »ich werde es thun, aber der Schurke wird es mir mit seinem Leben bezahlen.«

»Du kannst das nicht thun, Wyncott, wenn ich bei dir bin,« entgegnete das Mädchen, »und ich werde dich nicht verlassen, es sei denn, daß du mich auch umbringst. Ich bin gekommen, um dich zu retten, und ich werde es auch thun. Gott hat mir nur zu diesem Zweck die Sprache zurückgegeben. Ich habe das Recht, dich auf meine Weise zu lieben, aber wie könnte ich dies, wenn du eine solche That begingest? Ueberlege es dir, Geliebter. Machst du dich von ihm frei und sagst die Wahrheit, so kannst du bald wieder glücklich sein. Jeder kann einmal einer Versuchung unterliegen, mein Liebling. Erobere dir deine Selbstachtung zurück. Ein bißchen Scham, um eine so große Schande gut zu machen – eine Stunde Scham um ein Leben, Wyncott.«

In der Leidenschaftlichkeit ihrer Bitten hatte sie sich erhoben, und beugte sich nun, die Arme um seinen Nacken geschlungen, über ihn herab und versuchte vergeblich, ihm ins Gesicht zu blicken.

»Ueberlege dir's, Wyncott, mein Geliebter. Selbst wenn ich es nicht wüßte – wenn es niemand wüßte. Dein ganzes Leben lang an einen solchen Schurken gekettet zu sein und zu wissen, daß du ihm unterlegen bist, und er dir Furcht eingejagt hat! Komm, entschließe dich, gehe zu dem Detectiv und sage ihm alles!«

Langsam und entschlossen erhob sich Wyncott, löste ihre Hände von seinem Nacken und sagte: »Dank dir, Polly, es ist genug. Ich werde zu Prickett gehen und ihm die Wahrheit sagen, und Reuben Gale soll erkennen, daß ich ein gefährliches Werkzeug bin.«


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