David Christie Murray
Ein gefährliches Werkzeug
David Christie Murray

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Zwölftes Kapitel.

Als Wyncott Esden den Laden Gales verlassen hatte, lief er eine geraume Zeit lang ziellos dahin. Alles um ihn her war zusammengestürzt und er stand den Ereignissen für den Augenblick ratlos und verwirrt gegenüber.

Esden gehörte zu den Menschen, denen ihre eigene gute Meinung notwendig ist, um sich des Beifalles der andern behaglich erfreuen zu können. Obgleich er es nicht an Gelegenheit hatte fehlen lassen, sich selbst vom Gegenteil überzeugen zu können, so hielt er sich doch für einen Mann von unbefleckter Ehre, und wäre er reich gewesen, so hätte ihn dieser Glaube bis ins Grab geleitet. Allein, wenn auch sein Ehrgefühl nie so wenig Elasticität besessen hatte, als er glaubte, so hatte er diese doch bis gestern nie ernstlich auf die Probe gestellt.

Wegen der J. P.'schen Angelegenheit hatte er sich recht unbehaglich gefühlt. Er hatte seine freundschaftlichste und verführerischste Überredungskunst aufgeboten, um dies schwache Geschöpf zu umgarnen, allein seine schlüpfrige Beweisführung war ihm weniger vertrauenerweckend erschienen als seinem vertrauensseligen Opfer. Keinen Augenblick war er auf diesen Sieg stolz gewesen, denn er war ihm als seiner unwürdig, als zu leicht erschienen.

Nun aber war ihm der Gedanke sehr bitter, daß das, was gut und freundlich in ihm war, ihn an den Abgrund der unerträglichsten Selbstverachtung gelockt hatte. Wäre nicht sein Mitleid mit diesem rückgratslosen Sündenbock gewesen, so hätte er den Sprung nie gewagt, den er selbstverständlich in der Hoffnung unternahm, sich selbst so wenig als möglich dabei zu schaden.

In dieser wunderlichen Welt gibt es nur wenig, was wunderlicher wäre, als die völlige Blindheit, von der die klügsten Menschen befallen werden, wenn sie die Offenbarungen ihres eigenen Charakters beurteilen. Wäre die Versuchung an Esden unter Umständen herangetreten, die ihn vor ihr bewahrt hätten, so hätte er mit Entrüstung die Unterstellung zurückgewiesen, diese Versuchung sei überhaupt eine solche für ihn gewesen. Als er J. P. zur Unterzeichnung des Wechsels überredete, wußte er, daß er sich einer Gemeinheit schuldig mache, allein dies hatte nicht vermocht, seinen Glauben an sich als an einen Mann von Ehre zu erschüttern. Sein leichter Sinn und sein großes Anpassungsvermögen hatten ihn in kürzester Frist wieder mit sich ausgesühnt, und selbst als er so tief gesunken war, sich an Fräulein Pharrs Eigentum zu vergreifen, war die That noch keine Stunde alt, als er schon anfing, sich zu rechtfertigen.

Fünf Minuten, ehe er sie vollbracht, hatte er noch mit keinem Gedanken daran gedacht. Durch reinen Zufall war er über Wootton Hill hinausgefahren, in seine peinlichen Gedanken versunken. Der Boomer wäre eine sichere Rettung gewesen, wenn er ihn hätte finden können, allein das tückische Geschick hatte es anders beschlossen, und er sah sich zu Grunde gerichtet und bloßgestellt. J. P. würde reden, die Sache würde Frau Wyncott zu Ohren kommen, Fräulein Pharr mußte es erfahren und die goldenen Träume der letzten Tage sanken in sich zusammen. In einem Zustand gänzlicher Verzweiflung hatte er den Feldweg von Hemsleigh nach Wootton Hill eingeschlagen.

Was Wyncott wollte, das wollte er ganz und immer sogleich; er hatte sich daran gewöhnt, diesen Charakterzug, der all seinen Wünschen eine leidenschaftliche Ungeduld beimischte, als einen Beweis seiner Willenskraft zu betrachten, heute aber hatte er ihm nur eine Steigerung seines Elends zu verdanken.

Am Hause angelangt, hatte er dessen sämtliche Bewohner auf dem Rasenplatz versammelt gesehen und mit entsetzlicher, unwiderstehlicher Gewalt hatte sich ihm der Gedanke an das unselige Werkzeug Gales und die Thatsache aufgedrängt, daß die Juwelen ganz im Bereich seiner Hand lagen. Später dachte er oft, es habe etwas Diabolisches in den Umständen gelegen, unter welchen die Versuchung an ihn herangetreten war. Alle Hindernisse waren aus dem Weg geräumt. Er wollte Fräulein Pharr nicht berauben; in tiefster Seele bebte er vor dem bloßen Gedanken daran zurück. Wie hätte auch ein Mann von seiner Herkunft und Erziehung den Gedanken ertragen können, ein Dieb zu sein? Allein mit den Edelsteinen in seinem Besitz konnte er sich in Gestalt einer Belohnung ein Darlehen verschaffen, das er später bei Heller und Pfennig gewissenhaft zurückbezahlen wollte. Seine Lage war verzweifelt – die Zeit drängte; ehe er recht zum Bewußtsein gekommen war, schlich er sich, die gestohlenen Juwelen in der Reisetasche, hinter der Hecke hin. Doch nein! Nicht gestohlen – nur geborgt!

Von Scham und Schuldbewußtsein, von Triumph und Angst völlig verwirrt, gelangte er nach seiner Wohnung in London zurück, wo er über eine Stunde dazu brauchte, seine aufgeregten Nerven zu beruhigen. Schließlich erwies sich der seiner Natur entsprechende Gedankenprozeß als die beste Arzenei. Es lag ja eigentlich gar kein Diebstahl vor, nur ein Vorenthalten. Die Juwelen wurden zurückgegeben, sobald die Belohnung bezahlt war, und die Anstrengungen, die er zu ihrer Wiedererlangung machen wollte, mußten ihn noch in der Gunst der Erbin fördern. Die Summe, die nach Bezahlung seiner drückendsten Schulden etwa noch übrig blieb, sollte auf das Gewissenhafteste zurückgelegt werden. Er selbst kam rasch vorwärts, und nach seinem neuesten Erfolg mußte er in kürzester Frist auch zu einem guten Einkommen gelangen. Er beschloß, zu leben wie ein Anachoret und zu arbeiten, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gearbeitet hatte. Jedenfalls war die Sache geschehen, und es gibt nichts Unfruchtbareres, als über geschehene Dinge zu jammern. Wie schon früher kämpfte er seine Selbstverachtung nieder und es gelang ihm beinahe, sich zu überzeugen, daß er ganz tadellos dastehe.

Die Entdeckung, daß er die eine Hälfte des Werkzeugs verloren hatte, erschreckte ihn. Da er sich des Weges genau erinnerte, so beschloß er, es zu suchen. Aber selbst wenn er es nicht fand, konnte er dadurch nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Mangel an Mut gehörte nicht zu seinen Fehlern, und er sagte sich, es sei noch immer Zeit genug, sich zu ängstigen, wenn Gefahr in Sicht sei. Als er den Brief des betrübten Vaters schrieb und nachher beschmutzte und zerknitterte, fand er einen gewissen bittern Humor in seiner Lage und begrüßte diese Empfindung als einen Beweis von Selbstbeherrschung und Kaltblütigkeit. Er beschloß, sich selbst mit den Unterhandlungen betrauen zu lassen, und der Gedanke, daß er die andre Partei nicht gerade schwierig finden würde, entlockte ihm tatsächlich ein Lächeln. Ohne ein Gefühl der Bitterkeit ging es natürlich nicht ab, allein nun mußte die einmal begonnene Sache auch durchgeführt werden, und in einigen Monaten konnte er sich durch Rückzahlung des Geldes seine Selbstachtung wieder erkaufen. Wohl war das Darlehen in nicht gerade hergebrachter Form aufgenommen worden, allein es deshalb einen Diebstahl zu nennen oder sich allzu hart zu beurteilen, wäre reine Schwäche gewesen.

So weit hatte er sich mit sich selbst abgefunden, aber seine Gemeinschaft mit Gale, dem gemeinen Schurken, dem eingefleischten Verbrecher war entsetzlich, ganz abgesehen davon, daß die Ausführung seines eigenen Planes dadurch erschwert, vielleicht sogar unmöglich gemacht wurde.

Allein schon auf dem Heimwege erholte sich sein Gemüt einigermaßen, und er begann sich zu fragen, ob die Mitwissenschaft Gales denn gar so sehr in die Wagschale falle. Selbstverständlich mußte die Belohnung mit ihm geteilt werden und dadurch wurde die Heimzahlung seiner Schuld an Fräulein Pharr verzögert. Insolange hielt ihn der Schurke in der Hand, allein sobald Gale seinen Anteil empfangen hatte, waren ihre Beziehungen zu Ende, und die Meinung eines solchen Menschen konnte für ihn nicht von Belang sein. Etwaige Drohungen Gales brauchte er nicht zu fürchten, denn er konnte ihm ja nur schaden, indem er sich selbst auch anklagte. Alles in allem genommen, stand die Sache so übel nicht.

Als er seine Lage in dieser so charakteristischen Weise zusammengefaßt hatte, fuhr er in seinen Klub, wo er speiste. Da er dort wie überall eine sehr beliebte Persönlichkeit war, wurde er von allen Seiten zu seinem letzten Erfolg beglückwünscht und ihm eine glänzende Zukunft verheißen. Dies im Verein mit einer im Kreis der nächsten Freunde getrunkenen Flasche Rotwein und seiner eignen Fähigkeit, unangenehme Gedanken zu verdrängen, versetzten ihn in eine sehr muntre und angeregte Stimmung, in der er gegen zehn Uhr nach Hause fuhr, um seine Verabredung mit Gale einzuhalten. Allein schon während der Fahrt machte sich ein Rückschlag geltend und er fühlte sich unglücklich genug, als er seine Treppen hinaufstieg und das Gas in seinem Wohnzimmer anzündete.

Nachdem er die innere Thür verschlossen hatte, schlich er mit übertriebener Vorsicht in sein Schlafzimmer und ließ die Fensterblenden herab. Dann steckte er eine Kerze an und stahl sich, das Licht mit der Hand beschattend und unwillkürlich um sich blickend, zu einem großen Reisekoffer, in dem er die Juwelen verborgen hatte. Er setzte das Licht aus der Hand und wühlte mit zitternden Händen eine Menge sauber aufgefalteter Kleidungsstücke beiseite, bis er den Boden des Koffers erreichte. Da stieß er plötzlich einen verzweifelten Schrei aus und begann in wilder Hast den Inhalt des Koffers auf den Fußboden zu zerstreuen. Der schlichte Saffiankasten war verschwunden.

Wie lange er fast bewußtlos auf dem Boden gekniet, hätte er nicht zu sagen gewußt; als er endlich wieder zu sich kam, bebte er am ganzen Leib und war von Kopf zu Fuß mit Schweiß bedeckt und flammende Lichter tanzten und zuckten vor seinen Augen. Nach und nach erloschen diese feurigen Flecken und seine Blicke hafteten wie verzaubert auf einem bestimmten Gegenstand. Er griff darnach: es war ein Brief; langsam las er die Aufschrift: »W. Esden, Esquire.« Noch immer an der Erde knieend, öffnete er mechanisch den Brief und las:

»Geehrter Herr! Die Steine befinden sich sicher in meinen Händen. Ich habe einen Plan, um alles in Ordnung zu bringen, und beabsichtige nicht, eine solche Aussicht unbenutzt zu lassen.

Ihr gehorsamer Diener
R. Gale.«          

Zuerst begriff er das Geschehene gar nicht recht, und hatte nur das dumpfe Bewußtsein, daß er in eine entsetzliche Falle geraten war. Den Zettel in einer, die Kerze in der andern Hand, schritt er endlich über die an der Erde zerstreuten Kleider weg ins Nebenzimmer, wo er mit Hilfe des Gaslichtes Reuben Gales kurze Mitteilung nochmals las, als hoffe er, daß ihm das hellere Licht zu besserem Verständnis verhelfe.

Das erste, dessen er sich klar bewußt wurde, war, daß er nun ein Schurke sei: tiefstes Mitleid mit sich selbst überkam ihn und er stöhnte laut auf vor Zorn und Scham. In diesem Augenblick wurde draußen geklopft. Er riß die Thür so hastig auf, daß sie wieder halb zufiel und Gale sich durch die enge Oeffnung förmlich hereinkrümmen mußte, worauf er sofort abschloß. Drohend stand Esden vor seinem Gast und selbst in der Dunkelheit des Vorzimmers war die Blässe seines Antlitzes und das wilde Feuer seiner Augen zu bemerken.

»Ich sehe, Sie haben meinen Brief gefunden,« sagte Gale, während seine Hand mit einer geschäftsmäßigen Bewegung in die innere Tasche seines Rockes griff. Seinem Gesicht, seiner Stimme und seinem Wesen nach, konnte man glauben, er suche ein Notizbuch oder ein Taschentuch, aber statt dessen kam ein Revolver zum Vorschein. »Ich hoffe, Herr Esden,« sagte Gale, »daß keinerlei Schwierigkeiten zwischen uns entstehen werden.«

Er hielt seine unschuldigen braunen Augen fest auf Esdens Gesicht gerichtet, während er sich, wie um Entschuldigung bittend, um ihn herumbewegte.

»Die Steine sind in völliger Sicherheit,« sagte er, »und ›Ehre unter Dieben‹ war immer mein Motto; Sie können sie mir so ruhig anvertrauen wie der Bank von England.«

Der Gast sprach im Wohnzimmer, während Esden, die Hände in den Haaren vergraben, seine Stirne an die Wand gelehnt, noch neben der Thür stand. Endlich, wie von einem fremden, höhern Willen beeinflußt, raffte sich der Advokat auf und schritt ins Zimmer hinein.

»Mein guter Herr,« sagte er ruhig, wenn auch mit dumpfer Stimme, »Sie haben Ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht.«

»Möglich,« antwortete Gale sanft, »aber wenn Sie gütigst entschuldigen wollen, so sehe ich dies noch nicht ein.«

»Dann,« sagte Esden mit erhobener Stimme, »sollen Sie es einsehen lernen. Was ich gethan, habe ich mit einer bestimmten Absicht gethan, und nichts, was Sie thun können, wird mich darüber hinaustreiben.«

Plötzlich schien Gale seines Hutes gewahr zu werden, nahm ihn vom Kopf und setzte ihn auf den Tisch.

»Bitte um Entschuldigung,« sagte er, mit dem Revolver auf den Hut deutend.

»Ich habe diese Juwelen genommen,« fuhr Esden, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, fort, »weil ich Geld brauchte und wußte, daß eine Belohnung ausgesetzt werden würde. Ich beabsichtigte, diese zurückzubezahlen, und beabsichtige dies noch immer. Sollte ich vor die Frage gestellt werden, alles zu bekennen, um vor dem nächsten Schwurgericht mein Urteil zu empfangen, oder in eine verbrecherische Gemeinschaft mit Ihnen zu treten, so bin ich schon entschlossen. Wenn ich die Edelsteine innerhalb einer Stunde nicht zurückerhalte, so fahre ich nach Wootton Hill und erzähle meine Geschichte, und zuvor telegraphiere ich dem Scotland Yard, daß die Steine in Ihrem Besitze sind.«

Während Esden sprach, saß Gale friedlich in einem Sessel, und in dem Augenblick, wo er seinen verzweifelten Entschluß kund that, warf sich der Advokat in einen andern. Der biedere Kaufmann nahm, ohne ein Wort zu erwidern, das Briefchen, das schon vorher im Bereich seiner Hand gelegen hatte, ballte es zusammen, schob es in den Mund und zerkaute es, wobei er lebhaft an einen wiederkäuenden Ochsen erinnerte.

»Es ist immer besser, es sind keine Beweise vorhanden,« erklärte er gelassen, als er den Zettel in Brei verwandelt hatte. »Wissen Sie, Herr Esden,« fuhr er, nachlässig mit seinem Revolver spielend, in ehrerbietigem Tone fort, »das wäre kein vernünftiger Handel. Ich will mich niemand, am wenigsten einem Gentleman gegenüber –« hier verschluckte er den Papierbrei – »darauf steifen, daß ich mich im Vorteil befinde. Ich könnte sonst zum Beispiel darauf hinweisen, daß ein bewaffneter und ein unbewaffneter Mann sich nicht gleich gegenüberstehen. Ich möchte nicht gerne etwas Unhöfliches oder Unehrerbietiges sagen, aber wenn Sie thun wollten, was Sie eben sagten, so sehe ich auch nicht ein, was mich abhalten könnte, zu Joseph Prickett zu gehen und zu sagen: ›Joseph, ich habe es satt, immer verdächtigt und verhaftet zu werden. Herr Wyncott Esden ist der Herr, dem ich das Werkzeug gegeben habe. Herr Wyncott Esden ist heute nachmittag mit Ihnen gekommen und hat vor Ihrer Nase ein Abkommen mit mir getroffen und heute nacht hat er mir die Juwelen gebracht und verlangt, ich solle sie für ihn verkaufen; allein, da ich es satt habe, immer verfolgt und gehetzt zu werden, so habe ich sie Ihnen gebracht und erwarte von der Dame, daß sie sich nobel finden läßt.‹ Nun, Herr Esden, frage ich Sie, was in aller Welt mich abhalten sollte, dies zu thun?«

»Sie können thun, was Sie wollen,« sagte Esden verzweifelt; »es bleibt bei dem, was ich vorhin gesagt habe, und ich lasse Ihnen eine Minute Zeit, Ihren Entschluß zu fassen.«

Damit trat er an eines der Fenster und legte die Hand auf die Klinke; Gale folgte ihm und schob sich zwischen ihn und das Fenster und drückte seinen Gefährten ohne Umstände beiseite.

»Bitte um Entschuldigung, Herr Esden,« sagte er in seltsam hastigem und herrischem Ton, »aber das würde ich nicht thun, wenn ich Sie wäre!«

»Ich wollte nur etwas Luft, Sie Narr!« antwortete Esden zornig.

»Sie werden sich noch einen kleinen Augenblick ohne Luft behelfen,« gab Gale zurück; »hier setzen Sie sich wieder her. Ich bin überzeugt, daß wir beide dies Geschäft zu Ende führen werden, ohne uns zu zanken. Mein Grundsatz war immer: erst beißen und dann bellen! Wie wär's, wenn ich nun Ihnen eine Minute Zeit zur Ueberlegung ließe? Wie wär's, wenn ich Ihnen fünf Minuten gäbe? Keiner von uns hat Eile – sagen wir also fünf! Hier setzen Sie sich hin und denken Sie nach!«

»Sie haben diesen Zettel gegessen,« sagte Esden in ohnmächtiger Wut, »um den einzigen Beweis gegen Sie zu vernichten!«

»Nun natürlich,« entgegnete Gale, »darum habe ich's gethan. Wir sagten fünf Minuten, nicht wahr?«

Er zog eine großmächtige Zwiebel von einer Taschenuhr heraus und legte sie in seine linke Hand; in der Stille des Zimmers schien sie so laut zu ticken wie eine große Wanduhr. Mit dem Ausdruck dumpfer Entschlossenheit lehnte sich Esden in seinen Sessel zurück, und sein Geist fand nichts Besseres zu thun, als den Ticktack der Uhr zu zählen. Er kam bis zu fünfzig und dann versank er in einen Zustand der Bewußtlosigkeit. Doch schon eine Minute darauf kam er wieder zu sich und der umstrickte Mann starrte seiner entsetzlichen Zukunft ins Gesicht, bis er durch Gales Stimme aufgeschreckt wurde.

»Gute Nacht, Herr Esden. Ich denke, falls Sie auch der Ansicht sind, gehe ich am besten gleich nach Scotland Yard, ohne mit dem Abholen der Steine Zeit zu verlieren, denn sonst könnten Sie inzwischen was unternehmen. Doch halt! Da fällt mir ein, daß ich ja diese beiden Thüren abschließen und den Schlüssel mitnehmen kann!«

»Sagen Sie mir, was Sie wollen,« sagte Esden, in dem aller Widerstand gebrochen schien, und der sah, daß er hoffnungslos umgarnt war.

»So, das ist endlich ein vernünftiges Wort,« erwiderte Gale und zog seinen Stuhl mit vertraulicher Miene näher an den Tisch.

»Natürlich,« fuhr er über den Tisch gebeugt in heiserem flüsternden Tone fort, »war es von Ihrem Standpunkt aus ein ganz vernünftiger Gedanke, sie zurückzuschicken, denn Sie wußten ja nicht, was damit anfangen, nun aber habe ich die Sache in die Hand genommen und mit der Belohnung und den Juwelen werden wir sechstausend Pfund miteinander teilen können.

»Die Belohnung!« rief Esden halb aufspringend.

»Tausend Pfund, Herr Esden,« sprach Gale unentwegt weiter, »ist eine hübsche Handvoll Geld. Ich habe mir alles reichlich überlegt. Ohne eine kleine Summe flüssigen Geldes müßten wir die Waare zum halben Wert verschleudern.«

»Ich weiß nicht, welch teuflischen Plan Sie ausgeheckt haben,« rief Esden, in neuer Empörung aufspringend, »und will ihn auch nicht wissen, aber das weiß ich, daß ich zur Ehre und zur Redlichkeit zurückkehren werde, koste es was es will! Es mag sein, daß ich noch einmal meine Seele verkaufen werde, aber jedenfalls nicht an einen Halunken wie Sie, und ich werde mich durch Sie nicht von Verbrechen zu Verbrechen, von Gemeinheit zu Gemeinheit weiter reißen lassen. Dies ist mein letztes Wort, und nun gehen Sie und thun Sie Ihr Schlimmstes!«

Kraftlos und schwindelig, von Gewissensbissen und Scham überwältigt, sank er in seinen Sessel zurück, aber er fühlte sich, nachdem er diese leidenschaftliche Erklärung abgegeben hatte, doch wieder etwas mehr als Mann.

»Gut,« sagte Gale gelassen; »es ist zwar jammerschade für mich und Sie, aber wenn es so sein muß, so muß es eben sein. Nur möchte ich Ihnen, Herr Wyncott Esden, ehe ich gehe, noch mit geziemender Ehrfurcht ein paar Worte sagen, weil Sie einen empfindlichen Punkt berührt haben und weil ich meine Gefühle ebenso habe, als wenn ich ein Gentleman wäre. Sie reden davon, daß Sie sich durch mich nicht weiter zu Verbrechen hinreißen lassen wollten, und dies ist weder gerecht noch vernünftig, denn es ist genau das, was ich Ihnen entgegnen könnte. Als ich kürzlich auf der Anklagebank saß, schwor ich mir, daß ich mich von allen Werken der Finsternis fernhalten wollte, denn ich sah ein, daß der Einsatz dies Spiel nicht lohnte. Außerdem werde ich alt und meine Nerven sind nicht mehr so stark als früher; es lag nämlich gar kein zwingender Grund vor, an den Schädel dieses Hausmeisters mein Blei zu verschwenden, und zwei Jahre früher hätte ich nie daran gedacht. – Ich hatte mir's verschworen, noch ehe die Geschwornen ihr ›Nichtschuldig‹ gesprochen hatten, und bis gestern habe ich trotz der glänzendsten Aussichten zu allem ›nein‹ gesagt. Allein in diesem Fall war die Sache schon geschehen, und wenn Sie, Herr Esden, sich auch die Vorteile nicht zu Nutze machen wollen, so müssen Sie doch die Folgen auf sich nehmen. Ich bin ein armer Mann und nicht in der Lage, die Gaben der Vorsehung zurückzuweisen.«

Er war in einen traurig vorwurfsvollen Ton verfallen, der die Enttäuschung verriet, die ihm Esdens Benehmen bereitete.

»Ich bin überzeugt, Herr Esden,« begann er wieder, »daß Ihre Freunde Sie nicht zur Verantwortung ziehen würden, wenn sie es wüßten – es wäre mir nicht angenehm zu denken, daß sie es thun könnten. – Ich glaube auch nicht, daß ein Gentleman wie Sie schlecht und dumm genug gewesen sein könnte, die eine Hälfte des Werkzeuges mit Absicht zu verlieren, aber dieser Umstand hätte mich in große Schwierigkeiten bringen können, wenn ich nicht vermocht hätte, gestern nachmittag über die Anwendung jeder Minute meiner Zeit Rechenschaft abzulegen. Daß Sie, mein Herr, dies Werkzeug überhaupt benützt haben, ist ein Vertrauensbruch, der von einem Gentleman keineswegs zu erwarten war, und ich möchte nicht beschwören, daß ich Ihnen dies nicht ein wenig nachtrage.«

»Hören Sie auf mit diesem unflätigen Geschwätz, Mensch!« rief Esden, sich in Selbstverachtung krümmend und windend. Die Bemerkung, die Gale über die wahrscheinliche Nachsicht seiner Angehörigen scheinbar zufällig hingeworfen hatte, ließ ihm den Abgrund seiner Schande in einem neuen Licht erscheinen; von wahnsinniger Angst erfaßt, war er bereit, sich an jeden Strohhalm anzuklammern. »Setzen Sie sich,« sagte er, »und teilen Sie mir Ihren Plan mit.«


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