David Christie Murray
Der Bischof in Not
David Christie Murray

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Neuntes Kapitel

Am nächsten Morgen trafen Nachrichten von London ein. Es sei dort bekannt, besagten sie, daß sich die Herren Thomas Finch und Robert Draker in Monte Carlo aufhielten, und ihre Checks könnten zu dem angegebenen Betrage ohne Gefahr honoriert werden. Die beiden jungen Herren wären demnach in der Lage gewesen, nach Hause abzureisen, allein, schrecklich zu berichten, von Paris kam keine Antwort. Lord Lorrimer war auf Urlaub abwesend, und Toms Telegramm lag uneröffnet in seinem Zimmer.

Tom geleitete Draker nach dem Bahnhofe, aber er selbst fühlte sich verpflichtet, noch in Monte Carlo zu bleiben.

»Der alte Durgan haßt mich zwar, wie die Sünde,« sprach er, »aber ich kann ihn doch nicht im Stiche lassen. Hier hast du einen Check, den ich bitte, sofort nach deiner Ankunft einzulösen, und dann laß mir das Geld telegraphisch überweisen. Wahrhaftig, Draker, mein kleiner Haufen wird gewaltig zusammenschmelzen, und ich weiß nicht, wie ich bis zum nächsten Vierteljahrsanfang leben soll.«

Traurig sagte ihm sein Freund lebewohl und kehrte nach London zurück, während Tom in Monte Carlo blieb, um das Ende des sonderbaren Trauerspiels abzuwarten und den Bischof auf geradem oder krummem Wege zu befreien.

Zum erstenmal in seinem Leben hatte Doktor Durgan in seinen Kleidern geschlafen. Nicht nur aus Gewohnheit, sondern auch von Natur war er ein Mensch der äußersten Reinlichkeit, so daß er sich unglücklich und körperlich unbehaglich fühlte, als er erwachte und sah, daß er schmutzig und sein Leinenzeug zerknittert war, und daß er sein gewohntes Bad entbehren mußte.

In dieser Jahreszeit und dem herrschenden Wetter litt alle Welt unter der Hitze. Selbst in großen, luftigen Zimmern hatten leicht und passend gekleidete Leute sich unruhig umhergeworfen, und der Gefangene war gezwungen gewesen, auf einer Pritsche mit einem hölzernen Kopfkissen in einem gänzlich ungelüfteten Räume zu liegen. Soviel mir bekannt, ist der Thatendurst der Mücken an der Riviera zur Zeit der Sommersonnenwende noch nicht besungen worden. In der Lage, behaupten zu können, daß an andern Orten nicht ihresgleichen gefunden werde, bin ich zwar nicht, allein ich habe einen großen Teil meines Lebens auf Reisen zugebracht und habe keine gefunden, die sich mit ihnen messen könnten. In den Läden an der Riviera wird eine Art von Räucherkerzchen verkauft, die den schönen Namen führt: »Sonni tranquilli«, und wenn man diese in solchen Massen verbrennt, daß man in Gefahr gerät, im Rauche zu ersticken, dann verbergen sich die Mücken in den Ecken. Wagt man aber, wenn man beinahe vergiftet ist, mit dem Räuchern aufzuhören, so kommen sie wieder hervor und beginnen ihr Werk mit unglaublicher Unerschrockenheit und Schneidigkeit von neuem. Aber dem Gefangenen stand nicht einmal dieses zeitweilige und unangenehme Verteidigungsmittel zu Gebote, und die geflügelten Plagegeister sangen ihm die ganze Nacht ihr schreckenerregendes Lied in die Ohren und marterten ihn. Wenn die Mücke weniger drohte, könnte sie zweimal so viel stechen und würde noch eher Gnade in unsern Augen finden. Gerade dieser drohende Gesang, diese unaufhörliche Verkündigung blutdürstiger Absichten, diese schwirrende Kriegsmusik nie gestillten Hasses und nimmersatter Gier sind es, die sie so furchtbar machen.

»Der Anblick eines guten Menschen, der mit widrigen Umständen kämpft, ist den Göttern angenehm.« Wirklich? Jeder, der sich die Lage des Bischofs klar macht, erkennt, daß der Satz von einem Heiden geschrieben worden ist. Die niederträchtigen Kerbtiere bearbeiteten seine Fußgelenke, seine Hände, seine Nase und ganz besonders das eine Augenlid, und wenn er diese Körperteile vorsichtig im Dunkeln berührte, konnte er fühlen, wie sie merkbar anschwollen. Er malte sich aus, was für ein Bild er am Morgen bieten werde, und erblickte sich unrasiert, ungekämmt und mit Anschwellungen im Gesicht, die den Knuppen eines Gewohnheitsgrogtrinkers glichen, und einem häßlichen, unfreiwilligen, aber unaufhörlichen Blinzeln. So niederschmetternd dieses Phantasiegebilde für sein Gemüt war, so war es doch keineswegs übertrieben, denn lange bevor der Tag dämmerte, hatte dieser würdigste unter den Menschen aufgehört, auch nur achtbar auszusehen.

Seine Absicht war gewesen, die unerwartete Gelegenheit zu benutzen, die Welt von einer Seite kennen zu lernen, die ihm gewöhnlich verschlossen und deshalb fremd war. Nun hatte er, was er gesucht hatte, nur etwas zu viel davon. In gewisser Art litt er unter embarras de richesse.

Schon in frühester Kindheit machen wir die Erfahrung, daß es keine Stelle an unserm Körper gibt, wo ein Geschwür angenehm ist. Und so ist niemals jemand in einer schlimmen Lage gewesen, ohne zu denken, daß er eine andre schlimme Lage leichter ertragen könnte. Wäre es das Geschick des Bischofs gewesen, in unruhigen Zeiten zu leben und seiner religiösen oder politischen Ueberzeugung wegen in den Tower geworfen zu werden, so würde er sein Los mit Würde auf sich genommen und mit Seelenstärke getragen haben. Das hätte wenigstens in Uebereinstimmung mit der Überlieferung gestanden. Allein unter der Anklage wegen eines gemeinen Verbrechens in einem sehr heißen, dumpfen, übelriechenden Raum eingesperrt und von summenden Mücken und ihrem stummen Verbündeten, dem Floh, zu Tode gebissen zu werden, hat weder etwas Ueberlieferungsmäßiges, noch überhaupt etwas Begeisterndes. Die Dinge waren in einen falschen Gesichtswinkel gerückt, und das machte sie so ganz besonders unleidlich. Unglücksfälle, die über Männer in erhabener Stellung hereinbrechen, sollten wenigstens wichtig, bedeutungsvoll und ergreifend sein und Ungebildete wie Gebildete mit scheuer Ehrfurcht erfüllen. Die Schicksalsgöttinnen hatten den Bischof an seinem verwundbarsten Punkte getroffen, wie das so ihre Art ist, wenn sie es darauf anlegen, boshaft zu sein. Wozu sollten sie sich auch die Mühe geben, zu schlagen, wenn der Schlag nicht wehe thun soll?

Aber selbst wenn sie am grausamsten ist, hat die Natur doch noch einen Rest von Erbarmen. Der Bischof schlief endlich ein und schlummerte schmerz- und traumlos, wie es, wenn die Ueberlieferung nicht trügt, Männer und Frauen selbst auf der Folterbank schon gethan haben.

Am Morgen brachte der Vertreter der Landstreitkräfte eine Schale mit Wasser und ein Handtuch, das schon zu seltsamen Dingen gebraucht zu sein schien. Ob vielleicht ein unklares Gerücht von der englischen Leidenschaft, sich zu waschen, an sein Ohr gedrungen war und ihn zu dieser Handlung veranlaßt hatte, ziemt uns nicht, zu untersuchen, aber mit diesen beiden Dingen als einzigen Hilfsmitteln mußte der Bischof seine Toilette machen. Die Natur hatte ihn dazu bestimmt gehabt, einen prächtigen Bart zu tragen, und es war seine Gewohnheit, sich täglich zweimal zu rasieren. Einen Spiegel hatte er nicht, aber er wußte, daß sein Kinn und seine Wangen die Farbe einer reifen Pflaume haben mußten. Der traurige Raum wurde mit jeder fliehenden Stunde heißer und heißer. Gegen Mittag war er wie ein türkisches Bad, und der Gefangene war so schlaff geworden wie seine eigene Leibwäsche. Er wußte, daß er mit jeder verrinnenden Stunde in Hinsicht auf seine äußere Erscheinung sich selbst unähnlicher wurde. Schreiben oder telegraphieren, um sich Rechtsbeistand zu verschaffen, konnte er nicht, denn all sein Geld war ihm abgenommen worden. Ueberhaupt konnte er mit der Außenwelt nicht in Verbindung treten, denn sein Wächter sprach eine Mundart, die ihm vollkommen unverständlich war. Nur das Bewußtsein, daß er jedenfalls früher oder später erkannt und in Freiheit gesetzt werden müsse, hielt ihn aufrecht, wenn er auch noch Tage tiefer Demütigung vor sich sah und manchmal vor Zorn überkochte. Aber was nützt das Ueberkochen, wenn nichts im Topfe ist?

Als der Tag verging, begann er zu bereuen, daß er Tom nicht erlaubt hatte, etwas für ihn zu thun. Dieser junge Mann hatte viel mehr Recht auf seiner Seite, als der Bischof anerkennen wollte, und das war ein ausgezeichneter Grund, eigensinnig und ärgerlich auf ihn zu sein. Aber Tom hätte bei alledem doch von Nutzen sein können, und wie unwillkommen Doktor Durgan auch Hilfe von dieser Seite sein mochte, so mußte er doch bei sich einräumen, daß ihm andre nicht zur Verfügung stand. Er wünschte, er hätte den jungen Mann nicht so schroff abgewiesen, aber noch bevor dieser Wunsch eine bestimmte Gestalt angenommen hatte, durchlebte er im Geiste einen Auftritt, worin er ihn mit noch größerer Strenge abfallen ließ.

Ueber die Tageszeiten konnte er nur Vermutungen anstellen, und wenn nicht der über den Fußboden kriechende Sonnenschein gewesen wäre, hätte er geglaubt, es sei Mitternacht. Endlich senkte sich die Dämmerung herab, die übelriechende Lampe wurde angezündet und an einen Balken gehängt, und die Mücken begannen wieder zu erwachen. Der Gefangene sah der kommenden Nacht so heldenmütig entgegen, als er konnte. Er hatte einen Wolfshunger. Noch nie war er so hungrig gewesen, aber er hätte von den ihm angebotenen Nahrungsmitteln nichts anrühren können, und wenn sein Leben davon abgehangen hätte.

Endlich, als sein Mut am tiefsten gesunken war und seine Fähigkeit, zu dulden, ihre Grenze erreicht hatte, hörte er Schritte und eine Stimme vor der Thür. Beide waren die Tom Finchs, und einen Augenblick fühlte der Bischof den Trieb, sich zu erheben und seinen Feind zu umarmen. Allein er unterdrückte diesen Trieb sofort, wenn er auch die Thatsache, daß er ihn gefühlt hatte, nicht aus der Welt schaffen konnte.

Tom hatte etwas mehr Geld erhoben, als er selbst bedurfte, so daß er sogar ein Fünffrankenstück für den Wächter des Bischofs übrig hatte. Ernst und schweigsam trat er ein, und der Bischof nahm alle seine Würde zusammen, aber die Verlegenheit war für beide Teile groß.

»Ich gab mich der Hoffnung hin,« begann Tom. »daß diese unselige Geschichte schon früher aufgeklärt sein würde. Inzwischen habe ich an die englische Botschaft in Paris telegraphiert und erwarte die Antwort jeden Augenblick.«

Gern hätte der Bischof geschwiegen, allein nur verdrießlich und übellaunig zu erscheinen, wäre seiner auch nicht würdig gewesen.

»Ich habe Ihnen bereits zu verstehen gegeben, Mr. Finch,« erwiderte er, »daß mir Ihre Einmischung in meine Angelegenheiten nicht angenehm ist. Allerdings verhehle ich mir die Thatsache nicht, daß meine gegenwärtige Lage sowohl lächerlich, als auch höchst peinlich ist. Trotzdem bin ich genötigt, Ihnen zu versichern, daß ich es vorziehen würde, sie fortdauern zu sehen, als meine Befreiung daraus Ihnen zu verdanken.«

»Ja,« entgegnete Tom, »das ist wohl natürlich, aber Sie müssen doch auch meine Seite der Frage in Betracht ziehen. Ich kann Sie nicht hier sitzen lassen, ohne einen Versuch zu machen, Ihnen zu helfen. Wenn Sie die Güte haben wollten, mich als vollständig Fremden anzusehen und überzeugt zu sein, daß ich diesen verrückten Zustand nicht zu benutzen beabsichtige, um mir Ihre Gunst zu erschleichen, würden Sie mich zu großem Danke verpflichten.«

»Diese männliche Gesinnung macht Ihnen Ehre, Mr. Finch,« versetzte der Bischof, denn wenn man alles in allem nimmt, so war er ein Gentleman und konnte nicht zulassen, daß alle Großmut auf seiten seines Gegners sei.

»Ich danke Ihnen,« antwortete Tom einfach, und in diesem Augenblick trat der Wächter des Bischofs mit der Abendmahlzeit für den Gefangenen ein.

»Nehmen Sie das Zeug weg,« rief der Bischof mit einem Erröten des Aergers und der Demütigung, »nehmen Sie es weg.«

»Bitte um Entschuldigung,« sagte Tom, »aber sind das die Speisen, die anzunehmen man Ihnen zugemutet hat?«

»Seit meinem gestrigen Mittagessen habe ich keinen Bissen angerührt,« erwiderte der Bischof steif.

»Das habe ich wahrhaftig ganz vergessen!« rief Tom. »Ich bitte um Verzeihung, aber an so etwas habe ich gar nicht gedacht. Den ganzen Tag bin ich in so elender, gespannter Erwartung der Antwort auf mein Telegramm umhergelaufen, daß ich für weiter nichts Sinn hatte. In zehn Minuten bin ich wieder hier.«

Hastig wechselte er einige Worte mit dem Wächter und rannte, ohne vollkommen sicher zu sein, ob er verstanden worden war, eiligen Laufes nach dem Hotel. Hier versorgte er sich mit einigen gebratenen Tauben, einem halben Meter französischen Weißbrots und einer Flasche Wein. Sein letztes Geldstück verpfändete er für Messer und Gabel, ein Tischtuch, ein Glas, einen Teller und ein Salzfaß, und so ausgerüstet rannte er nach dem Gefängnis zurück, wo er ganz außer Atem anlangte. Das mitgebrachte Mahl setzte er dem Bischof vor und forderte ihn auf, zuzulangen. Seine Lordschaft hätte vielleicht lieber abgelehnt, allein der innere Trieb war zu stark. Tom hatte ein Taschenmesser bei sich, aber er hatte es schon für immer durch den Versuch verdorben, die Drähte der Weinflasche damit zu lösen. Die Tauben waren zart und saftig, der Wein kühl und wohlschmeckend, und nie hatte dem Bischof etwas so köstlich gemundet. Sein Herz öffnete sich für Tom, und wenn dieser junge Herr nur ein wenig im Unrecht gewesen wäre, so würde er ihm vergeben haben, allein er war ganz unleidlich im Recht, und einem Feinde zu verzeihen, dem man eigentlich nichts vorzuwerfen hat, das geht über die menschliche Natur. Der Bischof mußte also sein Herz verhärten, aber es kostete ihn Mühe. Außerdem schämte er sich wegen seines großen Hungers, was Tom nicht entging.

»Wenn Sie mir gestatten, will ich draußen eine Cigarette rauchen,« sagte er, »und in ein paar Minuten wieder hereinkommen.«

Was für ein herrliches Bankett die Tauben und das französische Brot abgaben und wie belebend der Wein durch die Adern strömte! Mit dem ersten Bissen war es, als ob die kleinen Knochen im Rücken seiner Herrlichkeit, die zuerst einer nach dem andern ihrer Tragkraft beraubt und dann alle verschwunden zu sein schienen, zurückkehrten. Sein Geist war von der unklaren und widerspruchsvollen Empfindung erfüllt, daß Tom Finch ein sehr ritterlicher junger Mann sei, und daß er, der Bischof, aber doch wünsche, Tom säße auf dem Blocksberge. Und als Tom zurückkam, verursachte der Kampf zwischen dem Bestreben, seine Würde zu bewahren, und dem Verlangen, seinem Feinde die Hand zu schütteln, seiner Herrlichkeit großes Unbehagen. Tom bot ihm eine Cigarre an, die der Bischof auch nicht ausschlug, und das Rauchen brachte ein so seliges Wohlbefinden hervor, daß seine Lordschaft meinte, er habe das Leben noch nie so genossen. Dann aber fiel ihm seine Lage wieder ein, und er wußte, daß er noch nie so elend gewesen war.

»Wie ich Ihnen bereits gesagt, habe ich an die englische Botschaft telegraphiert,« begann Tom wieder. »Ich habe meine Mitteilung an Lord Lorrimer gerichtet, weil wir alte Freunde sind, aber wenn ich nicht morgen früh beizeiten Antwort erhalte, muß ich annehmen, daß er abwesend ist! und dann werde ich an den Botschafter selbst telegraphieren.«

Der Bischof gab keine Antwort, obgleich er gern gesagt hatte, daß, alles in allem genommen, Tom sehr freundlich sei.

»Inzwischen ist aber einiges vorgefallen,« fuhr Tom fort, »wovon Sie in Kenntnis zu setzen, mir wesentlich erscheint. Ich bitte um Erlaubnis, Ihnen die entsprechenden Mitteilungen zu machen.«

»Einen Grund, weshalb ich es ablehnen sollte, Sie anzuhören, Mr. Finch,« erwiderte der Bischof, »wüßte ich nicht anzuführen.«

»Ich nehme an,« sprach Tom weiter, »daß Sie den Herrn, mit dem Sie sich an Bord des Dampfers zwischen Dover und Calais so angelegentlich unterhielten, nicht vergessen haben.«

»Allerdings entsinne ich mich des Herrn, auf den Sie hinweisen, vollkommen,« entgegnete der Bischof. »Er war mir fremd, aber er erwies mir auf der Reise einige kleine Gefälligkeiten, und ich fand ihn recht unterhaltend und gebildet.«

»Ich bin sehr geneigt, ihn für einen ungewöhnlich geriebenen Schurken zu halten,« sprach Tom. »Hat er Ihnen zufällig seinen Namen genannt?«

»Gewiß,« versetzte der Bischof, »und ich erinnere mich des Namens auch noch. Er war ein Mr. Decimus Bailey und deutete an, daß er Grundbesitz in Irland und der Havana habe. Im Hotel Continental bewohnte er das dem meinen zunächst gelegene Zimmer.«

Als der Bischof den letzten Satz aussprach, hatte Tom genau das Gefühl, wie ein Mensch, der in einem dunkeln Raume Licht macht und alles, was ihn umgibt, bekannt findet, während er geglaubt hatte, an einem unbekannten Orte zu sein. Der Fremde im Anzuge eines Bischofs, der Bischof in gewöhnlichen Kleidern! Ihm war zu Mute, als ob er die Antwort auf seine nächste Frage schon wisse, noch ehe er sie gestellt hatte.

»Verzeihen Sie, Mylord, aber ist Ihnen vielleicht in Paris ein Anzug abhanden gekommen?«

»Allerdings,« antwortete der Bischof, »aber darf ich fragen, worauf Sie mit all diesen Erkundigungen hinauswollen?«

Die Worte waren in den Wind gesprochen, denn Tom rannte, mit den Händen in der Luft umherfuchtelnd, wie besessen im Zimmer umher und rief ein übers andre Mal, er sei ein Dummkopf, ein Hornvieh, ein Esel, ein Narr!

»So fassen Sie sich doch, Mr. Finch,« ermahnte der Bischof.

»Gestern abend hatte ich den Halunken in meinen Händen!« schrie Tom. »Ich hatte ihn ganz fest und war blödsinnig genug, ihn wieder laufen zu lassen!«

»Wollen Sie sich nicht näher erklären, Mr. Finch?« fragte der Bischof streng.

»Gewiß will ich das,« erwiderte Tom, »natürlich will ich das. Der Mensch, der sich Ihnen als Mr. Decimus Bailey und mir als Mr, Arthur Staunton vorgestellt hat, ist hier in der Gegend als Bischof von Stockestithe aufgetreten.«

»Als der Bischof von Stockestithe?« stieß Seine Herrlichkeit hervor. »Der Bischof von –«

»Ich habe ihn in Ihrem Anzuge getroffen,« sagte Tom trübselig, »und habe von einem Kellner im Hotel in Erfahrung gebracht, daß er sich als Bischof von Stockestithe ins Fremdenbuch eingeschrieben hatte. Darauf habe ich ihn gezwungen, mir in mein Zimmer zu folgen, und habe eine Erklärung von ihm verlangt. Er behauptete, Geheimpolizist im Dienste der französischen Regierung zu sein, und rechtfertigte seine Verkleidung mit der Angabe, daß er einen abgefeimten, gefährlichen Verbrecher verfolge. Und darauf habe ich ihn laufen lassen, ich habe ihn laufen lassen!«

»Gott steh mir bei!« rief der Bischof. »Ich hatte selbst Grund, den Menschen für verdächtig zu halten – aber ist es denn möglich? Er schien wirklich ein so liebenswürdiger und gebildeter Mensch zu sein und entwickelte so gesunde Ansichten über die kirchliche Frage, daß ich ganz überrascht war, einen Laien so vertraut damit zu sehen. Mein lieber Mr. Finch, der Mensch hat eine bessere Erziehung genossen, als viele Gentlemen.«

»Das ist auch mein einziger Trost,« entgegnete Tom, »daß er ein ungewöhnlich geriebener Spitzbube ist. Allein ich möchte noch über eine andre Sache mit Ihnen reden und mir die Frage erlauben, ob Sie sich des Nachmittags entsinnen, wo wir unsre letzte Unterredung am Portland Place hatten?«

»Ganz genau,« versetzte Doktor Durgan.

»Wenige Minuten, nachdem Sie mich verlassen hatten,« fuhr Tom fort, »begrüßten Sie einen Herrn von militärischem Aussehen – einen militärischen Hanswurst.«

»Ja,« sagte der Bischof. »Nun, was hat es mit dem für eine Bewandtnis?«

»Ich möchte nur wissen, ob Sie der Ehrenhaftigkeit des Menschen sicher sind, das ist alles. Zufällig habe ich nämlich gehört, wie ihn Ihr Freund, Mr. Decimus Bailey, fragte, auf welche Weise er aus dem Gefängnis von Portland entkommen sei.«

»Gott steh mir bei!« rief der Bischof zum zweitenmal. »Der Herr, der mich begrüßt hat, ist mir von einem ungemein achtbaren Manne vorgestellt worden, von Mr. Roß, den ich seit zwei Jahren als Sekretär einer ausgezeichneten Missionsgesellschaft im östlichen Teil von London kenne. Mr. Roß hat mir den in Rede stehenden Herrn als Oberst Varndyke vorgestellt.«

»Das mag sein,« versetzte Tom. »Jedenfalls habe ich noch nicht eine halbe Stunde, nachdem er Ihnen die Hand gedrückt hatte, gehört, wie ihn Mr. Decimus Bailey fragte, auf welche Weise er aus Portland entkommen sei, bei welcher Frage der andre bleich wurde und an allen Gliedern schlotterte.«

»Gott steh mir bei!« rief Doktor Durgan zum drittenmal. »Ich werde nicht versäumen, Mr. Roß zu warnen. Bei der nächsten Versammlung der Missionsgesellschaft führe ich den Vorsitz und werde diese Gelegenheit benutzen. Roß ist ein Mensch von zweifelloser Rechtschaffenheit.«

Nun erzählte Tom die ganze Geschichte, die der Bischof in sprachlosem Erstaunen anhörte.

»Ich fange an, einzusehen,« sagte er, als Tom geendet hatte, »daß der Kleidertausch, den ich für einen Zufall hielt, mit Ueberlegung und Absicht bewerkstelligt worden ist.«

»Das fange ich auch an, einzusehen,« erwiderte Tom trocken.

»Aber, Mr. Finch,« rief der ältere Herr, »eine solche Frechheit! Man – man – man könnte beinahe von Entweihung reden, Haben denn diese Leute gar keine Ahnung von dem, was sich schickt? Fürchten sie die Entdeckung nicht?«

Am nächsten Morgen schickte Tom einen Vorrat reiner Wäsche ins Gefängnis und trug Sorge, daß der Gefangene ein gutes Frühstück erhielt, worauf er ihn etwas getröstet verließ.

Sobald das Telegraphenamt geöffnet war, telegraphierte Tom noch einmal, und zwar diesmal unmittelbar an den Vertreter Ihrer britischen Majestät und bat um sofortige Antwort. Diese kam auch im Laufe des Nachmittags und enthielt das Versprechen, daß die nötigen Schritte alsbald gethan werden sollten, und die Bitte um weitere Einzelheiten.

Toms Geld war inzwischen wieder zur Neige gegangen, allein als der Hotelbesitzer das Telegramm des Botschafters sah, legte er die weiteren Kosten mit der größten Bereitwilligkeit aus und versprach, dafür zu sorgen, daß es dem Gefangenen an nichts fehle. Ein zweites Telegramm der Botschaft an die Behörden, das durch die Vermittelung des englischen Konsuls in Marseille kam, führte dazu, daß der Bischof gegen Bürgschaft aus der Haft entlassen wurde. Das alles sah sehr vielversprechend aus, allein gegen fünf Uhr nachmittags tauchte ein sehr freundlicher Herr auf, der ein rotes Bändchen im Knopfloch trug. Dieser erklärte, er habe den Auftrag, den Verhafteten nach Paris zu bringen. Die Behörden hatten sich wegen des Falles mit der Bank von England in Verbindung gesetzt, diese mit der Polizei von Scotland Yard, und Scotland Yard hatte sich an die Polizei von Paris gewandt, und nun war die Pariser Polizei zur Stelle, freundlich, höflich würdevoll, aber unerbittlich.

Tom suchte den Herrn auf und setzte ihm die Verhältnisse auseinander.

»Seine Herrlichkeit wäre natürlich sehr gern bereit, Sie nach Paris zu begleiten,« sprach er, »aber – –«

»Eine Frage der Bereitwilligkeit ist es gar nicht,« entgegnete der Beamte.

»Nun, das mag dahingestellt bleiben,« fuhr Tom fort. »Wenn es eine Frage der Bereitwilligkeit wäre, würde er sehr erfreut sein, Sie zu begleiten. Aber ich habe hier ein Telegramm der britischen Botschaft, bitte, lesen Sie es, woraus hervorgeht, daß ein Herr, der den Bischof kennt, heute abend von Paris abreist, um die Persönlichkeit festzustellen.«

»Meiner vorgesetzten Behörde ist, soviel ich weiß, eine derartige Mitteilung nicht zugegangen,« sagte der Beamte. »Ich muß morgen früh mit dem ersten Zuge nach Paris zurückkehren, und der Gefangene muß mich begleiten.«

Da langsam gesprochen wurde, verstand der Bischof so viel, daß ihm klar wurde, was dieser großartige Herr sagte.

»Ich muß nach Paris zurückkehren, Mr. Finch,« sprach er, »und vielleicht ist es, je früher ich dorthin komme, um so besser. Möglicherweise könnte ein an den von der Botschaft abgeschickten Herrn en route gerichtetes Telegramm diesen erreichen und seine Weiterreise verhindern, so daß wir ihn an dem Orte träfen, wo er das Telegramm erhält.«

Tom verdolmetschte das, und der Beamte willigte mit einer Miene ein, als ob er es für eine feine Ausflucht hielte, die das Aufgeben des Widerstandes verdecken sollte.

»Ich habe die Ehre,« sagte Tom, »mit einem anständigen Herrn zu sprechen, und brauche wohl kaum darum zu bitten, daß Sie Seine Lordschaft rücksichtsvoll behandeln.«

»Seine Herrlichkeit wird mit aller gebührenden Rücksicht behandelt werden,« erwiderte der Franzose. »Er wird unter der Obhut eines Beamten in Zivil zweiter Klasse fahren.«

»Wird Seiner Herrlichkeit gar nicht einfallen,« antworte Tom, »Seine Herrlichkeit wird erster Klasse fahren.«

»Nur auf seine eigenen Kosten,« versetzte der Beamte.

»Natürlich auf seine eigenen Kosten,« sagte Tom, »und wenn Seine Herrlichkeit und Sie mir einstweilen die Ehre erweisen wollen, mit mir zu speisen, können Sie vielleicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.«

Mit Rücksicht auf die zugestandene Anwesenheit des Beamten in Zivil wurde die Einladung angenommen. Der Bischof von Stockestithe war nie würdevoller gewesen, als bei diesem Diner, und Tom niemals ehrfurchtsvoller, denn er wollte einen Eindruck auf den Beamten machen. Wenn er seinen ehemaligen Feind anredete, nannte er ihn stets »Mylord«, und er war so unterwürfig und achtungsvoll, daß der Bischof eine ganz gute Meinung von ihm bekam und bedauerte, daß ein junger Mann, der sich so gut zu benehmen wußte, sich jemals zur Widersetzlichkeit gegen berechtigtes Ansehen hatte hinreißen lassen. Und das stattliche Benehmen des Bischofs und Toms Unterwürfigkeit und seine Lebhaftigkeit in der Unterhaltung hatten in der That die Wirkung, daß in dem Beamten doch ein Schimmer von Zweifel am verbrecherischen Charakter seines Gefangenen aufzusteigen begann.

»Nun lassen Sie mal hören, mein Herr,« begann Tom, nachdem eine Flasche ausgezeichneten Burgunders zweimal die Runde gemacht hatte, »werden wir denn auch einen gehörigen Spaß für unser Geld haben? Ist die Fälschung, wobei Seine Herrlichkeit beteiligt sein soll, denn auch der Rede wert? Wir wollen hoffen, daß sie wenigstens ansehnlich ist.«

»Wenn es Ihnen Befriedigung gewährt, das zu wissen,« entgegnete der Beamte, »so will ich Ihnen mitteilen, daß sie ganz riesig ist. Die Bank von England hat bereits gefälschte Noten im Betrage von einer halben Million angehalten.«

»Einer halben Million!« rief Tom, dem der Atem stehen blieb, denn er dachte natürlich, es handle sich um eine halbe Million Pfund Sterling.

»Eine halbe Million,« wiederholte der Beamte, indem er seinen Wein schlürfte. »Da die Noten auf das echte Papier der Bank gedruckt sind, ist es unmöglich, die Fälschung zu erkennen, außer an den Nummern.«

»Sie haben wenigstens die Genugthuung, Mylord,« wandte sich Tom an den Bischof, »zu wissen, daß dieses außerordentliche Abenteuer Ihnen einen Blick in die Geheimnisse gewährt, womit ein ungeheuerliches Verbrechen umgeben ist. Niemals kann etwas Aehnliches vorkommen.«

Tom sprach dies vollkommen unbefangen und ohne tiefere Absichten, aber hätte er sich auch die ganze Nacht besonnen, er würde nichts gefunden haben, was dem Bischof so angenehm gewesen wäre. Es entsprach in der That dem ersten Gedanken, der diesem gekommen war, wenn es auch nicht zur Aufklärung der häßlichen Seite seines Mißgeschicks diente. Ein Blick in den inneren Zusammenhang eines ungeheuren Verbrechens zu thun, das war immerhin etwas, und er begann darüber nachzudenken, ja, er überraschte sich dabei, wie er einen Teil der Geschichte einer erstaunten Tischgesellschaft bei einem zukünftigen Diner erzählte: »Ich habe zufällig Gelegenheit gehabt, einen Blick in den inneren Zusammenhang eines ungeheuren Verbrechens zu thun. In einem Hotel des Festlandes waren mir meine Kleider von einem Banknotenfälscher gestohlen worden, der wahrscheinlich in dieser Verkleidung der Aufmerksamkeit der Polizei für die notwendige Zeit zu entgehen hoffte,« und so weiter. Es gab also eine Art, wie man die Geschichte wirksam erzählen konnte, ohne einen der wesentlichen Umstände zu unterdrücken. Aber dennoch –. Nun, schließlich war es vielleicht doch besser, nichts davon zu sagen.

Aber es lag doch etwas Tröstliches in dem Gedanken, und das beschäftigte ihn den ganzen Abend, selbst als der Beamte, der jetzt ganz höflich geworden war, um Entschuldigung bat, daß er ihn in seinem Schlafzimmer einschließen müsse. Der Gedanke besänftigte ihn auch am folgenden Tage und auf der ganzen Reise nordwärts. Und als er etwa halbwegs zwischen Marseille und Paris den von der Botschaft abgesandten Herrn traf und der Beamte ihn mit vielen Entschuldigungen aus der Haft entließ, beschäftigte ihn der Gedanke immer noch. Ein Blick in das innere Getriebe eines ungeheuren Verbrechens! Von diesem Gesichtspunkt aus zog er vor, die Angelegenheit zu betrachten. Das war jedenfalls angenehmer, als an die Mücken und Flöhe und an das schmutzige Handtuch und den groben Schweizer zu denken, der ihn an der Schulter gefaßt und durch die Straßen von Monte Carlo geschoben hatte, wie einen ungezogenen Jungen, der beim Aepfelstehlen ertappt worden ist.

»Bei einer Persönlichkeit von Monseigneurs Stellung und Ansehen,« sprach der Beamte, »ist es leicht zu sehen, was für einen unbegreiflichen Mißgriff diese Provinzialbeamten gemacht haben. Meinerseits werden Monseigneur eine Entschuldigung wohl kaum für notwendig halten.«

Doktor Durgan schüttelte ihm mit königlicher Herablassung die Hand, und sie fuhren alle zusammen nach Paris. Dort erwartete sie der vertraute Diener des Bischofs, den er von Monte Carlo aus telegraphisch bestellt hatte, und im Hotel war er endlich in der Lage, wieder seine gewöhnliche äußere Erscheinung anzunehmen.

»Wenn ich auch die Meinungsverschiedenheit, die uns trennt, nicht vergessen darf, Mr. Finch,« sprach er, »so kann ich mich dennoch nicht enthalten, Ihnen für die mir geleisteten Dienste meinen aufrichtigsten Dank zu sagen.«

»Gar keine Ursache,« antwortete Tom. Jetzt, wo diese Dienste geleistet waren, war der Bischof also wieder auf seinen alten Standpunkt zurückgekommen. »Ich habe gethan, was ich konnte, aber es war nicht viel, und ich würde das für jeden gethan haben.«

In diesen Worten lag etwas wie eine Kriegserklärung, und der Bischof nahm sie so auf, wie sie Tom gemeint hatte. Seine Herrlichkeit reiste nach London ab und ließ sein Abenteuer hinter sich. Er betrachtete die Geschichte als beendet, während die merkwürdigste Wendung noch vor ihm lag.


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