Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Antoni-Wirtin

Tief im Böhmerwald, einen Büchsenschuss weit von der bayrischen Grenze, liegt das Dorf Steingraben. Die Waldberge umdunkeln es mit ihrer herben, grünen Wildnis und es ist so weit ab von der Welt, dass man nur an ganz klaren Wintertagen manchmal den Schrei einer Fabrik aus der Bezirksstadt vernimmt.

Die Holzhäuser mit den Heustadeln und den Inwohnerhütten stehen als Einschichten auf den Hängen einer weiten Waldblöße. Steinige Wege und übergraste Gehsteige führen von Haus zu Haus, in die Felder und Wiesen und zum Wald hinauf. In der Senke zwischen den Lehnen sind die Pointen und

Wiesen, die ein schrittbreiter Bach, vielfach gekrümmt und Tümpel bildend, durchfließt. Erlen und Weiden umschatten die sumpfigen Ufer. Nur wenige Häuser haben Vorgarten mit Blumen. Kaum, dass zuweilen ein Wurzgarten eingezäunt ist. Auch die Obstbäume sind selten. Sie wollen nicht recht blühen in einem Frühjahr, das hier oft kälter ist als anderswo der Winter. Vogelkirschen, Holzäpfel und Holzbirnen – das ist das Obst der Steingrabner.

Dafür aber stehen im Walde oben die Heidelbeerstauden so dicht, dass sie einen beim Gehen müde machen, und die Preiselbeeren leuchten um die Gneisblöcke wie tiefrote Korallen. Und gar erst, wenn das Heidekraut blüht, dann ist die Erde ganz festlich. »Die Beeren, ja, die sind schon recht«, sagen die Leute, »aber Heiderich, der frisst uns halt die Wiesen auf.«

Aber der Heiderich ist's nicht allein. Es schlagen auch der Dornstrauch, die Schlehe und der Mehldorn ihre tausend hungrigen Wurzeln in die Ackerränder, und die Pflugschar steckt jäh fest beim Ackern und die Zugtiere stehen geprellt im Joch.

Und erst die Steine!

Aber die Steingrabner sind geduldig und ergeben in ihr hartes Tagwerk. Wenn sie auch oft arg fluchen bei der Arbeit, so stehen sie doch gut mit dem Herrgott und errichten ihm Wegkreuze und der Muttergottes Bildstöcke. So sehen sie den Heiland schmachtend am Kreuz, wenn sie ihr armseliges Korn schneiden, und wenn sie bei der mageren Milchsuppe sitzen, blickt er auf sie vom Marterholz im Herrgottswinkel. Die heilige Mutter Anna, der heilige Josef, der Florian, der Leonhard und der Aegidi spenden ihren Segen mit steifer Gebärde von den grellen, bunten Wandbildern der Stuben.

Dem Andenken der Toten aber lassen sie Bretter schnitzen und bemalen und stellen sie als Zeichen an die Wege, die mahnen, dass die letzte Ruhestatt der Bauern nur ein hartes Brett ist, so wie alles in ihrem Leben hart ist. So haben sie stets Gott, die heiligen und die armen Seelen um sich und brauchen kein eigenes Gotteshaus, sie sind in Neubrunn eingepfarrt.

Die Steingrabner sind Kleinbauern und Häuselleute – »Fretter«, wie die begüterten Neubrunner sagen. Es hat keiner mehr als drei Kühe und keiner erbaut sich mehr als die Nahrung auf seinem steinigen Stück Feld. Die Männer und Burschen gehen zur Holzarbeit ins Herrschaftliche und die Weiber und Kinder klauben Beeren und suchen Schwämme, damit auch sie ein paar Kreuzer Geld ins Haus bringen.

Das war bei allen so und bei »Antoni« war es nicht anders. »Beim Antoni« heißt das letzte Haus von Steingraben, das beim Wald oben steht. Der Antoni war ein Fünfziger. Seine klobige Gestalt fing schon an sich zu beugen und die Knie waren schwach geworden von den langen Jahren schwerer Waldarbeit. Um fünf Uhr früh ging er fort und kam erst nach sieben abends heim.

Er nahm sich meistens nur Brot und Käse mit oder ein paar Stück Ofenknödel und aß abends dann hungrig und viel, wie es alle Holzhauer tun. Nach dem Essen ging er bald schlafen.

Die »Antonin«, die Marie, besorgte über Tags die Stall- und Feldarbeit oder ging Beeren klauben hinauf in die Waldschläge. Wenn es gegen Abend ging, stand sie beim Fenster und wenn sie den Mann über die Höh herunterkommen sah, stellte sie das Essen auf den Tisch. »Bist schon da?« sagte sie, wenn er in die Stube trat, und das war alle Tage so und oft auch das einzige Wort, das gesprochen wurde.

Wenn sie das Geschirr gewaschen hatte, war der Antoni schon fest und tief eingeschlafen. Dann löschte sie die Lampe aus und legte sich neben ihn. Sein Körper war warm und roch nach Harz und Waldfeuer. Da schmiegte sie sich manchmal an ihn. Aber er schlief.

Sie war noch jung, kaum dreißig Jahre und der Mann hatte ihr Blut in den zehn Jahren Ehe nicht bändigen können, weil er immer so müde heimkam und auch sonst zu kalt war.

Sie tat still ihr Handwerk, das sie nie ermüdete, und war freundlich zu ihrem Mann wie zu allen Leuten. Aber zufrieden war sie in ihrer Ehe nicht. Und da sie kein Kind hatte, blieb ihr viel Zeit zum Nachdenken, und eine ziellose Kraft in ihr wurde immer unbändiger.

Einmal im Spätsommer kam der Antoni heim und sagte, während er den Sterz löffelte: »Du, Marie, der Waldbachler hat mich vorhin gefragt, ob wir nicht auch einen Arbeiter vom Straßenbau in Kost und Quartier nehmen möchten.« Es wurde damals die Straße von Neubrunn nach Eisenrain gebaut.

»Jemand ins Haus nehmen?« überlegte die Antonin. »Wie du halt meinst.«

»Sie zahlen nicht schlecht, sagt der Waldbachler. Sie sollen ein schönes Geld verdienen, diese Straßenarbeiter.«

»So nehmen wir halt auch einen«, gab sie gleichmütig zurück.

»Wenn es dir also recht ist, so geh' ich gleich hinüber zum Waldbachler und sag's ihm.« Der Antoni stand rasch auf und griff nach der Mütze – so rasch, als hätte er darauf gewartet.

»Ja, ist er denn schon da?« fragte sie betroffen. Sie war doch ein wenig bestürzt, dass es so rasch kam.

»Freilich. Er wartet drüben, bis ich dich gefragt hab', ob's dir recht ist. Er arbeitet oben im Steinbruch und da hätte er von uns auch nicht weit zu gehen«, klärte der Antoni sie eifrig auf.

Die Antonin sagte noch einmal: »Mir ist's recht«, und der Antoni ging den Steinbrecher holen.

Als die beiden Männer kamen, war es schon dämmerig. Im Zwielicht der

Stube sah die Antonin, wie sich ihr eine Hand entgegenstreckte. »Guten Abend. Ich bin der Quartiergast.«

Sie gab dem Fremden die Hand und sagte: »Grüß Gott – setzt euch nur hin zum Tisch. Ich bring gleich was zu essen.«

Sie machte Licht, und der neue sagte, zu ihr aufblickend: »Damit wir gleich richtig reden können miteinander, ohne Larifari – also, ich bin ein Egerländer und heiße Kunz Hans, und wenn's Ihnen recht ist, Frau, so machen wir gleich alles aus wegen der Bezahlung.«

»Das hat ja noch Zeit«, sagte die Antonin. Aber der Bursch schien an Ordnung gewöhnt zu sein. »Nein, nein, solche Sachen werden am besten gleich abgemacht. Braucht es dann hintennach keinen Streit und Unfrieden. Was verlangen Sie also für die Woche?«

Die Antonin hatte wohl schon darüber nachgedacht, wie viel sie fordern sollte, aber wie sie jetzt der Fremde fragend anschaute, wurde sie verlegen und sagte ausweichend: »Ich muss erst fragen, wie viel man da verlangen kann. Ich hab' ja noch nie wen im Quartier gehabt.«

»So sagen Sie mir's halt morgen«, gab sich der Fremde endlich zufrieden. Der Steinbrecher fühlte, wie ihn beide heimlich betrachteten. Als sie mit dem Abendbrot fertig waren, fing der Antoni an zu gähnen und sagte aufstehend: »Sie wird dir dann deine Liegestatt zeigen. Ich leg' mich nieder. Ich muss früh auf. Gute Nacht.« Der Antoni ging in die Kammer, und auch der Steinbrecher erhob sich. Die Antonin zündete eine Lampe an und leuchtete voran. Sie stiegen die Treppe hinauf zur Bodenkammer. Während sie die Zudecke aufschlug und die Polster zurechtlegte, erzählte ihr der Mann, dass er noch ledig sei und deshalb so weit von daheim fort könne und dass er einige Monate hier bleiben werde. Als sie dann ging und in der Tür »Gute Nacht« sagte, war es ihr, als hätte er leise gepfiffen. Sie drehte sich um. Aber der Steinbrecher stand mit dem Rücken zu ihr. In dieser Nacht träumte sie mehr denn je, und mitten in den wirren Traumbildern stand der Fremde.

Früh war der Antoni schon fort, als der Steinbrecher die Bodenstiege herunterkam. Die Antonin musste wieder an die Nacht denken, und das Blut stieg ihr bis zu den Schläfen. Der Steinbrecher trank stumm seinen Kaffee und sah sie nicht an. Da wurde sie ruhig. Aber etwas in ihr bäumte sich gegen etwas Neues, Unbekanntes auf, das sie wie eine Ahnung beschlich und auf ihr lastete wie ein Alp.

Als der Steinbrecher ging, sagte er nur: »Zu Mittag komme ich zum Essen herunter«, und war zur Tür draußen, ehe sie noch ja oder nein sagen konnte. Zu Mittag war ihre Unruhe von früh wie verflogen. Als der Steinbrecher hereinkam, stellte sie das Essen hin und wich auch seinen Augen nicht aus, die forschend auf ihr ruhten. Und als sie sich wieder klar und sicher fühlte, atmete sie auf, wie erlöst von einer schweren Last. Sie ging Gras sicheln und grub Erdäpfel aus für den Abend und sang dabei, was sie seit Jahren nicht getan hatte.

Als der Antoni abends heimkam, packte der Steinbrecher gerade eine Ziehharmonika aus.

»Da schau her«, sagte der Antoni, »eine Musik! Da wird es jetzt lustig bei uns.« Und während er seine Nachtsuppe aß, spielte der Steinbrecher ein Stück nach dem anderen und so schön, dass sich die Antonin beim Ofen in den Hüften wiegte. »Der kann's«, sagte der Antoni anerkennend, »so habe ich noch keinen spielen gehört auf der Harmonika.« Er blieb heute auch länger auf als sonst und meinte dann im Bett zu seinem Weibe: »Der, der ist recht. Kommt wenigstens ein bissel Leben ins Haus. Ich mein', er ist auch sonst nicht zuwider.«

»Das kannst am ersten Tag nicht sagen. Man wird ja sehen«, gab sie unsicher zurück.

Der Antoni schnarchte schon. Sie aber betete um eine ruhige Nacht.

Die Antoni-Leut waren bald ganz an den Quartierburschen gewöhnt. Gefällig und in allem recht schicksam, half er ihnen bei der Arbeit, wenn er nicht im Steinbruch war, und wusste eine Menge Späße, über die der Antoni lachen konnte, dass ihm die Tränen kamen. Wenn er abends auf der Harmonika spielte und dazu sang, waren es bald nimmer die Antonileut allein, die ihm zuhörten; oft kam das halbe Dorf herauf. »Beim Antoni ist allweil Kirchweih«, sagten die Steingrabner, »der hat den Musikanten im Haus.« Sonntagnachmittag räumte die Antonin die Stube aus, und die Burschen und Mädeln tanzten, dass die Fußbodenbretter krachten. Das Lustigsein und Tanzen ohne Bier aber ist wie ein Sterz ohne Schmalz, und da Steingraben kein Wirtshaus hatte, so waren sich die Männer auf einmal einig, der Antoni müsse um die Schankbewilligung einreichen. Sie würden ihm das Bier schon nicht sauer werden lassen.

So kam Steingraben zu einem Wirtshaus und die Steingrabner brauchten ihr Geld nicht mehr nach Neubrunn tragen, wollten sie einmal lustig sein oder eine Sorge hinunterschwemmen. Dadurch wurde es auch mit den Antonileuten anders. Er ging wohl noch in die Holzarbeit, aber wenn er abends heimkam, war er sein bester Gast. Selten kam er vor Mitternacht ins Bett, und wenn auch keine Zecher mehr da waren, so blieb er allein beim Bier sitzen. Die Antonin aber war ganz ausgewechselt. Wie sie früher still und wortkarg ihrer Arbeit nachging, so war sie jetzt als Wirtin voll Heiterkeit und Frohsinn, fand für jeden Gast ein lustiges Wort und da sie aufblühte wie eine Pfingstrose, so war die Wirtsstube selten leer. Ihretwegen kamen nicht nur die Steingrabner, auch aus anderen Dörfern fanden sich die Männerleut ein.

Bald hieß es sonntags in der Umgebung: »Gehn'n wir nach Steingraben zu der Antoni-Wirtin.« Von ihm sprach niemand. Er war auch ein Niemand, denn alles taten ihre Hände und ging durch ihre Hände. Die Bäuerinnen und Häuslerinnen in den Dörfern schimpften zwar, dass sich die Männer so gaukeln ließen von »der«, aber nachsagen konnte ihr doch niemand etwas. Wohl setzten ihr die Gäste oft zu und mancher trank mehr ihr zuliebe als wegen des Durstes. Aber was ging das sie an? Die Hauptsache war, dass das Geschäft blühte und das Geld zufloss, wie das Röhrlwasser in den Trog. Sie kaufte sich Kleider und Schürzen, ließ sich Stöcklschuhe machen und putzte sich auf, und es war rundum keine, die es mit ihr hätte aufnehmen können. Sie war ein schönes Weib – das musste ihr der Neid lassen.

Aber je schöner sie wurde in der Freude an Besitz und Wohlstand und in dem sicheren Gefühl ihrer Wirkung auf die Männer, desto einsamer und ärmer kam sie sich vor, wenn sie allein war. Sie wusste keinen Grund dafür und fühlte doch, dass ihr etwas fehlte und wie es in ihr drängte nach etwas Unbekanntem. Sie fürchtete sich vor dem Alleinsein, weil da immer diese Leere in ihr war, und sie hatte es am liebsten, wenn die Wirtsstube voll johlender Bauern war.

Ihr Schlaf war aber nicht mehr traumerfüllt wie früher, denn jetzt, wo sie täglich Männer um sich hatte, kam keiner mehr im Traum zu ihr, und abends war sie meist so müde, dass sie wie erschlagen ins Bett fiel. Sie brauchte nimmer zu beten: »Und führe uns nicht in Versuchung.« Sie war stolz geworden und es war auch gar keiner da, der ihr Blut hätte entfachen können. Diese Bauern mit den tabakverschmierten Nasen und Bärten und den bierbetrenzten Westen ließen sie kalt.

Der Steinbrecher spielte jeden Abend auf der Ziehharmonika und an Sonntagen oft von Mittag bis Montagmorgen, wo sich die letzten Zecher torkelnd und gröhlend auf den Heimweg machten. Er verdiente viel Geld dabei und verstand es bald, jedem mit dem »Leibstückl« den letzten Heller aus der Tasche zu locken. Sie hatten ihn alle gern, den Egerländer. Er wusste immer neue Lieder und war unerschöpflich in allerhand Späßen und Schwänken. Hatte einer kein Geld, so spielte er ihm auch umsonst auf. Er wusste: nächstens bekam er es dafür doppelt.

Anfangs waren ihm die Dorfburschen nicht grad gut gesinnt, weil die Mädchen anfingen, ihm nachzulaufen. Als sie aber sahen, dass sich der Steinbrecher nicht um sie kümmerte und sie ihn niemals mit einer allein sahen, so hatten sie ihn bald umso lieber. Einige sagten wohl, er hielte es mit der Wirtin. Aber auch das vergaß man bald, denn der Egerländer zahlte wie jeder andere seine Zeche und war zur Wirtin nicht anders als zu ihnen allen.

Die Antonin wollte ihm zwar nie etwas rechnen für Essen und Trinken und sagte oft: »Dafür spielst Du ja und hältst die Gäste.« Aber der Steinbrecher ließ sich nichts schenken und erklärte, nicht mehr zu spielen, wenn sie kein Geld nehmen würde. Er war nie betrunken und wenn alle schon unter den Tischen lagen oder, die Fäuste in den Bierlacken, am Tisch einschliefen, saß er in seinem Winkel und spielte sich selbst etwas. Dann sagte die Antoniwirtin: »Hans, jetzt sperren wir wohl zu. Komm, hilf mir die Lackeln auf die Beine richten.« Und sie halfen einem nach dem anderen vor die Haustür. Zuletzt kam der Antoni dran, der oft nimmer zum Erwecken war und ins Bett getragen werden musste.

Sie sagten sich gute Nacht. Der Steinbrecher stieg die Treppe hinauf in seine Bodenkammer und die Antonin fiel müde ins Bett.

So gingen Wochen dahin. Es wurde Spätherbst und die Steingrabner waren oben in den Bergwäldern und zogen Holz zu Tale auf ihren Schlitten. Jetzt war die Hauptarbeit zu tun auf den Schlägen und an den Werktagen wollte jeder verdienen und überdies einen Bierkreuzer auf die Seite legen. So war die Wirtsstube beim »Antoni« die Woche über leer. Nur der Egerländer hatte jetzt müßige Zeit, da die Straßenarbeiten im Winter oft tagelang eingestellt werden mussten. Ihm war's so grad recht. Er hatte seit dem Sommer genug geschuftet und ein paar Wochen ausspannen, konnte nicht schaden. Das Harmonikaspielen hatte genug getragen. Er konnte ruhig von seinem Ersparten leben, wenn auch die Arbeit stillstand. Da es die Wirtin nicht litt, dass der Antoni zu Hause blieb, so waren die zwei oft den ganzen Tag allein in der Stube. Nicht gewohnt, viel miteinander zu sprechen, saßen sie oft stundenlang schweigend. Sie strickte und er las in alten Kalendern, die er sich von den Nachbarn ausgeliehen hatte. Aber es war etwas in den Augen der beiden, wie ein verstecktes Lauern, und sie ertappten sich oft, wie sie sich verstohlen beobachteten. Dann taten sie, als hätten sie nichts bemerkt, räusperten sich verlegen, oder ging eines hinaus. Ober die Gred strich der kalte Winterwind. Der tat wohl, nach der Kachelwärme der Stube und solchen heimlichen Blicken.

Die Antonin fiel wieder zurück in ihr altes Wesen. Sie saß oft ganz in Gedanken versunken da, bis sie eine Bewegung oder ein Wort des Steinbrechers aufschreckte. Ihr Schlaf wurde wieder unruhig und ihre Träume waren quälend und verhetzt wie früher. Nach solchen Nächten schlich sie am Steinbrecher vorbei wie eine Katze, die sprungbereit eine Gefahr wittert. Aber der schien das alles nicht zu sehen an ihr, obwohl die Schatten um die Lider und der feuchte Glanz in den Augen ihre Kämpfe verrieten.

Einmal, es war schon gegen Weihnachten, als wieder dieses lauernde Schweigen zwischen ihnen war, da fragte plötzlich der Steinbrecher in die Stille hinein: »Warum habt ihr eigentlich keine Kinder?«

Das traf sie wie ein Steinwurf, so unerwartet, und sie saß wie erstarrt vor dem Burschen. Ihre Augen wurden weit und zornig und die Hände krampften sich zu Fäusten, dass die Fingergelenke knackten. Ihr Atem wurde keuchend, sie zitterte und war weiß wie die Wand. So saß sie minutenlang. Auf einmal sprang sie auf und lachte voll Spott und Hohn: »Soll ich vielleicht vom Antoni Kinder haben?«

Und nach einer Weile, als der Steinbrecher verlegen mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte und sich nicht aufzuschauen getraute: »Glaubst d', ich könnt' nicht ein paar so Bälg' haben? Von wem ich grad wollt, könnt ich s' haben! Aussuchen könnt ich mir's – Aber ich will nicht!« Jetzt fuhr auch der Steinbrecher hoch. Wie ihn die da anging, anbellte, aufreizte! Durfte er nicht fragen? Wie sie das Gesicht verzerrt hatte! Was? Sie wollte nicht? Aber ihn wollte sie, ihn suchten ihre Augen und ihm war sie bereit! Oh, wie gut er das wusste und fühlte, wenn es auch durch lange Wochen nie zum Worte kam.

Aus all dem Undeutlichen, Tastenden, verstohlen Werbenden, mit dem ihn das Weib immer umgeben hatte, löste es sich nun zwingend in ihm: »Jetzt! –« Die Augen fest in den ihren, ging er auf sie zu: »Du sollst mich wollen!«

Aber sie sprang ihn zornig an und zischte wild: »Du sagst du zu mir – du? Bin ich denn dein Mensch – oder was? Ich nicht! – Ich nicht! – Noch lange nicht! – Merk dir das!«

Und als der Egerländer sie mit seinen Steinbrecherarmen an sich zwingen wollte, spuckte sie ihm ins Gesicht und biss ihm die Hand durch bis auf die Knochen. Wie ein schnellender Fisch entwand sie sich ihm. Dann kauerte sie im Ofenwinkel nieder und griff nach einem Buchenscheit: »Mich kriegst du nicht – mich nicht.«

Da ging der Steinbrecher langsam aus der Stube. Als sich aber die Tür hinter ihm schloss, entfiel das Scheit ihrer Hand, der Kopf sank in den Schoß und sie weinte.

Abends, als der Antoni heimkam, stand sie wie sonst beim Ofen, aber heute hatte sie überhaupt kein Wort für ihn.

»Bist aber wieder brummig heut«`, sagte der Antoni und holte sich ein Glas Bier. Es kamen zwei Bauern. Auch die versuchten vergeblich, die Antonin aus ihrer Düsternis zu reißen, so dass der Antoni abwinkte: »Lasst sie geh'n. Bei der steigt manchmal mitten im Winter ein Gewitter auf.«

Um zehn Uhr gingen die Gäste heim. Der Steinbrecher war ganz gegen die Gewohnheit noch nicht da. – Und kam zwei Tage nicht heim. In Neubrunn saß er unten beim Bruckwirt, hörten sie. Das ging dem Antoni nicht ein. »Ja, jetzt so was! Lumpt der auch einmal. Was muss denn nur in den gefahren sein?« Die Antonin wusste es wohl, aber sie schwieg. Als der Steinbrecher endlich am dritten Abend heimkam, begrüßte ihn der Antoni: »Na, du alter Tugendheld, hat dich auch einmal der Leichtsinn erwischt?«

»Das wird jetzt öfter so sein. Der Bruckwirt in Neubrunn hat kein schlechtes Bier, und seine Rosl ... Der Egerländer lachte heiser und schnalzte mit der Zunge.

Auf der Ofenplatte klirrte ein Deckel, und als die Antonin das Essen auf den Tisch stellte, fuhr sie ihren Mann an: »Da iss und dann geh' schlafen!«

»Meinst mich?« fragte der Antoni.

»Wen denn sonst?«

Als die beiden Männer gegessen hatten, ging aber der Steinbrecher schlafen und der Antoni blieb noch beim Bier sitzen.

Der Steinbrecher war jetzt ein rechter Liederlich. Die Woche über war er selten zu Hause, und an den Sonntagen war er bereits abends so trunken, dass er nimmer spielen konnte. »Was der auf einmal hat?« wunderten sich die Leute. Es kam plötzlich keine rechte Stimmung und Lustigkeit mehr auf im Antoni-Wirtshaus und die Antonin merkte es am Geld, dass immer weniger Gäste kamen. Sie zwang sich zwar, noch freundlicher zu den Gästen zu sein als früher, aber die gingen ihr jetzt nimmer auf den Leim und hatten das Spiel durchschaut, das sie mit ihnen trieb. Der Aumüller, der früher Haus und Hof für sie vertrunken hätte, sagte ihr's sogar recht deutlich: »Du möchtest einen ausziehen bis auf die Hosen. Aber dann willst weiter nichts von einem wissen.«

Dass sie jetzt viele mit ihrem Heimlichtun und Locken abstieß, an das dachte sie nicht. Sie schob alle Schuld an dem schlechten Geschäft dem Steinbrecher zu, ärgerte sich über ihn so, dass sie ihm am liebsten die Tür gewiesen hätte. Aber sie brachte doch den Mut nicht auf und ... ertappte sich doch immer wieder dabei, wie sie sich freute, dass er wegen ihr das Ersparte vertat und das mit der Bruckwirtsrosl nur log, um sie zu ärgern. Wie er die Rosl im Hausflur zurückstieß, als sie ihm um den Hals fallen wollte. Ja, die Rosl wollte schon, aber er nicht. Das reizte die Antonin und eitel, wie jedes Weib, plagte sie die Neugierde, was er weiterhin tun würde, um ihr nahezukommen.

Wenn er sie damals nicht so gefragt hätte und so sicher an sie herangegangen wäre! Wer weiß? Aber was ging das ihn an, dass sie keine Kinder hatte? Weihnacht war vorüber, Dreikönig und Lichtmess, als der Steinbrecher wieder einmal mit einem Rausch heimkam, dass er kaum stehen konnte. Die Antonileute schliefen schon. Er tappte zur Bodenstiege. Aber seine Volltrunkenheit nahm ihm alle Kraft. Immer wieder versuchte er, die Stufen hinaufzukommen, aber es ging nicht einmal auf allen Vieren. Da spürte er plötzlich zwei Arme um sich und jemand half ihm auf den Boden hinauf. Er hörte noch etwas wie: »Besoffener Lackl, schäm' dich«, aber er wusste in seinem Rausch nicht, wer das gesagt hatte, und schlief lallend ein. Anderntags kam er erst gegen Mittag herunter. Er wusch sich draußen beim Röhrbrunnen und wurde soweit klar, dass ihm aufdämmerte, es müsse ihm in der Nacht wer ins Bett geholfen haben. Die Antonin stellte ihm, ohne ein Wort zu sagen, das Essen hin.

»Wer hat mir ins Bett geholfen, heut' Nacht?«

»Hm! So? Bin ich denn gar so besoffen gewesen?«

»Wenn einer nicht mehr stehen kann, dann ist's wohl genug.«

»Hätt mir doch der Antoni auf den Boden helfen können.«

»Der hat selber seinen Rausch gehabt. Bei uns geht ja jetzt der Rausch nimmer aus. Entweder hat er einen oder du.«

Der Steinbrecher sah eine Weile starr vor sich hin. Auf einmal sagte er mit entschlossenem Gesicht: »Bei mir ist das der letzte Rausch gewesen. Ist's Euch recht?«

»Mir? – Wegen meiner sauf noch mehr! Was geht mich das an?« »Ich mein 'nur.«

Als der Steinbrecher dann fortging, lächelte die Antonin aber doch befriedigt: »So, Bürscherl, so ist's recht, du frisst mir schon noch aus der Hand.«

Und wirklich war es auf einmal wie abgeschnitten mit der Liederlichkeit beim Egerländer. Er spielte wieder bis tief in die Nacht hinein den Gästen vor, trieb seine Faxen – aber trank nicht mehr.

Das Antoni-Wirtshaus lebte wieder langsam auf, und an Sonntagen ging es bald wieder drunter und drüber, wie früher. Aber die Antonin war jetzt zurückhaltend, und wenn ihr einer über die Schürze strich, oder sie in die runden Arme kniff, konnte sie springgiftig werden. Je weniger sie aber duldete, desto mehr kochten die Männer wieder auf und opferten ihrem Widerstand teure Räusche und ganze Nächte, und die Weiber hatten wieder was zu nörgeln an dem verfluchten Antoni-Wirtshaus.

Nach der Schneeschmelze fingen die Straßenarbeiten an und der Egerländer ging wieder in den Steinbruch. Jetzt hatte der Antoni Rast und saß den ganzen lieben Tag in der Stube, wie im Winter der Steinbrecher. Sein Krügel war nie leer. Er war ständig im Dusel. Die Antonin wehrte ihm auch nimmer. Sie hoffte im Stillen, er würde sich zu Tode saufen, so sehr ekelte ihr vor diesem Tier. Wenn er mit glasigen, triefenden Augen stumpf da saß, Unsinn schwätzte oder mit den Gästen stritt, die ihn hänselten und zum Narren hielten, hätte ihm die Antonin am liebsten den Schädel eingeschlagen, um von ihm erlöst zu sein. Sie hatte ihr Bett längst von seinem weggestellt und war ihm als Eheweib fremder als irgendwie. Der Steinbrecher sah und wusste das alles. Manchmal dachte er: »Die muss Fischblut haben.« Wenn er aber neben ihr stand, spürte er ihre Wärme verlangend und werbend und wurde davon verwirrt und begehrend. Doch seit damals wagte er es nimmer, sie anzugehen, obzwar es ihm jetzt vorkam, als wartete sie darauf. Manchmal, wenn er schon im Bett lag und der Antoni unten schnarchte, kam sie auf den Boden herauf und suchte etwas oder lockte die Katze hinunter. Dann verhielt er den Atem und horchte auf ihre Schritte.

Wenn sie miteinander sprachen, gab sie ihm wohl freundlich Antwort, aber es war eine unruhige Verlegenheit in ihrer Stimme, die der Egerländer witterte. Er spürte das werbende Weib. So umschlichen sie sich wie Tiere vor der Brunst draußen im Wald.

Der Antoni war nach Neubrunn auf den Markt gegangen. Als der Steinbrecher zu Mittag auf den Boden ging, um sich die Pfeife zu holen, machte die Antonin gerade sein Bett. Sie sprachen gleichgültige Dinge und vom Wetter. Auf einmal sagte sie: »Ja, wo nimmst du denn ein Weiberhaar her – schau her da!« Und sie zeigte auf ein langes Haar, das auf dem Kopfpolster lag.

»Wüsste nicht, wo das herkommen soll. Das wird wohl von Euch sein.« »Von mir? Wie käm' denn das daher?«

»Wird halt jetzt hineingefallen sein. Passt auf, es ist eines von Euch.«

Ei nahm das Haar und legte es zum Vergleich über ihren Scheitel. »Freilich ist's eines von Euch.« Er stand eng neben ihr. Sie drehte sich ihm zu, und als er ihren Atem spürte, war es aus mit seiner Besinnung. Er griff auf einmal zu und starrte, die Zähne verbissen, in ihre angstvollen Augen. Er hörte nicht mehr, wie sie bat: »Du – lass mich geh'n!« – –

Jetzt wusste er, dass sie kein Fischblut hatte. Längst hätte er im Steinbruch sein sollen.

Es war gut, dass kein Gast kam. Sie hätten es überhört da oben. Als es schon gegen Abend ging, stand sie auf und schlich die Bodenstiege hinunter. In der Stube stand sie lange, in Gedanken versunken. Noch rief keine Stimme der Reue in ihr. Sie sah ihre Schönheit im Spiegel wie nie zuvor.

Der Antoni kam beduselt heim und trank mit den Abendgästen noch bis Mitternacht. Torkelnd tastete er sich ins Bett. Über die Bodenstiege knackten die Knöchel seines Weibes und oben dann knarrte die Tür zur Dachkammer.

Es war schon hoher Sommer. Die Nächte waren schwül und betörend, so betörend, dass der Antonin kein Gebet half und kein Wille zur Einkehr. Wenn sie sich auch oft sagte: »Nimmer, nimmer darf es sein, diese Sünde!«, so zog es sie doch wieder hinauf zum Steinbrecher. Es half ihr kein Gebet. Das Weib in ihr war stärker als alle Scham und Reue über diesen unaufhörlichen Ehebruch.

Betend um Gottes Beistand, ertappte sie sich oft bei dem Gedanken: »Wenn er sich nur zu Tode saufen würde!« Dann schämte sie sich vor dem Herrgott bis zur Verzweiflung und kniete sich die Knie wund vor dem Kreuz im Tischeck. Eine Woche erwehrte sie sich so oft der Versuchung. Sie wich dem Steinbrecher aus, überhörte seine Worte und entwand sich ihm, wenn er sie an sich zwingen wollte. Aber dann erlag sie doch wieder, wenn ihr der Ekel über ihren Mann bis zum Übelwerden aufstieg.

Sie hätte eher auf die ewige Seligkeit als auf diese heimlichen Stunden verzichten können. Und gar erst als sie ihm sagte, dass sie ein Kind erwarte und er sie dafür so herzte, als wäre sie sein angetrautes Weib. Da war sie ihm mit Leib und Seele verschrieben.

Wenn sie früher vor ihrem Gebet oft erschrak, so rief sie jetzt den Herrgott täglich an: »Und mach' mir doch den Weg frei.« Aber der Herrgott hat taube Ohren für solche sündigen Bitten.

Es brach der Krieg aus. Die Männer mussten Pflug und Axt und Säge verlassen, sie nahmen kurzen Abschied. – Mit den Steingrabern ging auch der Egerländer zur Bahn.

Dem Antoni hatte er mit einem Scherzwort die Hand gedrückt. Von der Antonin war das Loskommen schwerer. Als er seine Siebensachen in den Holzkoffer packte, kam sie herauf zu ihm auf den Boden und warf sich ihm um den Hals, dass er den Atem verlor: »Vergiss mich nicht, Hans! Ich bet' alle Stund für dich – du – hörst – vergiss mich nicht!« Ihr Schmerz war zu groß, sie konnte nicht weinen. Sie musste sich auf den Bettrand setzen.

Der Steinbrecher fand vor dem Weibe keine Worte.

Als ihn die Einrückenden im Vorbeigehen herausriefen, nahm er sie zum letzten Mal in die Arme und sagte stockend: »Ich gehör' dir – kann kommen, was will – gelt, Marie? – und jetzt nimm dich zusammen!« Er riss sich los, eilte wie gehetzt aus dem Haus und verlangsamte seine Schritte erst, als er schon weit unten in den Wiesen bei den anderen war.

Der Antoni stand in der Haustür und schrie ihm noch ein paarmal: »B'hüt Gott!« nach.

Im Bett in der Bodenkammer aber weinte die Antonin, dass es sie stieß und marterte wie eine Fieberkranke.

Über den weltfernen Steingrabnern lagen nun auch die furchtbare Trostlosigkeit der harten Zeit und der Nöte des Krieges. Die Männer standen in Ländern, die sie früher kaum dem Namen nach kannten. Der Briefbote brachte jetzt auch nach Steingraben täglich Briefe und Karten. Sonst hatte er oft nur zwei- bis dreimal in der Woche etwas abzugeben gehabt. Die Weiber standen zur Botenstunde bang in den Haustüren und nahmen mit heimlichen Stoßgebeten die Post entgegen. Viele der Männer waren schon gefallen oder verwundet, und man musste immer gefasst sein, dass auch der eigene Sohn oder Gatte noch darankam.

Auch die Antonileut bekamen fleißig Nachricht vom Egerländer. Er stand zuerst in Serbien und schrieb lange Briefe, die der Antoni mit Stolz im Dorf herumzeigte. Er sprach vom Steinbrecher wie von einem Sohn: »Der Uns'rige hat geschrieben.. .« Er wollte so gleichsam auch seinen Anteil zeigen an der Herzensnot um die Soldaten. Ebenso vermeldete er auch jedem, dass sein Weib endlich einen Zuwachs erwarte. »Ja«, schmunzelte er, »so treiben alte Strünke auch manchmal aus.« Damit meinte er sich. Die Leute sagten anfangs: »Da hat der Kuckuck ein Ei gelegt«, aber dann vergaßen sie es. Sie hatten jetzt an genug anderes zu denken.

Zu Weihnachten kam die Antonin mit einem festen Buben nieder. Der Antoni blähte sich vor Stolz auf. Hätte er stattdessen nur ein wenig nachgerechnet, wie lange so ein Menschlein eigentlich zum Werden braucht.

In seiner Freude setzte er sich hin und schrieb dem Egerländer: »Lieber Hans! Indem ich auf einmal die Feder ergreife, um dir einige paar Zeilen zu schreiben, teile ich dir mit, dass mein Weib einen Buben bekommen hat, und sind beide gesund, was ich auch von dir hoffe. Übermorgen werden wir ihn taufen lassen und es möcht wieder einmal fidel sein, wenn du dabei sein könntest. Mit vielen Grüßen, auch von ihr, verbleibe ich dein Freund Anton Kohlross. »

Nach drei Wochen kam ein Brief.

»Liebe Freunde! Es hat mich sehr überrascht, dass ihr einen Buben bekommen habt, und ich wünsch ihm von ganzem Herzen Glück und Segen. Wir sind seit kurzer Zeit in den Karpaten. Wir leiden sehr unter der Kälte, aber halten durch für Gott und unser Recht. Seit einer Woche bin ich Korporal.

Jetzt hab ich zwei Sterndln am Kragen; aber oft schau ich in der Nacht hinauf zu den Sternen, die auch über euch stehen, und denk' an so viel Schönes. Lange kann es ja nimmer dauern, dann sind wir wieder beisammen. Es grüßt euch und den Buben tausendmal euer Hans Kunz, Korporal in der 773. Feldkompanie.«

Die Antonin hatte sich vom Kindbett bald erholt und der Antoni ging wieder in die Holzarbeit ins Herrschaftliche. Sie war mit dem Kind allein daheim. Allein und glücklich. Hatte sie den Buben an der Brust, konnte sie sich nicht sattsehen an ihm. Lag er in der Wiege, sang sie versonnen »hutschalo haialo«, bis er einschlief. Schlief er, saß sie strickend bei ihm und log sich mit tausend Gedanken und Wünschen in eine Zukunft hinein, wo sie zu dreien sein würden: sie, der Bub – und der Hans. Oft kniete sie nieder an der Wiege und sagte dem Buben leise ins Ohr, als könne er es schon verstehen: »Zum Vaterl geh'n wir, gelt, zum Vaterl, wenn er heimkommt.«

Aber nichts sollte sich erfüllen, wenn es auch schien, als sollte alles gut werden.

Eines Tages brachten sie den Antoni tot heim. Am Holzschlag hatte ihm ein fallender Baum den Schädel eingeschlagen. Die Antonin war wohl erschüttert und Entsetzen und Schuld legten sich wie Reifen um ihre Brust, als ihr jäh Gebete einfielen, mit denen sie Gott um seinen Tod gebeten hatte. Als aber der Bub gerade zu schreien anfing, wurde sie gefasst und ruhig. »Der Herrgott wird's halt so wollen haben«, sagte sie und die Männer, die den Antoni gebracht hatten, trösteten sie: »Heute trifft es so viele! Lieber ein schneller Tod, als wochenlang bettlägerig sein!« Als sie den Antoni dann begruben, weinte sie wohl, aber es war nur Mitleid, wie sie es auch für einen Fremden gefühlt hätte. Aber sie war schon wegen der Leute froh, dass sie weinen konnte. So sagten die Steingrabner auf dem Heimweg vom Begräbnis: »Es wird nichts daran sein an dem Gerede, dass das Kind vom Egerländer ist. Sie hat ja so geweint um den Antoni.« Die Weiber gingen tröstend neben ihr und lobten den Verstorbenen, wenn sich auch manche dachte: »Die kann froh sein, dass sie erlöst ist.«

Drei Tage nach dem Begräbnis schrieb sie dem Kunz Hans einen Brief:

»Lieber Hans! Ich muss dir heute etwas Trauriges mitteilen. Aber der liebe Gott hat es vielleicht so gut gemeint. Vorige Woche hat meinen Mann ein Baum erschlagen. Es war oben am Holzschlag am Gütlplatz. Er war gleich tot und am Freitag war das Begräbnis. Jetzt bin ich ganz allein mit dem Buben und wenn du einmal heimkommen willst, so weißt du, wo du einen Platz findest und wo du daheim bist. Der Bub ist gesund und hat so blaue Augen, dass ich immer daran denken muss, wie es einmal so schön war auf der Welt. Der liebe Gott wird dich schützen. Ich bete alle Tage für dich. So viele Grüße wie Stunden in der Ewigkeit von mir und dem Buben. Marie Kohlross.«

Nach vielen Tagen, an denen die Antonin vergebens auf den Briefboten gewartet hatte, bekam sie endlich einen Brief. Aber es war ihr Brief an den Kunz-Hans mit dem Vermerk: »Vermisst.«

Das war im März 1915. Seither hörte sie nichts mehr von ihm. Alle ihre Versuche, beim Regiment oder von den Kameraden etwas über sein Schicksal zu erfahren, blieben erfolglos.

Sie wusste nicht, war er tot oder lebte er noch irgendwo in der Gefangenschaft. Oder war er längst in seiner Egerländer Heimat und hatte vielleicht sie und alles vergessen. Stundenlang lag sie betend auf den Knien und flehte um sein Kommen oder stand vor dem Kreuz und forderte mit Anklagen den Verschollenen. Aber stumm blieben Himmel und Hölle, ungehört verhallten Gebet und Fluch in der grausamen Unendlichkeit und die Verlassenheit schnürte ihr armes Herz zusammen bis zur Verzweiflung.

Auch dieses Leid wurde still mit der Zeit, wie alles Weh der Menschen. Dann verkaufte die Antonin eines Tages ihr kleines Anwesen und zog still fort, niemand wusste, wohin.


 << zurück weiter >>