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Havelaars Vorgänger, der wohl das Gute gewollt, aber doch die Ungnade der Regierung gefürchtet zu haben schien, – der Mann besaß viel Kinder und war ohne Vermögen, – hatte also lieber mit dem Residenten über das, was er weitgehende Mißbräuche zu nennen pflegte, gesprochen, anstatt diese Mißbräuche zum Gegenstand eines offiziellen Berichts zu machen. Er wußte, daß ein Resident nicht gern einen solchen Rapport empfängt, der seinem Archiv einverleibt wird, und später als Beweis dienen kann, daß er rechtzeitig auf dieses oder jenes Unrecht aufmerksam gemacht worden sei, während eine mündliche Verhandlung, völlig gefahrlos, die Wahl offen ließ, ob man einschreiten wolle oder nicht. Solche mündlichen Verhandlungen hatten gewöhnlich eine Unterhaltung mit dem Regenten zur Folge, der natürlich alles leugnete und Beweise verlangte. Es wurden die Leute herbeigerufen, die die Kühnheit gehabt hatten, sich zu beschweren. Die warfen sich dann dem Adhipatti vor die Füße und flehten um Gnade. Niemals waren sie von ihren Feldern geholt worden, um ohne Lohn auf den Sawahs des Regenten zu arbeiten. Sie wußten ganz bestimmt, daß sie der Adhipatti später fürstlich beschenken würde. Ihre Beschwerde hatten sie in der Verirrung und in grundloser, frevelhafter Verbitterung eingebracht, sie waren von Sinnen gewesen und flehten, man möge sie für ihre Tat bestrafen.
Dann wußte der Resident wohl, was er über die Zurücknahme der Beschwerde zu denken hatte, aber diese Zurücknahme gab ihm Gelegenheit, den Regenten in Amt und Würde zu bestätigen und ersparte es ihm, die Regierung mit einem unangenehmen Bericht zu »behelligen«. Der ruchlose Ankläger wurde mit Stockschlägen bestraft, der Regent hatte triumphiert, und der Resident kehrte nach seinem Wohnsitz zurück mit dem erhebenden Bewußtsein, die Sache wieder eingerenkt zu haben.
Aber was sollte der Residentschaftsassistent beginnen, wenn sich tags darauf schon wieder Kläger bei ihm anmeldeten? Oder, – das geschah häufig, – wenn derselbe Kläger erschien und seine Zurücknahme zurücknahm? Sollte er die Sache wieder vermerken, wieder mit dem Residenten darüber reden, wieder Zeuge der gleichen Komödie werden, und alles auf die Gefahr, in den Ruf eines Mannes zu gelangen, der, dumm und bösartig, immer wieder Anschuldigungen vorbrachte, die dauernd als unbegründet zurückgewiesen werden mußten? Was sollte aus dem notwendigen freundschaftlichen Verhältnisse zwischen den vornehmsten eingeborenen Großen und dem ersten europäischen Beamten werden, wenn dieser immer wieder den Anklagen gegen den Regenten ein williges Ohr lieh? Und was geschah vor allen Dingen mit den armseligen Anklägern, wenn sie wieder nach Hause unter die Macht des Dorfhäuptlings zurückkehrten, den sie als Vollstrecker der Willkür des Regenten mit beschuldigt hatten?
Was mit dem Kläger geschah? Wer flüchten konnte, flüchtete. Darum wimmelte es von Bantamleuten in den benachbarten Provinzen! Darum waren soviel Männer aus Lebak unter den Aufständischen der Lampong-Distrikte. Darum hatte Havelaar in seiner Ansprache an die Häuptlinge gefragt: »Weshalb stehen viele Hütten leer in den Dörfern, und warum ziehen so viele in den Schatten fremder Haine und fliehen die Waldeskühle von Bantan-Kidul?«
Doch nicht jeder konnte flüchten. Der Mann, dessen Leichnam des Morgens stromabwärts trieb, nachdem er am vorigen Abend heimlich, ängstlich, den Residentschaftsassistenten um Gehör gebeten hatte, der brauchte keine Flucht mehr. Es erschien fast wie eine Tat besonderer Menschenfreundlichkeit, ihn durch einen schnellen Tod seinen Leiden zu entziehen. Ihm blieben die Mißhandlungen erspart, die ihn bei der Rückkehr in sein Dorf erwarteten, die fürchterlichen Stockschläge, die die Strafe aller derer waren, die einen Augenblick geglaubt hatten, kein Tier, kein seelenloses Stück Holz zu sein, die in ihrer Torheit angenommen hatten, daß im Lande Recht herrschte, und daß der Residentschaftsassistent den Willen und die Macht hätte, das Recht durchzusetzen.
War es nicht wirklich besser, den Mann daran zu hindern, am nächsten Tage zum Residentschaftsassistenten, der ihn bestellt hatte, zurückzukehren? War es nicht besser, seine Klage in den gelben Fluten des Tjudjung zu ersticken, die ihn sanft hinab zur Mündung führten und ihn wie ein brüderliches Geschenk der menschlichen Haie des Binnenlandes den Haien der See auslieferten?
Havelaar wußte das alles. Kann man nicht nachfühlen, was in seiner Seele vorging? Er, der berufen war, Recht zu üben, und sich einer höheren Macht verantwortlich wußte als der Macht einer Regierung, die wohl das Recht in ihren Gesetzen vorschrieb, aber die Anwendung dieser Gesetze nicht immer gern sah! Ahnt man, wie er von Zweifeln hin- und hergeworfen wurde, nicht über das, was seine Aufgabe war, aber über die Art, wie er seine Pflicht erfüllen sollte?
Mit sanfter Nachsicht hatte er begonnen. Er hatte mit dem Adhipatti gesprochen wie ein »älterer Bruder«, und wer etwa glaubt, daß ich für den Helden meiner Geschichte voreingenommen bin, dem darf ich sagen, daß nach einer solchen Unterhaltung der Regent seinen Patteh zu ihm sandte, um ihm für das Wohlwollen, das er ihm erwiesen habe, zu danken. Und viel später, als Havelaar längst nicht mehr Residentschaftsassistent von Lebak und also nichts mehr von ihm zu hoffen oder zu fürchten war, erklärte dieser Patteh bei einer Unterhaltung mit Verbrugge in Erinnerung jenes Gesprächs, daß niemals ein Herr so geredet habe wie er!
Ja, er wollte helfen, ordnen, er wollte retten, nicht verderben. Mit dem Regenten fühlte er Mitleid. Er wußte, wie niederdrückend Geldmangel war, besonders wenn er zur Demütigung, zur Schmach führte, er suchte nach Entschuldigungsgründen. Der Regent war alt und das Oberhaupt eines Geschlechtes, das in den Nachbarprovinzen, wo Kaffee gebaut und infolgedessen beträchtliche Emolumente ausgezahlt wurden, auf großem Fuße lebte. War es nicht beschämend für ihn, in seiner Lebenshaltung so weit hinter seinen jüngeren Verwandten zurückstehen zu müssen? Dazu glaubte der Mann, von seiner religiösen Schwärmerei getrieben, das Heil seiner Seele durch bezahlte Pilgerfahrten nach Mekka und durch Almosen an Gebete plärrende Faulenzer zu erkaufen. Die Beamten, die vor Havelaar Lebak verwalteten, hatten nicht immer gute Beispiele gegeben. Und endlich erschwerte ihm die Ausbreitung seiner in Lebak ansässigen Familie, die ganz auf seine Kosten lebte, jede Umkehr auf dem verderblichen Wege.
Havelaar suchte nach allen Gründen, um Strenge zu vermeiden, und immer und immer wieder unternahm er es, seine Absicht mit Sanftmut zu erreichen.
Er ging sogar darüber hinaus! Mit einer Großmut, die an jene Fehler erinnerte, die seine Verarmung verschuldet hatten, gab er dem Regenten auf eigene Verantwortung fortwährend Vorschüsse, damit ihn der Geldmangel nicht gewaltsam zu Übergriffen drängen sollte, und wie gewöhnlich vergaß er sich soweit, sich selbst und die Seinen auf das strikt Notwendigste zu beschränken, um dem Regenten mit dem Wenigen zu Hilfe zu kommen, was er noch von seinem Einkommen erübrigen konnte.
Wenn es noch erforderlich wäre, die Nachsicht zu beweisen, mit der sich Havelaar bemühte, seiner schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, so möge der mündliche Bericht, den er Verbrugge bei einer Reise nach Serang auftrug, diesen Beweis liefern: »Sagen Sie dem Residenten, wenn er von den Zuständen hier hört, möge er nicht glauben, daß ich alles so gleichgültig durchgehen lasse. Ich mache nur deshalb keine amtliche Meldung, weil ich mit dem Regenten Mitleid habe und ihm eine strenge Behandlung ersparen will, solange ich noch die Hoffnung hegen darf, ihn durch Freundlichkeit zu bessern.«
Havelaar war häufig tagelang fort. Blieb er dann zu Hause, so war er meist in dem Zimmer, das auf unserem Plan mit Nummer 7 bezeichnet ist. Da saß er am Schreibtisch und empfing diejenigen, die ihn um Gehör gebeten hatten. Er hatte dieses Zimmer gewählt, weil er sich da in nächster Nähe von Tine wußte, die sich meist nebenan aufhielt. So innig waren die beiden verbunden, daß Max, selbst wenn er bei einer Arbeit saß, die seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, stets das Bedürfnis fühlte, Tine zu sehen oder zu hören. Es war manchmal komisch, wie er ihr ein Wort zurief, das ihm im Zusammenhang mit dem Gegenstand, der ihn gerade beschäftigte, in den Kopf schoß, und wie schnell sie, ohne eigentlich zu wissen, um was es sich handelte, den Sinn seiner Äußerung zu erfassen vermochte. Er gab ihr gewöhnlich auch gar keine Erklärungen, so selbstverständlich schien es ihm, daß sie begriff, was er meinte. Manchmal auch, wenn er über seine eigene Tätigkeit oder irgendeinen Bericht verdrießlich war, sprang er auf und rief ihr, die doch ohne jede Schuld an seinem Verdruß war, etwas Unfreundliches zu. Aber auch das hörte sie gern, denn es bewies ihr, wie sehr er sich mit ihr eins fühlte. Niemals war von Bedauern oder Empfindlichkeit über diese scheinbare Härte die Rede. Das wäre ihnen vorgekommen, als wenn sich jemand vor sich selbst entschuldigte, weil er sich im Ärger vor den Kopf geschlagen hatte.
Sie kannte ihn so gut, daß sie ganz genau wußte, wann sie da sein mußte, um ihm eine kurze Erholungspause zu verschaffen, wenn er nach ihrem Rat verlangte, aber ebensogut wußte sie, wann sie ihn allein lassen mußte.
Havelaar saß eines Morgens in seinem Arbeitszimmer, als Verbrugge, einen soeben empfangenen Brief in Händen, eintrat.
»Das ist eine schwierige Sache, Herr Havelaar,« begann er, »eine sehr schwierige Sache!«
Der Brief war von Havelaar selbst und enthielt den Auftrag, festzustellen, woher die eingetretene Veränderung der Holzpreise und Arbeitslöhne käme. Es scheint nun, als ob dem Kontrolleur Verbrugge sehr schnell eine Sache schwierig vorkam, aber ich muß sagen, daß viele andere die Beantwortung dieser scheinbar höchst einfachen Frage nicht minder mühevoll gefunden hätten.
Vor einigen Jahren war in Rangkas-Betung ein neues Gefängnis errichtet worden. Nun ist es ganz allgemein bekannt, daß die Beamten im Innern Javas die Kunst verstehen, Bauten ausführen zu lassen, die mehrere Tausende wert sind und doch nur ebensoviele Hunderte kosten. Man erwirbt sich dadurch den Ruf besonderer Geschicklichkeit und großen Diensteifers. Die große Spannung zwischen Herstellungskosten und Wert des Gebäudes wird durch unbezahlte Lieferungen und unbezahlte Arbeitslöhne ausgeglichen. Seit einigen Jahren ist das durch besondere Vorschriften verboten. Ob man diese Bestimmungen immer befolgt, soll hier nicht untersucht werden, ebensowenig, ob die Regierung den festen Willen hat, daß man sich streng an ihre Vorschriften hält und dadurch das Budget des Baudepartements übermäßig belastet. Es verhält sich damit wohl wie mit vielen anderen Erlassen, die auf dem Papier so außerordentlich menschenfreundlich aussehen.
Nun sollten in Rangkas-Betung noch mehrere Gebäude errichtet werden, und die Ingenieure, die die Pläne zu entwerfen hatten, mußten Unterlagen über die ortsüblichen Löhne und Materialpreise anfordern. Havelaar hatte den Kontrolleur mit diesen Feststellungen betraut und ihm aufgegeben, die Preise den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend zu fixieren, ohne Rücksicht auf das, was früher geschehen war. Als Verbrugge diesen Auftrag ausgeführt hatte, stellte sich natürlich heraus, daß seine Preisangaben von denen früherer Jahre erheblich abwichen, und den Grund dieser Differenzen anzugeben, schien dem Kontrolleur so schwierig. Havelaar, der sehr gut wußte, was sich hinter dieser scheinbar so einfachen Sache verbarg, erwiderte, er würde ihm seine Ansicht über diese Schwierigkeit schriftlich mitteilen, und ich finde in den mir vorliegenden Akten einen Brief, der wohl diese angekündigte Mitteilung enthielt.
Der Leser möge nicht glauben, daß ich ihn mit einer Korrespondenz über Baulöhne und Holzpreise aufhalten will, die ihn scheinbar gar nichts angehen. Es handelt sich auch dabei um etwas ganz anderes, nämlich um die Zustände des niederländisch-indischen Staatshaushalts, und der Brief, den ich mitteile, erklärt nicht nur den von mir bereits erwähnten künstlichen Optimismus, sondern er läßt auch etwas von der Mühsal und den Hindernissen ahnen, die sich jedem, der wie Havelaar seine Wege geradeaus und ohne umzublicken gehen wollte, entgegentürmten.
No. 114.
Rangkas-Betung,
den 15. März 1856.
An den Kontrolleur von Lebak.
Als ich den Brief des Direktors der öffentlichen Arbeiten vom 16. Februar d. J. an Sie weitergab, ersuchte ich Sie, die darin enthaltene Anfrage nach Rücksprache mit dem Regenten gemäß meiner Verfügung No. 97 vom 5. dieses Monats zu beantworten.
Diese Verfügung enthielt einen Hinweis darauf, was bei den Preisfestsetzungen für Baumaterialien, die von der Bevölkerung an die Verwaltung geliefert werden, als recht und billig zu betrachten ist.
In Ihrem Bescheid No. 6 vom 8. dieses Monats haben Sie, wie ich annehme, nach bestem Wissen und Gewissen meine Anfrage beantwortet, und ich habe im Vertrauen auf Ihre und des Regenten Kenntnis der lokalen Verhältnisse, Ihre Angaben dem Residenten weitergereicht.
Darauf erfolgte von meiner vorgesetzten Behörde eine Rückfrage No. 326 vom 11. dieses Monats, in welcher um Aufklärung ersucht wurde über die Differenz zwischen den von mir aufgestellten Preisen und denjenigen, die in den Jahren 1853 und 1854 bei dem Bau des Gefängnisses in Anschlag gebracht worden waren.
Ich gab diesen Brief an Sie weiter mit dem mündlichen Auftrag, Ihre Preisangaben zu begründen, was Ihnen nicht schwer fallen durfte, da Sie sich auf meine Verfügung vom 5. dieses Monats, deren Inhalt wir wiederholt persönlich besprochen haben, beziehen konnten.
Soweit ist alles ordnungsgemäß verlaufen.
Jedoch gestern suchten Sie mich, den Brief des Residenten in Händen, in meinem Büro auf und beklagten sich über die Schwierigkeit, die erbetene Begründung zu liefern. Ich stieß bei Ihnen wieder einmal auf eine gewisse Scheu, bestimmte Dinge bei ihrem wahren Namen zu nennen, etwas, worauf ich Sie schon häufiger, das letztemal sogar in Gegenwart des Residenten, aufmerksam machen mußte, das ich kurz Halbheit nenne, und wovor ich Sie wiederholt freundschaftlich warnte.
Halbheit führt zu nichts! Halbgut ist nicht gut, und halbwahr ist unwahr!
Für volles Gehalt, für vollen Rang, nach einem vollständigen Eid, tut man seine volle Pflicht! Und wenn manchmal Mut dazu gehört, seine Pflicht zu erfüllen, so muß man diesen Mut besitzen.
Ich für meinen Teil wäre zu feige, diesen Mut nicht aufzubringen. Denn abgesehen von der Unzufriedenheit mit sich selbst, die sich aus jeder versäumten Pflicht ergibt, birgt das Suchen nach bequemen Umwegen, das Bestreben, nirgends anzustoßen, die Neigung, alles irgendwie zu schieben, mehr Sorge und mehr Gefahr, als man je auf dem geraden Wege begegnet.
In einer sehr wichtigen Angelegenheit, die augenblicklich zur Entscheidung beim Gouvernement liegt, und mit der Sie sich eigentlich amtlich befassen mußten, habe ich Sie ganz aus dem Spiele gelassen und mir nur gelegentlich eine scherzhafte Andeutung gestattet.
Als mir kürzlich Ihr Rapport über die Ursachen des Elends und der Hungersnot unter der Bevölkerung vorlag, schrieb ich an den Rand: »Das alles mag wahr sein, es ist aber nicht die volle Wahrheit und nicht die hauptsächlichste Wahrheit. Die Ursachen liegen tiefer.« Sie stimmten mir rückhaltlos zu, und ich machte von meinem Rechte keinen Gebrauch, von Ihnen einen vollständigen Rapport, der die Hauptursachen anführte, zu fordern.
Meine Nachsicht hatte ihre Gründe. Ich hätte es als unbillig empfunden, ohne jeden Übergang von Ihnen etwas zu verlangen, was andere an Ihrer Stelle auch nicht fertig bekommen würden. Ich durfte Sie nicht zwingen, mit einem Schlage auf Ihre bisherige Routine von Vorsicht und Menschenfurcht zu verzichten, die nicht so sehr Ihre eigene Schuld ist als diejenige der Leitung, der Sie anheimfielen. Ich wollte Ihnen erst ein Beispiel geben, wieviel einfacher und bequemer es ist, seine Pflicht ganz anstatt halb zu tun.
Jetzt jedoch, wo ich die Ehre habe, Sie längere Zeit unter meinem Befehl zu sehen, und nachdem ich Ihnen wiederholt Gelegenheit gab, Grundsätze kennen zu lernen, die schließlich, – es sei denn, daß ich irre, – doch triumphieren müssen, wollte ich, daß Sie sich zu diesen Grundsätzen bekennten, und daß Sie die bei Ihnen nur verborgene innere Kraft aufbrächten, nach bestem Wissen rund heraus zu sagen, was gesagt werden muß, daß Sie diese unmännliche Scheu fallen ließen, um nur möglichst schnell und bequem von undankbaren Aufgaben loszukommen.
Ich erwarte also von Ihnen eine einfache aber vollständige Aufstellung der Gründe für die Preisunterschiede zwischen heut und den Jahren 1853 und 1854.
Ich hoffe aufrichtig, daß Sie von keiner Zeile dieses Briefes annehmen werden, sie sei geschrieben in der Absicht, Sie zu kränken. Ich verlasse mich darauf, daß Sie mich genügend kennen gelernt haben, um zu wissen, daß ich nicht mehr und nicht weniger sage als das, was ich denke, und außerdem gebe ich Ihnen zum Überfluß noch die Versicherung, daß meine Ausführungen viel weniger Ihnen persönlich gelten als der Schule, in der Sie zum Kolonialbeamten herangebildet wurden.
Dieser mildernde Umstand würde allerdings fortfallen, wenn Sie nach längerem Umgang mit mir und im Dienst unter meiner Leitung den Schlendrian fortsetzen wollten, gegen den ich mich wehre.
Sie haben bemerkt, daß ich mir die Anrede »Ew. Wohledelgestrengen« erspart habe, ich finde sie lächerlich. Tun Sie es ebenso und lassen Sie uns unsere »Wohledelheit«, und wo es nötig ist, auch unsere Strenge, anders beweisen als durch lächerliche, sinnlose Titulaturen.
Der Residentschaftsassistent von Lebak
Max Havelaar.
Die Antwort auf diesen Brief legte alle Schuld auf einige der Amtsvorgänger Havelaars und bewies, wie recht er hatte, wenn er schlechte Beispiele als mildernden Umstand für die Beurteilung des Regenten anführte.
Ich bin mit diesem Brief der Zeit etwas vorausgeeilt, und ich kann nicht mehr in den Ereignissen zurückgreifen, um zu zeigen, wie geringe Hilfe Havelaar von seinem Kontrolleur zu erwarten hatte, wo es sich darum handelte, wichtigere Dinge bei ihrem wahren Namen zu nennen, wenn dieser Beamte, der zweifellos ein braver Mann war, schon so nachdrücklich ermuntert werden mußte, wo es sich schließlich nur um ein paar Holz- und Kalkpreise und Arbeitslöhne handelte. Havelaar hatte nicht nur gegen die Macht derjenigen anzukämpfen, die aus der Mißwirtschaft Vorteile zogen, er mußte auch gegen die Ängstlichkeit und Leisetreterei der Männer zu Felde ziehen, die, obgleich sie jene Mißwirtschaft genau so verabscheuten wie er selbst, sich nicht getrauten, mit der erforderlichen Entschlossenheit zu verfahren.
Vielleicht mindert die Lektüre des Briefes auch ein wenig die billige Verachtung der sklavischen Unterwürfigkeit des Javaners, der in Gegenwart seines Häuptlings die noch so gerechtfertigte Anklage feige zurücknimmt. Wenn der europäische Beamte, der doch der Rache nicht so ohne weiteres preisgegeben war, schon Grund zur Furcht zu haben glaubte, wieviel mehr dann erst der eingeborene Landmann, der in seinem Heimatsdorf völlig wehrlos der Macht seiner Unterdrücker ausgeliefert war. Kann es unter diesen Umständen überraschen, wenn die armen Teufel im Schreck über die Folgen ihrer Kühnheit, alles durch demütige Unterwerfung wieder ungeschehen zu machen suchten?
Nicht nur der Kontrolleur Verbrugge tat seine Pflicht mit einer Scheu, die nahezu an Pflichtvergessenheit grenzte, auch der Djaksa, der eingeborene Beamte, der vor dem Landesrat die Aufgabe des öffentlichen Anklägers zu erfüllen hatte, suchte am liebsten des Abends, heimlich und ohne Begleitung, Havelaar in seiner Wohnung auf. Er, der den Diebstahl zu vereiteln hatte, dessen Aufgabe es war, den schleichenden Dieb zu verfolgen, er schlich, als wäre er selbst ein verfolgter Dieb, mit leisen Schritten hintenherum in das Haus und trat erst ein, wenn er sich überzeugt hatte, daß niemand zu Besuch da war, der ihn später wegen seiner Pflichterfüllung hätte verraten können.
War es ein Wunder, daß Havelaar oft traurig war, und daß Tine so häufig hereinkommen mußte, ihn zu trösten, wenn sie ihn, das Haupt auf die Hände gestützt, sitzen sah?
Dabei bildeten die Leisetreterei seiner Mitarbeiter und das feige Kneifen derjenigen, die seine Hilfe angerufen hatten, nicht seine größte Sorge. Nein, allein wollte er das Recht verteidigen, auch ohne Hilfe, und wenn es sein mußte, auch gegen jene, die es am notwendigsten brauchten. Denn er wußte, welche Macht er über das Volk hatte, er wußte, wenn die Armen und Bedrückten vor Gericht gerufen werden sollten, um laut zu wiederholen, was sie ihm heimlich zugeflüstert hatten, er würde die Kraft haben, sie aufzurütteln und zu ermuntern, seiner Rede Gewalt würde den Sieg über alle Angst vor dem Regenten und den Dorfhäuptlingen davontragen. Die Angst, seine Schützlinge selbst abfallen zu sehen, hegte er nicht. Aber er bekam es so schwer übers Herz, den alten Adhipatti anzuklagen, und das war der Zwiespalt, der ihn erfüllte. Denn auf der anderen Seite stand die Bevölkerung, die, abgesehen von ihrem Recht, ebenso Anspruch auf sein Mitgefühl erhob.
Es war nicht Furcht vor eigenem Leid, was ihn lähmte. Zwar wußte er, wie ungern die Regierung einen Regenten unter Anklage sah, und wieviel bequemer es manchem wird, den europäischen Beamten brotlos zu machen, anstatt einen der inländischen Großen zu bestrafen, aber er glaubte doch, annehmen zu dürfen, daß gerade jetzt in der Behandlung dieser Dinge nach anderen Grundsätzen als bisher verfahren würde. Doch auch ohne diese Überzeugung hätte er seine Pflicht getan, vielleicht noch lieber, weil die Gefahr für ihn und die Seinen noch größer gewesen wäre. Hindernisse zogen ihn an, es drängte ihn, sich für seine Überzeugung zu opfern. Doch hier war keinerlei Aussicht auf ein solches Selbstopfer, im Gegenteil, er fürchtete, den Streit zu beginnen, weil ihm die ritterliche Empfindung fehlte, den Kampf als der Schwächere eröffnet zu haben.
Das fürchtete er. An der Spitze der Regierung stand ein Generalgouverneur, der sein Verbündeter sein mußte, und es war eine der Seltsamkeiten seines Charakters, daß ihn diese Überzeugung davon abhielt, strenge Maßregeln zu ergreifen, weil es ihm peinlich war, den Kampf gegen das Unrecht in einer Zeit aufzunehmen, in der er das Recht für stärker gerüstet hielt als gewöhnlich. Ich sagte bereits, als ich seinen Geist schilderte, daß er bei aller Schärfe naiv war.
Ich will nun versuchen, zu erklären, wieso Havelaar zu seiner Ansicht gelangt war.
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Nur sehr wenige europäische Leser können sich einen Begriff davon machen, wie hoch als Mensch ein Generalgouverneur stehen muß, um nicht unter dem Niveau seiner Untergebenen zu bleiben. Es ist auch kein zu hartes Urteil, wenn ich erkläre, daß nur sehr wenige, vielleicht überhaupt keiner, dieser Forderung gerecht würden. Man kann die Qualitäten an Herz und Verstand, die für solche Stellung notwendig sind, ganz außer acht lassen, man braucht nur an die schwindelerregende Höhe zu denken, auf der plötzlich ein Mann steht, der gestern noch ein einfacher Bürger war und heute Macht hat über Millionen von Untertanen. Ein Mann, der kurz vorher noch in seiner Umgebung verschwand, ohne irgendwie durch seinen Rang oder durch sein Amt aufzufallen, fühlt sich plötzlich, meist unerwartet, über eine Menge erhoben, die unendlich viel größer ist als der kleine Kreis, der ihn bisher vor allen Blicken verbarg. Solch einen Aufstieg zu solcher Höhe nennt man wohl nicht mit Unrecht schwindelerregend. Es muß ihn ein Taumel überfallen wie jemand, der plötzlich am Rande eines Abgrundes steht, seine Augen müssen geblendet sein, wie die Augen eines Menschen, der ohne Übergang aus dem tiefsten Dunkel in das hellste Sonnenlicht gestellt wird. Solchem unvermuteten Wechsel sind weder Gehirn noch Sehnerven gewachsen, und wenn sie sonst noch so stark wären.
Enthält also schon die bloße Ernennung zum Generalgouverneur bereits den Keim des Verderbs selbst bei solchen, die an Verstand und Charakter nichts zu wünschen lassen, wieviel schlimmer muß dann noch die Wirkung bei Männern sein, die schon vor ihrer Beförderung als nicht ganz einwandfrei galten? Wir wollen einen Augenblick annehmen, der König sei immer richtig informiert, wenn er seinen erlauchten Namen unter den Staatsakt setzt, demzufolge er von der Treue, dem Eifer und der Eignung des neuen Statthalters überzeugt ist, wir nehmen weiter an, der neue Vizekönig sei treu, eifrig und geeignet, dann bliebe immer noch die Frage offen, ob diese Eigenschaften bei ihm so weit über das Mittelmaß entwickelt sind, wie es notwendig ist, um den Ansprüchen seines neuen Amtes zu genügen.
Es kann gar keine Rede davon sein, daß der Mann, der im Haag zum ersten Male das Kabinett des Königs als Generalgouverneur verläßt, schon in diesem Augenblick die volle Tauglichkeit für seine Stellung aufweist. Das ist unmöglich! Wenn man ihm ausdrücklich das Vertrauen auf seine Eignung bezeugt, so kann damit nur gemeint sein, daß er in seinem völlig neuen Wirkungskreise im entsprechenden Augenblick wie unter einer höheren Eingebung etwas wissen würde, was er im Haag niemals gelernt haben kann. Mit anderen Worten, daß er ein Genie sei, ein Genie, das plötzlich kennt und kann, was es vorher nie kannte und konnte! Und solche Genies sind selten, selbst unter denen, die in der Gunst des Königs stehen.
Wenn ich von einem Genie rede, überschlage ich selbstverständlich vieles, was über manchen Landvogt zu sagen wäre. Ich denke nicht daran, meinem Buche Erinnerungen einzuverleiben, die seiner ernsten Absicht schaden und es zu einer Skandalchronik herabwürdigen könnten. Ich vermeide also die Einzelheiten, die sich auf bestimmte Persönlichkeiten beziehen können, und stelle als allgemeines Krankheitsbild des Generalgouverneurs folgende Stadien fest:
1. Phase: Taumel. Trunken vom Weihrauch. Größenwahn. Übermäßiges Selbstvertrauen. Geringschätzung anderer, speziell aller »Altgedienten«.
2. Phase: Ermattung. Angstgefühl. Mutlosigkeit. Schlaf- und Ruhebedürfnis. Übermäßig gesteigertes Vertrauen in den Rat von Indien. Abhängigkeit vom Regierungssekretariat. Heimweh nach einem holländischen Landsitz.
Zwischen diesen beiden Phasen kommen als Übergangserscheinungen, vielleicht sogar als Ursache des Überganges, häufige Anfälle von Leibschmerzen vor.
Ich hoffe, daß mir viele in Indien für diese Diagnose dankbar sind. Sie ist sehr leicht anwendbar, und man kann sich darauf verlassen, daß der Kranke während der Überspannung der ersten Phase an einer Mücke ersticken würde, während er später, – nach der Leibwehperiode, – ohne alle Beschwerden Kamele schlucken kann. Oder um noch deutlicher zu sein, daß ein Beamter, der ein Geschenk annimmt, ohne die Absicht, sich zu bereichern, zum Beispiel ein Büschel Bananen, im ersten Stadium der Krankheit mit Schmach und Schande davongejagt werden würde, daß dagegen jemand, der Geduld genug hat, das letzte Stadium abzuwarten, ohne Furcht vor Strafe und in aller Gemütsruhe sich des ganzen Gartens, in dem die Banane wuchs, bemächtigen darf, samt den danebenliegenden Gärten, den Gebäuden, die in der Nähe errichtet sind, samt allem, was in diesen Gebäuden enthalten ist, und so weiter ad libitum.
Jeder kann sich nun diese pathologisch-philosophischen Feststellungen zunutze machen, aber er halte meinen Rat geheim aus Furcht vor allzu großer Konkurrenz.
Fluch, daß Empörung und Trauer so häufig in das Narrenkleid der Satire schlüpfen müssen! Fluch, daß man zur Träne, um verstanden zu werden, grinsen muß! Oder ist es die Schuld meiner Unerfahrenheit, daß ich keine Worte finde, um die Tiefe der Wunde, die wie ein Krebsgeschwür an unserer Staatsverwaltung frißt, zu messen, ohne mir den Stil Figaros oder Polichinels anzueignen?
Ja, Stil! Vor mir liegen Akten, die Stil haben, einen Stil, der beweist, daß hier ein Mensch geweilt hat, dem die Hand zu reichen ein Hochgefühl hätte sein müssen. Und was hat dieser Stil dem armen Havelaar genützt? Er begleitete seine Tränen nicht mit Grinsen, er spottete nicht, er sprang nicht im Narrenkleid und wirkte nicht durch Späße wie ein Ausrufer vor dem Jahrmarktzelt! Was hat es ihm genützt?
Weg mit der gemütvollen Sprache, weg mit der Sanftmut, Offenheit, Deutlichkeit, Einfalt und Gefühl! Weg mit allem, was an Horaz' justum ac tenacem Ode des Horaz: Justum et tenacem propositi virum ... Den Ehrenmann, der fest im Entschluß beharrt ... usw. erinnert! Trompeten her, Pauken und Beckenschlag, Gezisch feuriger Raketen, Gedröhne falscher Saiten, und hier und da ein wahres Wort, das unter der schützenden Decke von soviel Lärm und Geräusch mit durchschlüpfe!
Er hatte Stil und hatte zuviel Seele, um seine Gedanken hinter den Klischees von »Edelgestrengen« und »ehrerbietigst zur Erwägung anheimgeben« zu verbergen, die die Lust der kleinen Welt ausmachten, in der er sich bewegte. Wenn aus seinen Worten Feuer schlug, fühlte man die Wärme dieses Feuers, wenn man nicht gerade Kontrolleur war oder Generalgouverneur oder der Verfasser eines widerlichen Berichtes über die »ruhige Ruhe«. Und was hat ihm das genützt?
Wenn ich also gehört und vor allen Dingen verstanden werden will, muß ich anders schreiben, als er es tat, aber wie?
Leser, ich suche nach einer Antwort auf dieses Wie, und darum ist mein Buch so bunt geraten. Es ist eine Musterkarte, nach der du wählen kannst. Späterhin werde ich blau, gelb oder rot malen, ganz nach deinem Wunsch.
Havelaar hatte die Generalgouverneurs-Krankheit bereits so häufig und bei so vielen Patienten beobachtet, ebenso wie ihre Parallelerscheinungen in der Form von Residenten- und Kontrolleurs-Krankheiten, die sich zu der ersten verhalten wie Masern zu Pocken, und schließlich hatte er selbst auch die Krankheit durchgemacht, so daß ihm alle Symptome genügend bekannt waren. Es war ihm aufgefallen, daß der gegenwärtige Generalgouverneur bei Beginn seiner Erkrankung weniger taumelig gewesen war als die meisten anderen, und daraus glaubte er schließen zu dürfen, daß auch der weitere Verlauf der Krankheit eine andere Richtung nehmen würde.
Aus diesem Grunde fürchtete er, der Stärkere zu sein, wenn er als Kämpfer für das gute Recht der Bewohner von Lebak aufträte.