Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Der Resident von Bantam stellte den Regenten und den Kontrolleur dem neuen Residentschaftsassistenten vor. Die erste Begegnung mit einem neuen Vorgesetzten hat immer etwas Gezwungenes, aber der Kontrolleur wurde sogleich durch einige freundliche Worte von seiner Befangenheit befreit. Der neue Chef brachte sofort eine Art Vertraulichkeit mit, die den Verkehr mit ihm erleichterte. Dem Regenten gegenüber war seine Begrüßung so, wie sich das bei einem Manne schickte, der den goldenen pajong pajong, der Schirm, den ein Diener über den Kopf des Großen hält. Die Farben dieser Schirme sind kennzeichnend für den Stand der Besitzer. Glatt goldfarbene sind das Vorrecht des höchsten Ranges. führt und dabei gleichzeitig als eine Art jüngerer Bruder gelten soll. Mit gewandter Liebenswürdigkeit tadelte er seinen allzugroßen Diensteifer, der ihn bei so miserablem Wetter bis an die Grenze seines Distrikts getrieben habe, was nach den Regeln der Etikette der Regent nicht hätte tun brauchen.

»Wirklich, Herr Adhipatti, ich bin Ihnen böse, daß Sie sich meinetwegen diese Mühe gemacht haben. Ich glaubte, ich würde Sie erst in Rangkas-Betung treffen.«

»Ich wollte dem Herrn Residentschaftsassistenten so zeitig wie möglich begegnen, um Freundschaft mit ihm zu schließen«, erwiderte der Adhipatti.

»Ich weiß die Ehre zu schätzen, aber ein Mann Ihres Ranges und Ihres Alters darf sich nicht zu viel zumuten. – – – Noch dazu zu Pferde – –«

»Ja, Herr Residentschaftsassistent, wenn der Dienst ruft, bin ich noch immer stark und rüstig!«

»Das ist zu viel verlangt, nicht wahr Herr Resident?«

»Der Herr Adhipatti ... ist ... sehr ...«

»Gütig, aber es hat doch alles seine Grenzen!«

»Eifrig«, kam es aus dem Munde des Residenten als Nachzügler.

»Aber alles hat seine Grenzen,« mußte Havelaar nochmals sagen, wie um das erste wieder zurückzuschlucken. »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Resident, machen wir im Wagen Platz. Die Babu kann hier zurückbleiben, bis wir ein tandu tandu = Tragstuhl. aus Rangkas-Betung schicken. Meine Frau nimmt den kleinen Max auf den Schoß, – – – nicht wahr, Tine? – – – Dann haben wir genügend Platz.«

»Es ... ist ... mir ...«

»Verbrugge, Sie können auch mitfahren! Ich sehe nicht ein – – –«

»Recht«, vollendete der Resident.

»Warum Sie ohne zwingenden Grund durch den Morast reiten sollen. Es ist Platz für uns alle. Auf diese Weise schließen wir am besten Bekanntschaft miteinander. Nicht wahr, Tine? Wir richten uns schon ein. – – – Hier, Max – – – Seh'n Sie, Verbrugge, ist das nicht ein nettes Kerlchen? Das ist mein kleiner Junge! – – – Das ist Max!«

Der Resident hatte mit dem Adhipatti in der Pendoppo Platz genommen. Havelaar rief Verbrugge zur Seite, um ihn zu fragen, wem der Schimmel mit der roten Schabracke gehöre, und als der Kontrolleur ihm gefolgt war, legte er ihm die Hand auf die Schulter und erkundigte sich:

»Ist der Regent immer so diensteifrig?«

»Er ist für sein Alter noch sehr kräftig, Herr Havelaar. Sie begreifen, er will bei Ihnen einen guten Eindruck hervorrufen.«

»Das verstehe ich. Ich habe viel Günstiges über ihn gehört – – – Er ist sehr gebildet, nicht wahr?«

»O ja.«

»Und er hat eine große Familie?«

Verbrugge sah Havelaar an, als begriff er diesen Übergang nicht. Das war auch für jemanden, der ihn nicht kannte, häufig sehr schwer. Die Lebhaftigkeit seines Geistes verleitete ihn leicht dazu, einzelne Glieder der Kette seiner Schlußfolgerungen einfach zu überschlagen, und wenn sich in Havelaars Geist diese Übergänge auch hemmungslos vollzogen, so war es doch begreiflich, daß jemand, der weniger regsam war und ihm nicht zu folgen vermochte, ihn verwundert anstarrte, als wollte er fragen: »Bist du närrisch?«

So ähnlich ging es auch Verbrugge, und Havelaar mußte die Frage wiederholen, ehe er antwortete:

»Ja, seine Familie ist sehr groß!«

»Sind im Bezirk viele Medjiets Moscheen. Auf Java herrscht seit Ende des 15. Jahrhunderts fast ausschließlich der Islam. in Bau?« erkundigte sich Havelaar weiter in einem Tone, der anzudeuten schien, daß bei ihm Zusammenhänge zwischen den Moscheen und der großen Familie des Regenten bestanden.

Verbrugge erklärte, daß tatsächlich an vielen Moscheen gebaut würde.

»Ja, ich wußte es wohl!« rief Havelaar aus, »sagen Sie mir noch das eine: Sind viele rückständige Landrenten zu bezahlen?«

»Ja, das läßt noch zu wünschen übrig!«

»Aha, besonders im Bezirk Parang Kudjang,« fügte Havelaar hinzu, als fände er es bequemer, selbst auf seine Fragen zu antworten. »Wie hoch ist der Voranschlag für dieses Jahr?« und als er sah, daß Verbrugge einen Augenblick zögerte, wie um sich zu besinnen, kam er ihm zuvor:

»Lassen Sie nur – – – ich weiß es schon – – sechsundachtzigtausend und ein paar hundert Gulden. Fünfzehntausend mehr als voriges Jahr – – aber doch nur sechstausend mehr, als es 55 waren! – – Seit 53 sind wir im ganzen nur um achttausend gestiegen, – – – und auch die Bevölkerung ist sehr dünn! – – – Na ja, Malthus! – – In zwölf Jahren eine Vermehrung von nur elf Prozent, und das ist auch noch fraglich, denn die Zählungen waren früher sehr ungenau! – – – 51 war sogar ein Rückgang gegen 50, – – – und auch der Viehbestand erhöht sich nicht, ... das ist ein schlechtes Zeichen, Verbrugge! – – – Was springt denn das Pferd so ... das schlägt aus! ... Komm her, Max!«

Verbrugge hatte die Empfindung, daß er den neuen Residentschaftsassistenten nicht zu unterrichten haben würde, und daß hier von einem eventuellen Übergewicht aus »lokaler Anciennität« nicht die Rede sein konnte, worauf der gute Mann übrigens auch nicht gerechnet hatte.

»Aber das ist ja ganz natürlich!« fuhr Havelaar fort, während er den kleinen Max auf den Arm nahm. »Drüben in Tjikand und Bolang Tjikand und Bolang, andere Distrikte, nach welchen die Bewohner von Lebak flohen, um den Ernährungsschwierigkeiten ihrer Heimat zu entgehen. In jenen Distrikten bedeuteten sie eine willkommene Vermehrung der Arbeitskräfte. sind sie sehr zufrieden damit, – – – und bei den Aufständigen in Lampong auch! – – Ich werde Ihre Mitarbeit sehr brauchen, mein lieber Verbrugge! Der Regent ist ein alter Mann, und darum müssen wir – – – Sagen Sie, ist sein Schwiegersohn immer noch Distriktshäuptling? – – – Alles in allem, glaube ich, verdient er Nachsicht, ... ich meine der Regent. – – – Ich bin sehr froh, daß hier alles so armselig und rückständig ist, ... ich hoffe, ich bleibe hier lange!«

Damit reichte er Verbrugge die Hand und während beide an den Tisch zurückkehrten, an dem der Resident, der Adhipatti und Frau Havelaar Platz genommen hatten, wurde es dem Kontrolleur schon klarer als noch vor fünf Minuten, daß der neue Chef durchaus nicht so ein Narr war, wie der Kommandant meinte.

Verbrugge war etwa kein Dummkopf, und er, der Lebak kannte, so gut ein Mann diese große Landstrecke, in der es keinerlei Zeitungen oder ähnliches gab, überhaupt kennen konnte, begann einzusehen, daß zwischen den scheinbar so zusammenhanglosen Fragen Havelaars doch ein Zusammenhang bestand, und daß der neue Residentschaftsassistent, obgleich er seine Landschaft noch nicht betreten hatte, doch bereits wußte, was darin vorging. Zwar begriff er noch immer nicht die Freude über die Armut in Lebak, aber er tröstete sich damit, falsch verstanden zu haben. Später allerdings, als ihm Havelaar wiederholt das gleiche gesagt hatte, begann er einzusehen, wieviel Großmut und Edelsinn sich in dieser Freude verrieten.

Havelaar und Verbrugge nahmen am Tisch Platz, und während man Tee trank, rastete man unter gleichgültigen Gesprächen, bis Dongso eintrat und dem Residenten meldete, daß frische Pferde vorgespannt wären. Man packte sich nun, so gut es ging, in den Wagen und fuhr los. Das Schütteln und Rütteln der Kutsche verhinderte lange Gespräche. Der kleine Max wurde mit einem pisang Banane. beruhigt und seine Mutter, die ihn auf dem Schoß hielt, wollte durchaus nicht zugeben, daß sie müde sei, als Havelaar ihr den schweren Knaben nehmen wollte. Während einer kurzen unfreiwilligen Rast in einem Sumpfloch fragte Verbrugge den Residenten, ob er mit dem neuen Residentschaftsassistenten schon über Frau Slotering gesprochen habe.

»Herr Havelaar ... Hat ... Gesagt ...«

»Aber natürlich, Verbrugge,« fiel Havelaar ein, »die Dame kann bei uns bleiben. Ich möchte nicht – – –«

»Daß ... Er ... Nichts ... Dagegen ... Habe ...« schleifte der Resident langsam nach.

»Ich möchte nicht einer Dame unter diesen Umständen das Haus streitig machen. Das versteht sich doch von selbst! Nicht wahr, Tine?«

Auch Tine war der Meinung, daß sich das von selbst verstünde.

»Sie haben zwei Häuser in Rangkas-Betung, also Platz genug für zwei Familien«, erklärte Verbrugge.

»Selbst wenn das nicht der Fall wäre – – –«

»Ich wagte ... Nicht ... Bestimmt ...«

»Aber Herr Resident,« rief Frau Havelaar, »es kann doch gar keine Rede sein – – –«

»Zuzusagen ... Es ... Ist ... Doch ...«

»Und wenn's zehn Personen wären! Wenn sie mit uns vorliebnehmen will ...«

»Eine ... Große ... Belästigung ... Sie ... Ist ...«

»In dem Zustand kann doch die Dame nicht reisen, Herr Resident.«

Ein heftiger Stoß, des Wagens, der aus dem Sumpfloch flog, setzte das Ausrufungszeichen hinter die Erklärung von Tine, daß Frau Slotering nicht reisen konnte. Jeder hatte längst das bei solchen Stößen gebräuchliche »He!« ausgerufen, Max hatte auf dem Schoß der Mutter den verlorenen Pisang wiedergefunden, und man war schon wieder ein ganzes Stück des Weges weitergekommen, ehe sich der Resident endlich entschloß, seinen Satz zu vollenden:

»Eine ... Inländische ... Frau ...«

»Oh, das ist für mich absolut das gleiche«, versuchte Frau Havelaar zu äußern. Der Resident nickte, als wäre er zufrieden, die Angelegenheit geregelt zu sehen, und da das Sprechen so schwer fiel, brach die Unterhaltung ab.

Frau Slotering war die Witwe von Havelaars Amtsvorgänger, der vor zwei Monaten gestorben war. Verbrugge, der interimistisch die Funktionen des Residentschaftsassistenten auszuüben hatte, wäre berechtigt gewesen, während dieser Zeit die große Dienstwohnung, die zu Rangkas-Betung mit dem Amte verbunden war, zu beziehen. Er hatte es nicht getan, teils, weil er wußte, daß er sie bald wieder würde räumen müssen, teils um der Witwe und ihren Kindern die ungestörte Benutzung zu überlassen. Es wäre übrigens hinreichend Platz gewesen, denn neben dem ziemlich großen Wohnhaus stand auf demselben Grundstück noch ein zweites Haus, das früher dem gleichen Zweck gedient hatte, und trotz einiger Baufälligkeit immer als Wohnung hätte benutzt werden können.

Frau Slotering hatte den Residenten um Fürsprache bei dem Nachfolger ihres Gatten gebeten, dieser möge ihr gestatten, das alte Haus bis zu ihrer Niederkunft, der sie in einigen Monaten entgegensah, zu bewohnen. Das war das Ersuchen, dem Havelaar und seine Frau so bereitwillig nachgekommen waren, wie das ihrer Art entsprach. Gastfrei und hilfsbereit waren sie beide im höchsten Maße.

Der Resident hatte darauf hingewiesen, daß die Witwe eine »inländische Frau« war. Das erfordert für den mit indischen Zuständen nicht vertrauten Leser, eine Erklärung, da man sonst leicht zu der falschen Auffassung geraten könnte, es handele sich um eine Javanerin.

Die europäische Gesellschaft in Niederländisch-Indien ist ziemlich scharf in zwei Teile geschieden: die eigentlichen Europäer und diejenigen, die, wenn sie auch in dem gleichen Rechtsverhältnis stehen, nicht in Europa geboren sind und mehr oder weniger indisches Blut in den Adern haben. Aber so scharf auch die Trennungslinie ist, die im gesellschaftlichen Verkehr zwischen den beiden Arten von Individuen, die übrigens gegenüber dem Eingeborenen beide als »Holländer« bezeichnet werden, gezogen wird, so muß doch zur Ehre der Humanitätsbegriffe gesagt werden, daß diese Gegensätzlichkeit niemals den barbarischen Charakter annimmt, der in den Vereinigten Staaten bei der Betonung der Rassenunterschiede zutage tritt. Ich verkenne nicht, daß auch dann noch viel Ungerechtes und Abstoßendes zur Geltung kommt, und daß mir die Bezeichnung »Liplap« häufig in die Ohren dröhnte als ein Beweis, wie weit der Nichtliplap, der Weiße, noch von wahrer Bildung entfernt ist.

Es ist richtig, daß der Liplap nur ausnahmsweise in der Gesellschaft zugelassen wird, und daß man ihn gewöhnlich nicht für voll nimmt, aber man hört nur höchst selten die Ausschließung und Geringschätzung grundsätzlich verteidigen. Es steht natürlich jedermann das Recht zu, seine Umgebung und seinen Umgang frei zu wählen, und man darf es dem eigentlichen Europäer nicht verübeln, daß er die Gesellschaft von Menschen seiner eigenen Art vorzieht dem Verkehr mit Leuten, die, – ihre sittlichen und geistigen Qualitäten ganz außer acht gelassen, – seiner Anschauungswelt nicht angehören, oder, – und das ist bei allen Unterschieden der Zivilisation meist die Hauptsache, – deren Vorteile sich in einer anderen Richtung entwickelt haben als die seinen.

Der Liplap, – wollte ich die Bezeichnung anwenden, die allgemein als höflicher gilt, müßte ich sagen ein » sogenanntes inländisch Kind«, aber ich ziehe es vor, dem aus der Alliteration geborenen Sprachgebrauch treu zu bleiben, ohne damit eine kränkende Absicht zu verbinden, – also der Liplap hat viele gute Eigenschaften. Auch der Europäer hat sie. Beide haben viel Schlechtes, also sie gleichen einander auch in dieser Beziehung. Aber das Gute sowohl wie das Schlechte, das beiden eigen ist, bewegt sich bei jedem von ihnen in anderer Richtung, und deshalb kann sich aus ihren persönlichen Beziehungen selten eine gegenseitige Befriedigung ergeben. Dazu kommt, – und das ist hauptsächlich Schuld der Regierung, – daß der Liplap meist keine Erziehung genossen hat. Es handelt sich nicht darum, zu erwägen, was aus dem Europäer würde, wenn seine Entwicklung von Jugend an so behindert und beschränkt wäre. Man muß zunächst die Dinge nehmen, wie sie sind, und da steht es außer Frage, daß die mangelhafte Bildung und die Unwissenheit dem Liplap im allgemeinen in seinem Streben nach Gleichstellung mit dem Europäer im Wege sind, selbst da, wo er als Einzelindividuum an Wissen und Können vielleicht den Vorrang vor einer bestimmten europäischen Persönlichkeit verdienen würde.

Auch das ist durchaus nichts Neues. Es lag zum Beispiel schon in der Politik Wilhelm des Eroberers, den unbedeutendsten Normannen über den gebildetsten Sachsen zu stellen, und jeder der Eindringlinge konnte sich auf das Übergewicht der Normannen im allgemeinen berufen, um seiner Person auch da Geltung zu verschaffen, wo er ohne den Einfluß seiner Stammesgenossen, als der Sieger, bedeutungslos geblieben wäre.

Aus diesen Ursachen bekommen die Beziehungen der beiden Gruppen etwas Befangenes und Gezwungenes, und nur sehr einsichtsvolle, kluge und vorurteilsfreie Maßregeln der Regierung können hier Wandel schaffen.

Selbstverständlich findet sich der Europäer, der dabei den Vorteil auf seiner Seite hat, mit diesem künstlichen Übergewicht sehr schnell ab. Aber es ist doch manchmal höchst komisch, zu sehen, wie jemand, der seine Erziehung und seine sprachliche Bildung in irgendeinem obskuren Hinterhaus des Rotterdamer Hafenviertels erworben hat, sich über den Liplap lustig macht, der »Glas Wasser« und »Regierung« mit männlichem, »Sonne« und »Mond« mit sächlichem Artikel verwendet.

Der Liplap mag noch so gebildet, noch so gut erzogen und gelehrt sein, – das gibt es vielfach, – der letzte Europäer, der noch als Tellerwäscher herübergekommen war, und den Grundstock seines jetzigen Vermögens vielleicht in einer Krambude erwarb, in der er Speck und alte Gewehre verkaufte, wird sich über ihn lustig machen, weil er in der Aussprache das h und das g nicht auseinander halten kann.

Aber um darüber nicht zu lachen, müßte er wissen, daß im Arabischen und Malayischen das cha und ha durch dasselbe Schriftzeichen dargestellt werden, daß Hironymus über Geronimo sich in Jérôme verwandelt, daß wir aus Huano, Guano gemacht haben, daß das holländische kous Kous, holländisch = Strumpf. von Hose abstammt. Aber so viel Wissen darf man nicht von jemand fordern, der sein Vermögen in Indigo gemacht hat und seine Bildung seinem auffälligen Glück im Kartenspiel oder noch schlimmeren Dingen verdankt.

Aber solch ein Europäer kann doch nicht mit so einem Liplap verkehren!

Ich weiß, daß Wilhelm von Guillaume kommt, und ich muß anerkennen, daß ich, vor allen Dingen auf den Molukken, sehr häufig Liplaps kennen gelernt habe, die mich durch den Umfang ihrer Kenntnisse in Staunen versetzten, und die in mir die Empfindung wach riefen, daß wir Europäer, soviel Hilfsmittel uns auch zur Verfügung stehen, häufig, und nicht nur vergleichsweise, weit hinter diesen armen Parias zurückstehen müßten, die von ihrer Wiege an gegen ungerechte Zurücksetzung und blödes Vorurteil gegen ihre Hautfarbe zu kämpfen hatten.

Aber Frau Slotering war ein für allemal vor holländischen Sprachfehlern geschützt, da sie ausschließlich malayisch verstand. Wir werden sie später noch kennen lernen, wenn wir mit Havelaar, Tine und dem kleinen Max auf der Veranda der Wohnung des Residentschaftsassistenten in Rangkas-Betung Tee trinken, wo unsere Reisegesellschaft nach langem Rütteln und Stoßen endlich wohlbehalten ankam.

Der Resident, der mitgekommen war, um den neuen Residentschaftsassistenten in sein Amt einzuführen, gab den Wunsch zu erkennen, noch am gleichen Tage nach Serang zurückzukehren.

»Weil ... Ich ... Sehr ...«

Havelaar erklärte sich sofort zu aller Eile bereit ...

»Viel ... Zu tun ... habe ...«

Und es wurde sofort verabredet, daß man in einer halben Stunde auf der Veranda des Regenten zusammenkommen wolle. Verbrugge, der darauf vorbereitet war, hatte bereits vor einigen Tagen den Distriktshäuptern, dem Patteh, dem Kliwon, dem Djaksa Bezeichnungen inländischer Beamten. Der Patteh ist eine Art Sekretär und Faktotum des Regenten, der Kliwon ist der Vermittler zwischen der Verwaltung und den einzelnen Dorfhäuptlingen. Der Djaksa ist Polizeioffizier., dem Steuereinnehmer, einigen Mantries, und sämtlichen inländischen Beamten, die dieser Feierlichkeit beiwohnen mußten, Auftrag erteilt, sich auf dem Hauptplatze zu versammeln.

Der Adhipatti nahm Abschied und begab sich nach seinem Hause. Frau Havelaar besichtigte ihre neue Wohnung und war sehr zufrieden damit, vor allem, weil sie einen großen Garten vorfand, was ihr für den kleinen Max, der viel im Freien sein mußte, sehr erwünscht war. Der Resident und Havelaar waren auf ihre Zimmer gegangen, um sich umzukleiden, denn bei der bevorstehenden Feierlichkeit mußten sie in dem offiziell vorgeschriebenen Kostüm erscheinen. Rund um das Haus standen Hunderte von Menschen, die teils zu Pferde den Wagen des Residenten begleitet hatten, teils zum Gefolge der zusammengerufenen Distriktshäupter gehörten. Die Polizei- und Bureauaufseher liefen geschäftig hin und her, kurzum, alles zeigte, daß die Monotonie, dieses weltvergessenen Fleckes in der Westecke Javas für eine kurze Zeit durch Bewegung und Leben unterbrochen wurde.

Bald fuhr der schöne Wagen des Adhipatti vor. Der Resident und Havelaar, beide glänzend von Gold und Silber, aber doch ein wenig über ihre Degen stolpernd, stiegen ein und fuhren nach der Wohnung des Regenten, wo sie mit Musik von Gongs und Gamlangs Beides Musikinstrumente, der Gong ein Metallbecken, der Gamlang eine Art Mundharmonika. empfangen wurden. Verbrugge, der sich gleichfalls umgekleidet hatte, wartete bereits dort. Die niederen Häuptlinge saßen in großem Kreise nach orientalischer Sitte auf Matten, die über den Boden gebreitet waren, und am Ende der langen Galerie stand ein Tisch, an dem der Resident, der Adhipatti, der Residentschaftsassistent, der Kontrolleur und sechs der bedeutenderen Häuptlinge Platz nahmen. Es wurde Tee und Gebäck herumgereicht, und die einfache Zeremonie begann.

Der Resident erhob sich und verlas den Beschluß des Generalgouverneurs, demzufolge Max Havelaar zum Residentschaftsassistenten der Abteilung Bantam-Kidul oder Süd-Bantam, wie Lebak von den Inländern bezeichnet wird, ernannt wurde. Hierauf las er aus dem Staatsblatt den Eid vor, der bei Antritt des Dienstes geleistet werden mußte: » Daß man, um in das Amt berufen oder befördert zu werden, niemandem etwas versprochen oder gegeben habe, noch versprechen oder geben werde; daß man Treue bewahren werde Seiner Majestät dem König der Niederlande, gehorsam sein Seiner Majestät Vertretern in den indischen Ländern; daß man eifrig allen Gesetzen und Bestimmungen, die erfolgt sind oder noch erfolgen werden, nachkommen und daß man alle Pflichten eines treuen und diensteifrigen Beamten erfüllen werde.«

Hierauf folgte natürlich das sakramentale: » So wahr mir Gott helfe!«

Havelaar sprach den vorgelesenen Eid nach.

Das Gelübde, die eingeborene Bevölkerung gegen Ausplünderung und Unterdrückung zu schützen, war eigentlich in diesem Eid inbegriffen; denn wenn man schwor, die bestehenden Gesetze und Bestimmungen anzuwenden, brauchte man sich nur an die zahlreichen Schutzvorschriften zu halten, um zu erkennen, daß ein besonderer Eid hier nicht nötig war. Aber der Gesetzgeber scheint der Ansicht gewesen zu sein, daß ein Überfluß des Guten nicht schaden kann, und so muß der Residentschaftsassistent einen besonderen Schwur leisten, der ihm die spezielle Verpflichtung, sich um das niedere Volk zu kümmern, nochmals ausdrücklich auferlegt.

Havelaar mußte also zum zweiten Male Gott zum Zeugen anrufen, als er gelobte, die eingeborene Bevölkerung zu schützen gegen Aussaugung und Bedrückung.

Für einen aufmerksamen Beobachter wäre es von Interesse gewesen, auf den Unterschied in Haltung und Ton zwischen dem Residenten und Havelaar bei dieser Gelegenheit zu achten. Beide hatten einer solchen Zeremonie schon wiederholt beigewohnt, und der Unterschied bestand allein in Charakter und Auffassung beider Beamten.

Der Resident sprach wohl ein wenig schneller als gewöhnlich, da er die Fassungen nur vorzulesen brauchte, aber doch geschah von seiner Seite alles mit einer Würde und einem Ernst, die dem oberflächlichen Zuschauer eine sehr hohe Meinung von der Bedeutung der Zeremonie einflößen mußten.

Havelaar dagegen hatte, während er mit erhobenem Schwurfinger den Eid nachsprach, etwas in Ausdruck und Haltung, als ob er sagen wollte: Das ist selbstverständlich, das tue ich auch, ohne Gott anzurufen; und der erfahrene Menschenkenner würde seiner ungezwungenen Haltung und der scheinbaren Gleichgültigkeit mehr vertraut haben als der amtlichen Würde des Residenten.

Ist es nicht tatsächlich lächerlich, anzunehmen, daß ein Mann, der berufen ist, Recht zu sprechen, dem das Wohl und Wehe von Tausenden in die Hand gegeben ist, sich mit ein paar ausgesprochenen Silben binden könne, wenn er nicht auch ohne diese Silben sich aus dem inneren Drang des Herzens seiner Aufgabe bewußt wird.

Wir glauben von Havelaar, daß er die Armen und Bedrückten, wo er sie auch antreffen mochte, beschützt hätte, selbst wenn er vor Gott das Gegenteil gelobt haben würde.

Nun folgte eine Ansprache des Residenten an die Häuptlinge, worauf er ihnen den Residentschaftsassistenten als obersten Chef der Abteilung vorstellte, sie aufforderte, ihre Pflichten zu erfüllen, und was dergleichen Gemeinplätze mehr sind. Die Häuptlinge wurden dann einzeln mit Namen Havelaar vorgestellt; er reichte jedem die Hand, und die Einführung in das Amt war vorbei.

Im Hause des Adhipatti wurde eine Mahlzeit eingenommen, zu der auch der Kommandant Duclari eingeladen war. Unmittelbar danach erhob sich der Resident, der noch am gleichen Abend in Serang sein wollte, und stieg in seinen Reisewagen, und so fiel Rangkas-Betung wieder in die gewöhnliche Stille und Einsamkeit zurück, die der Abgeschiedenheit einer javanischen Binnenstation, die nur von wenigen Europäern bewohnt wird und obendrein nicht an einem der großen Wege liegt, entsprach.

Die Bekanntschaft zwischen Duclari und Havelaar war schnell zustande gebracht. Der Adhipatti gab deutlich zu erkennen, daß ihm sein neuer »älterer Bruder« sympathisch war, und Verbrugge berichtete später, daß sich auch der Resident, den er auf seiner Rückfahrt nach Serang ein Stück des Weges begleitet hatte, sehr günstig über die Familie Havelaar geäußert habe, die auf ihrer Durchfahrt nach Lebak einige Tage in seinem Hause in Serang verblieben war. Er hatte ferner gesagt, daß Havelaar bei der Regierung gut angeschrieben stünde und höchst wahrscheinlich bald in ein höheres Amt oder mindestens in einen vorteilhafteren Bezirk versetzt werden würde.

Max und seine Tine waren erst kürzlich von einer Europareise zurückgekehrt, und sie hatten das »Kofferdasein«, das solche Reisen mit sich bringen, herzlich satt. Sie fühlten sich glücklich, nach so langem Nomadisieren endlich wieder an einen Ort gelangt zu sein, wo sie es sich heimisch machen konnten. Vor der Reise nach Europa war Havelaar Residentschaftsassistent auf Amboina gewesen, wo er mit sehr vielen Widerwärtigkeiten zu kämpfen gehabt hatte. Infolge falscher und verärgernder Regierungsmaßnahmen gärte es ununterbrochen unter den Eingeborenen der Insel. Mit vieler Energie hatte er diesen Geist unterdrücken können, aber der Verdruß über die ungenügende Hilfe, die man ihm von oben herab bot, die Empörung über die elende Verwaltung, die seit Jahrhunderten die herrlichen Gegenden der Molukken entvölkert und ruiniert, erbitterten ihn.

Havelaar tat auf Amboina, was er nur konnte, aber der ewige Ärger über diejenigen, deren Aufgabe es gewesen wäre, seine Arbeit zu fördern, griff schließlich seine Gesundheit an. Er erkrankte und war gezwungen, nach Europa zu gehen.

Im Grunde genommen, hätte er bei seiner Wiedereinstellung Anspruch auf ein besseres Verwaltungsgebiet erheben können, als es das armselige Lebak war, um so mehr, als Amboina an sich schon als bedeutsamer gelten konnte und er dort selbständig, ohne einen Residenten über sich zu haben, gewirkt hatte. Außerdem war bereits vor seinem Wegzuge von der Insel die Rede davon gewesen, ihn zum Residenten zu befördern, und es erschien daher vielen auffällig, daß ihm nun die Leitung eines Bezirks übertragen wurde, der so wenig an Kulturemolumenten aufbrachte, weil eben viele die Bedeutung einer Stellung nur nach den damit verbundenen Einnahmen schätzen. Er selbst beklagte sich darüber durchaus nicht, denn sein Ehrgeiz strebte anderen Zielen zu als höherem Rang und Geldgewinn.

Und gerade den letzteren hätte er sehr gut gebrauchen können! Denn auf seinen Reisen in Europa war das Wenige draufgegangen, das er in seinen früheren Dienstjahren erübrigt hatte. Selbst Schulden hatte er zurückgelassen; er war, mit einem Wort, arm. Aber niemals betrachtete er sein Amt vom Standpunkte des Geldverdienstes, und bei seiner Berufung nach Lebak war er zufrieden und nahm sich vor, die Rückstände durch Sparsamkeit zu erledigen, wobei ihm seine in ihren Bedürfnissen so anspruchslose Frau mit großer Bereitwilligkeit zu Hilfe kam.

Aber es war für Havelaar schwer, sparsam zu sein. Er konnte sich selbst auf das absolut Notwendige beschränken. Ohne besondere Anstrengung konnte er seine persönlichen Ansprüche auf das niedrigste Maß herunterschrauben, aber wo andere Hilfe brauchten, da wurden ihm Helfen und Spenden zur wahren Leidenschaft. Er kannte seine Schwäche, er überzeugte sich selbst mit dem ganzen Verstand, der ihm zur Verfügung stand, wie unrecht er tat, jemanden zu unterstützen, wo er persönlich eher Anspruch auf Hilfe erheben konnte. Er fühlte sein Unrecht noch stärker, wenn seine Tine und der kleine Max, die er beide so unendlich liebte, unter den Folgen seiner Freigebigkeit litten, er warf sich seine Weichherzigkeit als Feigheit, als Eitelkeit vor, er gelobte feierlich, sich zu bessern, ... und doch, sowie dieser und jener es verstand, sich als unschuldiges Opfer eines feindlichen Schicksals aufzuspielen, vergaß er alles, um wieder zu helfen. Und welch' bittere Erfahrungen hatte er schon dank dieser durch maßlose Übertreibung zum Laster gewordenen Tugend machen müssen! Acht Tage vor der Geburt seines Sohnes hatte er nicht soviel, um die kleine Wiege zu kaufen, in der das Kind schlafen sollte, und kurz vorher noch hatte er die wenigen Schmucksachen seiner Frau zu Geld gemacht, um jemandem beizuspringen, der sicher in besseren Verhältnissen lebte als er selbst.

Aber jetzt in Lebak lag das alles weit hinter ihnen. Mit ruhiger Zufriedenheit nahmen sie von dem Hause Besitz, in dem sie nun doch einige Zeit zu bleiben hofften. Voll freudiger Erwartung hatten sie in Batavia die Möbel bestellt, die alles so bequem und gemütlich machen sollten. Sie wiesen sich gegenseitig den Platz, wo sie ihr Frühstück nehmen wollten, wo der kleine Max spielen sollte, wo die Bibliothek stehen und wo er ihr abends vorlesen würde, was er tagsüber geschrieben. Denn er war immer bereit, seine Einfälle schriftlich auszuarbeiten, und Tine meinte: »Wenn das erst mal gedruckt ist, wird man erkennen, was ihr Max ist!« Aber nie hatte er etwas im Druck erscheinen lassen; ein gewisses Schamgefühl hielt ihn zurück, und er konnte diese Empfindung nicht besser ausdrücken als durch die Frage, die er an jemanden, der ihn zur Veröffentlichung seiner Ideen drängen wollte, richtete: »Würden Sie Ihre Tochter ohne Hemd auf der Straße herumlaufen lassen?«

Das war auch eine seiner vielen Grillen, die ihn in den Ruf eines Sonderlings brachten, und ich behaupte gar nicht, daß er das nicht gewesen wäre.

Ja, in Rangkas-Betung wollten sie glücklich sein, Havelaar und seine Tine. Die einzige Sorge, die sie drückte, waren die in Europa zurückgelassenen Schulden, die sich noch um die unbezahlten Kosten der Rückreise nach Indien und den Preis der neuangeschafften Möbel erhöhten. Aber das bedeutete keine Not! Sie konnten ihren Lebensunterhalt mit der Hälfte, ja mit einem Drittel seines Einkommens bestreiten! Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, würde er bald zum Residenten befördert, und dann konnte man alles in kurzer Zeit bequem regeln.

»Obgleich es mir leid täte, Lebak zu verlassen, Tine, denn hier gibt es viel zu tun. Du mußt sehr sparsam sein, mein Lieb, dann können wir's vielleicht auch ohne Beförderung schaffen, und dann hoffe ich lange, sehr lange hier zu bleiben.«

Er brauchte sie nun wahrhaftig nicht besonders zur Sparsamkeit zu ermahnen! Sie hatte es bestimmt nicht verschuldet, daß Sparen so notwendig geworden war, aber sie fühlte sich so eins mit ihrem Max, daß sie die Ermahnung gar nicht als Tadel auffaßte. So war es auch nicht gemeint, denn Havelaar wußte sehr wohl, daß er allein durch seine übertriebene Freigebigkeit gefehlt hatte, und daß ihr Fehler, – wenn bei ihr überhaupt von einem Fehler die Rede sein konnte, – höchstens darin bestand, daß sie aus Liebe zu ihm alles gut fand, was er tat.

Sie hatte es durchaus gebilligt, daß er zwei arme Frauen, die niemals aus Amsterdam herausgekommen waren, auf den Jahrmarkt nach Haarlem führte und sie dort alles sehen ließ, unter dem lustigen Vorwand, daß der König ihn beauftragt habe, alte Frauchen, die sich gut betragen hatten, zu amüsieren. Sie billigte es, daß er Kinder aus allen Waisenhäusern Amsterdams mit Kuchen und Mandelmilch bewirtete und mit Spielzeug überschüttete. Sie verstand vollkommen, daß er die Wohnungsmiete für die arme Musikantenfamilie bezahlte, die gern in die Heimat zurückkehren wollte, ohne ihre Habe zurückzulassen, wozu Harfe, Geige und Baß gehörten, die sie für ihren armseligen Beruf so nötig brauchten. Sie mißbilligte es nicht, daß er ihr ins Haus das Mädchen brachte, das ihn abends auf der Straße angesprochen hatte, daß er ihr Wohnung und Nahrung gab und das allzu wohlfeile: »Gehe hin und sündige nicht mehr!« nicht aussprach, ehe er ihr das Nichtsündigen möglich gemacht hatte. Sie begriff sehr wohl, daß ihr Max in Menado die Sklavenfamilie loskaufte, die weinend das Podium des Versteigerers bestiegen hatte. Sie hatte nichts dagegen, daß er auf Amboina die schiffbrüchigen amerikanischen Walfischfänger aufnahm und versorgte, und sich vielleicht zu sehr »Grand Seigneur« fühlte, um der amerikanischen Regierung eine Herbergsrechnung Die amerikanische Regierung zahlte für die Beherbergung Schiffbrüchiger amerikanischer Nationalität 83 niederländische Cent pro Tag und Mann, ohne Rücksicht auf dessen Rang. vorzulegen. Sie verstand, weshalb die Offiziere fast aller einlaufenden Kriegsschiffe meist bei Max logierten, und daß ihr Haus ihr beliebtestes Landquartier wurde.

War er nicht ihr Max? War es nicht zu kleinlich, zu nichtig, zu lächerlich, ihn, der so königlich dachte, mit Haushaltssorgen und Sparsamkeitsgeboten, die für andere galten, binden zu wollen? Und dann, wenn auch Einnahmen und Ausgaben sich gelegentlich nicht die Wage hielten, war Max, ihrem Max, nicht eine glänzende Karriere bestimmt? Wie bald würde er imstande sein, ohne Überschreitung seines Budgets allen seinen großherzigen Neigungen freien Lauf zu lassen! Mußte ihr Max nicht eines Tages Generalgouverneur von Indien werden, – oder gar König? War es nicht im Grunde seltsam, daß er nicht schon König war?

Wenn man das einfältig findet, so trug ihre Liebe Schuld an dieser Einfalt, und wenn je, so galt hier, daß man viel vergeben muß denen, die viel geliebt haben.

Doch man brauchte ihr nichts zu vergeben. Auch ohne die übertriebenen Vorstellungen, die sie von ihrem Max hegte, zu teilen, konnte man annehmen, daß er eine glänzende Laufbahn vor sich hatte. Und wenn sich diese begründeten Aussichten verwirklicht hätten, wären tatsächlich alle unangenehmen Folgen seiner Freigebigkeit schnell aus dem Wege geräumt worden. Aber noch eine andere Entschuldigung gab es für ihre und seine scheinbare Sorglosigkeit.

Sie hatte jung ihre beiden Eltern verloren und war bei ihrer Familie aufgewachsen. Als sie heiratete, erklärte man ihr, daß sie ein kleines Vermögen besäße, das ihr auch ausbezahlt wurde, aber Havelaar entdeckte aus alten Briefen und Aufzeichnungen, die sie in einer von ihrer Mutter geerbten Kassette aufbewahrte, daß ihre Familie sowohl väterlicher- als mütterlicherseits sehr reich gewesen war, ohne daß es irgendwie erkennbar wurde, wo, wodurch und wann dieser Reichtum verloren gegangen war. Sie, die sich niemals um Gelddinge gekümmert hatte, vermochte nur wenig oder nichts anzugeben, als Havelaar von ihr Auskunft über die früheren Besitzungen ihrer Angehörigen erlangen wollte.

Ihr Großvater, der Baron von W., war mit Wilhelm V. 1806 machte Napoleon seinen Bruder Louis zum König von Holland. seinerzeit nach England geflohen und dort Rittmeister in der Armee des Herzogs von York geworden. Er schien mit den übrigen Flüchtlingen aus der Umgebung des Statthalters ein sehr vergnügtes Leben geführt zu haben, was von vielen auch als Ursache für den Verlust seines Vermögens angegeben wurde. Später, bei Waterloo, fiel er bei einer Attacke der Boreelschen Husaren. Ergreifend waren die Briefe ihres Vaters zu lesen, der als achtzehnjähriger Jüngling im gleichen Korps als Leutnant diente, und bei derselben Attacke einen Säbelhieb über den Schädel bekam, an dessen Folgen er acht Jahre später in geistiger Umnachtung sterben sollte. In diesen an seine Mutter gerichteten Briefen klagte der Jüngling, wie er vergeblich auf dem Schlachtfelde den Leichnam seines Vaters gesucht habe.

Was ihre Abstammung von Mutters Seite betrifft, erinnerte sie sich, daß ihr Großvater auf sehr großem Fuße gelebt hatte, und aus einigen Aufzeichnungen ging hervor, daß der alte Herr Besitzer der gesamten Postregie in der Schweiz gewiesen war. Auch das ließ auf ein großes Vermögen schließen, aber auch hier war aus nicht aufklärbaren Gründen nichts oder nur sehr wenig bis auf die zweitnächste Generation gekommen.

Das Wenige, was über diese Dinge bekannt war, vernahm Havelaar erst nach der Hochzeit, und bei seinen Nachforschungen entdeckte er zu seiner Überraschung, daß die erwähnte Kassette, die samt ihrem Inhalt von Tine aus Pietät bewahrt worden war, ohne daß sie jemals vermutet hätte, die darin geborgenen Schriftstücke könnten für sie in geldlicher Beziehung etwas bedeuten, auf unerklärliche Weise abhanden gekommen war. Bei aller Uneigennützigkeit entstand in ihm doch auf Grund dieser und noch einiger anderer Umstände die Überzeugung, daß sich hinter diesen Dingen ein Familiengeheimnis verbarg, und unwillkürlich, – wer wollte ihm das verübeln? – führte er in seinen Träumereien diesen Roman zu einem glücklichen Ende. Ob nun hinter den Dingen etwas Tatsächliches verborgen war, ob hier ein Fall von Erbschleicherei vorlag oder nicht, jedenfalls hatte sich in der Vorstellung Havelaars etwas entwickelt, was man einen »Millionentraum« nennen könnte.

Auch dabei ist es wiederum bezeichnend für ihn, daß er, der das Recht eines Anderen aus den verstaubtesten Akten hervorgegraben und gegen die raffiniertesten Winkelzüge verteidigt hätte, hier, wo seine eigenen Interessen auf dem Spiele standen, nachlässig den günstigen Augenblick versäumte, der sich möglicherweise seiner Sache bot. Es schien ihm peinlich zu sein, daß es hier seinem eigenen Vorteile galt, und wäre Tine die Frau eines Anderen gewesen, eines Mannes, der sich an Havelaar mit der Bitte gewandt hätte, das feingesponnene Netz zu zerreißen, in dem das großväterliche Vermögen hängen geblieben war, dann wäre es ihm sicherlich gelungen, der »interessanten Waise« zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber so war die interessante Waise seine eigene Frau, ihr Vermögen war auch das seine, und da erschien es ihm doch zu krämerhaft, zu entwürdigend, in ihrem Namen zu fragen: »Seid Ihr mir nicht noch etwas schuldig?«

Und dennoch vermochte er den Millionentraum nicht abzuschütteln, wenn er ihm auch nur als Entschuldigung bei seinen häufigen Selbstanklagen, er gebe zu viel Geld aus, diente.

Erst kurz vor seiner Rückkehr nach Java, als der Geldmangel immer drückender wurde und er das stolze Haupt unter das kaudinische Joch manches Gläubigers beugen mußte, hatte er seine Abneigung überwunden und versucht, Ansprüche geltend zu machen. Da wurden ihm als Antwort alte Rechnungsauszüge und Konten vorgelegt, und das ist bekanntlich ein Argument, gegen das man nichts vorbringen kann.

Aber in Lebak wollten sie so sparsam sein! Weshalb auch nicht. In einem solch' unzivilisierten Lande irren nachts keine Mädchen durch die Straßen, die ein wenig Ehre für ein wenig Brot verkaufen. Dort treiben sich keine Menschen herum, die von zweifelhaften Berufen leben, da kam es nicht vor, daß eine Familie plötzlich durch Schicksalsschläge unterzugehen drohte, ... und solcherart waren doch gewöhnlich die Klippen, an denen Havelaars gute Vorsätze scheiterten. Die Zahl der Europäer innerhalb des Bezirkes war so gering, daß sie gar nicht in Frage kommen konnten, und der Javaner in Lebak war viel zu arm, als daß er durch irgendwelche Nöte in noch größere Armut hätte versinken können. Die neue Umgebung atmete Ruhe, ... sie bot keine der vielen Gelegenheiten, die von mehr oder weniger romantischem Schimmer umwoben, Havelaar so oft verleitet hatten, zu erklären:

»Nicht wahr, Tine, das ist doch eine Sache, der man sich einfach nicht entziehen kann?«

Und worauf sie immer geantwortet hatte:

»Nein, Max, das kannst du nicht!«

Wir werden sehen, wie das einfache, ruhige Lebak Havelaar mehr kostete als alle seine bisherigen Extravaganzen zusammengenommen.

Aber das wußten sie nicht. Sie blickten mit Vertrauen in die Zukunft und fühlten sich glücklich in ihrer Liebe und im Besitz ihres Kindes.

An diesem ersten Abend, als Duclari und Verbrugge vom Besuch bei Havelaar in ihre gemeinsame Wohnung zurückkehrten, sprachen sie noch lange über die kindliche Fröhlichkeit der Neuangekommenen.

Havelaar begab sich in sein Arbeitszimmer und blieb dort die ganze Nacht bis zum folgenden Morgen.


 << zurück weiter >>