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Als Währing noch ein Vorort von Wien war und nicht ein Bezirk, ging ich mit meiner Braut dort eines Tages auf die Wohnungssuche und es fand sich alsbald ein Nest, das uns behagte. Die Gegend war damals beliebt bei Herrschaften a. D., die lieber außerhalb der Wiener Verzehrungssteuerlinie als in Linz oder Graz wohnten. Uns gegenüber hauste ein General außer Dienst, neben uns ein Hofrat in Pension, über uns ein Graf, dessen Töchter sich ihre Kleider selbst nähten. Zwei Gassenzimmer und ein Hofkabinett genügten uns. Und es war so idyllisch. Vorne rollte die Pferdebahn von sechs Uhr früh bis ein Uhr nachts fast unter den Fenstern, aber wir gewöhnten uns daran; rückwärts stießen mehrere Höfe aneinander, darunter war auch der eines Gasthauses, und sobald am Morgen in der Wirtsküche Feuer gemacht wurde, fingen sämtliche Saucen und Bratensäfte, die am Vortag auf dem Herd übergelaufen waren, aufs neue zu duften an. Das Kabinett konnte nur nach Mitternacht gelüftet werden. Doch auch daran gewöhnten wir uns. Damals war uns alles recht. Es war eine selige Zeit. Wenn ich vormittags ins Bureau ging, war meine junge Frau stets in Lebensgefahr. Sie neigte sich, um mir nachzusehen, stets so bedenklich weit zum Fenster hinaus, daß die schöne alte Generalin gegenüber manchmal nahe daran war, um Hilfe zu rufen. Zum Glück gewöhnt jede Frau sich solche Dinge mit der Zeit ab. Wir schwärmten für alles, was die Gegend an der Währingerlinie aufzuweisen hatte; nur einem traute meine Frau nicht: sie konnte nicht daran glauben, daß es möglich sei, dort eine Ballfriseurin zu finden oder daß ich mir dort in einem der vorortlichen Ateliers die Haare könne schneiden lassen, denn ich hatte damals noch Haare. Das müsse man eben versuchen, meinte ich. Und dies tat ich, soweit es mich anging, eines Tages, indem ich beim nächstbesten Friseur eintrat. Stephan Bogdanovics nannte sich der Künstler auf seinem funkelnden, offenbar ganz neuen Schild. Der Name flößte mir vollstes Vertrauen ein, denn einem Serben kann man seinen Kopf ruhig überlassen. Die besten Rasierer und Friseure in Europa sind Serben.
Kaum saß ich in dem Drehstuhl unter dem weißen Mantel, öffnete sich die Tür hinter mir in jener geräuschvollen Art, die nervösen oder aufgeregten Menschen eigen ist: mit einem halben Druck der Klinke brechen sie in ein Zimmer ein, ohne zu ahnen, wie weh das denen tut, die dort weilen. So hier. Ich wendete mich erschrocken um. Eine nicht mehr ganz junge, hübsche Person, in ihrer Erscheinung mehr Frau als Mädchen, stürmte herein. Der Haarkünstler an meiner Seite verbeugte sich, ein Lehrbub im Hintergrund rief: »Küß die Hand!« sie aber grüßte mich. Eine temperamentvolle Prinzipalin, dachte ich mir und wendete mich wieder dem Spiegel zu, um eingehend zu erläutern, wie ich meine Haare geschnitten haben wollte. Denn ich war plötzlich mißtrauisch geworden, als ich ahnte, daß der junge Mann neben mir nicht der Bogdanovics sein dürfte.
»Wo ist der Stephan?« fragte aus dem Hiutergrund des langgestreckten Lokales, das in eine Art Alkoven mündete, eine weibliche Stimme. »Beim ›Wilden Mann‹«, antwortete lakonisch mein Haarkünstler und zuckte mit den Achseln. Ein Wispern hub an und alsbald flog der Lehrling aus der Tür, wie die gestrenge Prinzipalin – denn dafür mußte ich sie halten – vorhin hereingeflogen war. Und während der Gehilfe sich mit meinem Kopfe beschäftigte, ging die junge Frau in die »Sitzkassa« und vertiefte sich dort in ein Einschreibbuch. Ich sah es im Spiegel, wie sie rechnete und sich Notizen machte. Plötzlich fing sie mit sich selbst zu reden an: »Samstag 17 Gulden, Sonntag 25 Gulden, Montag 5 Gulden, Dienstag 11, Mittwoch 13 Gulden – das Geschäft geht ja gut!« – »Sehr gut geht es, Fräulein Ludmilla!« erwiderte ungefragt mein Künstler und riß mir dabei ein paar Haare aus, denn er zog die Schere zur Seite, ohne sie vollständig geschlossen zu haben. So wie sie, die also ein Fräulein war, die Türklinke, so behandelte er die Schere. Ich seufzte entrüstet auf und er entschuldigte sich. Das genügte, denn aus ein paar Haaren machte ich mir damals noch nichts. –
Da erschien Stephan Bogdanovics, den man vom »Wilden Mann« hatte holen müssen, in der Tür. Es riß ihn nach zwei Seiten. Indem er eine Hand der Dame in der Kassa hinreichte, verbeugte er sich unaufhörlich vor der neuen Kunde unter dem weißen Mantel und die »ergebenden Diener« flossen ihm wie Honigseim von den Lippen. Dann wendete er sich plötzlich von mir ab und küßte das Fräulein Ludmilla, daß es schnalzte. Sie drängte ihn halb unwillig von sich fort, folgte ihm aber in den hinteren, alkovenartigen Raum des Lokals. Als der Herr Stephan an mir vorüber ging, sagte er, mit halbverglasten Augen, süß lächelnd: »Meine Braut«. Das erklärte alles und entschuldigte ihn in meinen Augen vollkommen. Seine Braut kann ein Friseur auch vor Kunden küssen.
Während das Paar nun hinten wisperte und von Minute zu Minute erregter wurde, stutzte der Gehilfe mir den Bart. Sein Mund war ganz nahe bei meinem rechten Ohr und er flüsterte mir zu: »Sie hat ihm das Geschäft gekauft. Er war früher Gehilfe da . . . Sie hat einen Narren gefressen an ihm . . . Er aber trinkt, ist ein Lump. Hab' ihm auch schon gekündigt. Bin ganzen Tag allein . . .« Und er stutzte den Bart an der linken Seite: »Sie ist Kammerfräulein bei einer Gräfin. Hat sich was erspart . . . Ihm alles gegeben für's Geschäft . . . In zwei Monaten soll Hochzeit sein . . . Haare einbiegen gefällig?«
»Keinen Kreuzer hast du von der ganzen Wochenlosung?« schrie rückwärts Fräulein Ludmilla auf. »Pst! Pst! Pst!« ertönte es dazwischen und die entrüstete Braut dämpfte den Ton ihrer Rede. Wispernd wurde weiter gestritten. Man hörte nur Zischlaute und der Gehilfe lachte in sich hinein. »Er wird ihr wieder schwören, daß er sich bessert! . . . Armes Mädel . . . Ergebenster Diener!« Und er nahm mir den Mantel ab. Als ich mich vom Lehrbuben abbürsten ließ und nach Kleingeld in meinem Portemonnaie suchte, kam das Fräulein Ludmilla mit verweinten Augen aus dem Hintergrunde hervor. »Lieber Adolf,« sagte sie, »verlassen Sie das Geschäft nicht auch noch! Bleiben Sie wenigstens so lange, bis ich da bin, bis wir geheiratet haben. Ich werde ihn dann schon halten. Er ist zu schwach. Bleiben Sie mir zuliebe so lang . . .« Der Adolf, der eigentlich, was ich erst jetzt bemerkte, ein ganz hübscher Bursche war, sah die künftige Prinzipalin mit einem Blick an, der von ihr als Zustimmung gedeutet wurde, denn sie dankte ihm mit einem Händedruck. Beruhigt verließ ich den merkwürdigen Friseurladen, denn auch ich hatte die Überzeugung gewonnen, daß diese junge Frau dem Stephan den »Wilden Mann« schon abgewöhnen würde.
Meine Frau war nicht sehr erbaut von der Kunst des Adolf, aber sie lachte doch herzlich über die Schilderung, die ich ihr von den Verhältnissen in diesem vorortlichen Etablissement gab. Und nach vier Wochen gestattete sie mir, mich wieder zu Stephan Bogdanovics zu begeben. Am Ende würde ich diesmal das Glück haben, von dem Meister selbst bedient zu werden. Das war auch mein stiller Wunsch. Aber er sollte nicht in Erfüllung gehen.
Es waren mehrere Kunden da und ich mußte mich gedulden, denn der Adolf und der Lehrjunge waren wieder allein. Der letztere reichte mir als Lektüre den »Hansjörgel«. Der Adolf schien mir sehr gedankenvoll zu sein. Er schnitt emsig darauf los und sprach kein Wort. Der Lehrbub rasierte einen Fuhrmann, daß ihm die hellen Tränen über die Backen liefen. Der Mann blieb stumm und ich bewunderte ihn. Aber als er zum Schluß seine Kreuzer auf das Pult warf, ingrimmig»Adjes!« rief und die Tür hinter sich zuschlug, da fühlte selbst der Junge, daß dies ein Abschied war fürs Leben. Der Adolf lachte. Und jetzt erfuhren wir, daß der Fuhrmann das erste Opfer des Buben gewesen. Na ja, einer mußte dies ja schließlich sein und mir war es viel lieber, daß der Fuhrmann es gewesen . . .
Ein neuer Gast erschien. Protzig, breitspurig, mit dem Hut auf dem Kopfe. »Ergebenster Diener, Herr v. Huber!« Dieser erwiderte nichts auf den Gruß des Gehilfen und des Lehrjungen, sondern fragte einfach: »Der Master da?« Auf die Antwort, er werde sogleich kommen, sagte jener brüllend: »Kenn' ich! Ich such 'n beim ›Wilden Mann‹, vielleicht balbiert er mich dort!« Und alle höflichen Aufforderungen des Lehrjungen, Platz zu nehmen, mißachtend, ging er von dannen. Adolf versicherte uns hierauf, daß sein Prinzipal heute etwas ganz anderes zu tun hätte, als beim »Wilden Mann« zu frühstücken. Er sei bei der Toilette. Heute gehe er mit seiner Braut zum Herrn Pfarrer und am nächsten Sonntag fände das erste Aufgebot des Paares in der Kirche statt. Die Kunden nahmen diese Mitteilungen sehr kühl auf und da Adolf auch keine Anstrengungen machte, das Thema weiter auszuspinnen, wurde nichts weiter darüber geredet. Der Herr Stephan Bogdanovics schien seinen Kunden persönlich so wenig bekannt zu sein als mir. Sie interessierten sich jedenfalls nicht für ihn.
Ich hatte nur noch einen Vordermann, da erschien die Braut. Ganz anders als damals, gewissermaßen feierlich, trat sie ein, verneigte sich nach allen Seiten und schritt dem Hintergrund zu. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, das einmal die Büste ihrer Gräfin umspannt haben mochte, denn ihr war es zu eng, einen hübschen Sommerhut und weiße Handschuhe. Ohne ein Wort zu sprechen, ließ sie sich nieder und wartete eine Weile. Dann winkte sie den Buben zu sich heran, gab ihm leise einen Auftrag und dieser entfernte sich durch einen rückwärtigen Ausgang.
Mein Vordermann war endlich auch erledigt und ich kam an die Reihe. Kaum saß ich vor dem Spiegel, stürzte der Lehrjunge rückwärts herein mit den Worten: »Ich find' den Herrn nit! Seine Kammer ist zug'spirrt. Die Hausmasterin sagt, er is schon lang fort.«
»Und uns sind fünf Kundschaften davongegangen, weil er nicht da war!« rief der Adolf gereizt.
»Ja, wo kann er denn sein?« fragte zaghaft das Fräulein Ludmilla. Und der Lehrjunge kam ihr zu Hilfe mit den resoluten Worten: »Ach was, ich lauf zum ›Wilden Mann‹!« Und fort war er.
Das Mädchen begann zu weinen. Sie kam hervor und entschuldigte sich bei mir. Sie sei in heller Verzweiflung, sagte sie schluchzend. Alles, was sie sich in zwölfjährigem Dienst erspart, habe sie dem Stephan hingegeben, damit er sich dieses Geschäft kaufen und sie heiraten könne. Und sie habe ihn so vom Herzen lieb gehabt. Jetzt aber sei er ihr widerwärtig, denn er trinke und spiele und durchschwärme die Nächte, er betrinke sich selbst bei Tag und sein Geschäft sei ihm gleichgültig. Und doch werde sie ihn heiraten müssen, denn sie sei zweiunddreißig Jahre alt und könne nicht von vorne beginnen. Die Schande, wenn ihre Gräfin erfahre, was sie für einen Mann genommen habe. »Aber,« fuhr sie mit plötzlicher Entschiedenheit fort, »wenn er jetzt wieder im Wirtshaus war – ich weiß nicht, was geschieht.«
Ich wußte ihr nichts Tröstliches zu sagen und schwieg. Sie ging einigemale auf und nieder, dann blieb sie wieder bei mir stehen und sprach: »Ich war nicht so dumm, ihm alles ohne Schrift zu geben. Er hat mir bestätigt, daß das Geschäft mit meinem Gelde gekauft worden ist und daß eigentlich alles, was hier ist, mir gehört.« Sie schien auf ein erlösendes Wort von mir, dem ihr gänzlich Fremden, zu warten, und ich kam ihr endlich entgegen: »Da sind Sie ja an den Mann gar nicht gebunden!« sagte ich.
»Nicht wahr!?« jubelte sie auf und klatschte in die Hände.
Als ich sah, was ich da angerichtet, suchte ich den früheren Ausspruch abzuschwächen. Ich riet ihr, denn doch abzuwarten oder ihm noch eine Probezeit zu stellen . . .
»Nein, nein! Wenn er jetzt aus dem Wirtshaus kommt, geschieht etwas!«
Der Adolf hatte mich heute rasch erledigt und kein Wort gesprochen. Er war blaß und seine Bewegungen verrieten eine Nervosität, die ich das erstemal an ihm nicht wahrgenommen hatte. Mit kurzem Gruß verließ ich den Laden und trat auf die Straße. Der Lehrjunge rannte mir direkt in die Beine, er war atemlos. Und was er der harrenden Braut berichtete, hörte ich noch: »Jessas, Fräul'n, unser Herr hat an Rausch – an Rausch –!« Und dort kam er auch schon herangetorkelt, der edle Stephan Bogdanovics. Den Hut auf dem Hinterkopf, beide Daumen in den Achsellöchern der Weste, laut mit sich selbst redend, so kam er die Straße herab und die Schuljungen trieben ihren Schabernak mit ihm. Es war ein Bild tiefer Verlotterung, das er darbot. Ein Wachmann, der ihn offenbar kannte, nahm ihn unter dem Arm, führte ihn zu seinem Geschäft und vertrieb die kecken Buben, die ihnen gefolgt waren.
Ich war in eine benachbarte Tabaktrafik getreten, um einige Briefmarken zu kaufen, doch als ich wieder auf der Straße erschien, war dort der Lärm viel größer als vorher. Das Fräulein Braut und der blasse Adolf hatten den Herrn Stephan Bogdanovics aus seinem Geschäfte hinausgeworfen. So erzählte man sich lachend. Und siehe, dort lag er neben den Stufen, die zur Eingangstür emporführten, ballte die Fäuste und stieß furchtbare Flüche aus in seiner ohnmächtigen Wut. Dazwischen sang er eine serbische Weise. Die Schulbuben tanzten um ihn herum und verhöhnten ihn. Zuerst warf er seinen Zylinder nach ihnen. Dann seine silberne Uhr, mit welcher er einen am Kopfe verwundete, so daß dieser heulend die Flucht ergriff. Endlich zog er seine Zugstiefletten aus und warf damit nach den Buben. Der Auflauf von vorstädtischem Publikum wurde immer größer, so daß der Tramwayverkehr in der Straße zu stocken begann und Herr Stephan weggetragen werden mußte, denn die Tür seines Geschäftes war für jedermann geschlossen.
Als die Menge sich verlaufen hatte und die Gasse wieder ihr Alltagsgepräge trug, öffnete sich die Tür des Friseurladens, der Lehrjunge trat heraus und spähte straßauf, straßab, dann erschienen auf seinen Wink Fräulein Ludmilla und Adolf. Arm in Arm schritten sie in eifrigem Gespräch dahin und verschwanden im Pfarrhof. Die Ludmilla hielt auf Ordnung. Der Pfarrer sollte sie nicht umsonst erwartet haben.