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Aus Lippa, dem Sitze des Kreisgerichtes, war Ferdinand Trauttmann in der Dämmerung heimgekehrt. Endlich, endlich hatte man die Entscheidung in seinem Prozess gegen den Grafen ausgefertigt und an seinen Fischkal gesendet. Durch alle Instanzen trieb der Graf, den man als Bauer vor Achtundvierzig gar nicht klagen durfte, den Prozess, aber zuletzt verlor er ihn dennoch. Nichts hatte er in Händen, sagte Trauttmanns Anwalt, nur die alte Überlieferung konnte er ins Treffen führen, dass die Weinberge auf den Waldgründen seiner Vorfahren einst angelegt wurden und dass die Bauern den Zehent von jeher geleistet hätten. Die Richter aber meinten, das wäre nicht genug, man müsse einmal die bestehenden Verhältnisse auf ihre Rechtsbeständigkeit prüfen. Und ein solcher Fall wäre hier gegeben. Wenn das Hausarchiv des Grafen keine Abmachung, keine Unterschrift des Kolonisten Ferdinand Trauttmann von 1745 beibringen könne, müsse der unverdächtigen Eintragung desselben in sein Gebetbuch volle Beweiskraft zuerkannt werden. Eine Verpflichtung zum Zehent auf ewige Zeiten sei, nach heutiger Auffassung, außerdem unmoralisch. Und die Wiener Hofkammer, die um ein Gutachten gebeten wurde, habe sich dahin geäußert, dass so harte Bedingungen auch nicht im Geiste der Zeit gelegen wären, in der das Banat besiedelt wurde. Sie schienen unwahrscheinlich und so habe das Obergericht den Rekurs des Grafen verworfen.
Auf solche Art verdeutschte der Fischkal dem Bauern Trauttmann die Sache, und dieser war mit dem rechtskräftigen Urteil in der Tasche heimgekehrt. Sogleich ging er zu seinen jungen Leuten hinüber, um ihnen alles zu erzählen. Der Philipp und die Anmerich saßen einsilbig, in tiefem Ernst bei Tisch, die Bärbl, die schon ins fünfte Jahr ging, bei ihnen. Sie durfte manchmal schon etwas länger aufbleiben, bis der Vater vom Anbauen heimkam. Die zwei kleinen Buben aber, die im Hause eingerückt waren, der Niklos und der Jörgl, staken bereits in den Federn. Sie zählten auch schon zwei und drei Jahre und waren der Stolz der Eltern. Der Großvater trug die Anmerich auf Händen, seitdem sie seinen Sohn so reich beschenkt hatte. Das war eine Mutter, die Leben in den Hof brachte. Die lobte er sich. Er machte schon Pläne, was man den Jörgl einmal studieren lassen könnte, denn er wollte einen Studenten in der Familie haben. Und er brachte sein Gesicht nicht zusammen, wenn er die Anmerich mit ihren drei blonden Kindern sah, eines gesünder als das andere. Und erst die Großmutter! Nie hatten sie die Anmerich launisch und verdrießlich gesehen, immer war gut Wetter bei ihr. Das tat den beiden Alten besonders wohl. Sie hatten den Frieden im Hause und das Glück.
Und heute sollte das anders sein? »Was häbt'r denn?« fragte er, als sich eine verdrießliche, zerstreute Stimmung, eine höchst mangelhafte Anteilnahme für seine wichtige Sache fühlbar machte. Sie schienen beide mit ihren Gedanken ganz wo anders zu weilen als bei seiner Erzählung. Die Anmerich biß die Lippen zusammen und hatte einen Ausdruck von Härte im Gesicht, den der Großvater nie bei ihr gesehen. Ganz fremd kam sie ihm vor. »Wollt 'r m'r nit saage, was es git?« fragte er noch einmal. Da erhob sich die Anmerich. »Bärbl, ins Bett!« sagte sie. »Geb dem Großvater einen Patsch und kumm.« Das Kind gehorchte und ging mit der Mutter.
»Was hotse denn? Häbt ihr euch gazankt?«
»Naa, naa...'sis ganz was annerscht. Mer konn noch gar nit rede drüber. 's is wege der Susi«, sagte Philipp. »Häbt Ihr denn gar nix g'häerg Vatter?«
»Nix. Ich loß mich mit kei'm Mensche uf Klatscherei ein.«
»'s ganze Dorf is voll, sie hätt des Weib vom Wörle vergift!« sprach Philipp leise. »Heunt is se vernumme worde vom Richter und de G'schworne.«
»Die Susi? Des glaab ich mei' Lebtag nit, dass sie sowas getaun hot«, sagte der Vater. »Mei' Lebtag nit«
»Sagt des der Anmerich! Sie lässt den Kopp hänge und schämt sich zu Tod.«
»Oh, die Leut'! Oh, die böse Mäuler! Sie wer'n ihr halt neidig sein, weil se valleicht Bäuerin werd. Wann der Mathes g'scheit is, nimmt er se zum Weib. Des häb ich mer schun lang gedenkt.«
»Verdient hätt' sie sich's«, erwiderte der Philipp auf die feste Rede seines Vaters. Auch ihm war nach solchen Worten wieder leichter, und er rief die Anmerich herbei.
Ferdinand Trauttmann ergriff ihre Hand. »Anmerich, des glaab ich nit, was ich do häer. Sag dei'm Vater und deiner Motter, ich glaab's nit, eh' es nit bewiese ist.«
Ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf und sie sagte. »Die Susi hot's abgalaugnet. Ins G'sicht hot se dem Richter galacht. Äwer ich waaß nit, ich waaß nit, was do drauß werd.« Und sie erzählte ihm soviel sie eben wusste.
Er war sehr nachdenklich geworden. Er erinnerte sich, einmal mit dem Wörle vom Markt heimgefahren zu sein, und da klagte ihm dieser sein Leid in gar bitteren Worten... Diese kranke Frau war ihm eine Last, eine Qual. Er verwünschte sein Schicksal...
»Und was häwa die von der G'maa g'saat?« fragte er jetzt.
»Sie müsse's beim Kriminal anzeige... Mei Vatter is halb tot.«
»Anmerich, ich glaab's nit«, sagte er noch einmal. »Und ich werd ihr ein Fischkal verschaffe.« Damit empfahl er sich und wünschte ihnen eine gute Nacht. Seine eigene Angelegenheit war gänzlich vergessen worden über dem Ereignis des Tages.
Aber er ging am nächsten Morgen zum Richter hinüber und erzählte ihm den endgültigen Ausgang seines Prozesses. Jetzt wäre es an der Gemeinde, noch einmal dasselbe zu versuchen wie vor Jahren. Heute blase ein anderer Wind im Lande. Und man sollte das ganze Dorf, Haus für Haus, durchsuchen lassen nach Beweisen, ähnlich wie der seinige. Auch die Kirchenbücher. »Und dann los«, sagte Trauttmann. Er war ganz voll von seinem Siege.
Der bedächtige Richter widerriet ein so hitziges Vorgehen. Der Kaiser habe ihnen ja ganz klar gesagt, welchen Weg die Sache für die Gemeinden nehmen werde. Sein Fall wäre eine Ausnahme. Er gratulierte ihm und ging dann auf das Ereignis des Tages über, das ihm viel Kummer bereitete. »In ei'm solche Haus passiert sowas!« rief er. »Wie mer der alt' Weidmann laad tut, ich konn's gar nit saage.«
Ferdinand Trauttmann ließ sich die Sache jetzt auch hier erzählen. Die Susi habe der Bäuerin das Essen bereitet, das stehe fest. Es gab furchtbare Anfälle. Aber sie sei am nächsten Morgen davongelaufen, weil ihr Kind auch ein bisserl mit geschleckt hatte und sich erbrach. Und sie habe sich nicht mehr ins Haus getraut, solange die Bäuerin lebte. Sie tue sehr unschuldig, sehr selbstbewußt, aber man spüre, sie sage nicht alles, was sie wisse.
»Und wege der varflixte Eierspeis' mache die alte Weiber ein' solche Schkandal?« sagte Trauttmann. »Des werd a großi Blamaschi! War des Weib nit seit zehn oder zwölf Jahre krank? Wer waaß, was ihr so g'schadt hat uf amol. Und häbt Ihr de Wörle einvernumme und die Kerns Kathl? Wisst Ihr, was passiert is, wie die Susi schon derhaam war bei ihrem kranke Kind? Der Wörle müsst gehörig ins Verhör g'numma wer'n.«
»Des is nit unser Sach'. Des soll's Gericht anstelle. Die Schandarme hole g'rad die Susi, die sein schun drüwe«, sprach Johann Geiß abweisend, da er sein Vorgehen also bekrittelt fand. Er hatte nur der Stimme des Dorfes gehorcht und schämte sich genug, dass so etwas in seiner Gemeinde vorkam.
Trauttmann war betroffen. »Ohne den Wörle einvernumme zu habe, macht Ihr sowas?« rief er. Und er eilte hinüber nach der Herrnsgasse. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welche Verzweiflung in dem Hause seines Schwähers herrschen würde und wollte nach Möglichkeit zur Linderung derselben beitragen. Die Leute standen unter allen Haustoren und beredeten das unerhörte, nie erlebte Ereignis. Sie warfen sich ihre Meinungen und Urteile zu wie Fangbälle, und die Alten moralisierten tiefsinnig über die Verderbtheit der heutigen Jugend und deren Folgen. Die Susi war ihnen solch ein Beispiel, solch ein Auswurf.
Als Trauttmann beim Meister Jakob in den Hof trat, kamen ihm schon die zwei Gendarmen mit der Susi entgegen. Sie hatten ihr nach einem kurzen Verhör die Hände gefesselt, das verlangte die Vorschrift, und waren im Begriffe, sie nach Lippa zu eskortieren.
Düster und trotzig blickte das Mädchen, aber sie schlug die Augen nicht nieder, sie blickte jedem ins Gesicht. Hinter ihr, im Hause, hörte man nur Gejammer und Geschluchze, sie aber schien gefasst zu sein und ruhig.
Ferdinand Trauttmann war einen Augenblick sehr betroffen von dem Anblick. »Mit Verlaub«, sagte er zu den Gendarmen, »Ihr wollt das Mädel doch nit so durchs Dorf führe? Zu Fuß nach Lippa?«
»Warum nicht?« fragten die Gendarmen schroff.
»Ich spann ein!« erwiderte Trauttmann. »Bitt schön, benutzt mein' Wage.« Und er rief: »Franzl! Lauf g'schwind nunner zu uns, spann ein und kumm mit mei'm Wage ruff.«
Die Gendarmen blickten sich an. Das war nicht unerlaubt, das konnten sie annehmen. Und der Franzl war auch schon unterwegs. »Mit Verlaub«, hub Trauttmann wieder an, »nur zwa Wort!« Und er blickte der Susi fest in die Augen: »Mädscha, ich glaab's nit!«
»Da seid Ihr der einzige, Vetter Trauttmann«, sagte sie. »Alle glauben's.«
»Es is nit wahr! Nach allem, was ich g'häert häb, verschweigscht du noch was. Warum red'scht denn nit?«
»Ich wart' halt, bis all' die Ganzg'scheite die Wahrheit finde«, lachte sie wild, und ihre Augen funkelten.
»So häb ich mer's gedenkt. Sei ganz ruhig, mei' Fischkal in Lippa werd sich um dich annehma. Ich fahr mit.«
Die Gedarmen standen stumm bei ihrer Gefangenen, während Trauttmann ins Haus trat, um die zu trösten, die sich schamhaft verbargen. Meister Jakob saß beim Tisch, hatte beide Arme auf der Platte liegen und den Kopf darauf. Es warf ihn, so schluchzte er. Frau Eva rang die Hände und betete. In der Nebenstube heulte die Kathl mit dem kleinen Christof um die Wette und in der Werkstatt schneüzte sich der Jakob und kam nicht hervor. Keines redete ein Wort. Trauttmann aber sagte: »Liebe Schwähersleut', verliert nit die Köpp. Ich spann ein und führ se. Und ich red mit mei'm Fischkal. Der hilft ihr raus. Guckt se doch an! Sie is unschuldig! Do is ganz was anner's dahinner. Des werd schun ans Licht kumme.«
Weidmann hob das altgewordene fahle Gesicht und blickte den Sprecher erstaunt an. »Ihr maant?«
»Ja, ja, ich maan des.«
»Die hot mir g'saat, wenn se will, is se in drei Täg wieder do«, sprach jetzt auch die Mutter Eva.
»Na also! Na also! Wozu denn die Deschperation? M'r muss immer `s bescht glaabe und nit `s schlechscht«, sprach Trauttmann. Und draußen rasselte sein Wagen an. Rasch empfahl er sich. »Ich führ' se. Adjes.«
»Mit Verlaub, ihr Herre«, sagte er höflich zu den Gendarmen, »ich häb noch a Bitt'. Losst die Susi vorn bei mer sitze durchs Dorf. Ich red' kein Wort mit ihr.«
Und die Gendarmen glaubten auch das bewilligen zu dürfen. Sie nahmen die Rückseite ein und der Susi half Trauttmann auf den Platz zu seiner Linken. So wurde das schlimmste Aufsehen vermieden, und der Wagen sauste auf dem kürzesten Wege zum Dorf hinaus.
So ausgiebig waren die bösen Mäuler schon lange nicht auf ihre Kosten gekommen. Wie die Windmühlen, in die ein frischer Ost gefahren, arbeiteten sie. Der Mathes Wörle aber draußen im Schwarzwald duckte sich und tat, als ob er nicht auf der Welt wäre... So hatte er sich die Entwicklung nicht gedacht. Mit kleinen, bescheidenen Dosen wollte er arbeiten, still sollte alles ablaufen. Aber als er gleich beim erstenmal zu grob kam und das Gerede losbrach, verlor er den Kopf und machte rasch ein Ende. Musste der Fratz, der Christof, damals ins Haus geschneit kommen? Musste der mitessen? Es war ein Verhängnis. Und er lauerte wie ein in seinem Bau bedrohtes Tier der Gefahr entgegen.
Am zweitnächsten Morgen nach der Verhaftung der Susi sauste der Franzl den Staudtsberg hinunter, er hatte wieder eine Aufgabe zu erfüllen. Es war die schwerste von allen, die ihm in seiner Lehrzeit geworden. Er rief den Pfarrer zu seinem guten Meister, denn der war ganz plötzlich zusammengebrochen, es schien aus zu sein mit ihm.
Die Wetterwolke, die seit langem über dem Hause des Meisters Jakob stand, hatte noch einen Donnerkeil in ihrem Schoße, und der traf ihn selber. Dass ein Brief vom Johann kam aus Gottschee, in dem geschrieben stand, er wolle dort die Tochter seines verstorbenen Meisters heiraten und die Werkstatt übernehmen, das schmerzte ihn wohl, aber es trug kaum noch etwas bei zu seinem Ende, er war all den Erschütterungen der letzten Tage nicht gewachsen. Ganz unvermutet sank er, nach so vielen schlaflos verbrachten Nächten, beim Frühstückstisch vom Stuhl. Und jetzt lag er mit verzerrten Zügen und gelähmter Zunge in seinem Bette. Er hatte zustimmend genickt, als die Frau Eva fragte, ob sie nach dem Herrn Dechant senden solle, und schien auf sein Ende gefasst zu sein. Tränen hatte die Frau Eva keine mehr. Dass ihr Mann sie so plötzlich allein lassen wollte in all dem Jammer, in all den ungeordneten Verhältnissen, darauf war sie nicht vorbereitet. Jetzt hieß es stark sein und fest. Sie gab ihrem Jakob einen Rosenkranz in die zitterigen Hände und ordnete unter tröstlichem Gerede sein Bett, dass es einen ordentlichen Eindruck mache. Und sie räumte mit der Kathl die Stube auf wie an einem Sonntag. Wo der Tod sich zu Gast geladen, da kommt er nicht allein.
Der Dechant zögerte nicht, den Weg zu Meister Jakob schleunigst anzutreten. Das Schicksal dieses Hauses erschütterte ihn.
Unter Vorantritt des greisen Kirchenvaters Johann Wagner schritt der Pfarrer, die Monstranz in den Händen, durch das Dorf. Wagner schellte ab und zu mit dem Glöcklein in seiner Rechten, und die Leute traten aus den Höfen heraus, beugten das Knie und bekreuzten sich vor dem Allerheiligsten, aus dessen Kelch einem Sterbenden die letzte Wegzehrung gereicht werden sollte. Da man den Franzl vorauslaufen sah, ahnte man, dass sich im Hause Weidmann nun auch ein Todesfall angekündigt hatte. Wer mochte es sein, da doch niemand krank gewesen? Die Klatschsucht hatte sich genug getan in den letzten Tagen, jetzt zitterte manches Herz vor Ergriffenheit. Es war zu viel, was über diese Familie kam.
Das Weib des Vetter Harmes und die anderen Nachbarinnen liefen bestürzt herbei, sie sammelten sich im Hofe, als der Dechant bei dem Kranken eingetreten war. Wagner schloss die Tür hinter ihm und hielt die Wache. Frau Eva und ihre Kinder, unter ihnen auch der kleine Christof, harrten traurig vor dieser Türe. Was der Sterbende seiner Hochwürden zu beichten oder anzuvertraunen hatte, das durfte niemand vernehmen, es lag unter dem strengen Siegel der Kirche.
»Mein armer Freund«, sprach der Dechant, nachdem er dem Meister, dessen Lippen sich heftig bewegten, ohne dass er einen Laut hervorbrachte, das Zeichen des Kreuzes über Stirn, Mund und Brust gemacht hatte, »quälen Sie sich nicht... Ich weiß, dass Sie keiner Sünde fähig waren, dass Sie eines Tages rein und ehrlich von hinnen gehen, und ich absolviere Sie in nomine patris et flii et spiriti sancti. Dort werden Sie einen gerechten Richter finden, und ich bin sicher, dass auch Ihr verirrtes Kind dieser Gerechtigkeit teilhaftig werden wird... Die Besten im Dorfe glauben nicht an ihre Schuld. Seien Sie getrost in dieser Stunde, Sie haben sich ein gutes Andenken in der Gemeinde gesichert; Ihr Haus ist in guter Hut, und wir wollen Ihren Söhnen alles gutschreiben, was ihr Vater sich an Achtung erworben hat durch ein rechtschaffenes Leben.«
Ein dankbarer Blick, in Tränen schwimmend, lohnte den Pfarrer für seine Trostesworte. Und er erteilte dem Sterbenden die letzte Ölung.
Der Kirchenvater Wagner horchte, öffnete die Türe und trat ein, die Familie drängte nach. Und während der Dechant das Haus verließ, betete Wagner mit den Versammelten drei Vaterunser. Bis in die Küche und auf den Gang hinaus knieten die Weiber und beteten laut mit. Vorne beim Bett lagen Frau Eva, die Anmerich, der Jakob und der Peter, der herbeigeeilt war, auf den Knien. Der Christof aber war in der hinteren Ecke des Zimmers auf die Truhe gestiegen und sah über alle hinweg auf den sterbenden Großvater. Ordentlich beten hatte er noch nicht gelernt, aber er faltete die kleinen Hände und plapperte mit, so wie alle Tage, wenn der Franzl das Tischgebet sprach. Der Großvater hatte ihn gar lieb.
Als die Gebete beendigt waren, erhob sich Frau Eva, um nach dem Vater zu sehen. Sie griff nach seiner Hand und erschrak über deren starre Kälte. Dann sagte sie mit scheuer Ehrfurcht zu ihren Kindern: »Euer Vater ist tot.«
»Das ewige Licht leuchte ihm!« sprach Wagner und entfernte sich leise mit den kirchlichen Gegenständen, die er mitgebracht hatte. Eine Nachbarin nach der anderen zog sich zurück, die Mutter Eva aber öffnete das Fenster neben des Vaters Bett, um seine Seele hinauszulassen aus der Stube, in der sie so lange im besten Frieden gewohnt hatte.
Träge schlichen die spätherbstlichen Tage dem Winter zu. Dieser hatte drüben, jenseits der Marosch, den Gipfeln der Berge schon ein paarmal seine weiße Kappe aufgesetzt, aber sie schüttelten sie immer wieder ab. Sie meinten, es wäre noch zu früh. Die Novemberstürme hatten sich noch nicht ausgetobt. Sie rasten ohne Widerstand über die weite Ebene hin, heulten allnächtlich wie hunderttausend Wölfe, rüttelten an Fenstern und Türen und forderten Einlass. Die Bäume ächzten vor den Häusern, die Dachziegel flogen, und aus den Kaminen kollerte es nieder auf den Herd in der Küche. Es waren gespenstische Nächte; der wilde Jäger und sein Gefolge jagten in den Lüften. Man hörte zuweilen sein Horn im Sturm. Und die Frau Eva durchwachte diese Nächte betend. Mit dem Schicksal zu hadern hatte man sie nicht gelehrt, sie trug gefügig alles, was es ihr auflud, aber die vielen verzweifelten Gedanken, die sich meldeten, waren nur durch Gebet zu überwinden. Sie fegte am Morgen den verrußten Mörtel, den der Sturm ihr allnächtlich in die saubere Küche warf, hinaus, sie ließ den Franzl die zersplitterten Dachziegel im Hofe auflesen und hieß den Jakob die Lücken zu suchen im Hausdach und neue Ziegel einzuhängen. Aber die niedergebrochenen Obstbäume in des Vaters geliebtem Garten, die konnte sie nicht wieder aufrichten. Da lag ein Birnbaum, der im letzten Sommer noch die süßesten Früchte getragen, viel bedankt von der Jugend des Hauses. Wer hätte gedacht, dass es seine letzten Gaben sein sollten. Er war ein Liebling des Vaters, darum folgte er ihm wohl so bald nach. Auch er von einem Sturm gefällt...Ihr Sohn Johann kam also nicht. Erst jetzt hatte ihr der Jakob den langen Brief gründlich vorgelesen, der damals gekommen war. Es stand so viel darin, was sie an sich selbst gemahnte. Er war auf seiner Wanderschaft in ein deutsches Ländchen gekommen, das hieß Gottschee. Aber der Meister, bei dem er einstand, starb alsbald, und er führte der Witwe die Werkstatt. Er konnte sie mit ihren vielen Kindern nicht verlassen, und so gab er seine Wanderschaft nach Deutschland auf. Und Gott fügte es, dass die älteste Tochter ihn lieb gewann und er sie jetzt heiraten werde. Er bitte um den Segen der Eltern für sein Vorhaben. Der lieben Susi schicke er ihr Liederbuch zurück mit vielen neuen Liedern, sie werde wohl nicht so lange warten wollen, bis er es ihr selber einmal bringe. Und Nachricht wollte er, was sich denn alles verändert habe daheim in all den Jahren...
Der brave Bub, der einer Wittib hilfreich beistand in ihrer Not, er wusste von nichts. Frau Eva dachte lange nach über eine Antwort. Dann berief sie eines Sonntags den Peter, der am besten mit dem Schreiben umgehen konnte, und sagte ihm einen Brief in die Feder, den er niederschreiben sollte. »Mein herzlich geliebter Sohn Johann!« So sollte er anheben. Und dann fuhr sie fort: »Deinen guten Brief, in dem so viel Neues und Schönes geschrieben steht, haben wir in Tagen der Traurigkeit erhalten. Dass du nicht heimkommst, schmerzt uns sehr. Was sich bei uns alles begeben hat, seitdem Du auf die Wander gegangen bist, lässt sich gar nit verzählen, es sind viel Tränen geflossen in Deinem Vaterhaus, von denen Du nichts weißt. Wo soll ich anfangen? Unser lieber Vater ist tot. Die Leut' sagen, der Schlag habe ihn gerührt, ich weiß es insgeheim besser, liebster Sohn. Die Ehr' war ihm gestorben, das Herz war ihm gebrochen vor Kränkung und Scham über sein liebstes Kind, die Susi. Die gute Anmerich hat ihren Philipp gehaiert, hat drei Kinder und ist glücklich. Die Susi hat auch einen Buben, er geht schon bald in die Schul'. Er ist ein Luckhaup. Was aus dem Maleer alles herausgewachsen is, das zu beschreiben sträubt sich meine Feder, sie is zu ergriffen. Es is auch noch nit aus, wir wissen noch nit, ob es schlimm oder gut endigen wird für die Susi und für uns alle. Sei froh, dass Du in der Fremd' bist und nit mit uns allen zu tragen brauchst an der großen Schand', die auf uns liegt und uns niederdrückt. Dem Vatter sein weiches Herz is zuerst gebrochen. Meins muss halten, bis alles in Ordnung is mit euch Kindern. Mein Segen is mit Dir, lieber Sohn. Schicken kann ich Dir jetzt nichts, denn ich werde wohl den Jakob loskaufen müssen vom Militari, weil du nit kommst. Der Vatter hat gewartet auf Dich und gewartet, bis es zu spät war für den Jakob in die Fremd' zu gehen. Aber sei ohne Sorge um uns, wir helfen uns schon weiter. Die Ernte war gut, der Wein ist geraten, das Vieh gottlob gesund, und in der Werkstatt ist immer zu tun. Wenn nur die Susi wieder ehrlich wird! Wir erhoffen es noch immer. Der Peter, der diesen Brief für mich schreibt, ist auch schon lange frei und wird als Schmied auf die Wanderschaft gehen, ehe er Soldat werden muss. Und so lebe wohl, herzlich geliebter Sohn, alle grüßen Dich und wünschen, dass du glücklich wirst.
Deine getreue Mutter Eva Weidmann.«
Als der Franzl nach der Vesper auch diesen Brief nach Alliosch hinübertrug zur Post, da nahm er den Christof nicht mit wie damals... Scheu blickte er hinüber nach dem tiefeingeschneiten Hof des Mathes Wörle. Die Fensterläden waren geschlossen, die Türen zu, die Ställe leer, das Vieh versteigert. Die Gendarmerie hatte auch ihn geholt. Und wenn man dem glauben durfte, was die Leute redeten, kam er sobald nicht wieder. Der Franzl wollte am Abend, wenn er heimkehrte, doch einen anderen Weg nehmen. Es war nicht recht geheuer, da im Dunkeln vorüberzugehen. So mancher hatte nachts die klagende Stimme der Bas' Mali gehört, wenn er vorbei kam. Nicht einmal die Diebe rührten das Haus an, in dem der Mord geschehen war, jeder wich ihm aus.