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Der Tag verging sehr glücklich für den Landrichter, der seine Zeit gut anwandte, um sich der Gunst seines Wirtes zu versichern und sein angeknüpftes Verhältnis zu Mary durch neue Zeichen seiner Ergebenheit zu befestigen. So stolzen Sinnes, auffahrend und launenvoll Stureson war, so gut wußte er zu schmeicheln und sich zu fügen, wenn er es für nötig hielt, und heute war es ihm gelungen, alle zu gewinnen, da er jeden für seine Absichten gebrauchen konnte. Er verwandte deswegen auch keine geringe Mühe darauf, dem Missionar zu gefallen, dessen Einfluß auf Mary er sehr wohl erkannte. Die geistliche Würde des Propstes, seine große Gelehrsamkeit, sein christlicher Eifer, die Reinheit seines Lebens und seine milde Freundlichkeit sicherten ihm überall bei dem großen Haufen Achtung und Ehrerbietung. Mochten Hvaland und die reichen Kaufleute auch heimlich über ihn spotten, öffentlich wagte niemand, den ehrwürdigen Diener des höchsten Wesens anzugreifen, der im ganzen Lande bekannt und von der Regierung besonders geschützt und begünstigt wurde. Stureson war schlau genug, die Freundschaft des Propstes durch Eingehen auf dessen Lieblingsgedanken und Entwürfe zu suchen. Er hörte geduldig die langen Erzählungen an, welche die Bekehrung und Gesittung der Lappen zum Gegenstand hatten, und schlug sich beim Widerspruch Hvalands stets vermittelnd auf Stockfleths Seite. Ein anderer hätte vielleicht ein wirkliches Interesse an den Mitteilungen über die Lebens- und Seelenzustände des seltsamen Hirtenvolks in den Bergen genommen, ihm waren sie gleichgültig und innerlich zuwider; um so schärfer hörte er auf die Charakteristik der Handelsherren und ihrer Familien, deren Einfluß und deren Verbindungen und Vermögen, wobei es sich wiederum bestätigte, daß Hvaland einer der bedeutendsten sein mußte, denn von den meisten sprach er mit jener Art von Geringschätzung, welche die Unebenbürtigkeit an Geld, Gut, Besitztum und Macht auszudrücken pflegt.
Nach einiger Zeit brachte der Landrichter durch seine Fragen und Anmerkungen den Kaufmann zu einer Erklärung, die nicht ohne Bedeutung für ihn war.
»Kenne sie alle genau«, sagte Hvaland, »denn es kommen viele in mein Haus, und seit einiger Zeit finden sich manche ein, die mit ihren Vorzügen und guten Eigenschaften nicht hinter dem Berge halten. Ist mehr als einer darunter«, fuhr er lachend fort, indem er seiner Tochter einen listigen Blick nachschickte, »mehr als einer, der auf seine Tasche schlagen kann, und es klingt hell genug darin; aber es hat keiner noch geholt, was er hier suchte. Mir ist es recht, wollen mir auch nicht gefallen.«
»Mit Geld und Gut«, sprach der Propst, »läßt sich das echte Lebensglück auch nirgends eintauschen.«
»Bah!« rief der Kaufmann, »wenn gesprochen werden soll, Propst, so sag ich das von mir. Bin gesegnet vom Himmel mit mancherlei Gut, stehe darin niemandem nach, habe dabei nur das eine Kind. Mag sie wählen nach ihrem Herzen, sich und mir zur Ehre. Brauche keinen Schwiegersohn mit Jachten und vollen Taschen, habe selbst soviel, sie ihm straff zu machen, und damit genug. – Seht hinaus, Niels Stockfleth, da kommt der Olaf. Ein Lappe, und mag er noch so zahm gemacht sein, ist und bleibt ein eigensinniges Tier. Statt der Geige, die er mitbringen sollte, hat er sein verwettert Gewehr umgehängt und ohne Zweifel sich in den Jauren umhergetrieben.«
Langsamen Schrittes kam Olaf über den Rasengrund und traf nicht weit vom Hause mit Mary zusammen, die ihm entgegengegangen war. Stureson sah sie sprechen und Olafs Gesicht sich lächelnd neigen. Dann nahm er aus der Jagdtasche eine Anzahl Vögel, die schnepfenartig aussahen, und Hvaland nickte ihm durchs Fenster zu und sagte versöhnt: »Er ist doch ein guter Junge. Er hat die Spalten und Schluchten durchkrochen, um für uns diese trefflichen Tiere zu schießen, welche ganz herrlich schmecken, aber schwer zu bekommen sind.«
»Ist er ein so guter Schütze?« fragte Stureson.
»Schützen sind sie alle«, rief der Kaufmann, »da ist selten einer, der seine ungeschickte Büchse, die sie selbst schmieden und scharten, nicht zu gebrauchen versteht, daß man davor erstaunt. Das Ungeziefer – nehmt es nicht übel, Propst, daß ich Ungeziefer sage – schießt mit der Kugel Vögel im Fluge, und Wolf oder Bär kommen selten davon, wenn ein Lappe ihnen aufs Blatt hält.«
Der Landrichter lächelte verächtlich, indem er einen Blick auf das kurze schwere Gewehr warf, das Olaf in der Hand hielt.
»Macht einen Versuch, Herr Stureson«, sagte Hvaland. »Laßt uns hinausgehen, und gebt ihm ein Ziel. Ich glaube, er wird Euch Respekt abfordern.«
Sie gingen auf den Vorplatz, wo Mary und Olaf ihnen entgegenkamen.
»Hast uns lange warten lassen, Schulmeister«, sagte Hvaland, »wollen deine Musik nun später hören. Zeige jetzt dem Sorenskriver, daß du auch andere Künste kannst. Er will es nicht glauben, daß du zu schießen verstehst, beweise ihm, was ein gutes Auge und eine sichere Hand tun können!«
Stureson nahm lachend die Büchse des Lappen in Augenschein. Ein nicht zwei Fuß langer rostiger Lauf von gröbster Arbeit lag in einem noch roheren Stück Holz. Das ungeheure Feuerschloß war weit abgebogen, das ganze Ding sah aus, als könne kaum ein Schuß daraus geschehen. Der Sorenskriver legte an und erklärte, er sei auch ein Schütze, der sich nicht zu schämen brauche, allein mit diesem Dinge sei es ganz unmöglich, irgendeine Sicherheit der Lage und des Zielens zu gewinnen.
»Ich wette drei Spezies«, rief Hvaland, »er schießt die Möwe dort über der Bucht herunter!«
»Ich halte sie und was Ihr wollt dagegen!« entgegnete Stureson.
»Schieß, Olaf!« schrie der Kaufmann, »und triff, mein Junge. Will dir geben, was du fordern kannst.«
Olaf nahm die Büchse mit einer raschen Bewegung auf. Hoch über der Bucht zog eine der großen grauen Möwen ihre weiten Kreise. Er drückte Kopf und Hals dicht zusammen und klemmte zwischen beide den ungeschlachten kurzen Schaft seines Feuerrohrs ein. Nach einem Augenblick ohne Zielen und Besinnen donnerte der Schuß, und kopfüber stürzte der Vogel aus der Luft ins Meer.
»Gewonnen, Sorenskriver, gewonnen!« frohlockte der Kaufmann, in die Hände schlagend, und nahm mit Lust die drei neuen Speziestaler in Empfang, welche Stureson aus seiner Börse zog. Eine Minute lang schien Hvaland zu überlegen, ob er dem Schulmeister nicht eine Teilung anbieten sollte. Er hielt einen der Taler zwischen den Fingern fest, aber diese Anwandlung von Großmut wich schnell der besseren Überzeugung, daß das Geld dem unverständigen Burschen doch nichts nützen werde.
Mit seinem freundlichsten Grinsen klopfte er auf Olafs Schulter und sagte im Gönnertone: »Hast einen Meisterschuß gemacht, Olaf Holmböe, und wenn du morgen in meinen Kram kommst, sollst Pulver und Blei dafür mit nach Haus nehmen.«
Damit war die Angelegenheit abgetan, und Hvaland, in der besten Laune, nötigte seine Gäste wieder herein, ließ Kaffee für den Schulmeister bringen und hielt ihm sogar das Kästchen mit den Zigarren hin, indem er ihm selbst Feuer dazu machte. Dann wurde das Gestell von Ebenholz mit den schöngeschliffenen Flaschen wieder auf den Tisch gesetzt, der Vogt kam aus Oernen in seinem Boote, der Pfarrer fand sich aus Talvige ein, und nach einer Stunde war die Gesellschaft ungemein froh und heiter und ließ mit gefüllten Gläsern bald den Sorenskriver, bald den gastlichen Hausherrn, bald Jungfer Mary hochleben.
Als es spät wurde, mußte Mary ein Lied singen, weil ihr Vater es so haben wollte, dann kam Olaf an die Reihe.
»Singe alles, was du willst, du närrischer Bursche«, rief der angetrunkene Vogt, »aber vor allen Dingen laß uns einmal den Singsang hören, den du selbst gemacht hast und den der alte Helmböe – Gott hab ihn selig – für sein Leibstückchen hielt! Es ist ein lappisches Liedchen«, fuhr er zu Stureson gewandt fort, »was sonst die Lappen singen, wenn sie vor ihren Gammen sitzen und ärger quieken und grunzen wie die Schweine, ist zum Tollwerden, aber Olaf hat mit seinen kleinen Liedern und Melodien bewiesen, daß sogar diese verwünschte Sprache weich und harmonisch werden kann.«
»Wovon handelt das Lied?« fragte Stureson.
»Es sind Klagen eines Verlassenen, der Heimat und Liebe sucht oder so etwas«, lachte der Vogt, »aber es hört sich artig an, besonders wenn zwei Stimmen singen. Ich denke, Jungfer Mary wird sich bitten lassen, sie hat das Lied gelernt, ich habe es selbst von ihr gehört.«
Und so geschah es denn. Mary folgte der Weisung ihres Vaters, sie sang mit Olaf das Lied, von dem keiner ein Wort verstand, dessen Melodie aber so klagend und melodisch war, daß es wiederholt werden mußte, weil alle Zuhörer es wünschten.
Stureson erkannte Olafs Begabung recht gut, auch war er ein besserer Klavierspieler, als der Landrichter gedacht hatte. Eine gewisse Anteilnahme für den jungen Mann regte sich in ihm, aber auch ganz andere Empfindungen, als er die leuchtenden, langen Blicke bemerkte, mit denen der Schulmeister einige Male beim Singen und Spielen Mary betrachtete. Im nächsten Augenblick jedoch lachte Stureson über einen Verdacht, der ihm selbst höchst abgeschmackt und albern vorkam, und als Olaf aufstand, nachdem er verschiedene Proben seiner Fertigkeit gegeben hatte, und demütig und schweigsam den lobenden Dank entgegennahm, blieb der Landrichter nicht zurück, ihm von seinem Platze aus einige ermunternde und freundliche Worte zuzurufen.
»Wenn ich mein Haus am Malanger Fjord eingerichtet habe«, sagte er zu dem jungen Lappen, »so hoffe ich, dich manchmal dort zu sehen. Du sollst uns aufspielen bei freudigen Festen, denn du bist, meiner Treu, ein Bursch, der sich sehen lassen – oder wenigstens hören lassen kann«, fügte er, über seinen eigenen Witz lachend, hinzu.
Eine dunklere Färbung überzog Olafs Gesicht, aber der Propst legte die Hand auf seine Schulter und sprach: »Denke daran, mein Sohn, daß du mich morgen auf einige Tage begleiten sollst und, wie ich hoffe, bald für immer.«
»Als Missionar und Priester?« fragte Stureson.
»Als beides«, erwiderte Stockfleth. »Olaf besitzt alle Eigenschaften dafür. Er muß fort von hier, um seinen armen Brüdern zu lehren und zu predigen, die Regierung wird sicherlich einwilligen, und dann, Herr Stureson, wird er wohl nicht zu Tanz und Schmaus am Malanger Fjord aufspielen können.«
»Sie wollen uns den besten Musikanten entführen, Propst«, rief der Landrichter, »aber wir dulden es nicht! Was würde Jungfer Mary sagen, wenn ihr Freund und Lehrer sie verlassen wollte?«
»Ich denke«, erwiderte Mary, die schweigend zugehört hatte und deren Blicke auf dem jungen Mann ruhten, welcher seine Augen niedersenkte, »Olaf weiß, daß wir alle darum trauern würden, wenn er von uns ginge.«
»Bravo!« lachte Stureson, »also muß er bleiben. Wir haben auch unsere Pläne mit ihm, und wenn er vernünftig ist, wird er nicht seine glücklichen Gaben in der Wüste verbergen bei Rentieren und unter Gammen. Bei aller Achtung vor dem geistlichen Stande, Propst, meine ich doch, daß mehr in ihm steckt, als Sie denken. In diesem jungen Manne wohnt nicht der Glaube, sondern die Unruhe. Das ist kein Stoff, aus dem ein Priester gemacht wird, weit eher ein Künstler oder, wenn wir noch in romantischer Zeit lebten, ein kühner Anführer seines Stammes. Das bedenkt, Herr Niels Stockfleth. Mehr will ich nicht sagen.«
Das Gespräch über Olafs Zukunft wurde aber doch fortgesetzt, bis es anderen Gegenständen Platz machte, und Stureson ging zuletzt davon, als ihm das Geschwätz langweilig wurde. Er ging an der Bucht hinauf, stieg über die Felsen fort und sah nach einigen hundert Schritten nicht weit von sich den kleinen Kolonisten Henrik Jansen bei seinen Netzen am Strande beschäftigt.
Der Böelappe grinste ihn mit heuchlerischer Untertänigkeit an, schwenkte seinen Glanzhut und winkte ihm unter wunderlichen Gebärden einladend zu, das hohe Ufer hinabzusteigen.
»Was willst du von mir?« fragte Stureson, als er in seiner Nähe war.
»Still, Sorenskriver, still!« flüsterte Henrik, sich nach allen Seiten umschauend. »Hätte Euch wohl etwas zu sagen, und ist etwas, was Euch nahe angeht, aber es kommt darauf an, was Ihr dem Henrik Jansen dafür versprecht.«
»Also umsonst gibst du es nicht von dir?« sagte der Landrichter, verächtlich spottend.
»Nichts umsonst«, erwiderte der Böelappe grinsend und nickend. »Bin kein Bettler und Tagedieb, sondern ein Mann, der Eigentum hat. Wenn Ihr wüßtet, was ich weiß, Sorenskriver, es würde Euch warm machen vor der Stirn – und wenn es der alte Vater da wüßte«, er lachte dabei heiser aus vollem Halse, indem er sich die Seiten hielt und Sprünge machte, »hehe, Sorenskriver, er würde rot werden wie ein Krebs im Topfe!«
»Was weißt du, du Taugenichts!« rief Stureson.
»Weiß nichts, gar nichts«, erwiderte Jansen aufgebracht, indem er zu seinen Netzen umkehrte. »Bin kein Taugenichts, Herr, ein freier Mann, der Gesetz und Recht hat so gut als einer!«
Der Landrichter sah ein, daß er einen ganz verkehrten Weg eingeschlagen habe, um Henriks Geheimnis zu erfahren. Er war mehr belustigt als neugierig, aber er wollte nicht unbefriedigt bleiben.
»Nimm es nicht übel, Henrik Jansen«, sagte er daher vertraulich, »ich bin dein Freund und werde dir gern jeden Gefallen tun, den du begehrst. Ich müßte mich aber sehr irren, wenn du nicht etwas von deinem Nachbarn Olaf Holmböe zu berichten hättest.«
Der Kolonist kniff seine kleinen schielenden Augen zusammen, ballte die Faust und drohte damit über den Felsen hinaus in die Richtung, in der des Schulmeisters Haus lag. »Der Sohn von einem Hunde!« rief er. »Der Lump, der Dieb! Wenn er es wüßte, der alte Vater Hvaland, mit den Füßen stieß er ihn in den Fjord! Ließe ihn mit Fischleinen binden und auf einen Stein im Meere legen, bis die Flut ihn fortspülte!«
»Nun, lieber Henrik«, sagte Stureson, so ruhig er konnte, »sprich die Wahrheit und fasse dich kurz!«
»Wollt Ihr mir die Schulmeisterstelle verschaffen?« fragte der Lappe lauernd.
»Alles und mehr sollst du haben, je nachdem ich dich gebrauchen kann«, erwiderte der Landrichter. »Jetzt rede!«
Was der Kolonist ihm mitteilte, setzte Stureson in wachsendes Erstaunen, aber er beherrschte den Zorn, der ihn immer mehr erfüllte, und konnte zuletzt mit völliger Gleichgültigkeit fragen, ob das alles wirklich wahr sei?
»So wahr«, rief der kleine Kerl, »wie Fische im Meere sind!«
»Und warum, du Narr, hast du Christie Hvaland kein Wort davon mitgeteilt?«
»Mitgeteilt? Ihm?« entgegnete Henrik, boshaft lachend. »Was geht's mich an? Christie Hvaland ist so reich und hochmütig wie keiner hier umher, und Henrik Jansen ist ein freier Mann, Herr, der verdammt sein will, wenn er einen Finger für ihn rührt!«
»Es ist unmöglich!« rief Stureson. »Du lügst. Aber halt – geh nicht fort. Du hast sie also öfter gesehen? Und auf der Klippe, sagst du, wo die Stufen hinaufführen, spät am Abend oder wenn es Nacht war?«
»Ja, ja«, grinste der Böelappe, »da sitzen sie zusammen, sechsmal, zehnmal, gestern noch hab ich sie gesehen und heut werden sie wieder da sitzen.«
»Und was hast du weiter gesehen? Wo warst du? Wo hattest du dich versteckt?« fragte Stureson eindringlich.
»Hinter den Steinen«, lachte Jansen. »Da ist ein Spalt, man kann darin stehen und liegen. Sie saßen auf der Bank und sprachen allerlei. Weiß nicht, was alles, hörte vieles, auch Euren Namen. Er sprach nicht gut von Euch, der Sohn vom Hunde, auch das Mädchen nicht. Ihr gefielt ihr nicht.«
Seine bösartigen Augen blitzten zu dem Landrichter auf, der unbeweglich zuhörte und dann mit gedämpfter Stimme sagte: »Ich danke dir, lieber Henrik Jansen, und verspreche dir nochmals, dein Freund zu sein. Wenn aber Jungfer Mary zuweilen dort abends mit dem elenden Burschen sitzt, so ist es nichts Böses, es kann nur Mitleid sein, sie tut es in ihres Herzens Güte. Nun aber gib acht, was ich dir sage. Schweige still gegen jeden, und ich will es dir lohnen. Doch kommt ein Wort über deine Lippen, will ich dich verfolgen, soviel ich vermag, und werde nicht rasten, bis ich dich hinausgejagt habe aus Hütte und Bett in die Wüste da oben oder ins tiefe Meer.«
Der Landrichter betrachtete bei diesen Worten den Lappen mit so unheimlichen Blicken, und seine große mächtige Gestalt hob sich so drohend empor, daß Henrik allen Mut zu einer trotzigen Antwort verlor. »Ja, Herr, hochwerter Sorenskriver«, murmelte er demütig, »ich will schweigen, stumm wie ein Lämmling, aber nicht blind wie er.« Er nickte mit seiner alten Pfiffigkeit und schielte dabei zu Stureson herauf. Dann rückte er seinen Glanzhut zurecht, während Stureson den Uferhang hinaufkletterte und, ohne sich weiter umzusehen, dem Hause Hvalands zuging, wo man ihn erwartete und schon suchte.
Es gelang ihm leicht, seine Abwesenheit zu entschuldigen, und unbefangen lächelnd sah er in das Gärtchen, wo unter einem Dache von Schmuckbohnen Jungfer Mary neben Olaf Platz genommen hatte, während der Propst mit dem Pfarrer von Talvige an der anderen Seite des Tisches eifrig sprechend saß.
Es kam Stureson vor, als hätte der unverschämte Bursche seine Hand in Marys Hand gelegt und beider Augen führten eine stumme Sprache, während sie aufmerksam das Gespräch der beiden Geistlichen zu verfolgen schienen.
Der Landrichter nahm neben dem hübschen Mädchen Platz und ließ es sich angelegen sein, frohgelaunt und aufmerksam zu erscheinen. Er richtete viele seiner Fragen auch an Olaf, scherzte mit ihm über die Vorschläge des Propstes und ließ ihn deutlich und wiederholt merken, daß er ganz andere Absichten mit ihm habe.
»Wenn ich in meinem Amte bin«, sagte er, »brauche ich einen Gerichtsschreiber, der mich vertreten kann, im Lande bekannt ist, die Menschen und die Verhältnisse versteht und mein Vertrauen verdient. Solche Männer sind selten, wie ich höre, und werden gut bezahlt. Der Vogt sagt mir, daß ein solcher Gehilfe, der es versteht, tausend Spezies und mehr jährlich sein nennen kann, wenn ihm der Landrichter nicht zu scharf auf die Finger sieht. Nun, das ist meine Sache nicht, leben und leben lassen, ist ein goldenes Wort. Gerichtsschreiber sein ist besser als Schulmeister, und ich meine auch besser, denn als Missionar umherzuwandern. Wir wollen es weiter bedenken, Helmböe, nicht wahr? Deine Handschrift gefällt mir und der ganze Mann dazu!«
Olaf erwiderte einige allgemein dankende Worte, die Stureson für Zustimmung nahm und neue Scherze und lockende Verheißungen daran knüpfte.
So verging die Zeit, der lange Tag nahte seinem Ende, und nachdem der gastliche Kaufmann alles getan hatte, um seiner Gäste Lob zu erwerben, fuhren Vogt und Pfarrer nach Haus mit dem eidlichen Versprechen, nächstens am Malanger Fjord den munteren Sorenskriver aufzusuchen. Sie nahmen die besten Vorstellungen von ihm mit, er hatte das rechte Wesen, sich geltend zu machen, und jeder fand im Gespräch mit Hvaland andere treffliche Eigenschaften an dem Landrichter zu rühmen.
Die gute Wirkung dieser Einschätzung war an Hvalands Verhalten wohl zu spüren. Lange noch saß er mit dem stattlichen Mann vor den silbergefaßten Kristallflaschen, und Glas auf Glas wurde bei lustigem Gespräch geleert. Christie Hvaland war ein Mann, der mit vollen Gläsern umzugehen wußte und so leicht keinem wich. Hier aber hatte er seinen Meister gefunden. Es nebelte ihm um Kopf und Augen, während Stureson genau wußte, was er sprach und tat. Der Kaufmann erzählte viel und offenherzig. Er sagte dem Landrichter zwanzigmal, daß er ein Nachbar nach seinem Herzen sei, der von ihm fordern könne, was er wolle. Ohne alle Vorsicht bot er ihm Geld an, wenn es ihm mangeln sollte, und ließ ihn Blicke auf sein bares Vermögen tun, das sehr bedeutend sein mußte, da im Wein bekanntlich die Wahrheit spricht.
Der Missionar hatte längst sein Kämmerchen aufgesucht, auch Mary war gegangen; der Schulmeister hatte sich verabschiedet, als Vogt und Pfarrer ihren Heimweg antraten. Stureson hatte Olaf nicht aus den Augen gelassen und, bis er im Fjord verschwand, ihn unablässig beobachtet. Aber kein Blick, keine Gebärde bezeigte irgendein Einverständnis, kein Wort wurde zwischen ihm und Mary gewechselt. Mit seiner stillen Unterwürfigkeit und Sanftmut hatte Olaf immer bescheidentlich fern gestanden, bis ihm erlaubt wurde, sich zu nähern, oder bis einer ihn einer Frage würdigte. Der Druck, welcher auf ihm zu lasten schien, wich niemals, und selbst seine Freundlichkeit hatte einen Anstrich von schwermütiger Trauer, die sein jugendliches Gesicht mit dem Schatten tiefen Ernstes bedeckte.
Endlich war es Nacht geworden, und Stureson hatte Mühe, seinen Gefährten zum Aufstehen zu bringen. Die Hausgenossenschaft schlief, sie überließ es nicht zum ersten Male ihrem Herrn, der letzte zu sein, der, nachdem er nochmals nach Feuer und Licht gesehen, seine Bettstätte aufsuchte. Vor Dieben und losen Gesellen war hier keine Vorsicht nötig, überall im Lande schloß der Bauer oder Fischer seine Tür nicht zu, und selbst Hvalands Haus war nur durch einen Riegel gesperrt, den der Hausherr mit ungewisser Hand zuschob und dann seine schwankenden Schritte vom Sorenskriver unterstützen ließ, welcher ihn endlich glücklich in der Bettkammer ablieferte. Dann stieg Stureson die Treppe hinauf, um leise wieder hinunterzusteigen. Er tappte vorsichtig in das Wohnzimmer zurück, öffnete lautlos ein Fenster und stand im nächsten Augenblick außerhalb des Hauses.
Ein Strom kühler Luft wehte vom Meere herauf, und durch den tief dämmernden dunstigen Himmel brach der Mond hervor und machte den Schatten am Hause dichter, wo Stureson nochmals überlegte, was er tun wollte.
»Möglich, daß das boshafte Tier mich belogen hat«, murmelte er vor sich hin, »ja, ich glaube es beinahe, denn welcher Kobold könnte es dahin gebracht haben, daß dies Mädchen, Stolz und Abkunft verleugnend, einem Lappen nachliefe? Aber wenn es so wäre? Kenne sich einer in den Weiberherzen aus! Erzählt nicht schon Ariost, daß eine schöne Königin heimlich das Bett ihres jungen ritterlichen Gemahls verließ, um einen ekelhaften Zwerg allnächtlich zu liebkosen, der sie schlug und biß, während sie weinend ihm zu Füßen lag?!«
Er ging langsam am Hause hin und war mit wenigen Schritten im Schatten der Birkenbüsche an der Felsenwand. Hier stand er still und betrachtete die Fenster des schlafenden Hauses. Kein Ton, der von Leben zeugte, kein Lichtstrahl, keine Bewegung. Leichte Nebel wälzten sich vom Fjord auf und wickelten den kleinen Grasplatz in feuchte Schleier.
»Auf keinen Fall kann mir ein abkühlender Spaziergang schaden«, sagte Stureson, ging zwischen den Gebüschen fort und erreichte nicht ohne Gefahr endlich die hohe Klippe und die Stufen, welche hinaufführten. Einer jener Nebel, die hier urplötzlich kommen und ebenso schnell wieder verschwinden, deckte Wasser und Land zu und wirbelte über den Klippen zusammen. Unten rauschte das Meer und klopfte an die steile Wand, welche senkrecht niederfiel. Stureson trat dicht an den Rand des Abgrundes, kreuzte die Arme und lauschte in die Nacht hinaus auf den hohlen Ton der Flut, auf jeden fallenden Stein und auf das dumpfe Brausen des Wasserfalles in Olafs Tal.
Der Nebel flog um sein Gesicht und feuchtete sein Haar, während das Blut in seinen Adern feurig rollte, sein Hirn von der Masse der starken Getränke brannte und wilde Begierden aufstachelte, welchen er mit wüsten Sinnen nachhing. Mary sollte sein werden, Hvalands Geld wollte er haben. Er rechnete zusammen, was er damit tun könne, welche Zukunft es ihm bieten würde, und während er, lautlos und leise atmend, an der schwarzen Felsenwand lehnte, sah er vor seinen Augen ein sonnenvolles Leben, vor welchem Nacht und Wildnis verschwanden. Endlich setzte er sich in der Höhlung nieder, die Henrik ihm beschrieben hatte. Es war ein Spalt in der Klippe, hinter der Bank in der Tiefe, wo er trocken saß und den ganzen Vorplatz überblicken konnte.
Er wollte ein paar Minuten rasten und dann zurückgehen und fluchte über seine Einfalt, sich von einem Lappen narren zu lassen; doch bevor er seine Vorsätze ausführen konnte, schlossen sich seine Augen, und er schlief auf dem harten Lager ein.
Lange mochte aber dieser Schlaf nicht gedauert haben, als er von seltsamen Tönen aufgeweckt wurde. Im Traume kam es ihm vor, als höre er ein wunderbares Klingen, das süß und leise um seinen Kopf zog und in sein Ohr drang. Lange klagende, sanft erschallende Laute, bald rascher, bald langsamer, lebhafter und heller, und wieder wie ein Hauch hinsterbend und erlöschend. Er schlug die Augen auf und vermeinte, weiter zu träumen. Der Mond stand hell am Himmel und beleuchtete glänzend die öde Felsenlandschaft, die Klippe und ihren Vorsprung. Die düsteren Schatten der hohen Felsen deckten die Bucht zu, während sich dahinter der silberblitzende Schild des Meeres funkelnd ausdehnte. Hvalands Haus lag in der Tiefe wie in Tageshelle, und an den nackten Spitzen der Berge von Senjenöen haftete ein rötlicher Schimmer, das erste Schnauben aus den Nüstern der Sonnenrosse.
Stureson saß unbeweglich und beachtete das prachtvolle Bild nicht. Seine Blicke hingen einzig an der menschlichen Gestalt, welche vor ihm auf und nieder ging. Es war Olaf, er erkannte jeden Zug seines Gesichts. Der Mond beschien ihn in voller Klarheit und umleuchtete sein schwarzes Gewand. Sein langes Haar war von dem schimmernden Licht umflossen, den Kopf hob er hoch empor, und seine blassen Lippen lächelten, während er der kleinen Geige in seinen Händen diese seltsamen und lieblichen Töne entlockte.
Stureson war erstaunt und ergriffen von diesem Anblick. Er blieb in seinem Felsenwinkel sitzen und beobachtete schweigend den nächtlichen Künstler, der unheimlich, spukhaft ihn umkreiste. Wie in den Sagen märchenhafter Zeit die Zauberer und Nornen auf wilden Klippen standen und ihre Hexenlieder sangen, so stand dieser hier und schickte seine bebenden abgerissenen Töne in Nacht und Mondenlicht. Was trieb ihn dazu? War es Krankheit, ein schlafsüchtiges unbewußtes Wandeln, oder riß ihn ein böser Geist von seinem Lager und gab ihm diese wehen und leidvollen Töne ein?
Stureson wußte nicht, ob er sich einmischen oder abwarten sollte, aber mit steigender Verwunderung hörte er zu, als Olaf immer süßer und verlockender spielte, als die Töne der kleinen Geige sich zu Melodien gestalteten und wie im Jubel aufzujauchzen schienen.
Plötzlich aber sah er auf dem steilen Felsenwege am Fjord eine zweite Gestalt rasch und leicht von Stein zu Stein springen. Olaf legte sein Instrument auf die Bank, eilte zu den Stufen und streckte seine Hände aus, die von warmen Händen gefaßt wurden.
Stureson richtete sich in seiner Ecke auf, sein Blut kochte, seine Adern schwollen – es war Mary. Er unterdrückte einen fürchterlichen Fluch und lauschte bewegungslos.
»Habe ich deinen Schlaf gestört?« hörte er Olaf sagen. »Vergib mir, aber ich habe dir so vieles zu sagen.«
»Du hast mich nicht gestört«, erwiderte Mary. »Ich habe gewacht, weil ich immer an dich denken mußte, und als deine Geige aus den Birkenbüschen klang, stand ich hinter meinem Fenster und erwartete dich.«
Die beiden setzten sich auf der Bank nieder. Olaf hielt Marys Hände in den seinen und sprach mit ihr dicht Ohr an Ohr so leise, daß Stureson lange nur Weniges und Unzusammenhängendes verstehen konnte. Zuweilen glaubte er seinen Namen zu hören, zuweilen leises Bitten und Seufzen, tröstende und widerlegende Beteuerungen. Er gab sich die größte Mühe, aufmerksam zu lauschen, aber immer wilder kochte sein Zorn und immer glühender wurden die Blicke, welche er auf den verwegenen Lappen richtete. Er ballte die Fäuste zusammen und preßte sie gewaltsam an seinen Mund, um sich zum Schweigen zu zwingen.
Jetzt aber stand Olaf auf und rief im bitteren Schmerz, indem er das Haar von seiner Stirn strich: »Hier steht das Kainszeichen, Mary, hier steht es, und die grausamen Menschen sehen es immer! Was habe ich ihnen getan? Was treibt sie dazu? Daß ich der Sohn eines verachteten Volkes bin, das sie vertrieben, beraubt und elend gemacht haben, das sie noch täglich mit Füßen treten, verhöhnen und mißhandeln – alles das ist ihnen nicht genug. Was ich tun mag, um gut zu sein, wie ich streben mag nach ihrer Achtung – nichts ist mein Los als Schmach und Hohn! Ich gelte ihnen als ein Scheusal; das der Verächtlichste unter ihnen von sich stößt!«
»Und ich, Olaf, ich«, sagte Mary, ihn zu sich niederziehend, mit bittender und zitternder Stimme, »kann ich dir nichts vergelten?«
»Oh, du bist unter sie hingeworfen wie eine schöne Moosblume, die an den Felsenspalten blüht!« rief er leidenschaftlich, sich auf ein Knie werfend. »Du verachtest mich nicht! Du siehst mich an, und ich schaue in dein Herz, wo Mitleid und Liebe wohnen! Aber wohin soll es führen, Mary? Wohin soll ich fliehen, um dich von meinem Anblick zu befreien?«
»Du sollst nicht fliehen, Olaf«, erwiderte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Und wenn ich bleibe, Mary, wenn ich bleibe? Was soll ich an Trauer und Unglück dann ertragen? Was soll ich alles mit ansehen müssen? Wo ist Hoffnung für uns? – Ja, Stockfleth hat recht! Ich habe nichts zu erwarten als schmachvollen Untergang, wenn ich nicht in Demut die Hand küssen will, die mich schlägt! Oh, ich muß alles von mir werfen, was mein Dasein bis jetzt einzig erträglich gemacht hat!«
»Du hast dem Propst alles gesagt?« fragte sie leise.
»Ja, ich habe ihm alles gesagt, Mary, alles, was ich litt und leide, und daß du mein einziger Trost bist auf dieser Welt, und daß ich nur atme, weil du es willst!«
»Und was hat er geantwortet?«
»Du weißt es«, erwiderte Olaf. »Er ist gut und liebt uns, aber auch er kann nicht Steine in Brot verwandeln. Da ist keine Rettung als Entsagung. Mary, liebe Mary«, rief er dann zitternd, »zum letzten Male soll ich deine Stimme hören – soll dich zum letzten Male sehen –«
»Olaf, mein Freund, ich liebe dich ja, ich will dich nicht fortlassen!«
»Nein!« rief Olaf plötzlich laut und hart, »ich kann nicht gehen, ich kann kein Priester sein! Wo ist die Liebe Gottes, die ich preisen soll? Ich habe nichts als Schmach erfahren!«
»Olaf, mein Liebster, du weißt, daß ich nie von dir lassen werde!«
»Auch du wirst von mir weichen, Mary«, sagte er, und ein dämonisches Feuer leuchtete aus seinen Augen, »sie werden dich dazu bringen. Der wüste Mann, der gestern den Fuß in deines Vaters Haus gesetzt hat, lauert auf dich wie der graue Wolf an den Seitas meiner Heimat, wenn in den heiligen Steinen ein zitterndes Geschöpf sich verirrt hat.«
»Ich mag ihn nicht, er ist mir verhaßt«, flüsterte Mary ängstlich bittend.
»Du wirst ihn mögen müssen«, erwiderte Olaf verzweifelt. »Ich habe in deines Vaters Augen gelesen, und in den seinen sah ich dein Verderben. Der gewissenlose gierige Mann, der hergekommen ist, wie der Vogt heimlich sagte, weil er im Süden nicht mehr zu dulden war, dem Sünde und Gewalt aufgeprägt sind mit allen Zeichen: er wird dich in sein Haus schleppen, und ich, Mary, ich werde draußen in der Nacht stehen und ihn lachen hören, wenn du weinst.«
»Nein, Olaf! O mein Gott! – Nein, nein!«
»Ja, ja!« rief er heftig, »es wird so kommen – ich höre sein Hohngelächter – aber ich werde es nicht zulassen, Mary, ich werde dich mit meinem Leben beschützen – ich werde –«
Weiter kam Olaf nicht, denn in diesem Augenblick sprang Stureson, außer sich vor Wut, aus seinem Versteck.
»Du!« schrie er mit seiner rauhen tiefen Stimme, »du Wurm – was willst du, du lappischer Hund? Du Kobold?«
Mary sank mit einem angstvollen Schrei besinnungslos nieder, und schon schnürte sich Sturesons fürchterliche Hand um Olafs Kehle, der vergebens Anstrengungen machte, sich zu befreien. Er war kräftiger, als seine schlanke Gestalt es vermuten ließ, aber Stureson, von wahrer Berserkerwut ergriffen, ließ ihn nicht mehr los, riß ihn mit sich fort und drängte ihn mit übermächtiger Gewalt an den Rand der Klippe. Eine Minute lang entstand dort ein verzweifeltes Ringen. Noch einmal sah dann der Sieger in das Gesicht seines Opfers, das ihn aus starren Augen anblickte, dann warf er mit einem letzten heftigen Stoß den strauchelnden Körper weit über den Klippenrand hinab in die schwarze Tiefe.
Er hörte das Wasser aufrauschen von dem schweren Fall, dann ein dumpfes Geplätscher, ein gurgelndes Stöhnen – und nun wieder die alte Stille. – Stureson bog sich tief hinunter, seine Füße und Hände zitterten, er hörte nichts mehr, alles blieb still.
»Liege bei den Grundhaien, sie werden dich hoffentlich nicht wieder loslassen«, murmelte er leise vor sich hin, während ein schreckliches Lachen seine Züge entstellte. Er wischte sich den Schweiß von, der Stirn und sah nach dem Mond hinauf, dem einzigen Zeugen seiner Tat, dessen verglimmendes Licht die Szene beleuchtete.
Nun wandte er sich nach der Bank um, auf welcher Mary lag. Rasch nahm er Geige und Bogen des unglücklichen Schulmeisters und schleuderte sie ihm nach, dann erst richtete er die Ohnmächtige auf, rieb ihre Schläfen, küßte ihre kalten Lippen, nannte sie mit zärtlichen Namen und deckte seine mörderische Hand auf ihr leise schlagendes Herz.
Nach mancher Bemühung erwachte Mary endlich wieder zum Leben. Sie richtete sich auf und rief, angstvoll um sich schauend, Olafs Namen.
»Er ist nicht mehr hier«, sagte Stureson in sanftem, vorwurfsvollem Ton.
»Und wohin ist er? Was ist ihm geschehen?« fragte sie hastig.
»Nichts ist ihm geschehen«, erwiderte der Landrichter, »und es soll ihm auch nichts weiter geschehen, ich schwöre es Ihnen, liebe Mary! Seien Sie ganz ruhig, hier ist nichts, was Sie erschrecken könnte!«
»Ich muß fort«, murmelte das junge Mädchen, indem sie aufzustehen versuchte.
»Wir müssen beide fort«, sagte Stureson, »denn der Tag will anbrechen – aber hören Sie mich einen Augenblick, Mary. Ihr edles Herz hat Sie hierher geführt aus Mitleid für die Klagen eines Toren, der mit dem kindischen Hochmut seines Volkes sich überschätzt. Ich weiß, daß allein dieser Edelmut Sie zu einem Schritt verleiten konnte, der, wenn er bekannt würde, Sie dem Spott der rohen Menge aussetzte und Ihrem Vater die tiefste Wunde schlüge.«
»O Gott, mein Vater!« flüsterte sie mit erlöschender Stimme.
»Er wird nie etwas davon erfahren«, fuhr Stureson fort, »nie, so wahr ich lebe und mit treuer Freundschaft Ihnen anhänge! Und nun geben Sie mir Ihre Hand, Mary, wir wollen kein Wort mehr darüber sprechen. Olaf wird sich abgekühlt haben. Er hat recht, Sie auf immer zu verlassen, und hoffentlich hält er seinen Entschluß, Sie nicht wiederzusehen, oder doch dann erst – wenn alles sich erfüllt hat«, setzte er leise hinzu.
Willenlos folgte Mary, als er sie die Stufen hinabführte und ihr auf dem Wege zu ihres Vaters Haus leise Beteuerungen und Versprechungen zuflüsterte. Die graue Röte des Tages erhellte schon den Vorplatz und kämpfte mit dem verblassenden Mond, als sie die Tür erreichten.
»Gute Nacht, Jungfer Mary«, sagte Stureson lächelnd. »Glauben Sie, daß ich Ihr bester Freund bin, und mag mein Bild nicht ganz in Ihren Träumen fehlen.«
Mary zog sich eilig zurück, Stureson schloß die Tür und auch das Fenster, das er zum Ausstieg benutzt hatte, und stieg dann in seine Kammer hinauf. Dort warf er sich aufs Bett, wo er bald fest einschlief.