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Der Tag graute schon, ehe Sture erwachte. Sogleich sprang er auf, denn seine Neugier war groß. Doch als er die Zeltdecke aufhob, sah er verwundert, daß er auch jetzt sich ganz allein in der furchtbar öden Wildnis ringsum befand. Hinter ihm lag der ungeheure Felsen des Kilgis, sein schwarzes Haupt von der ersten Morgenröte angehaucht. Der Ort, wo der einsame Mann stand, war ein Gebirgsabsatz am Fuß des mächtigen Bergstockes, von dem er durch eine tiefe Kluft getrennt wurde. Nach drei Seiten hin fiel das kleine Fjeld mit fast senkrechten Wänden in einen ziemlich großen See, mit der vierten hing es mit einem Gebirgssattel zusammen, an dem das Renntier in der Nacht mit seinem Reiter hinaufgeklettert sein mußte, nachdem es einen Teil des Sees durchwatet hatte. Wo war es aber nun? Wo war Mortuno? Und wo vor allem war Afraja und sein Kind? Sture sprang auf einen der hohen Blöcke, und mit Erstaunen sah er, daß der Kreis aus Steinen, in dem das Zelt stand, ganz regelmäßig aussah, und daß alle diese Felsenstücke mit sonderbaren Linien und Strichen bedeckt waren. Er hatte schon öfter von Opferstätten der Lappen gehört und zweifelte nicht, daß dies eine solche Opferstätte war, die irgendeiner Gottheit gehörte.
Inzwischen war der Tag heller geworden, und als Sture am Rand der Schlucht hinging, schien es ihm, als wären dort die Steine stufenartig übereinandergelegt, so daß ein Hinabsteigen möglich wurde. Ein Versuch gelang, und als er auf dem Grund anlangte, sah er, daß dieser sich weithin in eine Kluft fortsetzte, die wie ein höhlenartiges Tor den Kilgis durchbrach. Die Schlucht wölbte sich hier zu einem Gang, aus dessen Tiefe es ihm wie heller Sonnenschein entgegenschimmerte. Er war überzeugt, daß dies die Wand sein müsse, vor der Olaf bei seiner Entdeckungsreise stillstand, und voller Verlangen schritt er weiter vorwärts. Eine Ahnung sagte ihm, dort müsse Gula wohnen, hier werde er auch Afraja finden. In der Tat, als er nun aus dem Gang heraustrat, sah er ein Tal vor sich liegen, grüner und lieblicher als er jemals eines in diesem Land gesehen. Mitten durch das Gelände strömte ein Bach, dessen Rand mit Gebüsch besetzt war. Dichtes Gras wuchs in Fülle, Moosblumen in mancherlei Farben sproßten dazwischen auf, und wohin Sture schaute, überall glaubte er einen Garten zu erblicken, der von sorgsamer Hand gepflegt wurde. Plötzlich hörte er, eben wie Olaf damals, ferne Glöckchen klingen, und fast zugleich sah er aus dem dichten Gebüsch ein Mädchen kommen, das sich dem Bache näherte und keine andere war als Gula selbst.
Stures ganze Teilnahme erwachte. Die zierliche Gestalt der Jungfrau war in ein lichtbraunes Gewand gehüllt, und neben ihr schritt ein weißes gezähmtes Renntier, dessen rotes Halsband ihre Hand berührte. Sie sah vor sich nieder.
Doch plötzlich stand das Tier witternd still, und als sie langsam den Kopf aufhob, sah sie den Mann vor sich stehen.
»Gula!« rief Sture, seine Hand ausstreckend, und ihre Augen leuchteten auf, ihr anfänglicher Schrecken verwandelte sich in hohe Freude.
»Liebe Gula«, sagte Sture, »wie lange habe ich mich danach gesehnt, dich wiederzufinden. Sag mir, wie es dir geht? Gottlob, dein Auge ist hell!«
»Friede sei mit dir und mir«, antwortete sie. »Mir ist wohl, ich bin glücklich. – Aber was ist das?« fuhr sie fort, indem sie ihn betrachtete. »Du bist bleich geworden und dein Gesicht ist kummervoll. Oh! Mein Vater hat es mir gesagt, sie verfolgen dich und haben dich verraten, alle, alle sind gegen dich!«
»So kennst du also mein Unglück?« fragte er, »und weißt, wie dein Vater mir Beistand geleistet hat?«
»Tat er das?« rief sie lebhaft, »Gottes Dank sei ihm dafür! Erst gestern sprach der Vater von dir, sicherlich wollte er mich auf deine Ankunft vorbereiten.«
»Und wo ist dein Vater, liebe Gula?« fragte Sture herzlich.
»Hier!« antwortete eine Stimme vor der Höhlung der Felsenwand, und da stand Afraja, die Hände um seinen Alpenstock gelegt, und blickte ihn mit den funkelnden Augen an.
»Sei gegrüßt, Jüngling, in meinem Land«, sagte er, »und hab Dank, daß du gekommen bist. Möge es dir hier in Jubinals Paradies gefallen.« – Dann auf Gula blickend und mit der Hand über ihr Haar streichend, murmelte der Greis ihr einige Worte zu und fuhr zu seinem Gaste gewendet laut fort: »Wir wollen gehen, ich werde dir meine Tiere zeigen, indessen soll das Mädchen für deine Aufnahme sorgen.«
Gula eilte, dem Wink folgend, davon. Das zahme, weiße Renntier lief ihr nach. Afraja dagegen führte den Gast durch die Windungen des Tales, überstieg dann mit ihm einen hohen Granitwall, und jetzt sah Sture sich auf der Hochebene, den Opfersteinen gegenüber, wo er die Nacht zugebracht hatte. Sein Zelt war dort verschwunden, aber zu seinen Füßen am Rand der Waldschlucht erhoben sich fünf andere Zelte, und von diesen zog sich ein Gehege hin, innerhalb dessen es von Milchkühen mit Geweihen wimmelte.
Zum erstenmal war der dänische Junker mitten in der Alpenwirtschaft eines Lappenlagers, dessen ganze fröhliche Geschäftigkeit sich vor seinen Augen auftat. Die große Herde innerhalb des Geheges war mehr als tausend Köpfe stark, und heute wurde die Herbstmusterung gehalten. Wohl ein Dutzend Männer und Weiber schien mit Melken beschäftigt, mehrere andere führten die sich sträubenden Tiere herbei. Mortuno, der mit zwei erfahrenen Gehilfen umherging, bestimmte eine Anzahl zum Verkauf auf den nächsten Markt und schnitt ihnen ein Zeichen ins Haar der Mähnen. Die jungen Tiere standen in einem dichten Haufen, die Kälber umsprangen ihre Mütter, stießen sich und jagten sich, schrien vor Lust und wurden durch den warnenden Ruf der Alten gelockt, die ungeduldig den Augenblick erwarteten, wo sie aus den Hürden ins Freie gelassen würden. Die Glocken der Leittiere schlugen melodisch an, und die Männer und Weiber sangen bei ihrer Arbeit. Gelächter und Frohsinn schienen überall zu walten. Da liefen die Hirten mit großen Gefäßen voll Milch nach der Vorratsgamme, die das größte Zelt bildete, dort wieder in ein doppelt aneinander gebautes, welches das Familien- und Wohnhaus zu sein schien, und aus dessen zurückgeschlagener Decke heller Feuerschein unter einer Rauchsäule hervorzuckte. Alle diese Zelte oder Gammen waren sehr einfach gebaut, denn sie bestanden aus nichts als aus sieben oder neun ziemlich hohen Stangen, die sich in einer zusammengebundenen Spitze vereinten, unten aber einen Kreis bildeten. Eine Decke von grober, brauner Leinwand hing über dem ganzen Bau, der durch einige Stricke aus gedrehtem Leder und Pflöcke verstärkt war, um Sturmstößen besser zu widerstehen. Bei einigen Gammen war die Zeltdecke geölt, alle waren in gutem Stand, und nahe der größten hingen an mehreren Pfählen Geräte und Decken, Holznäpfe und Kleidungsstücke. Sture sah mit neugierigem Gefallen diesem Hirtenleben und Treiben zu.
Der Tag war heiter, der Himmel so schön blau wie in der besten Sommerzeit, und die Sonne wärmend trotz der Morgenfrühe. Afraja überließ den Junker seinem Nachdenken, denn er wurde bald von Mortuno abgerufen, um bei der Auswahl der Tiere zu entscheiden.
»So vergeht ein Menschendasein«, sagte Sture, nachdem er lange auf einem Stein gesessen und zugeschaut hatte, »dort in Palästen, da in Hütten, bei den einen auf seidenen Kissen, hier auf rauhem Fels und Schnee, und was dem Verwöhnten fürchterliches Elend scheint, ist dem Natursohn Genuß und Glück. Aber ich kann jetzt begreifen«, fuhr er fort, als Afraja zurückkam, »warum die armen Lappen an der Küste euch so sehr beneiden. Es ist eine Herrlichkeit um solch freies Hirtenleben gegen das dumpfige Wohnen in einer Erdhütte.«
»Die dort unten«, erwiderte Afraja stolz, »sind Bettler, die sich von Almosen nähren. Ich habe hundert Tiere aus dieser Herde gewählt, die ich am Markttage verkaufen will, samt Federn, Häuten und Geweihen. Meine anderen Herden werden mir nicht weniger einbringen, meine Taschen werden voll blanker Taler sein, und dabei fehlt es uns nicht an guter Speise aller Art. Wir wandern in unserem weiten Land auf und ab, leben wo es uns gut dünkt, leiden keine Not, kennen keine Entbehrung. Wie vielfach ist die Plage der Männer, die sich weiser und besser dünken? Wie groß sind ihre Bedürfnisse? Und je weiter du blickst, um so mehr wirst du finden, daß ich Wahrheit spreche. Die Menschen sind gerecht gewesen, solange sie wenig bedurften; je weiter sie in schlauen Künsten kamen, um so gieriger und gewissenloser wurden sie. Wir leben noch wie unsere Väter vor langen Jahren. Wir wollen nichts von fremdem Gut, aber dein Volk hat uns bedrückt, hat uns genommen, was uns gehört, und gibt uns keinen Frieden.«
»Wenn das wahr wäre, was du sagst«, antwortete Sture, »würde es auf der ganzen Erde nur Hirten und Jäger geben. Wir würden wie die Tiere des Waldes sein. Doch der Mensch hat von Gott den Sinn erhalten, weiter zu streben, zu lernen und zu schaffen und seinen Verstand zu gebrauchen.«
»Muß er ihn gebrauchen, um Unrecht zu tun?« fragte Afraja.
»Nein«, erwiderte der Junker, »Aufklärung soll uns bessern, soll uns milder und gerechter machen.«
»Komm«, fuhr Afraja fort, »meine Herde geht auf ihre Morgenweide. Du wirst durstig sein, brich mit uns dein Brot und danke dem Allvater, dem jedes Geschöpf gehört.«
Während er sprach, hatte sich die dicht gedrängte Tierschar in Bewegung gesetzt. Ein Dutzend der kleinen zottigen Hunde, die bisher wachsam den ganzen Trupp umstanden und jedes Renntier zurückgewiesen hatten, das sich entfernen wollte, begann ein lautes Gekläff. Die Leittiere setzten sich an die Spitze ihrer zahlreichen Familien, und nun ging es hinaus in die tauige, moosige Heide, erst zum See hinab, um zu trinken, dann in die waldige Schlucht, wo reiches Futter war. Es war ein fröhlicher Zug ins freie Leben. Die Tiere mutig springend, die Hunde mit frischem Gebell, die Hirten mit langen Stäben und gellendem Geschrei nach allen Seiten. Die Zurückbleibenden aber sammelten sich in dem großen Zelt, wo ein Kessel von oben herab an der Kette über dem Feuer auf dem Herdstein hing, und eine alte Frau die fette, frische Renntiermilch zum Frühstück kochte.
Weiber, Kinder und Männer hockten da im Kreise, empfingen ihr Teil, aßen die Mehlkuchen dazu, die heiß von dem heißen Stein kamen, und sahen mit scheuen, lauernden Blicken den fremden Herrn an, der ihren ausgezeichneten Appetit beobachtete.
Afraja nahm eine der Holzschalen, die alte Frau füllte sie mit dem Trank, dann reichte er sie seinem Gast. »Du mußt nehmen«, sagte er, »was wir geben können, hier ist niemand, der Besseres oder Schlechteres hätte.«
Die süße Milch schmeckte vortrefflich. Sture fühlte sich davon erfrischt und Afraja nickte beifällig, als er dies bekannte.
»Ich hoffe«, sprach er, »du wirst noch besser mit unsern Speisen zufrieden sein, denn selbst Männer wie Helgestad verschmähen diese nicht.«
Dieser Name erinnerte den Gaardherrn an den eigentlichen Grund seines Hierseins. – »Du hast mich zu dir gerufen«, sagte er, »und ich erfüllte mein Versprechen um so lieber, weil ich deines Rates bedürftig bin. Du weißt gewiß, wie es mit mir steht, daß mein Haus verlassen ist, meine Arbeit stockt, und daß ich in Wahrheit kein Mittel kenne, um mich aus meiner bedenklichen Lage zu reißen.«
»Ich weiß«, antwortete Afraja, und dann sah er sinnend in die Ferne, als überlege er seine nächste Antwort, bis er plötzlich auf einen Gegenstand deutete, der sich jenseits des Sees zeigte. Weidenbüsche wucherten dort, und war es Täuschung oder Wirklichkeit, Sture glaubte Olaf zu erkennen, und neben ihm stand der Schreiber, hinter den beiden Gustav.
»Helgestads Sohn!« rief er überrascht.
Der Lappe nickte, er schien weder erschreckt noch besorgt zu sein. Seine Augen waren scharf, und wie er sich vorbeugte, schien es, als hielte er ihnen sein Ohr entgegen, und als könnte er hören, worüber sie sich besprachen.
Nach wenigen Minuten stiegen die drei Männer die Hügel hinab und näherten sich den Zelten.
»Sie dürfen mich nicht finden«, sagte Sture.
Afraja hob mit seinem Stab das Linnen des dicht anstoßenden Zeltteiles auf und winkte seinem Gast, sich dort zu verbergen. Auf seinen gellenden Pfiff kam Mortuno aus der Vorratsgamme, und kaum hatte er die drei Nordmänner erblickt, als sein Gesicht einen wilden und rachsüchtigen Ausdruck annahm. Mit einem Griff hatte er sein Gewehr zur Hand, das am Pfosten neben dem Eingang hing, allein gehorsam tat er es wieder an seinen Ort und entfernte sich, als ihn ein strenger Befehl Afrajas dazu aufforderte, der ihm vorher noch einige leise Worte zugeflüstert hatte. Der Häuptling setzte sich neben den Herdstein nieder, bis Hundegebell und lachende Stimmen die Ankunft der fremden Männer verkündeten.
»Rufe deine Hunde zu dir!« sagte der Schreiber, als er Afraja bemerkte. »Du wirst doch nicht dulden, daß sie deine besten Freunde anfallen.«
Afraja tat einen gellenden Pfiff, und sogleich ließen die Hunde ab.
»Sei gegrüßt, glorreicher König. Jubinal schütze dein teures Haupt!« rief Paul lustig. »Jedenfalls bist du neugierig, wie du zu der Ehre kommst, uns in deiner Gamme zu sehen. Höre also: Gestern früh haben wir uns zu einer Herbstjagd aufgemacht und sind so glücklich gewesen, daß ein vollbeladenes Pferd mit unserer Beute bereits nach dem Lyngenfjord unterwegs ist; wir aber streiften weiter und kamen so bis an den Kilgis. Als wir dann deine Zelte erblickten, beschlossen wir einen Besuch bei dir, um uns deiner mächtigen Freundschaft zu empfehlen.«
»Ihr seid willkommen«, sagte Afraja. »Setzt euch zu mir. Alles, was ich habe, gehört euch.«
»Ihr habt es gehört!« schrie Paul lachend. »Alles, was er hat, gehört uns. So bekenne denn, du alter Geizhals, wo du deine Schätze verbirgst!«
»Such sie«, antwortete der Lappe, in die Lustigkeit einstimmend, »und nimm, Väterchen, was du findest.«
»Also auch dazu haben wir deine Genehmigung«, rief der Schreiber, »nun wer weiß, was geschehen kann. – Wo aber hast du deine Leute? Wo ist der liebenswürdige Mortuno?«
»Meine jungen Leute sind bei den Herden im Tal«, antwortete Afraja. »Laßt mich jetzt sehen, was ich meinen Gästen vorsetzen kann.«
Er schritt bis vor den Eingang der Vorratsgamme und rief ein Weib herbei, dem er seine Befehle gab.
»Wenn der alte Hexenmeister wirklich allein wäre«, sagte Olaf leise, »so könnte man ein ernsthaftes Wort mit ihm reden.«
»Mache keinen schlechten Spaß, mein Junge«, entgegnete Paul, der seine Augen rastlos umherspüren ließ, »ich dächte, du wüßtest genau, was eine Lappenkugel zu bedeuten hat, und dort sehe ich, ganz wie ich es dachte, Mortunos gelbes Gesicht aus der Vorratsgamme schielen. Also Ruhe und kaltes Blut!«
Die jungen Männer hatten sich um den Herdstein gesetzt, und Paul zog eine gut gefüllte Flasche hervor, die er dem wiederkehrenden Afraja entgegenschwenkte.
»Nimm diesen Göttertrank«, rief er, »den Jubinal nicht verschmähen würde. Auf dem Lyngenmarkt sollst du mehr davon haben. Du wirst doch selbst auf den Markt kommen?«
»Ich komme, Väterchen, komme!« antwortete der Lappe, vergnügt grinsend. »Bringe Renntiere mit, mehr als zweihundert Stück.« Er zählte seine anderen Waren auf, und ein Gespräch über die Märkte kam in Gang, während zwei Lappenweiber Speisen brachten und diese vor die Gäste stellten.
Sture lag versteckt unter den Decken und konnte jeden Laut hören, der nebenan gesprochen wurde, aber was er erwartete, geschah nicht. Mit keinem Wort wurde seiner gedacht.
Die Jäger waren hungrig und durstig, lobten Speise und Trank und lachten über Petersens Scherze.
»Du mußt jedenfalls auf den Markt kommen«, sagte der Schreiber mit vollem Mund, »du wirst dir dadurch sogar den Dank meines Oheims erwerben. Allerlei Streitigkeiten sind vorgefallen. Du hast Einfluß bei deinen Landsleuten. Halte sie in Ordnung, damit sie keinen Übermut begehen.«
»Du wirst mir dafür keine Schuld geben, Väterchen«, antwortete Afraja.
»Niemand gibt dir Schuld«, fuhr Paul fort, »aber dein eigener Neffe macht schlimme Streiche. Wo ist er? Hast du ihn hier?«
»Auch er ist bei den Tieren im Tal«, grinste der alte Mann. »Tu ihm nichts, er ist jung und wird sich bessern.«
»Nicht wahr, wenn er eine Frau bekommen hat«, sagte Paul, »oder hat er Jungfrau Gula schon heimgeführt?«
Afraja schüttelte bedächtig den Kopf. »Mortunos Gamme wird leer stehen«, sagte er dann, »bis der Winterschnee gefallen ist.«
»Warum hast du Gula aus meines Vaters Haus genommen?« fragte Gustav ungeduldig und drohend.
»Afraja hat ganz recht getan«, fiel der Schreiber schnell ein, »jeder Vater hat über sein Kind zu gebieten. Was sollte das Mädchen denn auch am Lyngenfjord? Ilda kann sie nicht mitnehmen, ich möchte sie in Tromsö nicht haben. Soll sie etwa Olaf als Haushälterin nach Bodö mieten?«
»Lieber möchte ich Bären und Wölfe um mich sehen als die gelbe Hexe!« entgegnete Olaf grämlich.
»Nimm es nicht übel, Afraja«, sagte Paul; »wenn Olaf auch brummt, er liebt dich mehr als du denkst. Übrigens hat er eine Bitte an dich. In wenigen Tagen wird er eine Reise antreten; dazu braucht er feines Wetter und guten Wind. Du bist ein Zauberer, alle Welt sagt es, und kannst Sturm und Wetter besprechen. Willst du meinem guten Freund Olaf hier eine feine, rasche Fahrt verschaffen?«
Afraja machte ein verneinendes Zeichen, wobei ein schlaues Lächeln um seine Mundwinkel zuckte.
»Warum willst du nicht, alter Bursche?« fragte Olaf in grobem Ton. »Schreib dein Narrenzeug auf, ich gebe dir einen Taler dafür.«
»Du nennst es selbst närrisches Zeug«, antwortete der Lappe, »was willst du also damit?«
»Kümmre dich nicht um den Ungläubigen«, mischte sich Paul ein. »Wenn er die Wirkung merkt, wird er sich zu deinem Wunder schon bekehren. Gib immerhin deinen Zauber her.«
Afraja lachte vor sich hin, dann nahm er stillschweigend aus der Tasche, die an seinem Gürtel hing, ein Stückchen Messing, das fast wie ein menschlicher Kopf geformt war. Er faßte es an einem Ende, das andere mußte Olaf festhalten, und während er etwas vor sich hinmurmelte, umwand er es mit einer dünnen Sehne, die er gleichfalls aus der Tasche holte. Noch einen längeren Spruch leise flüsternd, überreichte er es dann dem Nordländer, der zu der ganzen Zeremonie ein höchst ungläubiges Gesicht machte.
»Was soll ich mit dem Zeug tun?« frage Olaf.
»Trage es bei dir«, sagte Afraja, »Wind und Wellen werden dir zu Diensten sein.«
»Unsinn!« schrie der handfeste Mann. »Denkst du, alter Narr, daß ich deinen Betrug glauben soll? Genug mit dem Spaß, laßt uns gehen.«
Er war im Begriff, das Amulett in die qualmende Herdasche zu schleudern, als der Schreiber seinen Arm festhielt und nachdrücklich sagte: »So sollst du Afrajas Bereitwilligkeit nicht lohnen. Nimm seinen Zauber dankbar an und versuche, ob er dir nützt.«
Er steckte das Amulett in Olafs Rock und setzte seinen Hut auf. »Gib Afraja deinen Taler«, fuhr er fort, »und dann fort mit uns, wenn wir noch zur Nachtzeit den Lyngenfjord erreichen wollen. Auf Wiedersehen auf dem Markt, Afraja. Du sollst zufrieden sein.«
So gingen sie aus der Gamme, und Afraja begleitete sie. Als Sture aus seinem Versteck hervortrat, sah er sie alle an der waldigen Schlucht stehen und dann zwischen den Steinmassen jenseits des Wassers verschwinden.
Sture fühlte sich beunruhigt über dies sonderbare Zusammentreffen. – »Sie sind fort«, rief er Afraja entgegen, »weißt du gewiß, daß sie mich nicht hier vermuten?«
»Sie ahnten deine Gegenwart nicht«, erwiderte der Greis, und leise lachend setzte er hinzu: »Mich wollen sie auf ihren Markt haben, und Afraja wird kommen, um mit dem gestrengen Vogt seine Rechnung abzuschließen.«
»Hüte dich!« sagte Sture, den eine Ahnung überkam, als er in Afrajas unheimliches Gesicht blickte. Hohn und Ingrimm hatten sich in die tiefen Falten und Runzeln gelagert, seine funkelnden Augen sahen nach der Stelle hin, wo die Fremden verschwunden waren.
»Laß mich jetzt wissen«, sprach der Junker, »was du von mir begehrst. Ich bin dir verpflichtet und will, wenn es sich mit meiner Ehre verträgt, dir zu Diensten sein.«
»Nicht hier«, antwortete der Alte, indem er aufstand. »Komm, folge mir.« Er schritt voraus und führte ihn nach dem Felsenvorsprung, auf dem die heilige Opferstätte lag. »Setz dich hierher zu mir, Jüngling«, sprach er. »Du bist an einem Ort, der weder Lüge noch Verstellung duldet. Dies ist die heilige Opferstätte Jubinals, wo der Vater aller Dinge seit vielen Menschenaltern verehrt worden ist.«
Der Greis schien, indem er sprach, kräftiger geworden, und seine Stimme klang ernst und feierlich.
»Ich rede zuerst von dir«, fuhr er dann fort, »um dir zu beweisen, daß ich aufrichtig bin. Du bist hierher gekommen in ein Land des Streites und der Not, um dich zu denen zu gesellen, die nichts kennen als ihre Gier nach Geld und Gewinn. Sie pressen jeden aus, der zu ihnen gehört, wieviel mehr uns, die wir, ehe sie kamen, dies Land besaßen. – Du bist erfahren in Büchern und Schriften, so wirst du auch gehört haben, daß dies unermeßliche Land einst unserer Väter Eigentum war. Noch werden im fernen Süden an den Ufern des Ostmeeres ihre Gebeine in Felsengräbern gefunden, wir aber ziehen auf diesen baumlosen Fjelden umher.
Doch selbst diese Einöden gönnen uns die harten Männer nicht. –
Glaube nicht, daß dies immer so war«, fuhr er nach einem schwermütigen Schweigen fort, »glaube nicht, daß das Renntier unsere einzige Pflege und einzige Nahrung ausmachte. Viele Sagen haben sich erhalten, daß wir einst in schönen, hellen Tälern lebten, wo Fruchtbäume standen und reiches Korn wuchs. Gewalt hat uns daraus vertrieben; wir wurden gejagt und verfolgt, bis uns nichts übrig blieb als die öde Wüste und das Geschöpf, das allein darin zu leben vermag.
Was helfen Klagen! Jedes Geschlecht hat schlimmere Zeiten gesehen, und wenn es so fortdauert, muß es ein Ende mit uns nehmen. Unsere besten Weiden sind verloren, weder Recht noch Gewissen ist in unseren Verfolgern, unser Anblick reicht hin, uns zu verspotten, unser Name reicht hin, uns zu verachten. Wo ist Gerechtigkeit zu finden bei denen, die uns weniger wert halten als das schlechteste Tier, und die uns abschlachten würden, wo sie uns greifen könnten, wenn sie auf den Märkten nicht doppelten Vorteil von uns hätten, im Kaufen und Verkaufen.
Du Jüngling«, sprach er mit einem dankbaren Blick, »bist mit mildem Herzen geboren. Du nahmst dich der Verstoßenen an, und was ist dir dafür geschehen? Der, welcher dich in sein Haus lud, tat es, um dich zu verderben, und die Männer, die das Land regieren sollen, verbanden sich mit ihm.«
»Wahr! Alles wahr, was du sagst!« fiel Sture ein, »aber wo ist Hilfe? Sprich, was ich tun kann, um diesen Ränken und Gelüsten ein Ende zu machen?«
Afraja schwieg eine Zeitlang, dann antwortete er: »Du wirst mit allem, was du tun magst, ihrer Rache nicht entgehen. Du wirst keinen finden, der dir seine Hand reicht, jede Tür wird sich vor dir schließen, niemand, der mit dir handeln, niemand, der dein Brot essen mag. Für deine Dienste wirst du nur elendes Volk finden, das dich betrügt. Fische kannst du nicht fangen. Wo du dich zeigst, wirst du ausgestoßen sein, und was du unternimmst, wird beschädigt und zerstört werden.«
»Du kannst recht haben«, antwortete Sture erregt, »böser Wille und Unvernunft fallen über mich her, nur zu viele Proben habe ich schon vorzuzeigen. Doch mit Ruhe und Besonnenheit läßt sich manches tun, um ihre Bosheit zuschanden zu machen.«
»Tu, was du willst«, sagte der alte Mann, »sie werden schneller sein als du. Vogt und Sorenskriver sind die mächtigsten Männer in den Finmarken. Sie sind deine Feinde, nirgends wird Ruhe für dich sein. Sie werden Dinge aussinnen, die dich verderben, werden auf ihre Gesetzbücher schlagen und dich ausplündern, greifen und arm machen.« Er lachte heiser vor sich hin und sagte dann: »Du weißt ja, was Richter und Gesetze bei deinem Volk vermögen. Wen man elend machen will, den überliefert man der Gerechtigkeit. Wem man nehmen will, was er hat, dem schickt man den Sorenskriver ins Haus. Sei sicher, Paul Petersen hat den Strick schon gedreht, der dich vor seinen Stuhl bringt, und Helgestad hält den Knoten zusammen.«
»Und gibt es kein Mittel um dieser schändlichen Sippschaft zu entgehen?«
»Ja, ich kenne ein Mittel«, antwortete der Lappe, ihn starr ansehend, »und dies eine Mittel hilft uns beiden. Hör zu! Wie viele Kaufleute wohnen in den Sunden und Fjorden? Nicht fünfhundert. – Wer liebt sie? Niemand! – Sind es tapfere, starke Männer, die Wolf und Bär jagen können? Sie sind träge, trinken, zählen Geld, rechnen und sitzen in ihren Häusern am Herd. – Was sind wir dagegen? Ein Volk, das mehr als zehntausend Männer hat, Männer, deren Büchsen niemals fehlen und die in Sturm und Nebel niemals verzagen.«
»Wie?« rief der Junker erstaunt und erschreckt, »willst du Aufruhr anstiften, gegen König und Obrigkeit Krieg beginnen?«
»Nicht gegen König und Obrigkeit«, sagte Afraja, »aber gegen unsere Feinde, die in deines Königs Namen jede Gewalt verüben.«
»Sei nicht ungerecht. Der König weiß nichts davon. Wüßte er es, oder wüßte es der Gouverneur in Trondheim, es würde vieles nicht geschehen. Hoffe, daß die Bemühungen des Missionars Hornemann bald Hilfe bringen.«
»Weiß er es nicht«, sagte Afraja, »um so schlimmer für ihn. Wie kann er auch so viele hundert Meilen von hier König sein wollen? Nein, Herr, ich hoffe weder etwas von deinem König, noch von seinen Dienern, oder von dem alten Priester.«
Sture hatte Zeit gefunden, sich zu bedenken. »Laß deine Erbitterung«, sprach er nachdrücklich, »nicht über deine Klugheit den Sieg davontragen. Die Kaufleute und Ansiedler, die Quäner und Fischer werden sich nicht so leicht überwältigen lassen. Dein Volk lebt zerstreut über den ganzen Norden bis an das Eismeer hin. Du hast keine Gewalt darüber. Aber selbst wenn es dir gelänge, was niemals glücken kann, die Niederlasssungen der Nordmänner überall zu zerstören und siegreich zu sein, so würden bald genug Kriegsschiffe voll Soldaten kommen, die fürchterliche Rache nähmen.«
Afraja lachte vor sich hin. – »Laß sie kommen«, antwortete er dann, »deine Soldaten sind nicht Männer, die viele Tage durch Sümpfe waten und durch die Jauren steigen können, ohne gute Verpflegung zu haben.«
Der Junker mußte dies zugeben, aber je mehr er einsah, daß Afraja wirklich im Ernst sprach, um so mehr lehnten sich seine Gefühle dagegen auf. – »Wenn ich wüßte«, sagte er endlich, »daß du zu solchen blutigen Taten greifen könntest, so würde ich meine Pflicht tun und der Obrigkeit Anzeige machen.«
Afraja antwortete mit einem Blick, dessen furchtbare Bedeutung Sture verstand. »Der Verräter«, sprach er langsam, »würde den Balsfjord nicht wiederfinden. Aber du kannst mich nicht verraten, auch wenn du möchtest. Jubinal hat dich zu seinem Werkzeug bestimmt, und du wirst sein Gebot erfüllen. Glaube nicht, daß ich mich gedankenlos in Gefahr begebe. Mortuno ist ein furchtloser Mann, und die junge Mannschaft aus allen Gammen ist bereit, ihm zu folgen. Du aber wirst bei ihnen sein und ihren Mut anfachen!«
»Wer? Ich?« rief Sture, »eher möge meine Hand verdorren!«
»Du bist kriegskundig«, sprach Afraja unerschütterlich, »und viele fürchten dich. Aber du bist auch mächtig in deinem Land und kannst dort deine Stimme hören lassen. Man sagt, daß in Kopenhagen derjenige alles vermag, der silberne Arme hat. Nun wohl, Jüngling, Jubinal wird dir diese Arme geben. Du sollst ihrer Gier Schätze zuwerfen, mögen sie den Preis bestimmen, um den sie uns unserer Väter Land verkaufen wollen.«
»Wenn du so viel Geld besitzest«, sagte der Junker erstaunt, »so läßt sich allerdings vieles erreichen, jedenfalls eine bessere und gerechtere Verwaltung und eine strenge Aufsicht über Kaufleute und Vögte.«
Afraja schüttelte hohnvoll seinen Kopf. »Fort sollen sie alle, wir wollen sie nicht länger dulden. Gäbst du ihnen unser Silber in Säcken, so würden sie morgen kommen, um mehr zu holen. Nein, Jubinals Kinder werden zu ihnen hinuntersteigen, Jubinal soll seine Opfer haben!«
Die grimmigen Blicke, die er auf den Stein warf, der manches blutige Opfer gesehen haben mochte, erschütterten den dänischen Mann. Ein schrecklicher Gedanke flog durch seinen Kopf, daß er vielleicht selber dem schwarzen Götzen geschlachtet werden könnte, wenn er sich weigerte, Afrajas Willen zu erfüllen. Allein sein Stolz und seine Ehre sträubten sich vor einer heuchlerischen Unterwerfung. Er begann darum mit vieler Ruhe, Afraja nochmals von jeder Gewaltsamkeit abzumahnen und stellte eine kaltblütige Untersuchung über die Möglichkeit des Gelingens eines Aufruhrversuchs an, die damit endete, daß er bewies, er könne nicht glücken. Dagegen aber schilderte er mit eindringlicher Wahrheit die Folgen, welche sich daran knüpften. Alle gehässigen Verleumdungen, alle Anschuldigungen gegen den unglücklichen Volksstamm würden dann erst vollen Glauben finden.
Niemand würde mehr seine Stimme erheben können, um ihn zu verteidigen; alle Schrecken einer fanatischen Verfolgung würden nun erst einbrechen und eine Vernichtung unter den größten Greueln das Ende sein.
»Du willst dein Silber bieten, um dein Vaterland freizukaufen«, sagte er zuletzt, »und doch gestehst du selbst ein, daß damit nur neue, gierige Gelüste aufgeweckt würden. Wenn es wahr wäre, daß, wie Paul Petersen behauptet, im Schoße dieser Gebirge reiche Silberadern verborgen liegen, die du allein kennst, so hüte dich, das Märchen glaubhafter zu machen. Um Perus Silber haben die Spanier ganze Völker geschlachtet, und geldgierig ist der Vogt von Tromsö nicht allein, er würde Genossen genug finden auch in Kopenhagen. Ganze Banden würden kommen, um diese Schätze zu entdecken, und was hülfe es dir, die Fischhändler zu vertreiben, um weit schlimmeren Nachfolgern Platz zu machen.«
Afraja hatte aufmerksam zugehört, und verschiedentlich schien er die Gründe seines Gastes anzuerkennen. »Hab Geduld«, so schloß dieser seine Rede, »wie auch ich Geduld habe. Meine Lage ist wahrlich unglücklich genug, und du hast mir keinen Trost geben können, hast mir im Gegenteil gezeigt, daß ich ein verlorener Mann bin. Dennoch verzweifle ich nicht. Ich will auszudauern suchen, und Gott, der die Hilfe der Schwachen ist, wird mich den Weg erkennen lassen, den ich gehen muß. Ich werde Hilfe finden, werde mich selbst nach Trondheim und Kopenhagen wenden, und sei dann überzeugt, Afraja, daß ich auch für dich meine Stimme erheben werde, so weit sie irgend reicht.«
Der alte Stammführer verharrte einige Minuten lang im Schweigen, dann begann er, als habe er von Stures Beteuerungen nichts gehört, da fortzufahren, wo er aufgehört hatte.
»Wenn wir diese vertrieben haben«, sagte er, »dann ist es Zeit, dafür zu sorgen, daß keine anderen kommen. Deine Worte sind in meinem Gedächtnis, und du hast recht, wir können dies Land nur besitzen, wenn wir selbst Handel treiben und in festen Wohnsitzen wohnen. Aber sage mir, warum wir es nicht könnten? Wir verstehen mit den Netzen ebensogut umzugehen wie mit dem Hirtenstab und dem Gewehr des Jägers. Wir haben unseren Verstand vom Allvater erhalten und wissen ihn zu gebrauchen. Unsere Hände sind geschickt zu vielen Dingen. Wer näht so feine Schuhe, wer macht so bunte Gürtel, wer fertigt so schöne Taschen und Kragen? Warum sollten wir keine Schiffe und Häuser bauen? Warum sollten wir nicht zum Fischfang auf die Lofoten und bis nach Bergen fahren können? Warum sollten wir nicht gedeihen und gern gesehen werden?«
Sture blickte ihn voll Verwunderung an. Was Afraja sagte, klang gerecht und gut, aber dennoch war es ein Traum, ein Märchen, unmöglich zur Wahrheit zu machen, unmöglich auszuführen. Wie sollten diese halbwilden Renntierhirten, diese Jäger des Gebirges, dieser tief verachtete, herabgewürdigte, seit uralten Zeiten verkümmerte Menschenstamm sich zu der Zivilisation erheben, die nötig war, um ein handeltreibendes, fischendes, ackerbauendes Volk daraus zu machen?
Ein Gefühl des tiefsten Mitleids ergriff den jungen Mann, denn Afrajas Fragen hatten etwas Rührendes. Sein Gesicht hatte sich veredelt, aus seinen Augen leuchteten die Gedanken, die seinen Kopf erfüllten.
»O Afraja!« rief er aus, »wollte Gott, ich könnte glauben, daß das alles wirklich geschehen könnte, daß es dein Volk vermöchte, sich aus der Niedrigkeit aufzurichten. Ja, wären sie alle wie du und wie Mortuno. Doch sieh hin, wie die meisten sind – laß ab davon, alter Mann, es ist zu spät!«
Der alte Häuptling verharrte viele Minuten lang im Nachdenken. »Jubinal ist allmächtig«, sprach er endlich, indem er sich von seinem Platz erhob, »er wird dein Herz wenden. Schweig jetzt, Jüngling, und laß uns gehen, Gula wird uns schon längst erwarten.« Mit diesen Worten schritt er seinem Gast voran die Felsenstufen hinab.
Wie lieblich war jetzt das versteckte Tal, das von der Mittagssonne warm beschienen wurde!
Gula hatte sich um des Freundes willen aufs Beste geschmückt, hatte ihr üppig dunkles Haar mit roten Bändern durchflochten und auf ihre Stirn einen goldenen Reif gedrückt, der die Flechten festhielt. Ihr Rock von blauem Wollzeug war mit roten Fäden zierlich gestickt, am Gürtel hing ein kostbares Federtäschchen, und um den Hals trug sie ein Band von goldenen Münzen, auf denen die Sonnenstrahlen blitzten.
»Wo warst du?« rief sie Sture entgegen. »Wie lange schon habe ich den Vater und dich erwartet. Nun komm, ich will dir meine Wohnung zeigen und den Wasserfall, du wirst gern dort sitzen. Als Klaus Hornemann ihn zum erstenmal sah, hat er gerufen, es sei das Schönste, was ein Menschenauge sehen könne. Aber du wirst müde sein? Dein Auge ist dunkel und dein Mund lacht nicht. Schmerzt dich etwas? Oder hat mein Vater dich gekränkt?« – Sie sah sich nach dem Vater um, der zurückgeblieben war.
»Niemand hat mich gekränkt, gutes Mädchen«, antwortete Sture, seinen Unmut und seine Bangigkeit bezwingend.
Sie war zufrieden und führte ihn weiter.
Das Tal zog sich in Bogenform dem Gebirgsabfall des Kilgis zu. Kräftige Bergfichten wechselten mit Birkenstämmen auf seiner Sohle, und hinter einem schönen Rasenplatz lag unter schützenden Felsen ein kleines, aus Baumstämmen gefügtes Haus. »Mortuno hat es mühsam für mich gezimmert und gerichtet«, sagte Gula lächelnd. »Er hat die Fenster teuer gekauft und hergeschafft. So fand ich es, als ich kam.«
Sie hatte ihn am Haus vorüber durch das Birkenwäldchen geführt, wo der Bach schäumend vorüberstürzte, und schon ehe er das Wunder erblickte, das er sehen sollte, hörte er den dumpfen Donner eines großen Wasserfalls, der jetzt in seiner ganzen Herrlichkeit vor ihn trat. Einige hundert Fuß höher als das Tal fiel der Strom von einer Wand des Kilgis, einer geschmolzenen Silbermasse gleich, herab und stürzte in einen schwarzen Felsenkessel, aus dem der Wasserstaub aufwirbelte. Im Sonnenglanz sprühten Millionen glänzender Funken auf, die in Regenbogenfarben Brücken und Bogen der prächtigsten Art bildeten. Und rund umher hatte der feuchte Staub eine üppige Pflanzenwelt hervorgerufen. Alpenblumen sprossen dort, wie Sture sie nie gesehen hatte. Er blickte in einen Garten voll blauer und brennend roter Beete, und seine Seele füllte sich mit Staunen und Freude, seine Augen hingen entzückt an dem erhabenen Schauspiel der Natur.
Auf einer Bank, der schwarzen Grotte gegenüber angebracht, in der die zerstäubten Wasser sich sammelten, saß er und hörte Gula reden und erzählen. Hier hatten die Götter ihres Volkes gewohnt, und dort oben, in geheimen, tief verborgenen Gärten, lebte der Allvater noch mit seligen Geistern, die im Mondenlicht nächtlich herniederstiegen und durch das Tal schwebten.
Träumerisch lächelnd hörte er zu, sah zu den versteinerten Gebilden hinauf, denen Gula Gestalt und Deutung gab, und blickte in ihr Gesicht, das so voll Frieden war.
Mehrere Stunden blieben beide an dem herrlichen Ort. Dann kam Mortuno und rief sie zu seinem Oheim, der sie vor der Tür des Hauses im Sonnenschein erwartete. Gula lief ins Haus, und Sture setzte sich zu Afraja, der ihm vieles von seinen Wanderungen erzählte, die sich auf mehr als hundert Meilen nördlich und in das Innere des Landes erstreckten. Er schilderte die Familieneinrichtungen, das häusliche Leben und die Arbeiten eines Volkes, und sprach mit einem gewissen Stolz davon, daß in diesem Land ohne Gesetz und ohne Beamten doch fast nie ein Verbrechen begangen werde.
»Sie schelten uns Diebe, Räuber und Betrüger«, sagte er, »und doch weiß ich, daß niemals ein Diebstahl oder Raub begangen wurde, es sei denn von den Küstenleuten. Da gibt es armes, schlechtes Volk, gedrückt und geplagt, Knechte, die mit Not armselig ihr Leben fristen. Hier findest du nur freie Männer, die keinen Herrn über sich haben als den Allerhalter, und niemanden unter sich, denn alle sind gleich. Wir leben in einer Gamme, essen aus einem Kessel, kleiden uns mit dem gleichen Kleid. Wir sind Brüder, die alles teilen und nie von ihrer Freiheit lassen mögen.«
Er konnte so sprechen. Hatte doch selbst Helgestad diese unzähmbare Freiheitsliebe anerkannt, und daß kein Lappe um alles Wohlleben und alle Gaben eines Königs seine Alpen, seine Herde und seine Gamme vertauschen möchte. Und dieser alte Mann wollte davon ablassen, wollte die Feinde seines Volks vertreiben, um deren Plätze am Rechenbuch und im Kramladen einzunehmen. Wie sonderbar war es, das zu denken, wie unmöglich, es zu glauben. Afraja selbst, der ein langes Hirtenleben gelebt, konnte sich unmöglich in einen Fischhändler und Seefahrer umwandeln, und wer konnte es sonst? Wie viele Jahrhunderte brauchte ein kräftiges, begünstigtes Volk, um aus Jägern und Hirten zu Ackerbauern zu werden, wie konnte dieser entwürdigte Stamm einen Platz unter den Völkerfamilien einnehmen? Sinnend blickte er mit Achtung auf den Greis, der in seiner Verlassenheit das denken und beginnen konnte.
Jetzt sprang Gula wieder aus der Tür. Erhitzt und freudig rief sie, daß ihr Tisch bereit sei, und bald saß man ganz behaglich beim Mahl. Gula war unermüdlich in ihrer emsigen Sorgsamkeit für den lieben Gast und voller Genugtuung, daß es ihm schmeckte. Mortuno brachte hölzerne Becher und zu Stures Verwunderung einige Flaschen guten, alten Madeira herbei, den Afraja auf dem letzten Markt gekauft hatte.
Unter ernsten und heiteren Gesprächen vergingen die Stunden, bis die Sonne sank, das tiefe Tal sich mit Schatten füllte, und die Sterne am Himmel aufstiegen.
Afraja stand zuerst auf, steckte die Pfeife in seinen Gürtel, schenkte die Becher noch einmal voll und reichte seinem Gast den einen hin.
»Es ist genug für heute«, sagte er, »ich bring dir den Schlaftrunk.«
Und es mußte wirklich ein starker Trunk gewesen sein, den der Junker bekommen hatte. Er fühlte plötzlich seinen Kopf schwer wie Blei werden, und Mortuno mußte ihn stützen, als er unversehens strauchelte. Nun ging er mit beiden Männern, und sie führten ihn, wie er meinte, durch die Schlucht, die Stufen hinauf in das Zelt, das wieder auf der Opferstätte aufgeschlagen war. Er glaubte einen flammenden Holzspan zu sehen, der vor seine Augen gehalten wurde. Dann kam es ihm vor, als werde er aufgehoben und getragen, und plötzlich meinte er, schwindelnd in einen unermeßlichen Abgrund zu fallen. Er wollte sich halten und empfand nichts mehr.