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Am Morgen erwachte Henrik Sture spät. Es war heller Tag, und über seinem Kopf schien es geschäftig herzugehen. Er sprang auf, schlüpfte rasch in die Kleider und trat in die Kajüte, aber diese war leer. So eilte er denn auf das Deck, und kam eben zurecht, um das Fahrzeug in eine breite Bucht einlaufen zu sehen, an deren Ende zwischen niederen Felsen eine Jacht und mehrere Boote ankerten.
Ilda stand am Vorderschiff und nickte ihm freundlich zu, als er ihr näher trat.
»Du hast zu lange geschlafen«, sagte sie, »sonst hättest du den Lyngenfjord betrachten können. Ganz fern erblickst du noch die Kirche von Lyngen.«
»Und dort hinter der Felsenspitze«, fiel Sture ein, »liegt ohne Zweifel das Haus deines Vaters.«
»Du hast es erraten«, erwiderte sie, »es ist der Gaard von Örenäes. – Gefällt er dir?«
Der Junker betrachtete die zackigen Felsenwände, die schwarz und geklüftet aus Eis und Schnee hervorstarrten. Er gab keine Antwort.
»Du wirst es schön finden, wenn der Sommer kommt, wenn überall die Birken grün werden und Gras und Blumen unsren kleinen Bach umringen«, sagte Ilda.
Jetzt wendete sich die Jacht um die Felsen des Vorgebirges, und zeigte dicht in der Nähe das Haus des Kaufmanns. Rot angestrichen, mit weißen Fenstern, ein Dutzend kleinerer Hütten zur Seite und vor sich die großen Packhäuser, hatte es ein stattliches Ansehen. Von seinem Dach aus Birkenrinde wehte eine große Fahne zum Willkommen für den Hausherrn, und als die Jacht sich dem Pfahlwerk näherte, warfen sich alle Bewohner des Gaards unter Freudengeschrei in die Boote und ruderten den ersehnten Heimkehrenden entgegen. Es waren seltsame Menschengestalten, mit langen, gelben, zottigen Haaren, in Jacken und Röcken von Fellen, und Sture fühlte sich bei ihrem Anblick so recht in eine fremde Welt versetzt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er mit den übrigen das Land betrat. Er sah plötzlich ein Mädchen hastig über den Grund herbeieilen, das beide Arme um Ildas Nacken schlang und sie mit Küssen und Liebesbezeugungen bedeckte.
»Gottes Friede ins Haus, liebe Gula«, sagte die Tochter des Kaufmanns. »Wie ist es dir ergangen?«
»Gut, Ilda, meine schöne Schwester«, erwiderte sie mit erneuter Zärtlichkeit. »Und ihr seid wohlauf, du und Gustav?«
»Alle wohl, Gula. Gustav kommt mit den Jachten, es war ein großer Fang, Gula, wir haben viel Freude gehabt. Auch komme ich nicht allein zurück«, fuhr sie fort, als sie Sture neben sich erblickte. »Wir bringen einen Gast mit, einen dänischen Herrn, der eine Zeitlang bei uns wohnen wird.«
Gula hob den Kopf auf und sah den Fremdling forschend und verwundert an, ihre schwarzen, großen Augen drückten ein Übermaß von Erstaunen aus, bis sie verlegen sich abwandten. Auch Sture war betroffen, er hatte sich das Lappenmädchen, von dem er schon gehört, ganz anders vorgestellt. In den Mitteilungen aller Nordmänner, die er bis jetzt kennengelernt hatte – mit alleiniger Ausnahme des Pfarrers Hornemann – lag ein solcher Abscheu gegen alles, was Lappe hieß, daß es fast unmöglich war, sich ein Glied dieses unglücklichen Stammes anders zu denken, als ein von der Natur verwahrlostes, affenartiges Geschöpf, dessen Häßlichkeit Ekel und Abscheu erregt. Aber Gula strafte dieses Vorurteil Lügen. Sie war klein, doch ungemein zierlich gebaut. Ihre dunklen Röcke schlossen dicht um die Hüften, während der Oberkörper durch eine Jacke von feinem Seeotterfell mit Besatz aus der weißen Federhaut nordischer Strandvögel geschützt war. Eine Kette von Schaumünzen hing um ihren Hals und ihre glänzend schwarzen Zöpfe, mit dunkelrotem Band umflochten, hingen weit auf den Rücken nieder. –
So bot sie trotz der gelblichen Hautfarbe das gefällige Bild eines hübschen jungen Mädchens.
Nachdem auch der Kaufmann Gula begrüßt und ihre Führung des Haushaltes gewaltig gelobt hatte, schob er unter freundlichen Scherzreden seinen Gast vor sich her ins Haus und in das große niedere Gemach, wo der gedeckte Tisch bereitstand. Das Mahl war reichlich und alle sprachen den guten Dingen so wacker zu, daß während des Essens wenig gesprochen wurde. Erst als der Hausherr sein letztes Glas mit einer Mischung aus Genever und Wasser geleert hatte, wurde die Unterhaltung lebendiger und wandte sich bald wie natürlich auf Stures Zukunft.
»Sollt nun lernen«, sprach Helgestad, »wie es im Hause eines nordischen Kaufmanns hergeht. Sollt mir helfen in allerlei Geschäften, beim Tranpressen und im Warenhaus, wie auch im Verkauf und Handel mit den Fischern und anderen Nachbarn. Lernt dabei, und das, ist die Hauptsache.«
»Ich sehe ein, daß ich lernen muß«, erwiderte Sture, »gebt mir Arbeit, soviel Ihr wollt.«
»Nuh«, sagte Helgestad, »seid ein tüchtiger Mann, wird besser gehen als Ihr glaubt. – Wenn Gustav zurück ist, wollen wir weiterreden. Müssen jetzt nach der Jacht sehen, die Fässer herausschaffen, die Lebern unter die Pressen bringen. Ist eine schlimme Arbeit, muß aber getan werden, tut sich nichts auf der Welt von selbst.«
Sture zeigte sich sofort bereit, und bald war er mit Helgestad auf der Jacht und im Packhaus in voller Arbeit, die erst mit dem Abend endete. – Die Jacht war merklich geleert, und Helgestad schüttelte dem fleißigen Gehilfen wohlgelaunt die Hand.
»Ist genug für heute«, rief er. »Sitzt sich gut jetzt am warmen Ofen, das Glas in der Hand. Ist's nicht so?«
Sie gingen ins Haus und traten in den behaglichen Wohnraum, dessen Fußböden mit einer Art großen Teppich aus Renntierfellen bedeckt war.
Nach Beendigung der Mahlzeit reichte Gula holländische Tonpfeifen und Punschgläser herum und wußte dabei ihre Gäste so flink und aufmerksam zu bedienen, daß Sture nicht umhin konnte, sich über ihr zierliches Wesen in höflichen Worten gegen den Kaufmann zu äußern.
»Habt recht, wenn ihr meiner kleinen Gula ein Loblied anstimmt«, sprach Helgestad. »Muß es bestätigen, ist ein wackres Mädchen. Wollte, es wäre in meiner Macht, ihr zu beweisen, daß ich sie lieb habe; denke aber, sie weiß es. Ist's nicht so?«
»Ja, Herr«, erwiderte Gula leise. »Ich weiß, daß du mich liebhast, und alle mich liebhaben, weiß auch, wieviel Dank ich dir schulde.«
»Nuh«, sprach Helgestad, große Dampfwolken von sich blasend, »bist eine Seltenheit, die man in ganz Lappland nicht wieder findet. Sind die Lappen die undankbarsten Geschöpfe, die der Herr in die Welt gesetzt hat.«
»Mit Erlaubnis«, erwiderte Sture, »mir will es scheinen, als erweise man ihnen nicht eben besondere Dienste, die Dankbarkeit erwecken könnten.«
»Oho!« rief der Kaufmann, »habt es Euch in den Kopf gesetzt, das Volk zu loben.«
»Ich lobe es nicht«, sagte Sture, »aber warum sollte ich es schelten und verdammen? Ist Gula eine Tochter dieses verlassenen Volkes, und ist sie mit Hilfe Eurer Erziehung so gut und verständig geworden, warum sollte es nicht viele geben, die so wie sie wären, wenn wackere Leute sich ihrer erbarmten?«
In Gulas Augen funkelte ein Strahl unaussprechlichen Dankes. Ilda sah von der Spindel auf und blickte aufmerksam den Junker an, Helgestad aber trank sein Glas aus und rief mit einem grämlichen Blick auf den jungen Edelmann: »Nuh, sprecht wie ein Prediger. Werdet aber bald anderen Sinnes werden, wenn Ihr sie kennenlernt, und daran wird es nicht fehlen. Laßt's gut sein«, fuhr er dann abwehrend fort, als er sah, wie Sture die Lippen zum Sprechen öffnete, »wir wollen uns die Laune nicht verderben. Übrigens ist's auch Schlafenszeit. Morgen ist wieder ein Arbeitstag.«
Er führte den Gast nach dem allseitigen »Gutenacht« in das obere Stockwerk, wo in einem kleinen sauberen Gemach ein mächtiges Federbett aufgestellt war, und drückte nach einem »Schlaft in Frieden!« die Türe wieder hinter sich zu. Sture fiel in die elastischen Daunen, und bald ergriff ihn ein fester Schlaf, der erst mit dem Sonnenschein des nächsten Morgens von ihm wich. – Wie dieser erste Tag im Gaard vergangen war, so folgten manche andre mit demselben Wechsel von Arbeit und Ruhe, bis der erste Sonntag herankam. Sture war froh, diesen Tag ohne Kontobuch und Stockfisch verleben zu können, als ihn am Abend vorher der Hausherr zu einer Kirchenfahrt aufforderte.
»Wird in Lyngen Pastor Gormson eine Dankrede halten für den reichen Fang auf den Lofoten«, sagte er zum Junker. »Müßt uns dahin begleiten, Herr Sture. Seht dort alle guten Leute beisammen von nah und fern. Ist nötig, daß Ihr Bekanntschaften macht, so viel Ihr könnt.«
Die Einladung war nicht auszuschlagen. So fuhren denn die Kirchleute, mit Ausnahme von Gula, die das Haus hüten mußte, schon in der Morgendämmerung nach dem Kirchdorf, wo man erst nach hartem, zweistündigem Rudern anlangte. Sture in seinem stattlichen grünen Tuchrock mit goldener Tresse war der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, und wenn auch manche mit Abneigung und Mißtrauen den Fremdling betrachteten, so genügte doch Helgestads Ansehen und Empfehlung bei der übergroßen Mehrzahl der Kirchenbesucher, daß sie dem Junker freundschaftlich die Hand schüttelten und ihn in ihr Haus einluden. Sture wurde durch dies Entgegenkommen bald heimisch und so froh gelaunt, daß er auf der Nachhausefahrt mit seinen ebenfalls heiter gestimmten Gastgebern in allerlei Scherzreden wetteiferte.
Daheim wartete ihrer eine Überraschung.
Als Sture Ilda die schlüpfrigen Felsenstufen am Strande hinaufhalf, sahen sich beide vergebens nach Gula um. »Sie hat Besuch bekommen«, sagte der Verwalter des Kaufherrn, der lachend herbeikam, »und mag vor Schrecken wohl das Gehen verlernt haben.«
»Welchen Besuch?« fragte Ilda.
»Da sitzt er an der Tür«, antwortete der Mann. »Sieh hin, du wirst ihn erkennen.«
»Afraja!« rief Helgestad, der hinter ihnen war. »Was will der alte Schelm? Gutes bringt er sicher nicht.«
Sie näherten sich dem Hause, und Sture betrachtete neugierig den Mann, dessen Namen er schon mehrere Mal gehört hatte. Zusammengekrümmt und den Kopf tief gebeugt, saß der greise, in Renntierfelle gekleidete Hirte auf der Bank neben der Tür. Seine Hände umfaßten einen langen Stab, dessen scharfe Eisenspitze am Boden glänzte, zu seinen Füßen lagen zwei kleine rauhhaarige Hunde, deren wachsame Blicke sich bald auf ihren bewegungslosen Gebieter, bald auf die nahenden Fremden richteten.
Als diese dicht heran waren, hob der alte Lappe den Kopf in die Höhe, und eine gewisse Freundlichkeit überzog sein verwittertes Gesicht, das mit tiefen Falten und Runzeln bedeckt war, und aus dem nur die kleinen, feurigen Augen lauernd und mit einer ungemeinen Schlauheit hervorblickten.
Der Greis stand von seinem Sitz auf, und sich tief vor dem Kaufmann beugend, sagte er in tiefen Kehltönen, indem er die für Fremde fast unverständliche Sprache jener Küstenstriche gebrauchte: »Friede und Segen sei über dir und deinem Hause, Väterchen!«
»Ich nehme deinen Gruß an«, antwortete Helgestad, »du hast ihn sicher weit hergetragen, wie man an deinen beschmutzten Komagern Halbstiefel wahrnimmt. Habe dich seit der Herbstzeit nicht gesehen und glaubte dich in den Jauren.«
»Du sprichst wahr, Väterchen«, bestätigte der Greis kopfnickend. »Meine Tiere haben an der Tana Fluß im nördlichsten Teile von Norwegen, bildet die Grenze gegen Rußland. geweidet, und jenseits bis zum großen Meer.«
»Und was zum Henker führt dich dann zur Winterszeit an diese Küste und vor meine Tür?« rief Helgestad erstaunt.
»Du muß ja eine fürchterliche Reise gemacht haben! Wo hast du deine Schlitten, deine Herden?«
Afraja sah nach dem Gebirge hinauf, und nicht ohne einen gewissen Stolz strich er die grauen Haarbüschel aus seinem Gesicht.
»Du weißt«, sagte er, »daß ich viele Tiere besitze. Mein Schwestersohn Mortuna rastet mit einer Herde an den Quellen des Stromes, den Ihr Saitenfluß nennt. Ich kam zu ihm, um seine Sommerweide zu bestimmen, und von dort war es nicht so weit zu dir, Vater. Mein Kind wohnt in deinem Hause, und mein Herz sehnte sich nach ihm, da ich anfange, mich alt und schwach zu fühlen. Fürchte jedoch nicht, daß ich dir lange zur Last falle; ehe die Nacht kommt, werde ich weit von hier sein. Gula aber soll mich begleiten, Herr.«
Einige Sekunden lang sah Helgestad den Lappen starr und überrascht an, dann tat er einen langen, schrillen Pfiff durch die Zähne. –
»Darauf also soll's hinaus«, sprach er mit gefalteter Stirn, »dachte mir wohl, daß dein altes verschrumpftes Gesicht nichts Gutes brächte. Kann aber nimmermehr geschehen. Hast du ein schlechtes Gedächtnis, Mann, so habe ich ein desto besseres, und dies sagt mir, daß du mir dein Mädchen für den Preis von fünf Pfund Tabak und einem Faß Genever für immer überlassen hast.«
»Du bist ein Christ«, sagte der alte Mann eintönig, »dein Gott sieht und hört alles. Er weiß, daß ich mein Kind nicht verkaufte, du gabst mir ein Geschenk und ich nahm es. Sprich ein Wort und ich gebe dir das Doppelte zurück, denn meine Hütte ist öde, mir fehlt mein Kind darin.«
»Bleib mir mit deinem Geschwätz vom Leibe!« schrie der Kaufmann, voll Ungeduld an seiner Pelzkappe rückend. »Habe das Mädchen aus dem Elend gezogen, Herr Sture, habe eine Christin aus ihm gemacht, und könnte es vor Gott und Menschen nimmer verantworten, wenn es wiederum in die Wildnis hinein sollte, unter Renntiere, Hunde und heidnisches Volk. – Gib her, du Narr, will deine Lappentasche da mit Tabak füllen und deine Branntweinflasche bis an den Hals hinauf, denke, du wirst zufrieden sein. – Gula aber bleibt hier! Das ist mein letztes Wort.«
»Ich brauche weder deinen Tabak, noch deinen Branntwein«, sagte Afraja mit zorniger Verachtung, »sondern verlange mein Kind von dir. Man rühmt dich als einen gerechten Mann. Du wirst nicht nehmen wollen, was mein ist.«
»Genug ist's und übergenug!« schrie Helgestad ärgerlich. »Klage beim Vogt in Tromsö, wenn du willst. Jetzt aber pack dich fort, oder ich werde dir den Weg weisen.«
Er ging ins Haus und ließ Afraja stehen, der still vor sich niedersah und Ildas freundliche Worte nicht zu hören schien. »Du weißt«, sagte sie, »daß ich dein Kind wie meine Schwester liebe. Was willst du mit ihr auf den öden Alpen? Sie würde krank werden und sterben, ihr Leben kann dort oben nicht mehr gedeihen. Laß sie bei mir bleiben, wo sie froh und glücklich ist.«
Ein Blick voll Haß und Kummer war die Antwort. – »Jubinal sitzt auf seinem Wolkenthron«, antwortete Afraja nachdrücklich, indem er die Augen zum Himmel erhob, »er sieht und straft die Ungerechten.« – Ohne Gruß und Abschied wandte er sich um und stieg an den Felsen, die hinter der Bucht und Helgestads Haus einen Halbkreis bildeten, mit größerer Leichtigkeit empor, als sein hinfälliger Körper dieses vermuten ließ. Seine zwei Hunde folgten ihm nach, und nach einigen Minuten war er verschwunden.
»Ist er fort, der alte Schelm?« fragte Helgestad, den Kopf zum Fenster hinausstreckend. »Kommt herein, Herr Sture, brauchen uns eines Lappen und seiner Verwünschungen halber nicht zu fürchten.«
»Freilich«, setzte er in der Stube hinzu, »in seinen Bergen ist er Gebieter, und wer zu ihm hinaufgeht, mag sich trotz aller Feigheit und Vorsicht, die sonst dem boshaften Volke eigen ist, vorsehen. Ist mehr als einer dort oben für immer verschwunden. Hier unten aber ist unser Reich, und wir sind so sicher darin wie in Abrahams Schoß.«
Während der Kaufmann dann sein Sonntag-Nachmittagsschläfchen hielt, und Sture mit den beiden Mädchen im Zimmer saß, beredete Ilda den Junker, mit Gula einen Spaziergang zu machen. »Ich selbst«, sagte Helgestads Tochter, »habe allerlei im Hause zu schaffen. Aber Gula wird dich zu einer Stelle führen, die sie meinen Garten genannt hat. Es ist schön dort oben, ein andermal werde ich mit dir gehen.«
Sture erklärte sich sogleich bereit, und bald stieg er mit Gula den steilen Pfad hinan. Das felsige Ufer des Fjord hob sich jäh zu einer beträchtlichen Höhe und bildete einen rauhen, schmalen Weg, der zur anderen Seite in einer Schlucht niedersank; in dieser rauschte ein Bach dem Meeresarm zu, der nahe bei Helgestads Hof mündete. Jetzt hatte der schmelzende Schnee ihn hoch angeschwellt. Schäumend sprang er über Klippen und Riffe und bildete ein paar prächtige Wasserfälle, deren Donner und Wasserstaub die Luft erfüllte. Im Hintergrund sah man ein glänzend beschneites Felsenhorn, der Kilgisgipfel genannt, von dem der Bach herunterkam.
Leichtfüßig sprang das Lappenmädchen höher und höher hinan, und trotz aller Mühe vermochte Sture nicht, ihr zu folgen. Es war ein mühsames, ja gefährliches Klettern, das Gula nicht zu fühlen schien, während der Däne endlich atemlos stillstand. Sie kam zurück und bot ihm die Hand.
»Sieh dort«, sagte sie tröstend, »an den schwarzen Steinen führen Stufen hinauf. Gustav Helgestad hat sie fest zusammengelegt. Stütz dich auf mich, in wenigen Minuten werden wir oben sein.«
Und so war es. Über Felsenblöcke gelangten Gula und ihr Freund auf eine Terrasse, die, als sie durch einen Spalt der Klippe wie durch ein mächtiges Tor getreten waren, eine überraschende Aussicht bot. An tausend Fuß senkrecht unter ihnen lag der Fjord mit dem Gaard von Örenäes und weit über Lyngens Kirche hinaus bis zu fernen Sunden und Außeninseln schweifte der Blick in das seltsame Gewirr düsterer Felsen und Wasserspiegel. Nahe über ihren Häuptern türmte sich eine andre hohe Felswand auf, deren gewaltige Blöcke, überhängend und zerrissen, jeden Augenblick niederzustürzen drohten.
»Sie fallen nicht«, sagte Gula lachend, als sie Stures Blicken folgte, der neben ihr auf einer von Gustav Helgestad roh gefertigten Bank saß. »Die hängen dort, seit diese Welt geschaffen wurde, und bilden die tiefen Höhlungen, in denen wir oft schon Schutz vor wildem Wetter fanden. Auch heute gefällt mir der Himmel nicht«, fuhr sie fort, indem sie nach links deutete. »Die Wolkenstreifen bedeuten nichts Gutes. Laß uns gehen, damit der Sturm uns nicht überrascht. Der Weg ist glatt, und daheim könnten sie bange um uns sein.« Hastig sprang sie die Stufen hinab. Die Vögel flatterten auf und flogen schreiend über den Fjord. Dann verbarg sich die Sonne rasch hinter den düsteren Wolkenstreifen, die der Wind, der in Stößen zu erwachen begann, schnell über den Himmel ausdehnte. Ein matter, falber Schimmer lief über die Spitzen der hohen Fjelden, als beide den Gaard erreichten, aus dessen Wohnhaus ihnen helles Licht entgegenglänzte.
Allem Anschein nach stand eine böse Nacht bevor. Immer wilder heulte der Sturm auf und klammerte sich schüttelnd an das in seinen Fugen ächzende Balkenhaus. Nordlichtsblitze zuckten über den düsteren Himmel, bis sich endlich über den hohen Schneegipfeln im Süden des Fjords ein Kranz glühender Wolken sammelte, der mit seinem wunderbaren Feuer die schaumigen Wogen beleuchtete.
Helgestad schickte Leute in seine Warenhäuser und sah selbst nach seinen Jachten, die an doppelte Ketten gelegt wurden. »Ist eine wilde Nacht«, sprach er besorgt, als er endlich triefend von Regen und Schnee in das Wohngemach zurückkehrte. »Bläst aus Südwest, als wollte es die alten Felsen ins Meer stürzen, werden morgen mehrere Fuß hoch Schnee haben. Löscht alles Licht aus und steckt den Kopf unter die Decken. Denke, Gustav ist in Tromsö mit den Jachten, oder liegt in einer sicheren Bucht vor Anker. Ist ein flinker Junge, Herr Sture, habe keine Sorge um ihn und werde ruhig schlafen.«
Sture lag in seiner Kammer noch lange wach auf seinem Bett. Draußen heulte der Sturm mit so rasender Wut, daß das Haus bebte und wankte, und daß die kleinen Fenster klangen, als wollten sie zerspringen, wenn die Schneeschauer darüber hingetrieben wurden. Endlich wiegte ihn das Brausen und Stöhnen in Schlaf, und mehrere Stunden bereits mochte er geschlummert haben, als er plötzlich durch einen dumpfen Schrei erwachte. Horchend richtete er sich auf seinem Lager auf, und da er einen zweiten Schrei zu hören glaubte, sprang er schnell empor und warf sich seine Kleider über. Der Sturm tobte noch immer, aber das Schneetreiben hatte aufgehört. Jetzt fielen ein paar dumpfe Schläge, und ein Murmeln wie von Menschenstimmen unter seinen Füßen drang zu ihm auf.
Mit einigen raschen Schritten war der Junker an der Tür, deren Holzriegel jedoch zu seinem Erstaunen nicht nachgab, und während er heftig daran rüttelte, hörte er noch einmal halbersticktes Gewimmer durch die Dielen dringen.
Sture war ein Mann von Mut und Entschlossenheit. – Einen Augenblick überlegte er, dann sprang er zum Fenster und riß es mit einem Ruck auf. Hoher Schnee bedeckte leuchtend den Boden, und mit Hilfe dieses Schleiers erkannte er zwei Gestalten, die sich dicht am Hause bewegten. Ohne eine Sekunde zu bedenken, zwängte er seinen Körper aus dem Rahmen und ließ sich hinuntergleiten. Als er den Boden erreichte, fühlte er einen stechenden Schmerz in den Füßen; doch dessen nicht achtend, half er sich empor und lief unter lautem Rufe: »Halt, wer da?« der einen Gestalt nach, die soeben in der weit offenstehenden Haustür verschwunden war, während die andere sich im Schutz der Dunkelheit wahrscheinlich hinter das Haus geflüchtet hatte. Plötzlich aber, ehe Sture den im Vorflur sich bergenden Flüchtling fassen konnte, sah er sich von vier Männern angegriffen, die ihm aus demselben dunklen Raum entgegensprangen. Ein kräftiger Faustschlag wurde gegen ihn geführt, der ihn von der Schwelle zurücktaumeln machte. Die schnarrenden Kehllaute seiner Gegner ließen ihm keinen Zweifel, daß er es mit Lappen zu tun hatte.
Einige Minuten lang war Sture in keiner geringen Gefahr. Die Angreifer schlugen mit langen Stöcken auf ihn los. Aber es waren feige und schwache Feinde, denn kaum hatte der kräftige Däne dem einen seine Waffe entrissen und ein paar Hiebe ausgeteilt, als die übrigen davonsprangen und ihren Genossen in Stures Händen ließen.
Nach kurzem Ringen schleuderte dieser seinen Gefangenen in den Schnee und schleppte ihn bis an das Haus zurück, das so still und dunkel vor ihm lag, als atmete kein lebendiges Wesen mehr darin.
»Habt ihr sie ermordet, ihr Elenden!« schrie der Junker voll Angst und Bestürzung, und sein Grimm wurde nicht geringer, als der Mann zu seinen Füßen keinerlei Antwort gab. »Rede, oder ich würge dich!« rief er fast außer sich vor Zorn.
»Barmherzigkeit, Herr! Oh, sei barmherzig!« rief da eine atemlose Stimme hinter ihm, und zwei zitternde Hände schlangen sich um seinen Arm.
»Gula!« rief Sture, und indem er den Gefangenen losließ, fügte er erschreckt hinzu: »Um Gotteswillen, es ist dein Vater?«
»Schone sein graues Haar«, flüsterte sie, »und laß ihn nicht in die Hände seiner Feinde fallen. Niemandem ist ein Leid geschehen. Sie kamen, um mich gewaltsam fortzuführen; doch ich will bleiben. Afraja, mein Vater, hört es. Bitte, bitte, lieber Herr, laß ihn frei! Er wird nicht wiederkehren.«
Unwillkürlich ließ bei diesen Worten der Däne seinen Gefangenen los. Sogleich richtete sich Afraja auf, und indem er einen plötzlichen Sprung zur Seite machte, hatte das Dunkel der Nacht seine Gestalt verschlungen.
»Er ist fort!« rief der Junker. »Aber wo ist Ilda? wo Helgestad, ihr Vater?«
Das Mädchen gab keine Antwort, sondern drückte ihm nur mit stummem, heißem Dank die Hand. Im nächsten Augenblick war sie im Hause verschwunden, wohin ihr Sture, der seine Füße jetzt heftig schmerzen fühlte, langsam nachfolgte.
Vom Wohngemach aus führte ein Lichtschimmer nach Helgestads Schlafkammer, wo er das junge Lappenmädchen bereits antraf. Da lag der Kaufmann auf seinem Bett, mit Lederriemen wie ein Ballen zusammengeschnürt und so geknebelt, daß er nur mit Mühe soviel Luft schöpfen konnte, um nicht zu ersticken.
Im Nu hatte Gula den Knebel aus dem Munde entfernt, sowie mit einem Messer die drei- und vierfach gebundenen, harten Lederriemen zerschnitten, und im Verein mit Sture wartete sie nun darauf, bis der erschöpfte, immer noch mühsam atemholende Kaufmann sich etwas erholt haben würde. Plötzlich sprang er mit einer Verwünschung auf, hinkte, das Licht ergreifend, nach einem großen eisenbeschlagenen Kasten hin, in dem sein barer Geldvorrat und seine Wertpapiere verwahrt lagen, und erst als er dort alles unversehrt vorfand, ließ er sich beruhigter in seinen Sorgenstuhl fallen.
»Ist ein sonderbarer Vorfall«, sagte er, nachdem er eine Weile grübelnd vor sich hingestarrt hatte. »Hätte es niemals für möglich gehalten. Aber wo ist Ilda? Wo sind die Mägde?«
»Alle schlafen in Frieden und niemandem ist ein Leid geschehen«, antwortete Gula demütig. »Ich habe an ihren Türen gehorcht und die Lederriemen von den Schlössern entfernt.«
»Glaub's wohl«, sagte der Kaufmann, »daß sie auf der anderen Seite des Hauses nichts gemerkt haben. Tobte ja der Sturm draußen, daß ich selbst nichts hörte und ahnte, bis ich die Finger der Spitzbuben an meiner Kehle fühlte. Dann freilich wußte ich im Moment, woher der Streich kam. Ist ein Hauptschelm, dieser Afraja, und klug wie einer! Will's ihm aber doch gedenken«, setzte er finster murmelnd hinzu, indem er die blutigen Striemen an seinen Gelenken betrachtete. »Soll sich der Halunke nicht lange rühmen, daß er Niels Helgestad wie ein altes Segel zusammengeschnürt hat. Hätte es nimmermehr geglaubt, Herr Sture, daß ein Lappe das wagen würde!«
Er schien sich von seinem Erstaunen lange nicht erholen zu können. Als er sich aber nach den näheren Umständen erkundigte und erfuhr, was er Sture verdankte, sprach er seine Anerkennung in freundlichen Worten aus.
»Habe es Euch gleich angesehen, Herr«, sprach er, »daß Ihr den Kopf auf der richtigen Stelle habt. Euer Sprung geschah zur rechten Zeit. Säße Gula sonst jetzt in dem kleinen Schlitten und jagte durch Sturm und Schnee den Kilgishöhlen zu. Ich aber hätte bis an den Morgen hier liegen können, hätte Lärm und Gelächter gegeben durch ganz Finmarken. – Es ist ein wunderliches Abenteuer, Herr Sture; darf niemand etwas davon erfahren. Hört Ihr? Niemand.«
Mit der ihm eigenen Selbstbeherrschung gab sich der Kaufmann jetzt zufrieden und schickte seine beiden Helfer ins Bett, um, wie er sagte, den Rest der Nacht zu verschlafen.
Sture schlief jedoch nicht, denn seine Füße schmerzten ihn furchtbar, und als der Morgen kam, lag er in heftigem Fieber. – In jenen einsamen Gegenden muß jeder sein eigener Arzt sein, und so verstand auch der Hausherr, ein leichtes Unwohlsein zu bekämpfen. Die verstauchten Füße des Leidenden wurden mit Lehm und in Essig getauchten Binden fest umwickelt, das Fieber mit bitterem Enziantee bekämpft. Gula hatte freiwillig die Pflege übernommen und war unermüdlich, den ungeduldigen Kranken zu erheitern und zu trösten, so daß sich zwischen dem vornehmen Junker und dem armen Lappenmädchen bald ein wahres freundschaftliches Verhältnis bildete.
So vergingen etliche Tage, als eines Morgens ein Freudengeschrei draußen am Fjord die Pflegerin von Stures Bett ans Fenster führte. Sie schaute hinaus und rief in die Hände klatschend: »Sie kommen, sie kommen alle – die Jachten kommen von den Lofoten!«
Im nächsten Augenblick war sie durch die Tür verschwunden, während Sture seine Kräfte versuchte, um bis an das Fenster zu gelangen. Es glückte leidlich, und er konnte nun der Landung zusehen. Es war ein lustiges Getümmel am Strande, doch vor allem nahm eine Gruppe sein Interesse in Anspruch, bestehend aus Gustav Helgestad, nebst dem Neffen des Vogts von Tromsö, Paul Petersen, und endlich jenem eisenfesten Nordländer, Olaf Veigand, der damals den Ball in Ostvagöe mit Ilda eröffnet hatte.
Die drei schritten, begleitet von Niels Helgestad und seiner Tochter, laut plaudernd und lachend dem Hause zu, wo Sture vom Fenster zurückwich, als er merkte, daß von ihm gerade die Rede war.
»Er kann von Glück sagen«, hörte der Lauscher oben den Sorenskriver mit lautem Auflachen sprechen, »daß er krank geworden ist, da er dadurch unsere kleine gelbhäutige Prinzessin zur Pflegerin gewonnen hat. Wahrlich, eine würdige Gesellschaft für den Kammerjunker Seiner Majestät!«
Sture hörte nichts mehr, denn voll Zorn über den unverschämten Schreiber hatte er sich auf sein Bett gesetzt. Bald aber polterten Schritte die Treppe herauf, und in der nächsten Minute trat Gustav herein, dem Paul und Olaf folgten.
Nach den ersten Begrüßungen und Ausdrücken des Bedauerns über Stures Unwohlsein setzten sich die drei jungen Männer an das Bett des Kranken und unterhielten ihn eine Zeitlang mit den Begebnissen ihrer Reise. Sie hatten Gustav begleitet, um einige Zeit im Hause seines Vaters zu leben, und der Grund dieses Besuches wurde von Sture leicht durchschaut, da beide sich offenbar bestrebten, die Gunst der reichen Erbin Ilda zu gewinnen.
Olaf Veigand war ein wohlhabender Grundbesitzer aus Bodo und gehörte zu einer angesehenen Familie. Im Laufe der sich heiter dahinbewegenden Unterhaltung bewahrte Gustav Helgestad das gleiche herzliche Benehmen wie früher gegen den dänischen Gast seines Vaters, doch wollte es Sture bedünken, als ob er zuweilen einen beobachtenden, ja mißtrauischen Blick des jungen Seemannes auf sich ruhen fühlte, und er schrieb dies sogleich etwaigen Einflüsterungen des Schreibers zu; denn ein Blinder konnte sehen, welchen großen, und bei seinem listig verschlagenen Charakter jedenfalls ungünstigen Einfluß Paul Petersen auf Ildas Bruder gewonnen hatte.
Als Sture den Sorenskriver frug, ob der Gaard von Örenäes ihn längere Zeit beherbergen würde, erwiderte dieser lachend, daß er es mit seinem Onkel abgemacht habe, so lange in Helgestads Haus zu bleiben, bis er nicht länger darin gelitten würde.
»Sie freilich, Herr Sture«, fügte er hinzu, »wünschen gewiß, Ihren Stab sobald als möglich weiter zu setzen; allein ich denke, wir werden noch manchen vergnügten Tag zusammen leben, ehe Sie Ihre neue Heimat gründen.«
»Sobald der Schnee schmilzt, muß es geschehen«, antwortete der Junker.
»Das wird vor Ende Mai kaum der Fall sein,« rief Paul, »aber haben Sie sich schon Ihr Plätzchen aus- und aufgesucht?«
»Noch nicht. Herr Helgestad spricht vom Balsfjord.«
»Nun, wo es auch sein möge, es wird ein warmes Plätzchen werden, das allerlei Streit kostet«, lachte Paul, »denn wo es noch eine Weide gibt, behaupten die Lappen, es sei ihr uraltes Eigentum, und schreien über Unrecht und Gewalt. Indessen«, fuhr er fort, »wir haben ja hier im Hause die Tochter des mächtigen Zauberfürsten Afraja, durch dessen Gunst viel geschehen kann.«
»Du redest wieder einmal närrisches Zeug«, sagte Olaf halb lachend, halb unwirsch.
»Meiner Treu«, erwiderte Paul, »wenn jemand das beste Stück Land ohne Mühe haben und schnell reich werden wollte, brauchte er sich nur zu bestreben, Afraja zum Schwiegervater zu bekommen.«
Ein allgemeines Gelächter folgte.
»Es ist mein Ernst«, rief der Schreiber. »Der alte Hexenmeister hat wenigstens sechstausend Renntiere, dazu bewahrt er Schätze in verborgenen Höhlen, mehr als ein König von Norwegen jemals besessen hat. Ja, wenn man den Leuten traut, die es erzählen, so kennt er die reichen Silberschachte, von denen alte Sagen melden, und die hoch oben in der Wüste sein sollen. Zuweilen verschwindet er wochenlang, die Lappen glauben dann, er arbeite mit seinen Geistern in unterirdischen Bergwerken, und niemand wagt es, ihm zu folgen.«
»Sie tischen uns ein artiges Märchen auf«, sagte Sture lächelnd.
»Meinetwegen«, antwortete Paul, »mögen die Zauberkünste und Silberschachte des alten Geizhalses ein Märchen sein, so bleiben noch seine vergrabenen Geldtöpfe und seine Renntiere übrig, die immerhin ein paar hübsche Species ausmachen – aber genug von dem lappischen König, laßt uns andere Dinge verhandeln.« –
Mit Leichtigkeit wandte er das Gespräch, da er merkte, daß seine Spaße wenig Anklang fanden, auf die anwohnenden Familien, welche er kannte und besuchen wollte, sprach von den Landstellen und ihren Eigentümern, und zeigte in allem eine genaue Kenntnis der Gegenstände, über welche er urteilte. Erst nach etlichen Stunden verließen die jungen Männer das Bett des Kranken und wünschten ihm ein fröhliches Wiedersehn auf morgen.
In der Tat gelang es Sture am folgenden Tag, die Treppe hinabzukommen, und mit Freuden wurde er in dem Familienkreise empfangen. Alle waren in der heitersten Stimmung. Jungfrau Ilda sagte ihm freundliche Worte, und noch herzlicher tat dies ein ehrwürdig blickender, greiser Mann, der in seinem schwarzen Kleid den Ehrensitz am Ofen eingenommen hatte.
»Hier, Herr Sture, habt Ihr den Pastor Klaus Hornemann«, sprach Helgestad, »der Euch ja, wie Ihr mir sagtet, so gefallen hat. Ist von Tromsö gekommen und will bei uns bleiben, bis er zu seinen Pflegekindern hinauf kann.«
»Sie müssen wissen, Herr Sture«, sagte der Geistliche lächelnd, »daß ich wohl seit zwanzig Jahren die Finmarken zur Sommerszeit bereise und jetzt von der Regierung den Auftrag erhalten habe, mit einigen anderen Gehilfen die Bekehrung des unglücklichen, verlassenen Volkes zu vollenden, das diese unwirtlichen Hochlande bewohnt.«
»Die Lappen sind also noch nicht alle bekehrt?« fragte Sture.
»Dem Namen nach vielleicht«, antwortete der Prediger, »denn man hat ihnen verboten, zu ihren alten Göttern Jubinal und Pekel zu beten, und die meisten mögen auch folgsam sein. Wer aber pflegt ihr Christentum? Niemand. Ich habe mich daher jetzt mit meinem alten Freund und Gönner, dem Gouverneur General Munter in Trondheim in Verbindung gesetzt, und er wird mir beistehen, daß man noch mehr fromme Diener unseres Gottes aussende, die, von Familie zu Familie, von Lager zu Lager reisend und pilgernd, sein heiliges Wort verkünden.«
»Ihre Worte, frommer Herr, machen mir manches erklärlich«, rief Paul Petersen, der bis jetzt geschwiegen hatte, boshaft nickend. »Sie waren es wahrscheinlich, der an den Gouverneur von Trondheim und nach Kopenhagen schreckliche Berichte über die Trübsal und Greuel gesandt hat, welche die Nordmänner über das edle Lappenvolk bringen? Haben Sie nicht besonders dabei auch des Vogtes von Tromsö und seines Neffen, des geschworenen Schreibers, gedacht, die beide erbitterte Feinde und Widersacher Ihrer unglücklichen Pflegekinder sind?«
»Mein Amt«, versetzte der alte Mann, würdig aufblickend, »gebietet mir, zu helfen und zu bessern, wie ich vermag, die Übel aufzudecken, wo ich sie finde. Anschuldigen jedoch ist meine Sache nicht.« –
Seine Ruhe und der strafende Ernst seiner Worte machten selbst auf den Schreiber Eindruck. Die hohe, kräftige Gestalt des Greises, sein langes Haar, das in fast weißen Locken auf seine Schultern fiel, und seine leuchtenden, freundlichen Augen gaben ihm ein Ehrfurcht gebietendes Ansehen. Indes die ernste Ilda und Gula mit zärtlicher Verehrung auf ihren alten Lehrer und Freund blickten, fühlte auch Sture, wie der ehrwürdige Priester mit seiner Menschenliebe und Milde, mit seinem Gottvertrauen und der Kraft, die aus diesem stammte, für ihn mehr und mehr eine herzgewinnende, tröstende Erscheinung unter diesen Menschen wurde, die nur nach Geldgewinn und Schätzen gierig strebten. –
In den nächsten Tagen, als das Wetter milder wurde, besuchte der Geistliche die verschiedenen Niederlassungen an beiden Ufern des Lyngenfjords, und mehrere Male begleitete ihn Sture auf diesen Ausflügen, die sich weiter und weiter erstreckten und endlich auf eine Reise von drei Tagen ausgedehnt wurden. Von dieser Reise wollte Klaus Hornemann so bald nicht nach dem Gaard von Örenäes wiederkehren. Sture dagegen, der ihm auf dieser Tour Gesellschaft leisten wollte, versprach, pünktlich in acht Tagen zurück zu sein. Der junge Edelmann war froh, auf eine Weile dem Beisammensein mit dem Schreiber zu entkommen, dessen zunehmende Herrschaft im Hause des Kaufmanns ihm unangenehm gewesen war. Helgestad selbst konnte nichts gegen den Ausflug einwenden, da es gerechtfertigt war, daß der junge Ansiedler Land und Leute kennenzulernen suchte.
Ein Boot brachte die beiden Männer zur nächsten Handelsstelle, wo sie mit Freuden empfangen und mit nordischer Gastfreundschaft bewirtet wurden. Neben dem Handelsgeiste und der Gier nach Gewinn und Besitz fand Sture überall auch die Tugenden des norwegischen Volkes wieder: einfache, stille Sitten, ein arbeitsames Leben und einen gastlichen Herd.
Eines Morgens, als er mit dem Geistlichen durch die Hütten wanderte, kamen sie auch auf Helgestad und sein Haus zu sprechen.
Sture zeigte sich voll Unruhe und voll Mißtrauen über den Ausgang seines Unternehmens und war in banger Sorge um seine Zukunft.
»Aller Ausgang ruht in Gott«, sagte der Greis. »Was ich mit Rat und Tat tun kann, wird Ihnen, mein edler junger Freund, niemals fehlen, und was den Rat betrifft, so nehmen Sie gleich einen, ehe sie scheiden. Lernen Sie in Örenäes, so viel Sie können, nehmen Sie Helgestads Beistand an, der als der reichste und kühnste, aber auch als der schlaueste Spekulant im Lande gilt. Jedoch vergessen Sie nie, daß Sie es mit einem kalkulierenden Kaufmann zu tun haben. Je mehr Sie ihm zeigen, daß Sie, um mit seinen Worten zu reden, das Ding verstehen, um so mehr wird er selbst zur Aufrichtigkeit genötigt sein. Was Helgestads Kinder betrifft«, fuhr der Prediger fort, während ihm Sture aufmerksam zuhörte, »so sind sie ganz anders geartet. Gustav hat im Grunde einen offenen Charakter, nur wird er leider zu seinem Schaden zu sehr von dem Neffen unseres Vogtes beeinflußt. Ilda aber steht mit ihrer sicheren Verständigkeit und der Kraft und Güte ihrer Seele hoch über den meisten Bewohnern dieses Landes.«
»Sie rühmen so sehr den Verstand und die Gefühle dieser Jungfrau«, antwortete der Junker etwas stockend, »wie ist es aber da möglich, daß sie dieses Petersen Frau werden will?«
»Sie gebrauchen das rechte Wort nicht. Sagen Sie, dessen Frau sie werden soll.«
Der dänische Junker blickte lebhaft auf und murmelte dann, daß er nicht denken könne, ein Mädchen von solcher Willensstärke könne zu dieser Verbindung gezwungen werden.
»Sie sind im Irrtum«, war Hornemanns Antwort. »Helgestad ist seit einigen Jahren schon mit dem Vogt von Tromsö darüber einig, der ihm damals zum Besitz der Insel Loppen mit ihrem einträglichen Federhandel verhalf. Und was seinen Neffen betrifft, der jedenfalls auch sein Nachfolger sein wird, so ist dieser der einzige Mensch, welcher sich neben Helgestad stellen kann und ihn wohl noch in manchem überragt.«
»Ich glaube, daß Sie Recht haben«, murmelte Sture verächtlich.
»Helgestad wird niemals Nein sagen, sobald der Schreiber um seine Tochter anhält«, fuhr Klaus Hornemann fort. »Ilda aber kann sich nicht weigern, denn die Verbindung ist ehrenvoll. Kein Mädchen in den Finmarken würde sich besinnen. Die Kinder in diesem Lande, Herr Sture, sind zudem daran gewöhnt, dem Willen ihrer Eltern unbedingt zu gehorchen. – Überlegen Sie dies alles, so werden Sie Ilda anders beurteilen.«
Anderen Tages trennten sich die beiden Männer, die trotz ihres verschiedenen Alters so schnell Freunde geworden waren. Klaus Hornemann versprach, binnen Monatsfrist wieder auf dem Gaard von Örenäes einzutreffen.