Alexander Moszkowski
Das Panorama meines Lebens
Alexander Moszkowski

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Zauber des Südens

Ja wirklich, es gab eine Zeit, da man eine Reise nach der französischen Riviera als kalendarisch feststehende Tatsache betrachtete und da man in West und Südwest gute französische Freunde besaß. Man kannte die Strecke der Nordbahn und des PLM (Paris–Lyon–Méditerranée) so genau wie die Linie der Anhalter Bahn, man stieg vom verräucherten Schuppen der Pariser Empfangshalle zur Rue Lafayette mit der nämlichen Selbstverständlichkeit wie vom Bahnhof Friedrichstraße zur Kranzlerecke, man lebte in Nizza wie Gott in Frankreich, man war da zuhause. Manche Unbequemlichkeit von unterwegs mußte freilich in den Kauf genommen werden. Dem deutschen Reisenden kam es oft genug zum Bewußtsein, daß das französische Staatswesen eigentlich eine Republik für Millionäre bedeute, mit dem Reklameschild der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und einer sehr wesentlich anders gearteten Wirklichkeit. Wer sich nicht durch die sehr teuren Luxuszüge zu einem gewissen Grad der »Freiheit« aufschwingen konnte, dem blieb durchweg nur der »gleiche und brüderliche« Pferch vorsintflutlicher Waggons, wo man provenzalische Lüfte »in vollen Zügen« atmete; und der Zwang des »Supplément« (der Zuschlagkarte), der einen unablässig verfolgte. Jeder Ruck zu einer höheren Stufe der Menschenrechte kostete ein »Supplément«, bis man sich schließlich durch all die republikanischen Zuschläge ein Maß der Bewegungsfreiheit ersteigerte wie etwa in der zweiten Wagenklasse eines deutschen Eilzuges. Aber destomehr freute man sich auf das Aussteigen: Paradies nach dem Fegefeuer. Es war anders als in Deutschland; nicht besser in modernem Sinne, aber eben anders. Man spürte durch alle Rückständigkeiten der Gegenwart hindurch die Ausstrahlungen und die fortwirkenden Reste des großen französischen 18. Jahrhunderts. Auf dieses zurück wiesen zahllose Erscheinungen der Geistigkeit, des Verkehrs, der Lebensgestaltung, die wir zwar im einzelnen technisch, organisatorisch längst überholt hatten, die aber in Frankreich eine historisch wertvolle Note bewahrte. Über dem Egoismus des einzelnen wie der Gesamtheit schien eine Patina gelagert, eine Deckschicht der Liebenswürdigkeit. Ja, das war's! Das Gefällige war es, das uns bestach. Der Fremde hatte weder Zeit noch Veranlassung, jene Patina mit ätzenden Methoden anzugreifen. Er empfand nur zweierlei: das Geheimnis der alten Kultivierung unter der Decke und die Annehmlichkeit des gegenwärtigen Augenblicks.

Und wie mühelos war die Blüten- und Palmenwelt am Südgestade zu erreichen! Wer im Winterfrost vom Brenner oder Gotthard herabkam, flog in den Sommer hinein, konnte im Zeitlauf eines Tages fünfzig Grad Temperaturdifferenz erleben. Alles war auf überraschende Kontrastwirkung gestellt; Kontrast des Klimas, der Farbe, der äußeren Naturwirkung, des inneren Erlebens, und noch innerhalb des Gegensatzes waltete der Kontrast: im exotischen Gelände, das uns weltenfern, so afrikanisch, so indisch ansprach, mittendrein ein Stück versprengtes Paris, Nizza genannt, und daneben die monegassische Enklave, die Amüsierhölle zwischen andächtigen Felshäuptern. Kein Wunder, daß die vereinigten Zauber auch nach menschlichem Exponenten strebten; sie fanden ihn in einer beispiellosen Internationalität, in einer Auslöschung der politischen Sonderheiten, die auf engem Raume ein vollendetes Weltbürgertum vortäuschte. Durch Jahrzehnte konnten wir diese Täuschung für Wirklichkeit hinnehmen, als eine Form ausgleichender Gerechtigkeit, die einzig nach dem Grundsatz: »Leben und leben lassen« orientiert war.

Genau fünfundzwanzigmal habe ich dort mein Touristenzelt aufgeschlagen, und von rechtswegen durften mir die Ortsansässigen im März 1914 ein Jubiläum rüsten, als Äquivalent für meine ausdauernde Anhänglichkeit. Denn wenn ich mir nachträglich eine Kilometerrechnung aufmache, so hätte ich für den nämlichen Aufwand an Reisestrecke und Kosten den ganzen Erdglobus befahren können. Aber ich lebte im Gefühlsbanne wie ein Zugvogel, in dessen Bewußtsein keine touristischen Vielfältigkeiten regieren, sondern nur der Zwang einer bestimmten Linie. Ja ich glaube, daß ich selbst diese Kreatur in der beharrlichen Konsequenz der Richtung noch übertroffen habe. Einmal war mein Aufenthalt an der Riviera zu Ende, und ich befand mich auf der Rückfahrt über den Brenner, den heimischen Penaten entgegen, die mich aber seltsamerweise gar nicht heimatlich ansprechen wollten. Ich kam mir vor wie ein Gepäckstück, das nach Norden spediert wird; dann aber brach der gewaltige Wille hervor, und von Meile zu Meile steigerte sich die rebellische Empfindung: Wie! Das soll nun wirklich beendet sein, unwiderruflich abgeschlossen, und ein volles Jahr soll sich abwälzen bis zur Erneuerung? Von Süden tönten mir Wellenstimmen in dem leisen unbeschreiblichen Tonfall, mit dem das Ligurische Gewässer in stillen Nächten über die Kiesel hinsingt, so monoton und doch so eindringlich. Da gibt es kein melodiöses Gefüge, keinen Reiz der Akkorde, aber in dieser Einförmigkeit lebt etwas Magnetisches, wie der fern verhallende Ruf einer geliebten Frau. Welche Treulosigkeit, die Ursprungsstätte dieses Fluidums zu verlassen, mit dem dürftigen Motiv des abgelaufenen Rückbilletts! Ein Jahr warten – aber das ist ja ein Jahrhundert für den mächtig angeschlagenen Sehnsuchtsnerv! Also wirklich, ich unterlag dem Richtungszwange vollkommen; kaum in Berlin gelandet, kehrte ich wieder um; und es erschien mir durchaus gerechtfertigt, daß ich zweiundsiebzig Eisenbahnstunden verbraucht hatte, um von Nizza nach Nizza zu gelangen. –

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche. Der verträgt bis zu gewissem Grade eine Analyse, er läßt sich auf Bekanntes zurückführen, mit anderem Landschaftlichen vergleichen; und ein Globetrotter dürfte mir leicht beweisen, daß der Rivierareiz, nach malerischen und pflanzlichen Momenten beurteilt, keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat. Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache, sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes, deren wahre Ursächlichkeit gänzlich unerforschlich bleibt. Das Kantische »Ding an sich« findet sein Gegenstück in einem »Zauber an sich«, der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen läßt, wenn man von diesen alles sinnlich Erfaßbare fortdenkt. Der Wald- und Wiesentourist weiß hiervon nichts, der Baedekermensch, der sich auf Prospekte und Szenerie einstellt, und er braucht es nicht zu wissen, da bei der großen Mehrheit der Landschaften ohnehin das sinnlich Bedeutsame die kausale Wurzel des Eindrucks bildet. So spielt im Alpinen die geometrische Linie, der Prestige-Gipfel, die Farbe, das elementare Dröhnen der Natur die Hauptrolle. Aber hier, im ligurischen Gelände, nistet noch etwas Besonderes abseits der Erscheinung im mystischen Dunkel der Erinnerung, und was Wirkung werden soll, braucht nicht erst durch die Pforte des Auges einzuziehen. Sie wendet sich an innere Fühlfäden des Bewußtseins, und wer diese besitzt, der spürt die Landschaft durch die Mauern hindurch, in einer düsteren Gasse der Stadt, im Zimmer und nachts im Bettlager. Im Engadin kam auch Nietzsche nicht von der Gewalt der Eislinie los, die eine gedankenschwere Sprache spricht und für deren Verkündung eine weite Szene aufbaut. Als er aber in Mentone und Nizza den Zarathustra vollendete, spann er aus der Erinnerung; in engen vier Wänden, am Schreibtisch, stand er unter dem Diktat der Riviera. Man wird mich nicht der Überhebung beschuldigen, wenn ich bekenne, daß auch ich diesem letzten Zauber mich nahe fühlte, daß auch mir Astralfäden wuchsen zur Aufnahme geheimer Zusammenhänge von Natur und Mensch; denn ich rede hier nur von Empfindungen, nicht von dem Talent, aus gefühlten Erlebnissen Werke zu schöpfen. –

Allerdings brauchte ich beträchtliche Zeit, ehe solche Einfühlung in mir perfekt wurde, denn als ich zum erstenmal dort Posto faßte, reagierte ich gegen alle äußeren Anreizungen nur mit höchst verkümmerten Organen. Mir war die Reviera verordnet worden als Medizin gegen ein quälendes Leiden, das mich mit allen Symptomen hochgradiger Neurasthenie heimsuchte. Mitten in den Erfreulichkeiten eines langgedehnten Theatererfolgs hatte mich das befallen, und nun befand ich mich auf einmal in der Lage eines Menschen, der von Sekunde zu Sekunde irgend einem unerklärlichen Schrecknis entgegen starrt. Nichts ist dabei physiologisch nachweisbar, kein Befund, keine Untersuchung gibt Aufschluß; die Chemie und Mechanik des Körpers zeigt nicht die geringste Veränderung, und die ärztliche Fachkunde behilft sich dabei mit dem nämlichen Mittel, zu dem jede Wissenschaft greift, wenn sie gegen unlösbare Probleme anrennt. Sie nimmt ihre Zuflucht zu dem Asylum Ignorantiae, zum Wortfetisch »Neurasthenie«, ein uferloser Ausdruck, der durch nichts definiert wird und der selbst nichts anderes definiert als einen Komplex von Fragezeichen. Denn wenn der gelehrte Äskulap ergänzt: hier liegt keine organische Störung vor, nur eine »funktionelle«, so umschreibt er damit lediglich den fatalen Vorgang von Wirkung ohne Ursache. Er will also durch seine Heilversuche Zustände beseitigen, deren Hintergründe er nicht kennt, und die ihm schon darum verborgen bleiben, weil sie gar nicht existieren.

Aber die Vordergründe sind offenbar, und der Patient erlebt Fürchterliches in ihnen. Es ist, als hätte er jeden Zusammenhang in sich selbst verloren, und er erschöpft sich in schmerzvollen Anstrengungen, in seinem Bewußtsein einen festen Bezugspunkt aufzufinden. Er fühlt sich in peinlicher Relativität zur Außenwelt, die Koordinaten seines Daseins schwingen molluskenhaft, jede Minute bestürmt ihn mit paradoxen Erlebnissen. Und der oft gehörte Zuspruch »eigentlich fehlt Ihnen ja gar nichts« wird ihm zum Hohn, denn die Tortur läßt ihn nicht los, und ein gänzlich unlogischer Dämon schwingt die Folterzange.

Freilich ergeben sich Ruhepausen, stundenlang; man ist dann ganz in Ordnung, ohne Schwindel, Beklemmung, ohne Sterbensangst und Platzfurcht, aber man weiß, das wird wiederkommen. Diese Zwischenzustände sind nur Erholungspausen für den neurasthenischen Dämon, der in ihnen über neue Tücken nachdenkt. Man fühlt sich plötzlich ganz gesund und wird im Unterbewußtsein von dem Verdacht gepeinigt, in die Welt der Gesunden nicht hineinzupassen. Die Erleichterung zählt nach Stunden, und der Verdacht behält Recht, über Jahre hinweg.

Ich nehme an, daß manche Leidensgenossen diese Darstellung lesen und sich in ihr wiedererkennen werden. Ihnen zum Trost bemerke ich: es gibt auf diesem Gebiet nur einen Fachmann, nämlich den Kranken, und nur eine Kur: das Vorbild eines geheilten Leidenden, vorausgesetzt, daß dieser imstande ist, am Faden eindringlicher Selbstanalyse zu berichten, das heißt, sich gleichzeitig als Subjekt wie als Objekt der Ausführung hinzustellen.

Jeder Neurastheniker wird von dem Drange heimgesucht, mit sich zu experimentieren. Der Arzt verbietet es ihm nach medizinischem Schema F, denn der unmittelbare Effekt pflegt sehr ungünstig auszufallen. Allein die Selbstanalyse führt zu einem andern Ergebnis: in der Summierung dieser Effekte liegt der erste Anlauf zur Gesundung. Das mag pervers klingen, aber man kann einem unlogischen Zustand nicht mit logischen Mitteln beikommen.

Ich experimentierte mit meinem Schwindelgefühl, das mich unleidlich drangsalierte. Die Objekte tanzten vor meinen Augen quer durcheinander und schienen mich in ihren Wirbel hineinzureißen, selbst im Bett mußte ich mich zeitweis zu beiden Seiten an den Pfosten festklammern, um nicht – wie mir die Halluzination vortäuschte – hinausgeschleudert zu werden. Und nun stand ich wiederum am hellen Mittag auf dem Gelände von Monaco vor einer tiefen Schlucht, über die eine schmale Steinbrücke führte. Da kam die Experimentierwut über mich. Ich stellte mir vor, es müßte gelingen, den Abgrund zu überschreiten, nicht etwa auf dem gesicherten Brückenboden, sondern oben auf dem kaum halbfußbreiten Granitgeländer. Ein halsbrecherischer Gedanke, der wohl manchen äquilibristisch geschulten Turner zurückgeschreckt hätte. Die Landschaft interessierte mich nicht im geringsten, für ihre Schönheit hatte ich keinen Blick, nur diese gefährliche Balustrade war für mich vorhanden und der aus der Tiefe aufsteigende Befehl: das mußt du versuchen!

Kein Arzt der Welt würde mir das erlaubt haben. Und das Verbot sämtlicher Ärzte hätte nicht ausgereicht, um mich von meinem waghalsigen Vorhaben abzutreiben. Mit nachtwandlerischer Geschicklichkeit vollzog ich das Kunststück auf dem schmalen Grat, um heil jenseits der Schlucht zu landen. Sonach konnte das Schwindelgefühl nicht nur auf Sekunden aussetzen, sondern unter dem Zwang des Experimentierwillens einer ganz neuen, für mich unerhörten Koordination platzmachen.

Noch am nämlichen Nachmittag, auf ganz ebenem Parkwege, überfielen mich abermals die unerträglichen Zustände, und aus den Palmen und Agaven grinste mir wieder das Gespenst der Raumstörung entgegen. Aber in dem fortgesetzten Rhythmus von Angst und Erleichterung gewann ich doch das Verständnis dafür, daß in diesem unheimlichen Ablauf der Erscheinungen der Wille zur Gesundung entscheidend bleiben müsse, und daß ich nicht nachlassen dürfte, diese Energien durch wiederholte Versuche zu schärfen. Mehr und mehr gelangte ich dazu, mein Selbst in subjektiven und objektiven Bestandteil zu spalten, und ich erwarb ein sozusagen wissenschaftliches Interesse am Ersinnen der Probiermethoden, die das erkennende Subjekt dem gequälten Objekt entgegenstellten. Was sehr viel später der mir befreundete Forscher Carl Ludwig Schleich zum Range einer wissenschaftlichen These erhob, war mir damals schon instinktmäßig bewußt: die eine Hälfte des Gehirns kann tatsächlich die andere in jedem Moment beobachten und in allen Phasen der Arbeit begleiten. Der Mensch ist imstande, sich selbst unter die Lupe zu nehmen, und hierbei verschafft ihm das Leiden nicht selten sogar einen verstärkten Grad der Hellsichtigkeit.

Sehr sonderbar gestaltete sich mein Verhalten allen geschlossenen Räumen gegenüber, und hier entwickelten sich Anomalien, die mit allen Aussprüchen der Logik schreiend dissonierten. Während sich die Anfälle der Platzfurcht im Freien gleichmäßig verteilten und keinen Unterschied machten zwischen Berg und Tal, zwischen Allee, Meeresstrand oder irgendwelcher Straße von Genua bis Cannes, geriet ich an die abenteuerlichsten Differenzen, sobald es sich darum handelte, eine geschlossene Lokalität zu betreten oder darin zu verweilen. Nichts hinderte mich am Aufenthalt in den Spielsälen von Monte Carlo, aber die Wandelhalle des Atriums in dem nämlichen Kasino stieß mich zurück. Von zwei benachbarten Restaurants war mir das eine ganz anheimelnd und einladend, das andere überfiel mich mit Schrecken bis zu dem Grade, daß ich außerstande war, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Ähnlich erging es mir mit Hotels und Geschäftsläden, die ganz gleichartig sein mochten, von denen mich aber etliche mit offener Repulsion zurückwarfen. Aber die Theater und Konzertsäle schlossen sich zu einer Kategorie zusammen, und jede Vergnügungsstätte mit Rängen, Logen und Sitzreihen ward mir zur Schreckenskammer. Die bloße Vorstellung eines aufgezogenen Vorhangs, einer gespielten Szene erfüllte mich mit drohenden Ahnungen eines bevorstehenden Kollapses. Bis ich auch hier experimentell vorging, von einem Instinkt getrieben, der mir sagte: Versuche es, mit geschlossenen Augen bis zu einem Eckplatz im Parkett zu dringen; verharre so, nur hörend, nicht sehend, eine Viertelstunde während des Bühnenspiels; dann öffne die Augen, und du wirst entdecken, daß du den kritischen Gefahrpunkt überwunden hast.

Auch dieses Experiment führte zum Erfolg, und ich fand mich ganz allmählich, über viele Rückfälle hinweg, in die Verfassung eines gewöhnlichen Zuschauers. Aber es war ein Erfolg mit verzweifelten Mitteln, und ich spielte dabei die Rolle eines Versuchstiers unter den Werkzeugen des Vivisektors.

Das waren die funktionellen Begleiterscheinungen meines ersten Aufenthaltes an der italienisch-französischen Riviera. Ich behielt wohl in lichten Stunden die Empfänglichkeit für die gröberen Reize der Szenerie, hatte aber im wesentlichen die Empfindung eines Ausgeworfenen, der schuldlos ins Exil verschickt war, und zu Zeiten kam ich mir vor wie auf einem fernen, unwirtlichen Planeten, ohne Aussicht auf Rückkehr. Andere Bedrohlichkeiten traten hinzu, um die Misere zu steigern: man befand sich in dem Influenza-Jahr, das vor einem Menschenalter ganz Europa vergiftete und besonders an diesem Küstenstrich pandemisch wütete. Ich fürchtete nicht eigentlich die Grippe, aber ich verfluchte die Konversationen, die sich um nichts anderes drehten, als um klinische Dinge, Begräbnisse und Trauer. Mein Reisegefährte, Dr. Richard Norton, mir befreundet durch gemeinsame literarische Arbeit und in Italien beinahe bodenständig, hatte mich in mehrere Genueser Familien eingeführt, und in diesen Kreisen bildete die Seuche das gesprächliche Leitmotiv. So eine Mittagsmahlzeit im italienischen Zirkel hätte für sich ausgereicht, um einen Gesunden krank zu machen. Wo war das versprochene Klima, wo verbarg sich der große Arzt aus dem Süden, Helios, der sonst, wie die Legende ging, das Land mit Milliarden von Kalorieen überschwemmte? Das Thermometer stand am Gefrierpunkt, die Gäste saßen mit hochgeklappten Mänteln um den Dinertisch, und eine winzige Porzellanvase mit angebrannten Holzkohlen sollte den fehlenden Ofen ersetzen. Solches Heulen und Zähneklappen regierte zu Genua in der Behausung des vormals sehr gefeierten Schauspielers Gardses, der sich mit der Bewirtung besonders anstrengte, um die Ungemütlichkeit des Aufenthalts durch kulinarische Genüsse zu übertäuben. Es gab eine Spezialität ersten Ranges vom Zenith der Feinschmeckerei, das Teuerste vom Teuren: weiße Trüffeln, eine Köstlichkeit, die das ganze schlemmerische Gastmahl des Trimalchio in sich kondensierte, – so erklärte man mir und erwartete vom beglückten Gaste Ausbrüche des Entzückens. Mir rochen die weißen Trüffeln nach ungelüfteter Anatomie, und ich wußte nicht wohin vor Entsetzen. Aber das Ärgste beim Symposion blieben die Gespräche, in denen keine poetische Silbe anklang, nichts Mystisches aus Zypressenwäldern, Pinienkronen, Azurbögen von Himmel und Golf, nur immer wieder Erörterungen über Gurgeln und Inhalieren, über Medikamente auf –in, –ol und –an, über Kondolenzbesuche und Geschäftsläden, in denen man preiswerte Kränze mit silberbedruckten Trauerschleifen kaufen konnte. Dazu hatte man mir im preußischen Norden die Böcklinstimmung in den »Gefilden der Seligen« vorgegaukelt. Hier war von den »Seligen« im Reiche der Schatten die Rede, und unter der Wärme des Südens verstand man die Glut im Krematorium.

Der Zufall wollte es, daß damals einer der berühmtesten deutschen Neuropathologen in Monte-Carlo weilte. Er durfte freilich nach dem eifersüchtig gehandhabten Landesgesetz als Ausländer keine eigentliche Behandlung übernehmen, allein mein Fall interessierte ihn, und so lud er mich zu einer geheimen Audienz. Ich durfte annehmen, daß ich von dem Breslauer Professor Wernicke, der ersten Autorität in neurasthenischen Angelegenheiten, Entscheidendes hören würde.

Ich vernahm aber nur das längst Bekannte im engen Ausmaß schulweisheitlicher Routine. Er prüfte die Pupillenreaktion, den Kniescheibenreflex, die Balancierfähigkeit und bestätigte die Ansicht meiner früheren Berater: also kein organischer Defekt, sondern nur Funktionsstörung, wahrscheinlich als Folge einer chronischen Nikotinvergiftung. Auch das war mir als passioniertem Zigarettenraucher nichts Neues, und ich gestand reuevoll meine Sünden, mit dem Gelöbnis, den süßen Frevel auf ein Minimum einzuschränken.

Damit kam ich indes nicht durch. Der Professor verbiß sich in die Generalformel tutto o niente und vertrat den extremen Standpunkt: so ein verderblicher Hang müsse wie ein Krebsgeschwür mit der Wurzel ausgeschnitten werden. Da gab es kein Feilschen, er zog alle Register der schauerlichsten Prognosen und betäubte mich damit dermaßen, daß ich ihn mit der Versicherung an Eidesstatt verließ: Nie wieder. Er hatte mir nicht einmal das feierliche Brandopfer einer letzten Abschiedszigarette gestattet!

Aber in der Natur ist nichts auf ein starres Entweder-Oder eingestellt, und sie läßt sich keine Schroffheiten abzwingen. Sie hält Balsam und Hoffnung für eine Rauchervergiftung bereit, aber sie läßt Furien auf den los, der mit dem Beil des Entschlusses eine organisierte Gewohnheit entzweihackt.

Wäre ich konsequent schwurtreu geblieben, so hätte ich auf keinen Influenzaanfall zu warten brauchen, um für den silberbedruckten Trauerkranz reif zu werden. Wirklich, es gibt kein schärferes Gift, als die plötzliche, absolute Abstinenz; in den wenigen Wochen, während deren ich mich ihr hingab, erstarben mir die Glieder von oben herunter, und ich konnte die progressive Paralyse zollweise an mir beobachten. Da widerfuhr mir das homöopatische Wunder: »Similia similibus«; als Retter erstand mir Sanctus Nicotinus, und aus seinen aromatischen Gaben sog ich mir ein neues Leben. –

Mein Kumpan Norton führte mich im Wagen über die Route de la Corniche, deren Knalleffekt mir zwar noch lange nicht das Verständnis des Südens erschloß, aber wenigstens touristische Hellblicke öffnete. Diese Corniche-Straße, die das ganze Gebiet von Nizza bis Savona überspannt, bald durch die vegetative Üppigkeit der Niederungen zieht, bald in feierlichen Linien zu alpinen Höhen dringt, bietet zumal über Villafranca und Beaulieu eine Fülle von Panoramen, vor denen die verwegenste Phantasie kapituliert. Selbst in meinen Dämmerungszuständen verspürte ich zeitweilig die magischen Ausstrahlungen der Landschaft, und während mir noch kurz zuvor aus Fels und Baum ein feindseliger Hauch entgegenblies, vernahm ich nun wie im Traum freundliches Geflüster; ja auf Augenblicke konnte ich in Exaltation geraten, so als ich an Palmen vorüberkam, die von der Wurzel bis zu den wedelnden Kronen mit roten wilden Rosen übersponnen waren. Aber ich halte daran fest, daß diese Sensationen nicht das wahre Wesen des Zaubers erschöpfen. Sie treten auf wie wollüstige Klänge, deren Sensualreiz man wahrnehmen kann, ohne den Sinn der Symphonie zu erraten, die mit materiellen Schwingungen Überirdisches verkündet.

Die vollendete Einfühlung in die Transzendenz des Südens erlangte ich erst nach Jahren, und ich hätte diesen Punkt nie erreicht, ohne einen weiteren Verstoß gegen landläufige Verordnung. Die Fakultätsweisheit fordert bei neurotischen Zuständen Ruhe, Abkehr von der Arbeit, und der Patient fügt sich dieser Enthaltsamkeit um so williger, als er sich in den Anfangsstadien der Krankheit eine wirkliche Geistesarbeit gar nicht vorzustellen vermag. Aber Nerven und Muskeln sind zweierlei, und den sensorischen Nerven Stillstand anbefehlen heißt soviel, als ihnen den Rückweg zur Normalfunktion versperren. Es ist so, als wollte man einen Schlafkranken mit einschläfernden Opiaten heilen, während alles darauf ankommt, ihn aus den Klammern der Lethargie zu befreien. Das Spiel der Nerven ist aufs innigste mit den Bewegungen des Denkapparats verflochten, und wenn dieser, wie wahrscheinlich, ein perpetuum mobile darstellt, so ist es widersinnig, den einen Teil festzuhalten, während der andere fortrollt. Man kann bei einem Gliederbruch das Gesunden im Dämmer erwarten, bei einem Nervenzusammenbruch muß die Heilung erkämpft, geistig erarbeitet werden.

Ich habe diese Dinge seinerzeit mit meinem Leidensbruder Josef Kainz verhandelt, dem letzten Bühnengenie von parnassischer Herkunft und Geltung. In unseren Nativitäten müssen gemeinsame Zeichen gewaltet haben: wir begegneten einander in der Erotik vor derselben Frauenfigur, in der Neurotik vor den nämlichen Symptomen und ärztlichen Verdikten zur gleichen Zeit. Und wie man mich vom Schreibtisch absperrte, so ihn von der Bühne des Berliner Theaters, an dem er damals unter Ludwig Barnay's ruhmvollem Szepter die Glockenwunder seiner Stimme offenbarte. Eines Tages meuterten auch in ihm die Nerven, und sie wurden immer aufsässiger, je energischer das medizinische Kommando sie zur Ruhe befahl. Seine und meine Erscheinungen verliefen zeitlich und sachlich genau parallel, und so fand er den Weg zur Rettung erst, als er plötzlich in heroischer Verzweiflung den Teufel durch Beelzebub austrieb. Er stürzte sich kopfüber in den Strudel der Theaterproben, und es war ihm zum Heile, es riß ihn nach oben: er genas am Wiederklingen seines eigenen Organs.

Es ist eigentlich merkwürdig, daß in den Kreisen des Theaters die Neurasthenie weit minder grassiert als in den anderen geistigen Berufen, deren Nervenarbeit auf strengere und korrektere Gangart eingestellt ist. Sieht man von dem Ausnahmefall Kainz ab, so scheinen gerade die hervorragendsten Darsteller mit eisernen, innerlich verfestigten Nerven ausgerüstet, im Widerspruch zu der Tatsache, daß ihr Fach den lockersten, auf alle Willkür ansprechenden Zusammenhang der Hirnzentren geradezu verlangt. Denn der Mime reagiert auf zahllose Impulse von außen, er gestaltet fremde Lebenszustände als seine eigenen, befindet sich psychisch dauernd in labilem Gleichgewicht, und wäre sonach der geborene Neurastheniker. Aber diese Analyse hält vor der Erfahrung nicht stand und führt ins Absurde, wie man erkennt, wenn man die Gedankenwege ihrer Hauptvertreter weiter verfolgt; Max Nordau, der zugleich als Arzt, als Psychologe und Kunstforscher alle Autorität beansprucht, erklärte jene Veranlagung als krankhaft und kommt folgerecht zu dem Schluß: Gerade die ausgezeichnetsten, wahrsten und wirkungsvollsten Menschendarsteller müssen untergeordnete Geister sein, ein leeres Bewußtsein und eine verkümmerte Persönlichkeit haben! Aber wie denn? Müßte nicht die nämliche Analyse für den schaffenden Künstler, zumal für den Dichter gelten? Wer sich in den Hamlet, den Faust, den Tristan hineinspielt, wiederholt doch nur auf niederem Niveau die Seelenzustände dessen, der sie erschuf, und der sie bei normaler Nervenverfassung gar nicht hätte hervorbringen können. Die göttliche Raserei der hellenischen Poeten, der im Oberon gepriesene holde Wahnsinn, sie tragen neurasthenische Züge, und wohnen doch nicht in verkümmerten, sondern in erleuchteten Menschen. –

Man mag dieses Thema anschneiden wo man will, überall ergeben sich paradoxe Seitensprünge, und wenn ich mir heute auf erhöhter Wissensstufe meine vormaligen Stationen vergegenwärtige, so gelange ich an das Urteil, daß sich in der Nervenarbeit jedes Menschen, auch des allergesündesten, neurasthenische Vorgänge abspielen. Denn diese beruhen im Grunde auf wahrgenommenen Störungen im Raume, und diese könnten nicht stattfinden, wenn der geometrische Raum mit dem sinnlich erfaßbaren identisch wäre. Wir wissen indes aus den Untersuchungen von Henri Poincaré, von Mach und anderen Forschern, daß hier große Unterschiede obwalten, und daß die menschlichen Sinne, zumal das Auge, niemals imstande sind, den wirklichen Raum abzubilden. Besäße irgend eine Person ein vollkommen korrektes Nervenspiel, so würde dieser Mensch durchweg die mathematischen Beziehungen des Raumes unmittelbar genau erfassen, jede Orientierung nach Oben-Unten, Links-Rechts wäre ihm gleich geläufig, zwischen Vertikal- und Horizontalsymmetrie bestünde für ihn keine sinnestäuschende Differenz, und nur unter dieser Voraussetzung wäre er frei von jenen Raumstörungen, welche als die Vorläufer aller Schwindelgefühle und Platzängste auftreten. Ein so kenntnisreicher Raumüberwinder wie der Gipfeleroberer Güßfeld hat gesagt: es gibt auf der Welt keinen schwindelfreien Menschen, und es ist ein Glück für uns alle, daß wir am Hinterkopf keine Augen besitzen. In dem angenehmen Grusel, den uns ein Turmseilläufer, ein Equilibrist und Jongleur abnötigt, steckt das Pathos der Distanz, die bewundernde Anerkennung, daß dieser Mensch uns überlegen ist, weil sein Organismus geometrisch fehlerfreier arbeitet als der unsrige. Sonach wären die Vollmenschen, die nicht verkümmerten Persönlichkeiten, eher unter den Sportmatadoren und Variétégrößen zu suchen als unter den großen Kunstgestaltern, deren Phantasie den Mangel an innerem Gleichgewicht verrät. Ihre leuchtenden Werke sind nichts anderes als Zeichen der Störung, dem physikalischen Lichte, dem Sternenlicht verwandt, das von der neuesten Wissenschaft gleichfalls als Phänomen einer (elektromagnetischen) Störung begriffen wird.

*

Derartige Betrachtungen freilich pflegen den Ärzten fernzuliegen, welche die Riviera verordnen, wie man Baldriantropfen und Brausebäder verschreibt. Ihr Patient soll innerlich »in Ordnung« kommen, und diese Regulierung, so meinen sie, werden die Natureindrücke und das Klima schon besorgen. Er leidet, also versetze man ihn in Entzückungen, in die Magie des südlichen Himmels. Aber diese Rechnung will nicht glatt aufgehen, denn mit der klimatischen Lust ist es, wie mit den geschlechtlichen Freuden, und Meister Eckhart behält Recht: die Wollust der Kreaturen ist gemenget mit Bitternis!

Jene Magie ist sicher vorhanden, und in ihr wurzelt der orientalische Sonnenmythus der alten Völker. Nur wäre es verfehlt, ihre Äußerungen durchweg auf das Konto der Erfreulichkeiten zu setzen. Wir alle reagieren zwar mit allen Stärkegraden des Organismus auf die Temperatur, allein zum Erlebnis werden uns nur die Temperaturdifferenzen. Der Nordländer empfindet zunächst überrascht und erquickt den afrikanischen Hauch, der mit Meeresdunst geschwängert von den Kalkmauern der Alpen wie von Brennspiegeln zurückgeworfen wird und große Strecken der Riviera zu offenen Treibhäusern gestaltet. Winterstürme wichen dem Wonnemond, – dieser sich sonst in trägen Monaten abrollende Vorgang wird ihm zum Wunder einer Ausstattungsfeerie, die mit den Zeiten beliebig spielt, und bei der das Aufziehen eines Nebelvorhangs genügt, um froststarrende Regionen in die durchglühten Gärten von Ispahan zu verwandeln. Oft genug hat mich dieser Aladin-Zauber überfallen; der Kalender zeigte den sechsten Januar, und die eben eingetroffenen heimischen Zeitungen sprachen von der Eisernte auf dem Müggelsee, während ich oberhalb Cannes in der Baumblüte spazierte, umgeben von Granatbäumen, die ihre weißen Sternchen ausgesteckt hatten als Zeitsignale einer ganz anderen Ernte. In der Luft wogte es von Düften aus Rosen, Veilchen und Heliotropen, rings streckten sich die Orangen-, Jasmin- und Resedagärten der Parfümeriestadt Grasse, die in Blumenfelder eingebettet deren Seele mit Apparatur einfängt, um sie über die Toilettentische von ganz Europa wieder auszuhauchen. Aus der nordischen Balldame, die auf dem Winterfest ihre Anbeter duftig berauscht, strömen die Effluvien dieser Atmung. Und welche Verschwendung, welche Betriebsamkeit wird der Natur hier zugemutet! Die Sonne muß um Weihnacht mit ihrer Siedearbeit beginnen, um das herauszubringen, was sich in unserer Vorstellung als das Produkt glühenden Sommers darstellt. In die endlosen Fabriken von Grasse wandern sie täglich zu tausenden von Zentnern, die Orange- und Rosenblüten, von denen zwölftausend Kilogramm eben ausreichen, um einen Liter Essenz zu gewinnen. Aber es bedarf keiner Zahl, um uns die Ungeheuerlichkeit dieser Pracht zu erläutern; das Auge, das dort staunt, ohne zu rechnen, empfindet es unmittelbar, daß in diesem Blumenozean eine Grenze nicht abzusehen ist.

Schnell genug wechselt die Sonne die Methode ihrer Magie. Sie geht zur Rüste, schwimmt unter dem Horizont hinweg zum Aufgangspunkte und besinnt sich unterwegs auf gewisse winterliche Gepflogenheiten. Am nächsten Morgen erwartet uns auf dem Jardin public ein eigentümliches Bild: der Blumenkranz steht unversehrt, aber die Fontäne in der Mitte ist fest gefroren. Flora trägt nach wie vor den bunten Blütensaum, allein sie hat sich ein Bukett von Eiskristallen vor den Busen gesteckt. So dicht auch der alpine Mauergürtel die Szenerie abschließt, die Tramontana findet schon ihren Weg und sie bringt uns mitten in den Feuerzauber des Südens die frostigen Grüße der märkischen Gewässer, auf denen die Eisernte begonnen hat. Immerhin, das kann Episode sein, klimatisches Kuriosum, und wirklich, das Thermometer verfolgt einen Kletterweg mit rapider Beharrlichkeit, und wenn man frühmorgens unter dem Eishauch erschauerte, kann man sich zur Mittagsstunde an den Metallteilen der Bänke auf der Promenade des Anglais die Finger verbrennen. Aber gar nicht selten verändert sich das Bild radikal, und die magische Laterne am Firmament beleuchtet nur noch Szenen einer geographisch verschobenen Antarktis. Da mögen uns Aloes, Bambusstauden und Kakteen mit brennend grellen Auswüchsen erzählen, was sie wollen, im Bewußtsein des Pilgers befestigt sich der Glaube: man friert nirgends so stark wie im Süden. Das ist das Extrem dieser Magie, von der uns ja auch Livingstone, Stanley, Casati und Emin Pascha erzählen: in deren Berichten verschwindet zu Zeiten die äquatorische Glut vor den Nachtschaudern der Kältestationen, die sie in Afrika durchmaßen.

So ist auch meine persönliche Erinnerung von Kontrasten durchsetzt. Als ich in erster Annäherung von Novi in der Lombardei herkam und über Serravalle den Appenin hinab fuhr, erlebte ich etliche Minuten einer überirdischen Beglücktheit. Der Frost war in den Bergen unser Begleiter gewesen, wir saßen zusammengekrümmt im ungeheizten Kupee, da öffnete dicht vor der Genueser Vorstadt Sampierdarena mein Reisekumpan das eisbeschlagene Fenster; – und eine volle sommerliche Brise flog in den Wagen. Das war bis auf die Sekunde und bis auf den Meter genau abgepaßt, denn der erste Durchblick auf das Meeresblau und der atmosphärische Sprung vom Dezember in den Juni fielen in der Taxe des Fahrgastes auf denselben Augenblick. Ich hatte mir den Überraschungspunkt genau gemerkt, und als ich im Folgejahr mit meiner Frau die nämliche Strecke befuhr, versuchte ich auf sie den nämlichen Effekt loszulassen; denn jetzt war ich ja der Eingeweihte, während sie als Novize die Möglichkeit solchen klimatischen Abenteuers noch nicht zu ahnen vermochte. Über den Appenin hinweg ging alles programmrichtig, mit der nämlichen Unbehaglichkeit im Wagen und der nämlichen Eiskruste am Aussichtsfenster. Nur als ich es im berechneten Moment öffnete, fiel mir die Gattin in den Arm mit dem Schreckensruf: Um Gottes willen, Alex, mach bloß schnell zu, da kommt ja eine sibirische Kälte herein! Und diese Ansage bewährte sich durch Wochen. Wir beide haben uns redlich durch die Saison hindurchgefroren, und was den Wallfahrern als ein Mekka und Medina vorschwebte, erschien uns in Wirklichkeit als ein Gelände, dessen Vegetation von den Tropen fabelte, während die Luft uns mit kamtschadalischer Verbissenheit anblies. –

Trotzdem bleibt es unter allen Umständen zulässig, von Monte Carlo als von einem »Brennpunkt« der Azurküste zu sprechen. Denn diese Enklave besitzt ein Klima für sich und bedarf kaum der Konvergenz der Sonnenstrahlen, da es von den Hochöfen der Leidenschaft angeheizt wird.

Über diese Brunst ist viel geschrieben worden, aus zahllosen Schilderungen, Erzählungen, Romanen, Dramen und Filmtexten hat sich eine weitschichtige Literatur entwickelt. Aber dieses Schrifttum geht in seinem ganzen Inhalt an der Hauptsache vorbei, da keiner der Herren Verfasser bis zum Kern der Erscheinungen vorzudringen vermochte. Sie sahen alle dasselbe, sahen die tanzenden Lichter der Oberfläche und ahnten nicht, daß sich darunter die größten Probleme verbergen. Das Buch von Monte Carlo ist noch nicht geschrieben worden, oder vielmehr, es existiert zwar als der Komplex der dort versammelten Tatsachen, ist aber in dieser Form vorläufig ein Buch mit sieben Siegeln. Ich werde versuchen, einige davon aufzulockern, und man wird erkennen, daß sich eine Welt aus ihm herauslesen läßt. Es ist im Grunde ein wissenschaftliches Epos, abgefaßt in Runen, deren Text nur einem geschärften Verstande aufgeht, nicht aber dem spielerischen Sinn des Feuilletonisten und Romanschreibers.

Diese noch ungeschriebene Schrift gehört in die größere Bücherei der Natur, von der Galilei gesagt hat, daß sie in mathematischen Figuren und Zeichen abgefaßt ist. In dem Bande »Monte Carlo« stoßen wir auf kombinatorische Zeichen, die in ihrer Gesamtheit geradezu kosmische Bedeutung beanspruchen.

Der Beweis hierfür wird dadurch erschwert, daß man sich vorerst durch ein Gestrüpp von Anschauungen hindurchzuwinden hat, deren redensartliche Wucherung alle Aussicht versperrt. Für den Herrn Jedermann ist das Terrain eine privilegierte Lasterstätte, ein vergnüglicher Exzeß der Unmoral, die Verwirklichung eines Wüstlingstraumes wie auf Makarts Pest von Florenz, voll reizender Pikanterie, aber im Wesen doch eine Pest mit allen Schwären einer Lustseuche. Und jedermann hat die Argumente der Kapuzinerpredigt am Schnürchen: ein paradiesischer Blumenteppich, unter dem die Schlange der Versuchung züngelt; ihr Stich infiziert die Menschen mit der verzehrenden Brunst nach gleißendem Golde, wie von einem Opiumrausch umnebelt stürzen sie sich in das Herdfeuer der Lasterhöhle, um ihre Habe, Würde, Persönlichkeit aufzuopfern, um ihren Wohlstand und das Erbe ihrer Kinder einem Moloch in den Rachen zu werfen.

Die Litanei gründet also das Wesen des Lasters darauf, daß die Verderbten schnurstracks gegen ihr eigenes Interesse wüten; wonach wiederum die Tugend auf möglichste Wahrung des Vorteils abzielen müßte. Eine sonderliche Ethik, die sich zur Sittenlehre Kants in schärfsten Widerspruch setzt. Denn wenn jene Kapuzinade Recht behielte, dann wäre die Bank der Inbegriff aller Tugend, insofern sie nicht einen Augenblick ihren Vorteil vergißt. Sie verfolgt mit logischer Beharrlichkeit das Interesse ihrer Kasse, ihrer Aktionäre und des ganzen Gemeinwesens. Sie schafft einen Staat, in dem Armut und Fron unbekannt sind, einen Idealstaat ohne Steuerdruck, ohne Wehr- und Blutpflicht, und sie umsäumt ihn mit allen Wundern der tropischen Pflanzennatur. Hier stehen Zweck und Mittel auf gleicher Höhe, denn wer dürfte ein Institut bemakeln, das dem Laster seine Finanzquellen abzapft? Eher verdiente es einen Ehrenkranz wie der Heilige Crispinus, unter dessen Händen der Raub zur Tugend wurde.

Zu den großen Suggestionen, die in der Welt grassieren, gehört die Vorstellung, das Hasard sei ein Übel, das unter allen Umständen bekämpft werden muß . . . Und der nämliche Staat, dessen Gesetzgeber Strafparagraphen zur Ausrottung des Hasards schmieden, wirtschaftet mit Lotterieen und Prämienanleihen, er organisiert Wettrennen, deren Totalisatoren für neun Zehntel des Publikums nichts anderes sind als Glücksmaschinen, er beteiligt sich als Steuererheber an den Gewinnsten der Geschäftsspieler, die gar nicht erst ein Kasino zu besuchen brauchen, um zu hasardieren. Der große Kulturstaat übt die Praktiken von Monaco, ohne sich ehrlich zu ihnen zu bekennen. Er wahrt das Gesicht mit der Verordnung, daß jedes gegen die »guten Sitten« verstoßende Rechtsgeschäft ungültig sein soll. Aber er selbst verlangt, daß Wucherer wie Hure ihre Douceurs als Einkommen aus gewinnbringender Beschäftigung richtig erkläre und dem Fiskus verzinse, – natürlich zum Besten der Allgemeinheit, also unter derselben Formel, die auch in Monte Carlo regiert. Er verbrämt sich mit dem Catonischen Mantel und läßt tugendboldig in die Manteltasche die Beträge gleiten, die er als contra bonos mores erflossen verfemt.

Voltaire hat gesagt: »Sa sacré Majesté le hasard décide de tout«, und er stand damit im Begriff, alle wohlgefügte Kausalität über den Haufen zu rennen. Die Schulphilosophie bemüht sich noch immer, den Zufall der Notwendigkeit unterzuordnen, allein die vorgeschrittensten Forscher der exakten Wissenschaften sind heute tatsächlich dabei, die Kausalitätstafel zu zerbrechen, die gesetzliche Notwendigkeit als Herrscherin im Weltgeschehen abzusetzen und den Zufall oder ein ihm verwandtes unergründliches Prinzip zu inthronisieren. Die Frage, ob sa Majesté le hasard von Gottes oder von Teufels Gnaden ist, kommt hier nicht in Betracht; genug daß alles, was uns in unserem Wahrnehmungskreise als Plan, Absicht, Strebung, Erfolg und Mißerfolg erscheint, letzten Endes von einer Summe von Zufällen abhängt, deren Verwickelung bis in die Unendlichkeit reicht, und aus der keine Menschenweisheit jemals ein begreifliches Gesetz herauslesen wird. Woraus auch ersichtlich, daß alle Weltgeschichte bei ungeheurem Reichtum an Material bettelarm an Erkenntnissen bleiben muß. Die Spieltafel einer Roulette bietet nur einen besonderen, relativ übersichtlichen und darum instruktiven Fall in verkleinertem Abbilde der großen Geschehnisse. Hier hängt das Geschick des einzelnen Teilnehmers nur an dem Lauf einer einzigen Kugel, die das Auge verfolgen kann, während da draußen als Bestimmer der Erlebnisse Myriaden von Roulettekugeln umhersausen, atomklein oder ganz substanzlos, ohne daß man irgend eine zu sehen bekommt. Spielst du an der Nummerntafel, so wirst du auf Zeit in ein ganz verengtes Tatsachenfeld gestellt, das aber trotz oder wegen seiner Engnis eine hochgradige Klarheit gewährt. Der Zufall tritt dir hier mit offenem Visier gegenüber, bemäntelt sich nicht mit einer Draperie trügerischer Notwendigkeiten. Du bestehst mit ihm einen ehrlichen Zweikampf, wie Mann gegen Mann, aber er zielt nicht gegen dich aus zahllosen Rohren hinter meilenfernen Nebeln. Wenn du auf eine Nummer setzt, so weißt du nach dem Fall der Kugel wenigstens in der Sekunde genau, ob du dich zu freuen oder zu ärgern hast, und selbst im Verdruß verspürst du noch den Kitzel des Amüsements. Während du in der Außenwelt, auch ohne bewußt zu spielen, an allen erdenklichen Hasardspielen beteiligt bist, die dich gar nichts angehen, und deren Ergebnisse dich in der Regel zur ungelegensten Zeit überfallen. Die Hand des Croupiers unterliegt Innervationen, die du nicht analysieren kannst, aber es ist doch nur einer, seine Kugel wird sich bestimmt in der beschränkten Anzahl der 37 Fächer ihren Platz aussuchen. Aber als Weltbürger hängst du an einer Legion von Croupiers, an einem Gewimmel von Kugeln, denen Millionen von Fächern offenstehen, und in diesem Zufallsgetriebe stehst du allein als Objekt der Notwendigkeit: du wirst gezwungen mitzuspielen, ohne die leiseste Kenntnis einer Spielregel, mit Einsätzen ohne Limitum, und man zieht dir die Werte aus der Tasche, ohne daß du dich erinnern kannst, pointiert zu haben. Alles in allem: in dem ungeheuren Gebiet, das seine Majestät der Zufall beherrscht, ist der Spielsaal mit einer stets solventen Bank die einzige Provinz, die mit leidlicher Ordnung, Aufrichtigkeit und Solidität verwaltet wird.

Im weiteren Bezirk des Fürstentums – wenn man den Ausdruck der Weite überhaupt für dieses Duodezgebilde anwenden darf – war natürlich von Solidität, bürgerlich genommen, nicht viel zu bemerken. Man suchte sie nicht, man fand sie nicht, dafür aber ein anderes Moment, das zum Vergleich mit der gegenwärtigen Weltgestaltung sehr stark herausfordert. Das Monte Carlo der Vorkriegszeit war in wesentlicher Hinsicht ein zeitlich voranlaufendes Paradigma der Zukunft, die uns alle in Empfang nehmen sollte, allerdings ein Paradigma mit entgegengesetztem Vorzeichen. Geldentwertung und Sachteuerung gaben dem Leben das Gepräge, und wenn man nur Preise an Preisen messen wollte, so könnte man für manche Phantasieziffern von 1922 die Gegenstücke aus dem Monaco des vorigen Jahrhunderts nennen.

Aber damals waren die Preisanomalien nicht durch die Papierflut herangeschwemmt worden, sondern durch den immensen Goldstrom, der das Ländchen überspülte, und die Schraube ohne Ende war kein Ausdruck der Not, sondern des Überflusses. Galt doch als Währungseinheit in den Luxusstätten die sogenannte »Plaque«, das einzige geprägte Zeichen der dortigen Münzsouveränität, die legendäre Scheibe von hundert Goldfranken, und auch die Plaques verrieselten den Genießern rapid zwischen den Fingern. Zwischen Nachfrage und Angebot drängte sich ein üppiger Verteuerungsfaktor, der nicht wie der uns bekannte unselige Index eine Bedrohung ansagte, sondern als Lustbeförderer auftrat. Überall spürte man die Emanation der grünen Tische, und wie der Gast des Lucullus in den gekochten Nachtigallenzungen die Melodie der Singvögel schmeckte, so wollte man hier bei schlemmerischen Mahlzeiten das Rauschen des Goldes mit der Zunge schlürfen. Es war etwas Allegorisches dabei, und mythologische Fäden aus den Fabeln von Midas, Danae, Sesam, Ophir verspannen sich in dieses mondäne Getriebe, das vor allen Lebensgebilden Europas eine besondere, sehr frivole, aber höchst glänzende Note voraus hatte. Das Geld spielte eine ganz andere Rolle als sonstwo, im Begehren und Hinwerfen; es bildete die metallene Achse alles Wollens und verflog zugleich wie Spreu im Winde, es verbreitete um sich den Schimmer eines goldenen Zeitalters, worin Lieblichkeit und Verruchtheit zusammenflossen. Wer den Reiz der Polyphonie im Menschenkonzert zu schätzen weiß, der hätte den monegassischen Sonderklang nicht missen mögen; der Satan hatte ihn instrumentiert mit prickelnder Technik, aber sein lasterhaftes Scherzo klang doch genialer als viele Tugendchoräle der bürgerlichen Welt.

Es wäre zu fragen, wie eine Person meines Formates dort zu existieren vermochte; denn mir klimperte es nicht in der Tasche, ich habe die »Plaque« immer nur mit den Blicken gehätschelt, nie eine besessen, und von den spendablen Launen der Spielmaschine hatte ich nichts zu erwarten. Aber die Bank ist tolerant; sie verhält sich nicht liebedienerisch gegen die Nabobs, sie heißt ebenso denjenigen willkommen, der auch nur ein Fünffrankstück zu riskieren vermag. Ihr nivellierender Geist durchdringt die ganze Ortschaft und schafft eine Wohlfahrtsfürsorge, die auch dem wirtschaftlich Schwachen eine erträgliche Unterkunft sichert. In der Talmulde zwischen den Felsen, Condamine genannt, gibt es Herbergen, die den Gast für einen Bruchteil des Betrags vollständig verpflegen, den man in den vornehmen Hotels dem in ministerieller Haltung einherschreitenden Oberkellner als Trinkgeld anbieten dürfte. Und in einem solchen Häuschen flogen mir die ersten Notizen zu über die Geheimnisse des Hasard, dessen Bedeutung weit hinausragt über den Umkreis des gierigen Treibens an Ort und Stelle bis zu den mysteriösen Pforten einer noch unerforschten Wissenschaft.

Die Condamine verhielt sich zum eigentlichen Monte Carlo in sozialer Lebenshaltung etwa wie eine Laubenkolonie zum Kurfürstendamm. In meiner kleinen Hotelpension verlief manches nach patriarchalischem Zuschnitt, bei den Mahlzeiten gab es viel Knoblauch und wenig Umstände. An der gemeinsamen Tafel führte ein langer Russe das große Wort, anscheinend ein ausrangierter, verkrachter General, der sich hier durch langjährigen Aufenthalt präsidiale Rechte erworben hatte. Er orakelte und spektakelte unausgesetzt in einem mit slawischen Härten durchsetzten französischen Jargon und gefiel sich in der Rolle einer lebendigen Chronik. Die »dürre Exzellenz« – so nannten wir ihn – kannte die Fremdenliste auswendig, verstand sich auf die chronique scandaleuse der auffallenden, Persönlichkeiten und wußte den Spielern wie der Bank eine Fülle von Besonderheiten nachzurechnen. In seinen endlosen, energisch herausgeschleuderten Sätzen dominierte die Zahl, er schwelgte in der Manie, seine Hörer in ein Gewebe unentwirrbarer Ziffern einzuwickeln. Das gehörte zur Hausordnung, die Konversation riß nie ab, wenn wir andern auch zumeist Statisterie bildeten, die zum Gespräch staunende Zwischenrufe beisteuerten.

Die dürre Exzellenz verfuhr sprunghaft-konfus, fand aber in allen Quersprüngen feste Haltepunkte in Ziffern und Größenangaben.

Begann er mit der berühmten Kokotte X., so war er im selben Atem bei ihrem Diamant- und Rubinschmuck, deren Wert er wie ein geprüfter Taxator bis auf Karat und Franken aufzuzählen wußte. Ihr Freund, der Vicomte von Y. – so erfuhren wir im Moment – ist Erbe eines Gutes in der Touraine von soundsoviel Hektar Wiesen-, Wald- und Rebenbestand; er dividierte die Weinernte des Gutes in die des Departements, um sofort festzustellen, daß die ganze Touraine eine Bagatelle sei nach russischem Maß beurteilt; denn das eine Gubernium Witebsk sei siebeneinhalbmal so groß, und das Gebiet Jakutsk könne ganz Frankreich achtmal einschlucken. Übrigens habe jener Vicomte gestern die Bank zu sprengen versucht, aber mit sehr negativem Erfolge, denn er hätte sich auf Intermittenzen festgeritten, während der betreffende Spieltisch fast nur Serien produzierte; der Spaß sei dem pechösen Joueur auf 162 500 Franken zu stehen gekommen, und er habe heute beim Credit Lyonais sein letztes Depot abgehoben.

Es gelang mir an diesem Tage, in den Redeschwall der dürren Exzellenz mit einigen Gegenbemerkungen einzubrechen.

»Sie verfügen doch über so detaillierte Fachkenntnisse,« sagte ich, »und werden mir vielleicht über einen bestimmten Punkt Auskunft geben können. Ihr Vicomte interessiert mich persönlich nur sehr wenig, wohl aber der Umstand, daß er auf eine Reihe von Serien stieß. Sagen Sie doch, General, halten Sie das Auftreten einer solchen Reihe für eine Anomalie?« »Selbstverständlich!« meinte der Kenner, und in seinem Gesichte malte sich die Kritik: welche Borniertheit, so etwas zu fragen! Er ergänzte: »Ich spiele hier seit zweiundzwanzig Jahren und habe viele Tabellen im Kopfe. Allein der hundertste Teil meiner Praxis müßte ausreichen, um Ihre nicht sehr originelle Interpellation zu erledigen. Jeder, der in die Blanc'schen Säle auch nur hineingerochen hat, wird Ihnen bestätigen: die gehäufte und die lange Farbenserie sind Seltenheiten.«

»Und ich werde trotzdem den Verdacht nicht los, daß die gesamte Praxis aller Spieler in Irrgänge ausläuft, besser gesagt: irrig gedeutet wird. Ist aber dieser Verdacht begründet, so müßten sich unabsehbare Folgerungen daraus ergeben.«

Der Russe war gar nicht imstande, den eigentlichen Sinn der Frage zu erfassen. Und ich selbst fühlte mich damals noch zu sehr als Neuling, um gegen die dogmatisch verhärtete Allerweltsmeinung mit Erfolg anzurennen. Ich wurde vielmehr überrannt durch eine Phalanx von Zahlen, die aus vieljähriger Erfahrung stammten. Wenn ich heute, nach Dezennien, dazu übergehe, einige dieser Erfahrungen zu zergliedern und das Spielerdogma zu entlarven, so wird man erkennen, daß Glücksspiel und Philosophie nur durch eine fließende Grenze voneinander geschieden werden.

Ich scheue den Umweg nicht, denn mein Buch beschreibt nicht Lebenszufälle, damit eine Geschichtsklitterung entstehe, sondern es will aus Erlebtem Einsichten entwickeln. Das Erlebnis, hier auf Monte Carlo bezogen, bietet des Überraschenden schon genug. Allein die Theorie hat daran noch nicht teilgenommen; sie begnügt sich mit den dürren Formeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich werde versuchen, auch im Theoretischen die Überraschung aufzuzeigen. Die nachfolgenden Betrachtungen gründen sich auf Lektionen, die mir der Spieldämon als Magister der Universität Monte Carlo erteilt hat.

Beginnen wir mit einem alltäglichen Vorgang, bei dem ich die einfachsten Elemente des Spiels als bekannt voraussetze. Die Chancen Rouge und Noir, Pair und Impair (gerade und ungrade Zahlen), Manque und Passe (die Zahlen 1 bis 18 und 19 bis 36) sind von Natur aus völlig gleichwertig, und man empfindet es als durchaus natürlich, wenn sie einander in der Reihenfolge ihres Erscheinens mit einer gewissen Regelmäßigkeit ablösen. Ebenso müßte man meinen, daß die Erwartung des Spielers genau so frei und beweglich wäre wie das Spiel aller vorhandenen Möglichkeiten. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr hängt die Erwartung an der Summe früherer Erfahrungen, und diese Summe übt einen tyrannischen Einfluß. Es erhebt sich etwas Freiheitswidriges, Zwangläufiges, oder wie der eminente Gelehrte Poincaré es ausdrückt: alle Spieler kennen das objektive Gesetz, und trotzdem verfallen sie immer wieder in einen seltsamen, wie es scheint unausrottbaren Irrtum. Wenn zum Beispiel Rot sechsmal hintereinander auftritt, so setzen die allermeisten auf Schwarz und glauben damit dem Erfolg entgegenzukommen, weil es, wie sie behaupten, sehr selten ist, daß Rot siebenmal hintereinander herauskommt. Selbst der Serienspieler, der die Rouge-Reihe weiter verfolgt, emanzipiert sich nicht etwa vom Denkzwang; er unterscheidet sich von den Gegenspielern nur dadurch, daß der Systemzwang ihn noch stärker beherrscht als die Abwägung der unmittelbaren Chance.

Tatsächlich bleibt ihre Wahrscheinlichkeit auf Gewinn genau dieselbe, nämlich ½, das heißt, sie haben unter den bevorstehenden gleichwertigen Möglichkeiten mit einem günstigen und einem ungünstigen Fall zu rechnen. Denn die Beobachtung beweist zwar, daß die Serien von siebenmal Rot hintereinander sehr selten sind, aber:

die Serien von sechsmal Rot hintereinander, worauf dann Schwarz folgt, sind ebenso selten!!

Noch allgemeiner gesagt: jede beliebige vorausgefaßte Farbenfolge, Chancenfolge überhaupt, ist genau so selten, genau so häufig, wie jede andere vorweg bezeichnete Folge, mag sie die Form einer Serie zeigen oder nicht. Wie entsteht die Täuschung hierüber? Die Spieler haben die Seltenheit von siebenmal Rot in lückenloser Folge bemerkt, und das hat sich ihnen als klares, übersichtliches Bild eingeprägt. Aber sie haben nicht die Seltenheit der Reihen von sechsmal Rot mit drauf folgendem Schwarz bemerkt, weil derartige Erscheinungen in weit geringerem Grade die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

Diese Behauptungen klingen sehr auffällig und werden bei vielen Spielern auf starken Unglauben stoßen. Das instinktive Chancengefühl will sich hier durchaus von der Augenblicksrechnung losmachen, und der auf lückenhafte Erfahrung gestützte Instinkt beharrt eben dabei, daß die Farbserie zu 6 weit häufiger auftreten muß als die zu 7.

Ich habe die Probe auf das Exempel angestellt auf Grund einer ziemlich umfangreichen Tabelle, die mir die tatsächlichen Ergebnisse von Monte Carlo mitteilte. Sie erschien damals als halböffentliche Anzeige der sogenannten »Permanences« und bot zugleich das Mittel, um den Sinn oder Unsinn der »Systeme« ohne Kostenaufwand zu überprüfen. Für die zukünftige Wahrscheinlichkeitsrechnung, die anders aussehen wird als der Klippschulkalkül von heute, bilden diese Tabellen eine wertvolle urkundliche Unterlage.

Ich verfuhr nach einer vereinfachten statistischen Methode und wählte, um möglichst viel Betrachtungsglieder zu erlangen, statt der Serien von 6 und 7 solche zu 3 und 4. Da ergab sich, daß die Serie 3 mal Rouge mit folgendem Noir doch häufiger erscheint als das 4 malige Rouge, und zwar mit einem Übergewicht von etwa 30 Prozent. Die Wirklichkeit schien also zwischen dem Irrglauben der Spielerhorde und der strengen mathematischen Einsicht noch einen Durchschlupf zu finden. Freilich kann meine Statistik, da sie nur ein Wochenpensum umfaßte, nicht als erschöpfend gelten; es bleibt sonach die Möglichkeit bestehen, daß eine Prüfung über sehr lange Zeiträume hinweg jene Regel der Gleichhäufigkeit praktisch beweisen könnte. Und dann hätte man Grund zu einer Verblüffung, die sich noch gewaltig steigern müßte, sobald man die längeren Serien ins Auge faßt.

Bei den Überraschungsserien nämlich, die an den Spieltischen die großen Sensationen liefern, bei den Ungeheuerlichkeiten der Chroniken und Spielerromane fällt die Erfahrung aus einem Widerspruch in den anderen. Stellt man sich auf den Boden meiner vorigen Betrachtung, so muß man doch annehmen, daß eine Farbserie überhaupt niemals abzureißen braucht, daß sie sich bis ins Unendliche verlängern könnte; weil sie ja nach dem Prinzip der Gleichhäufigkeit in jedem Punkte ihrer Entwickelung von ihren eigenen bereits ausgespielten Gliedern gar keine Notiz nimmt. Worauf gründet sich also die Sensation? Warum wird die sehr lange Serie wie ein Wunder angestaunt? Aus den Spielannalen wissen wir, daß die längste jemals beobachtete Farbserie – in Rot – 32 Glieder enthielt. Hätte man bei Begründung der Bank von Monte Carlo gefragt: »Wie lange werden wir spielen müssen, um solche 32-Serie zu erleben?« so wäre die Antwort nicht zweifelhaft gewesen. Denn man hat die ausreichenden Unterlagen zur Hand: die Spielbank, 1859 unter dem Pächter Blanc konstituiert, ist seit 1865 statistisch übersehbar; sie operiert mit 14 bis 16 Roulettetafeln, an denen täglich je 350 bis 500 Spiele absolviert werden; hier hätte die übliche Wahrscheinlichkeitsrechnung ursprünglich angesagt: man muß annähernd vier Milliarden Einzelspiele erledigen, und wir werden rund 8000 Jahre zu spielen haben, ehe eine 32-Serie erwartet werden darf; was ja, bürgerlich verstanden, nur eine Umschreibung für »niemals!« gewesen wäre. Aber die Wirklichkeit hat diese Berechnung über den Haufen gerannt, denn die 32-Farbserie erschien zum erstenmal schon nach fünfundzwanzig Jahren, und ich selbst war dort anwesend, als sie die Gemüter erhitzte.

Wobei noch folgendes zu erwägen: das Jeu im Kasino wird abends mit dem elften Glockenschlag abgebrochen. Beginnt nun kurz vor 11 Uhr eine Rouge-Serie, die sich am nächsten Vormittag am nämlichen Tisch fortsetzt, so bleiben diese beiden Folgen, obschon sie als Begebenheiten eng zusammenhängen, gänzlich außer aller rechnerischer Verbindung, weil der Tagesrapport willkürlich und falsch mit dem neuen Tage ein frisches Konto eröffnet und die zusammenhängende Serie zerreißt. Ebenso wäre jeder Spieler, der mitten in einer Rouge-Serie den Tisch wechselt und an einer anderen Tafel fortsetzend die Verlängerung seiner Serie erlebt, subjektiv berechtigt, beide Ereignisse zusammenzufassen, mithin gelegentlich lange Serien zu konstatieren, die in den Annalen gar nicht zu finden sind. Es wäre also sehr wohl denkbar, daß sich die zuvor erwähnten 25 Jahre noch weiter verkürzten, wenn man imstande wäre, vom Standpunkt des einzelnen Spielers aus allen Farbereignissen auf die Spur zu kommen. Jedenfalls öffnet sich hier zwischen der Wirklichkeit und der Erwartung des Äonenwertes von 8000 Jahren eine ungeheure Kluft.

Noch Erstaunlicheres ergibt sich bei Aufeinanderfolgen ein und derselben Nummer. Bevor eine bestimmte Roulettenummer dreimal ohne Pause herauskommt, wären regulär rund 50 000 Spiele abzuwarten, und der jeweilige Spieler hätte sich, um ein solches Resultat zu erzwingen, mit äußerster Geduld zu waffnen. Allein die Praxis erleichtert ihm sehr oft, bis zur Alltäglichkeit oft, dieses Verfahren. In meiner Sünden Maienblüte sah ich zu Baden-Baden in der Ära Dupressoir einen Hasardeur, der die Nummer 14 mit sämtlichen zulässigen Maximalsätzen forcierte, und dem dieses im Erfolg höchst beneidenswerte Kunststück beim ersten Anlauf glückte. Nach dem dritten Coup schnappte der Mann, um seinen immensen Raub in Sicherheit zu bringen, während Fortuna wie zum Hohn die 14 noch weitere zwei Male, im ganzen mit einer Serie von 5 produzierte. Allein vollends über das bloß Erstaunliche hinaus bis an die Grenze der Unmöglichkeit führt ein Mirakel von Monte Carlo, wo im Jahre 1898 die Roulettenummer 33 siebenmal aufeinander zum Vorschein kam. Die Wahrscheinlichkeit lehnt sich dagegen auf mit der Proportion von 1 zu 100 Milliarden, und nach menschlicher Vorausberechnung hätte dieses Ereignis bis in alle von den fernsten Enkeln erlebbare Ewigkeit nicht eintreten dürfen. Schon gegen die 6-Serie einer Vollnummer erhebt sich die Wahrscheinlichkeit mit milliardenfachem Widerstand; was nicht hindert, daß diese Sechslinge in Monte Carlo wiederholt auftreten; rechnungsmäßig sind sie mit dem Index »niemals« behaftet, und doch kommen sie vor, wenn auch als sensationelle Seltenheiten.

Mit einem Seitenstück melden sich die Klassenlotterien. Kann es sich ereignen, daß der Haupttreffer auf die Schlußprämie fällt? Die Rechnung besagt: wenn jemand eine Nummer fünf Milliarden Jahre durchspielt, so kann ihm voraussichtlich dieses Doppelglück blühen. Dieser jemand soll also noch geboren werden, – so hätte die mathematisch geschulte Vernunft anzusagen; er ist schon geboren worden, – so erzählt die Chronik. Das Ereignis ist tatsächlich schon eingetreten, wenn auch nicht bei uns in Preußen, so doch nahebei: einmal in Ungarn (1912) und einmal in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Hamburger Staatslotterie. In der Wirklichkeit steckt sonach ein okkulter, hasardfreundlicher Faktor, der die Wartezeiten ungeheuerlich abkürzt und die Ereignisse rapid beschleunigt. Ich setze den Ausdruck »okkult« mit allem Bedacht, ungeachtet möglicher Mißdeutung. Auch die Fernkraft der Gravitation war einmal okkult, hat sich weiterhin zum Range einer Evidenz erhoben und versinkt allmählich wieder ins geisternde Dunkel. Und die gesamte jüngstphysikalische Wissenschaft zeigt die Tendenz, Bestandteile in sich aufzunehmen, die noch vor einem Jahrzehnt als verdächtig-okkult gegolten hätten.

Die Natur kümmert sich nicht im geringsten um errechnete Zeitschwierigkeiten; fast durchweg tritt sie mit Überrumpelungen auf, mit grotesker Häufung der Unwahrscheinlichkeit, als ob sie es darauf anlegte, die Menschen zum Hasard zu verlocken.

*

Läßt sich das Hasardspiel überhaupt definieren? Die Justiz hat es versucht, ohne jemals zu einer einheitlichen Auslegung zu gelangen. Man hilft sich also entweder mit der lückenhaften Definition: Hasard ist – außer Roulette, Würfel-, Münzwurf usw. – jedes Kartenspiel, bei dem kein Atout gemacht wird, oder man bezeichnet die Spiele von Fall zu Fall. Danach fallen in die Hasardrubrik: Trente et Quarante, Baccarat, Tempeln, Kümmelblatt, Vingt et un, Kartenlotto, Poker usw., während Ecarté und viele andere Trumpfspiele nicht als eigentliche Glücksspiele angesehen werden dürfen.

Aber diese Einteilungen sind von der Verlegenheit eingegeben und haben vor einer eindringlichen Betrachtung keinen Bestand. Ich habe mich länger als mir dienlich war in Klubräumen aufgehalten und mir dort von ausgesprochenen Kennern sagen lassen, daß beim Ecarté die vom Zufall gelieferte Kartengüte zu neun Zehntel, die Spielintelligenz nur zu einem Zehntel entscheidet. Spielen zwei Stümper gegeneinander, so findet der Zufall obendrein in den 10 Prozent der Intelligenz noch ein weiteres Feld der Betätigung. Wogegen sich bei zwei Meistern die 90 Prozent der Kartengüte im Lauf längerer Zeit gegenseitig kompensieren und die reine Intelligenz den Ausschlag gibt. Bei diesen wird sonach das Spiel beinahe zu einer Verstandesprobe, wie etwa das Schach. Gerät vollends ein Stümper an einen Meister, so verflüchtigt sich das Hasard vollständig, und der Pfuscher ist bei längerer Spieldauer unbedingt geliefert. Es hat also keinen rechten Sinn, ein derartiges Spiel nach Hasard oder Nicht-Hasard zu definieren, da es ja nach der Qualität der Teilnehmer so oder so erscheinen kann. Ist doch sogar ein anscheinend absoluter Verstandeskampf wie das Schach nicht ganz befreit von Zufallsmomenten, die sich in der jeweiligen Disposition, in der Abhängigkeit von klimatischen Bedingungen ausdrücken; bei aller Festigkeit der Spielregeln bleibt die Geistesschärfe der Kämpfer gewissen Äußerlichkeiten unterworfen, die in ein unkontrollierbares von Gunst und Tücke des Fatums beeinflußtes Gebiet fallen. –

Auf einem Seitenpfad der einschlägigen Probleme finden wir ein sittliches Merkzeichen aufgerichtet. Es gab und gibt wohl keinen Monacogast, der die unbedingte Ehrlichkeit der Bank jemals bezweifelt hätte. Konstruieren wir indeß einmal einen abenteuerlichen Fall: sämtliche Spieler an einer Tafel versteifen sich mit hohen Beträgen auf Rouge–Pair–Manque und verlieren eine halbe Stunde lang unausgesetzt, da konsequent Noir–Impair–Passe herauskommt. Dann würde das Erstaunen unausbleiblich in Entrüstung umschlagen, und bei der Mehrzahl hieße es gewiß: das geht nicht mit richtigen Dingen zu; obschon der Fall an sich gar nicht besonders phantastisch ausgeheckt erscheint, nur als höchst schmerzhaft für die Korona. Dieser Schmerz würde die Erwartung in die Bahn eines Verdachts lenken.

Der Fall läßt sich aus der Komplikation herausheben und so isolieren, daß er einer Berechnung zugänglich wird. Man hat alsdann Veranlassung, den Chancenkalkül umzukehren, das heißt von einer gegebenen Wirkung aus, rückwärts, auf die Wahrscheinlichkeit der Ursache zu schließen. Beim Ecarté zum Beispiel handelt es sich darum, fünf Points anzulegen, um das Spiel zu gewinnen; und diese Points hängen von verschiedenen Bedingungen ab, u. a. davon, daß der Kartengeber den König umdreht (tourniert). Da 4 mal 8 Karten vorhanden sind, so ist die jedesmalige Wahrscheinlichkeit hierfür gleich ⅛. Hieran knüpfen sich sehr seltsame, aber im Zuge der Vorausberechnung und des Rückblicks unausweichliche Fragen:

Ich spiele mit einem mir bis vor wenigen Minuten unbekannten Gegner und gerate an die Tatsache, daß dieser Herr zehnmal hintereinander den König tourniert. Darf da in mir ein Verdacht aufsteigen? Und weiter: welche Wahrscheinlichkeit spricht für diese peinliche Vermutung? Die Rechnung ergibt einen sehr hohen Betrag: es ist allerdings höchst wahrscheinlich, daß der Herr mich begaunert.

Aber schon beim ersten Kartengeben wäre der Verdacht mathematisch gerechtfertigt gewesen. Denn bereits beim allerersten Tournieren des Königs müßte die nämliche Ursachenerwägung zu der Folgerung führen: dieser Herr ist mit der Wahrscheinlichkeit 8 : 9 ein Falschspieler. Acht Vermutungen sprechen für seine Schuftigkeit gegen nur eine Vermutung, er könne möglicherweise ein anständiger Kerl sein.

Und gegen solche Folgerung empören wir uns mit Recht. Wir spüren einen Riß in der Chancenrechnung, und die Ursache dieses Risses ist nicht schwer zu entdecken. Sie wurzelt in der gleichmacherischen Tendenz aller Wahrscheinlichkeitsformeln, welche von Grund auf darauf angewiesen sind, die Wirklichkeit zu fälschen; welche rücksichtslos alle Gefühlswahrnehmung und gesellschaftliche Erfahrung verleugnend einen Spielsaal, ein Kaffeehaus und eine Verbrecherspelunke über denselben Kamm schert. Hier basiert nämlich die Formel auf der Voraussetzung, es wäre mir im Grunde recht egal, mit was für Leuten ich verkehrte, und ich engagierte mich zum Spiel, ohne mir vorher irgendwelche Ansicht von der Honorigkeit meiner Partner gebildet zu haben. Das ist eine stupide Hypothese, denn die selbstverständliche Voraussetzung für das Spiel überhaupt ist mein guter Glaube. Selbst wenn der Herr den König zehnmal tournierte, würde ich mich eher zu dem Ausruf entschließen: »Donnerwetter, was für ein Dusel!« als zu der Vermutung, er beschummle. In jener Folgerung steckt mithin, auf meine subjektive Überzeugung bezogen, eine Absurdität, – freilich nur eine relative, keine absolute. Denn wenn mein Gegner gar zum 15. oder zum 20. Male den König umdrehte, so flöge meine Überzeugung trotz alledem unter den Tisch; die Formel griffe nach mir mit allen Krallen, um mir die Gewißheit einzuhämmern: hier wird betrogen!

Wo ist die Grenze zu setzen? Nirgends! Alle Wahrscheinlichkeit arbeitet in der Tiefe mit versteckten, undurchsichtigen Elementen, und niemals läßt sich präzis der Punkt bestimmen, an dem sich der Zweifel zur Gewißheit befestigt. Napoleons Wort »le calcul vainquera le hasard« unterliegt, und Voltaires Gegenruf behält Recht. Wenn wir von einem Naturprinzip sprechen, von einem »Gesetz der großen Zahl«, so unterliegen wir einer Täuschung. Und gerade das Chancenspiel kann uns darüber aufklären, daß es auch im wissenschaftlichen Gesetz fließende Grenzen gibt. Die absolute Gültigkeit liegt jenseits, und nur die Illusion fliegt hinüber. Die Abenteuer des Kartentisches, der Roulettetafel, der Lotterie wiederholen sich in der Wissenschaft, die Wahrscheinlichkeit auf Wahrscheinlichkeit türmt, um solche hypothetischen Turmbauten schließlich als »Gesetz« zu proklamieren.

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Ein bis ins Extrem scharfsichtiger, mit höchster Kombinatorik ausgerüsteter Spieler müßte in allem Zufall die Notwendigkeit herauswittern, und bis zu einem gewissen, allerdings bescheidenen Grade ist dies auch in Einzelfällen an der Roulette gelungen. Jedes arithmetische System läuft sich über kurz oder lang tot, dagegen gibt es ein physiologisches System, das eine kleine Aussicht ermöglicht über den blanken Zufall hinweg; und den gerissensten Stammgästen von Monte Carlo ist diese Physiologie nicht fremd. Diese Matadore existieren nur in den Hasardtempeln mit vieljähriger Tradition, können also nur in Monte Carlo angetroffen werden und sie neigen keinesfalls zu Vertraulichkeiten. Indes machten mir einige Hasardathleten, die in meinen Gesichtskreis traten, gewisse Andeutungen, aus denen sich ein methodischer Kern herausschälen ließ: In fast allen Croupiers nämlich bildet sich ein Zwangslauf der Bewegungen, eine nachweisbare Coordination, und dieser Automatismus steigert sich besonders bei älteren Individuen und überhaupt mit längerem ununterbrochenem Dienst an der nämlichen Maschine. Denn von sovielen unberechenbaren Faktoren auch der Kugellauf abhängt, so stark auch jedes maschinelle Minimum auf ein Maximum des Nummernunterschiedes hinwirkt, so wenig darf verkannt werden, daß bei nahezu gleicher Anfangsstellung und Anfangsgeschwindigkeit die Kugel gewissen uniformierenden Einflüssen unterliegt. Und hierin macht sich der Automatismus des Croupiers tatsächlich bemerkbar. Seine Handgriffe beim Ergreifen des Hebels, beim Impuls zur Rotierung, beim Ergreifen und Abschnellen der Kugel egalisieren sich derart, daß man vor einem neuen Coup nicht mehr behaupten kann: alle 37 Nummern der Tafel besitzen absolut dieselbe Wahrscheinlichkeit des Herauskommens. Die nächstfolgende Nummer ist vielmehr funktionell mit ihrer Vorgängerin verbunden. Und wer diese immer noch recht verwickelte Funktion ergründet, überschaut und ausnützt, der wird einen merklichen Chancenvorteil erzielen und sich um einen Grad über das bedingungslose, blinde Hasard erheben.

Er darf natürlich nicht am Nummerntableau hängen bleiben, sondern wird seinen Scharfblick auf die Maschine selbst konzentrieren müssen, in deren Zylinder die Nummern ja ganz anders angeordnet sind wie auf der Tafel. Denn während hier die natürliche Zahlenreihe auftritt, bietet sich im Zylinder die scheinbar regellose, aber sinnreich erdachte Folge: Zéro, 32, 16, 19, 4, 21, 2 usw., die das Gedächtnis des Spielers nach Gruppen, das heißt nach Sektoren der Drehscheibe zu ordnen vermag. Teilt er beispielsweise 6 Sektoren ab, die ich A, B, C, D, E, F, nennen will, so kann sich folgendes begeben: der zum Automatismus neigende Croupier bringt bei der ersten Drehung die Nummer 4 (aus Sektor A), bei der zweiten Drehung die Nummer 30 (aus Sektor C); dann besteht für die dritte Drehung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den Nummernkomplex 14, 31, 9, 22, 18, 29, der zusammen das Sektorfeld E ausmacht; und ein Spieler, der dies beachtet, würde einen geringen Vorsprung über die sonstige Zahlenchance gewinnen. Man könnte die subtile Frage aufwerfen, ob es denn ganz honorig wäre, dieses Übergewicht zu fruktifizieren. Ich glaube aber nicht, daß ein Spieler sich bei solchen Gewissensbedenken aufhalten wird; er urteilt vielmehr: wenn die Bank mir gegenüber den Vorteil des Zéro im Roulette und des »Refait« im Trente et Quarante ausnützt, so bin ich berechtigt, mit einem Vorteil zu operieren, der mir durch meine scharfe Beobachtung zufließt. In vereinzelten Fällen drängt sich diese Beobachtung sogar dem ungeübten Spieler auf; ja es kommt vor, daß ein Croupier bei der Drehung eine Zahl leise vor sich hinmurmelt, und daß dann diese oder eine in der Maschine benachbarte wirklich zum Vorschein kommt.

Es entging mir nicht, daß die Monte Carlo-Bank solche Zusammenhänge mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt, und daß die Chefs de partie bisweilen korrigierend eingreifen. Sobald der Automatismus eines Croupiers erkennbar hervortritt und dem Spiel eine merkliche Richtung gibt, wird er abgelöst, zumal wenn damit eine Häufung starker Einsätze auf bestimmte Nummerngruppen parallel geht. Ohne diese Vorsorge würde sich in gewissen Fällen ein Übergewicht der Bank kaum aufrecht erhalten lassen.

Hieran wurde ich sehr viel später durch eine imponierende Persönlichkeit erinnert, die mir lange nach Abschluß meiner Südfahrten ihren Besuch in Berlin machte. Ohne den Namen zu verraten – denn hierzu wurde ich von dem Besucher nicht autorisiert – bezeichne ich ihn als eine europäische Berühmtheit im Felde der geographischen Forschung und als einen von denen, die ehedem in fernen Gebieten als Mehrer des Reiches tätig waren. Er hatte einige meiner früheren Wahrscheinlichkeitsuntersuchungen gelesen, und es lag ihm daran, sie durch einige Erfahrungsergebnisse zu ergänzen, da er im Nebenberuf durch langen Aufenthalt in Monte Carlo experimenteller Spezialist im Gebiet der Chancen geworden war; übrigens ohne Goldhunger, lediglich aus theoretischem Interesse, als ein sehr vermögender Herr, der seine Lust darin fand, dem Spieldämon in tiefsten Verließen Geheimnisse abzujagen. Und nach der Probe, die er vor mir ablegte, scheint ihm dies auch gelungen zu sein.

Er entwickelte mir ein System, das von all den küstenläufigen, mir natürlich längst bekannten und als trügerisch verworfenen Systemen grundverschieden war. Es zeigte einen psychologischen Einschlag, stellte an Fassungskraft und Gedächtnis scharfe Anforderungen und operierte mit einem zahlenbegrifflich ziemlich undurchsichtigen, okkulten Faktor, so daß ich, wie ich offen bekenne, den Ausführungen des Erfinders nur teilweise zu folgen vermochte.

Allein wir machten, wie gesagt, die Probe auf sein Exempel und zwar mit Hilfe der in meinem Besitz befindlichen »Permanences«. Ich ließ ihn auf dem Papier pointieren, also selbstverständlich ohne Geldrisiko, sozusagen in die Luft hinein, und nannte nach jedem Coup die Nummern, wie sie sich vor Jahren in wirklicher Folge an einem Tisch von Monte Carlo ergeben hatten. Jener konnte von dieser Folge nichts wissen, während ich mit der nur meinen Blicken zugänglichen Tabelle die Bank markierte.

Der Versuch wurde solange fortgesetzt, bis ein nach meinem Urteil ziemlich sicheres Resultat feststand. Auf eine gelegentliche Glückssträhne war ich vorbereitet und ich hätte dann gesagt: ein System mehr mit einem jener Zufallserfolge, wie sie auch andere Systeme streckenweis begleiten. Allein hier hatte ich doch den Eindruck des Besonderen: etwas eigentlich Systematisches, in Worten und Ziffern Angebbares, trat gar nicht zu Tage, eher ein Einfühlen in den Gang eines Mechanismus. Ich bemerkte mit Erstaunen, wie die Sätze des Mannes sich mehr und mehr den Schwankungen der Tabelle näherten, um schließlich ein offenes Übergewicht des Spielers zu verbürgen. Meine Taxe des Vorgangs gelangte an einen kritischen Punkt. Ich mußte mich zu der Annahme verstehen: in jeder Nummernfolge, wie sie eine wirkliche Roulette aufzeigt, müssen die Elemente irgendwelchen Automatismus vorhanden sein, wenn auch noch so tief versteckt; und dieser tiefgründige Analytiker an meinem Tisch besitzt die Methode, um die Zwangsläufigkeit der Bewegung auch dort noch herauszuspüren, wo Unsereiner nichts anderes wahrnimmt, als das Auf und Ab eines ganz direktionslosen Zufalls.Während der Drucklegung dieses Buches geriet ich bei weiterer Prüfung der »Permanences« an eine symmetrische, höchst auffällige, aber zahlenmäßig angebbare Periodizität von dreiteiligem Rhythmus. Der Automatismus bleibt hiernach bestehen, allein seine Auswirkung erfolgt mit einer Komplikation, die bei der obigen Sektor-Betrachtung noch nicht in Rechnung gestellt wurde. Ich erkenne hier nur den ziffernhaften, nicht aber den physiologischen Zusammenhang und finde für diese Periodizität vorläufig keine ausreichende Erklärung. Freilich auf die unausweichliche Frage: warum begnügte sich der Forscher damit, mir seine Experimente zu zeigen, anstatt die Aktiengesellschaft von Monaco um Millionen zu erleichtern? weiß ich keinen durchgreifenden Bescheid. Er selbst deutete an, daß ihm der Besitz der theoretischen Wünschelrute wertvoller wäre, als die Schätze, die man durch sie gewinnen könnte. Ihn interessierte anscheinend an erster Stelle das Problem selbst, und vielleicht gibt es noch Idealisten, denen mehr daran liegt, eine Gedankenbarriere als eine Bank zu sprengen.

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Ein Seitenstück zur Mechanisierung des Croupiers bildet der Automatismus des leblosen Körpers. Hier öffnet sich ein Gebiet, das die Analyse der Zukunft noch sehr ausgiebig beschäftigen wird. Es handelt sich tatsächlich um den Spielkörper selbst, um die Roulettekugel, um die Münze, mit der Kopf oder Schrift geworfen wird, oder um den Spielwürfel. Diese Objekte werden als Träger gewisser »Eigenschaften« vorgestellt, die in ihnen schlummern und auf den Impuls des Glücksspiels warten, um zur Sichtbarkeit zu erwachen.

Mir wurde vor einiger Zeit eine neue sehr interessante Abhandlung vorgelegt, über das sogenannte Petersburger Problem und über die Opposition d'Alemberts gegen die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich habe mich bis jetzt vergeblich bemüht, für diese Studie einen Weg in die Öffentlichkeit zu finden. Inzwischen hat der Urheber, der Berliner Forscher R. Haymont, sie noch weiter fortgebaut in Ausführungen, die ich nicht kenne. Denkbar wäre es, daß er darin den Kern dieser Probleme bloßgelegt hat.

Das »Petersburger Problem« blickt auf eine mehr als zweihundertjährige Vergangenheit zurück. Es wurde 1713 von Nicolaus Bernoulli aufgestellt und treibt sich seitdem als bösartiger Kobold im Lager der Gelehrten umher. Ich beschreibe es in Kürze als eine höchst einfache Angelegenheit, um darauf hinzudeuten: wenn solch simples Ding schon soviel Kopfzerbrechen verursacht hat, welche Ungeheuer von Schwierigkeiten mögen in dem unendlich erwickelteren Problemen von Monte Carlo nisten!

Also zwei Kumpane verabreden sich zu einem Hasard. Peter wirft eine Münze in die Höhe und zwar so lange, bis sie nach dem Niederfallen die Kopfseite oben zeigt. Geschieht dies nach dem ersten Wurf, so soll er dem Paul 1 Dukaten zahlen; wenn aber erst nach dem zweiten: 2, nach dem dritten 4, nach dem vierten 8, und so fort in der Weise, daß mit jedem Wurfe die Anzahl der Dukaten verdoppelt wird. Da diese Progression rapid ansteigt, so hat Paul die Möglichkeit Millionär, Milliardär, ja sogar unendlich reich zu werden, falls der Kopfwurf entsprechend lange auf sich warten läßt. Man fragt: Welchen Wert hat diese Gewinnhoffnung für Paul? Welchen Einsatz dürfte er vernünftigerweise leisten, bevor das Spiel beginnt?

So einfach, so kinderspielerisch dieses Problem sich anhört, so viele Fallstricke spannt es vor dem Berechner aus. Selbst eine so hochragende und für die Wahrscheinlichkeitsberechnung geradezu klassische Autorität wie Laplace vermochte nicht, zu einer klaren Antwort durchzudringen. Eine ganze Literatur hat sich aus Peter und Paul entwickelt, eine Literatur ohne Abschluß bis heute, angefangen von Daniel Bernoulli (1731) bis zu dem großen Münchener Funktionentheoretiker Alfred Pringsheim. Und durch alle Seiten dieses Schrifttums klingt es elegisch: macht der Mathematik als solcher keine Vorwürfe, Schuld an den Fehlschlägen ihrer Spekulation tragen nur die einzelnen Mathematiker, die es nicht verstanden haben, die Rechnung mit den Erfordernissen der Praxis ins Gleichgewicht zu setzen.

Man kann heute von einer Hasardwissenschaft sprechen, von einer Roulettewissenschaft, und diese würde vielleicht zur Vollendung gedeihen, wenn erst die bösen Buben aus Petersburg, Peter und Paul, zur Ruhe gebracht würden. Aber bis heute sind sie die Schreckenskinder der Mathematiker geblieben, weil diese von den Wirkungsgesetzen, die in allen Glücksspielen auftreten, nur unzureichende Kenntnis besitzen. Dieser Widerspruch zwischen Theorie und Praxis hat im Kreise der Gelehrten selbst Explosionen bewirkt. Der gewaltige d'Alembert genierte sich nicht, im Kampf gegen die Wahrscheinlichkeitsapostel recht grobes Geschütz aufzufahren und gewisse Methoden, die den Gelehrten sublim erschienen, als »skandalös« zu bezeichnen.

Die letzten Schwierigkeiten liegen vielleicht im Automatismus der Personen und der leblosen Körper verankert. Man hat angefangen, die Roulettekugel und die Metallmünze als Wesenheiten zu behandeln, in denen eine »Verbundenheit der Fälle« steckt, ein Nachwirken voraufgehender Ereignisse, eine Spannung, die zum Ausgleich drängt, um die Wahrscheinlichkeit durchzusetzen. Danach wäre es durchaus nicht gleichgültig, ob Peter und Paul ihr Hasard mit ein und derselben Münze durchführen, oder ob zwischendurch mit einer anderen Münze geworfen wird. Nur die Anfangsmünze besitzt sozusagen den Trieb und den Willen, »Kopf« nach oben zu bringen, nachdem sie wiederholt »Schrift« gezeigt hat. Eine neue Münze, die plötzlich an ihre Stelle tritt, weiß nichts von dieser voraufgehenden Spannung und Speicherung, sie verhält sich gegen den nächsten Wurf völlig indifferent, sie steht am Beginn einer ganz neuen Reihe und übernimmt von der Vorgängerin keine Erbschaft für die Progression. Ich persönlich vermag mich zu dieser animistischen Vorstellung nicht zu entschließen. Läßt man sie aber gelten, so gelangt man meines Erachtens zu der Folgerung, daß man um die Idee des Hasards ganz rein zu gewährleisten mit den Subjekten wie mit den Objekten fortwährend wechseln müßte. Der Automatismus der Person und der Spielkugel wirken zwar nach verschiedenen Richtungen, allein sie gleichen sich nicht aus. Hiernach wäre es nötig, um an der Roulette alle Verbundenheit der Fälle auszuschalten, für jeden Coup einen neuen Croupier zu beordern, eine frische, parteilose Kugel laufen zu lassen, ja – ins Extrem befolgt – sogar eine neue Drehmaschine einzusetzen.

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Wenn sehr viele Spieler abergläubisch sind, wenn viele es werden, die es zuvor nicht waren, so steckt im Grunde ihres Aberglaubens der Widerstreit zwischen der Rechnungstheorie und der Spielpraxis. Es ist nebensächlich, daß dieser Glaube bei Narren bis zur Groteske ausartet: irgendwer manövriert mit einer Kreuzspinne, die ihm an einem Proberoulette die demnächst bevorzugten Nummern bekriecht; ein anderer trägt eine Münze bei sich, die er heimlich am Rücken eines Buckligen rieb, und viele andere vertrauen den kabbalistischen Spielereien, die unter dem Namen »Gagnante«, »Martingale«, »Garcia-Marche«, »System Fitzroy« usw. im Schwange sind. Aber abseits von der Horde der Blödlinge stehen die Intelligenten, und auch diese erscheinen wahnbefangen. Mir ist unter den Dauerspielern nicht ein einziger begegnet, der vom Aberglauben frei geblieben wäre. Als Typus nenne ich meinen verblichenen Kollegen Oskar Blumenthal, den Dramatiker und Epigrammpräger. Er war stets bereit, jeden Aberglauben mit den Kübeln seines Spottes zu übergießen, und saß doch als beharrlicher und meist erfolgreicher Pointeur tief im Aberglauben. Ich galt ihm (mit Recht) als Pechhengst, und er umgab sich mit Sicherungen, um der ansteckenden Wirkung zu entgehen. Geriet ich zufällig auf seine Spielseite, so unterbrach er sofort das Jeu, wogegen er seine Einsätze verschärfte, wenn ich mich als Zuschauer auf die Gegenseite des Tableaus verfügte; und stets hielt er im Kreise ringsum genaue Augurenumschau mit Witterung für Mascotte und Jettatura. Worin liegt das Unbesiegliche dieses Wahnes? Darin vielleicht, daß so viele neue Erkenntnisse die Bestätigung verjährter Aberglauben gebracht haben, in Verbindung mit der Unstimmigkeit zwischen Rechnungslogik und Praxis. Dieser sicher vorhandene Widerspruch arbeitet im Unterbewußtsein, man kommt von den Unerklärlichkeiten nicht los und verstrickt sich in sie um so tiefer, je mehr sich der Kreis der Erfahrungen erweitert.

Ein Beispiel statt vieler. Vor vielen Jahren war in Monte Carlo für die kräftigsten und entschlossensten Spieler in den oberen Räumen des Palastes ein besonderer Saal bereitgestellt, mit einer Spieltafel, an der ausschließlich Maximumsätze gehalten wurden, das heißt 12 000 Franken auf jede Einzelchance des Trente-et-Quarante. Dort tagte ein für sich geschlossener Cercle im Cercle, gebildet aus allbekannten Persönlichkeiten, Finanzmagnaten vom Kaliber der Pariser Ephrussi, der Gould und Astor, Kraftnaturen wie Sierstorpff, russischen Großfürsten und sonstigen Matadoren, die sich auf ein metallisches Statut vereinigt hatten: man jeute nur mit blanken Plaques, und einer der Mitarbeiter, ein Krösus aus Transvaal, der Ingenieur Dr. Maggin, versicherte mir, daß in dieser Besetzung die metaphorische Redensart »der Tisch bog sich unterm Golde« Wahrheit geworden wäre. Die Maximumsätze lagen so dicht, daß die Verrechnung und Auszahlung einzelner Coups nicht selten zwanzig Minuten und länger in Anspruch nahm. Nach menschlicher Voraussicht hätte hier der Bank, die doch mit der Überlegenheit der Chance arbeitet, eine enorme Ernte zufallen müssen.

Das Gegenteil trat ein. Nach der ersten Spielsaison sah sich die Bank genötigt, diese goldstrotzende Separattafel zu beseitigen aus dem einfachen Grunde, weil sie unter dem maximalen Ansturm mit Verlust abgeschnitten hatte. Ich habe nicht den leisesten Grund, diese Angabe meines Gewährsmannes zu bezweifeln, aber auch nicht die leiseste Aussicht zur Erklärung der Rätselhaftigkeit. Ich muß mich dabei bescheiden, sie den andern Unstimmigkeiten des Hasardgetriebes beizuordnen und mich mit der Tatsache abfinden, daß weder Voraussicht noch Rückblick ausreichen, um den Spieldämon in seiner wahren Gestalt zu erkennen. Seine Gunstbezeigungen wie seine Tücken verlieren sich ins Okkulte, in ein Gewirr von Dingen, von denen sich keine Schulweisheit etwas träumen läßt.

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Vor meinen Augen entsteht wieder das Getriebe, wie ich es dort hundertmal sah, jener Mikrokosmos, in dem sich das Weltgeschehen am getreuesten abspiegelt. All diese Figuren, die dort ihr Glück probieren, gedankenlos daraufloswirtschaften mit Übersprung von Kolonnen auf Transversalen und Karrees, oder sich mit Systemen Konsequenz einreden, die Gewinn einheimsen oder trübselig der fortschaufelnden Harke nachstarren, die sich amüsieren oder innerlich fluchen, – sie alle sind Versuchskaninchen in der Hand eines Demiurgen, der an ihnen seine feinsten Gesetze ausprobt.

Sind es denn Gesetze? Unverbrüchliche Normen des Geschehens? Auch hiergegen reckt sich schon der Zweifel. Selbst das Gesetz »der großen Zahl«, zuoberst inthronisiert von allen Mathematikern, ist vielleicht von unbekannten Bedingungen abhängig, nur näherungsweise gültig; und während es als unumschränkter Despot in allen Wahrscheinlichkeiten ausgerufen wird, kann es selbst nur der Ausdruck einer gewissen Wahrscheinlichkeit sein, eine Approximation an etwas, wofür wir weder Begriff noch Namen besitzen. Wir behelfen uns mit einem dunkeln Gefühl, das zugleich als Zeuge für die Unmöglichkeit auftritt, die Wahrscheinlichkeit überhaupt zu definieren. Weder der Monte Carlo-Gast, der sie auf Gedeih und Verderb herausfordert, noch der Astrophysiker, der mit ihren Methoden den Sternenhimmel durchmustert, vermag auszusagen: was ist, was bedeutet Wahrscheinlichkeit?

Man verstäubt nur einen Wortnebel, wenn man definiert: »Die Wahrscheinlichkeit ist das Verhältnis der einer bestimmten Erwartung ›günstigen‹ Fälle zur Anzahl aller ›möglichen‹ Fälle, vorausgesetzt, daß alle Fälle gleich möglich sind.« Aber das ist entweder Täuschung oder Selbstbetrug, zum mindesten ein vollendeter Drehzirkel, denn in den Ausdrücken »Erwartung« und »möglich« steckt schon ein Wahrscheinlichkeitsfaktor; man setzt als bereits erläutert voraus, was man zu erläutern verspricht.

Kommt uns der Definierende mit der Ausrede, jeder Mensch wisse doch von vornherein, was eine Erwartung sei und was sie ihm ansage, so verweisen wir ihn auf die zuvor erwähnten Beispiele der Farbserien, wonach jedermann unausgesetzt zwei ganz verschiedenen, ja konträren Erwartungen ausgeliefert wird. Die Gefühlserwartung und die mathematische Erwartung laufen auf entgegengesetzten Strängen. Jene Definition – und wir haben keine bessere – wirtschaftet also mit zwei ursächlichen Erklärungsgründen, die einander aufheben und in ihrer Vereinigung gar nichts anderes hervorbringen können als eine Schaumschlägerei in Worten. Die Wahrscheinlichkeit als ein Begriff, den zu erklären man sich bemüht, ist eine Seifenblase, die bei erster Berührung zerplatzt.

Trotzdem existiert sie in einem mysteriösen Dasein, und wir spüren unausgesetzt die unheimlichen Griffe ihrer Antennen. Ja wir spüren noch mehr. Wir bemerken in ihrem Getriebe zwei Pole, deren einer im Hasardspiel mündet, während der andere sich als das statistische Element aller Wissenschaft kundgibt. Dieser zweite Pol äußert seine Wirksamkeit in dem spukhaften Kampf zwischen Determination und freien Willen. Er gehört zum Weltbild im Großen, und die Bildung einer Weltanschauung hängt von ihm ab.

Denn was man ehedem geschichtlich, soziologisch, moralisch als Folgen des regellosen Zufalls oder des freien Menschenwillens betrachtete, rückt mehr und mehr ins Gebiet der Statistik, der Wahrscheinlichkeit, und unterscheidet sich von den mechanisch bedingten Vorgängen in der Physik nur durch einen Prozentsatz. Vergleichen wir zum Beispiel die Voraussagen der Astronomen mit denen eines Kriminalisten. Der Astronom verkündet Mondfinsternisse und Sternbedeckungen mit (nahezu) 100% Gewißheit; aber auch der Kriminalist, der Totschlag, Brandstiftung, Notzucht und Selbstmord untersucht, ist bei dem hohen Satz von 90–95% angelangt, mit dem er den Eintritt gewisser Gruppenhandlungen als unausbleiblich ansagt. Hier hat also der anscheinend freie Wille das Feld schon zu mehr als neun Zehntel der Notwendigkeit abgetreten, und es nicht ausgeschlossen, daß auch der Rest von 5–10% der mechanischen Begreiflichkeit dereinst erschlossen wird. Die Unbegreiflichkeiten, die in diesem Reste nisten, gehören zur Kategorie derselben Rätsel, mit denen sich heute noch die Hasardwissenschaft herumschlägt. Je mehr sich diese lichten, desto weiter wird der Erkenntnisblick dringen in die vorläufig noch chaotische Welt der freiwilligen Entschlüsse und Handlungen.

Freilich wird vorher die landläufige Wahrscheinlichkeitsrechnung überwunden werden müssen durch eine andere, die sich alle Errungenschaften der mathematischen Mengenlehre und der Psychophysik aneignet. Daniel Bernoulli, der Glänzendste der Bernoulli-Dynastie, von der Pariser Akademie zehnmal preisgekrönt, war der erste, der die Klippschulberechnung fortwarf und einen Überkalkül ausbaute, gegründet auf eine prozentual eingeteilte Spielervernunft. Er ging bewußt vom Spieltisch aus, von Peter-Paul und Genossen und gelangte zu einer Lehre, deren Ausläufer sich bis zur Theorie vom Güterwert, Tauschwert, Mehrwert und damit bis ins Herz der Volkswirtschaft und Sozialpolitik fortsetzen lassen. Sein Hasardkalkül ist viel zu schwierig, als daß ich ihn hier erörtern dürfte. Ich lasse es daher bei dem historischen Hinweis bewenden zur Beglaubigung der Tatsache, daß ein Spielsaal für die ernstesten Kämpfe menschlicher Interessen als Exerzierfeld dienen kann. Ich verhehle aber nicht, daß auch die geniale Bernoulli-Lehre von 1730 zu bedenklichen Paradoxien führt, und daß wohl noch weitere Jahrhunderte verstreichen werden, bevor der Spieltisch mit sicherem Erfolg für die Forschung nutzbar gemacht werden kann.

Ob dann noch ein Monte Carlo existieren wird? In meinem Horoskop finde ich dafür keine zuverlässigen Zeichen. Es ist denkbar, daß die Spießermoral den Lusttempel vom Felsen herunterfegt; und ebenso, daß jeder Kulturstaat seine eigenen Monte Carlo besitzen wird. Eine andere Frage wäre, ob ein Monte Carlo sich innerhalb einer mathematisch geschulten Menschheit halten könnte. Bernoulli und Ampère haben diese Frage gestreift, und ihre Antworten lauten nicht tröstlich. Selbst bei Gleichheit aller Chancen, so beweisen sie, geht der Einzelspieler immer und unbedingt seinem Ruin entgegen.

Ich selbst wäre vermutlich eine Stütze des Beweises geworden, wenn ich es jemals auf einen wirklichen Kampf zwischen meiner Barschaft und der Kugel oder Karte angelegt hätte. Denn das Spielglück hängt als Eigenschaft am Menschen und ist mit seiner Wesenheit verbunden. Vielleicht liegt hier eine andere Wahrscheinlichkeit zugrunde, die auf eine Konstanz der Erlebnisse hinauswill und die Mannigfaltigkeit der Zufälle ausgleicht. Mir hat das Fatum außerhalb des Spielsaals so oft seine sonnige Seite zugekehrt – unberufen! füge ich hinzu, um es mit seiner Huld nicht zu verderben –, daß für mein Glück am grünen Tisch unmöglich etwas übrigbleiben konnte. Und so bin ich mit meinen bescheidenen Einsätzen ein Monstrum geblieben als Vollbringer wahrer Wunderwerke von Pechserien. Mir war es eine Bewußtseinsform geworden: wo du hinsetzt, entsteht ein Vakuum, und ich habe das Gefühl des Gewinnenkönnens überhaupt niemals kennen gelernt, nicht einmal auf Minuten. Einmal engagierte ich mich in privatem Kreise auf die Nummer 36 mit kleinen, aber konsequent fortgesetzten Beträgen, ohne daß sie den ganzen Abend nur ein einziges Mal erschienen wäre. Der Bankhalter bewilligte nach Schluß noch die sogenannten trois coups de grâce, an denen ich mich in aussichtsloser Müdigkeit nicht mehr beteiligte. Das Finale entsprach sinnig dem Vorspiel und dem Mittelsatz, die Gnadenschläge lieferten pünktlich dreimal 36, und ich hatte Ursache, vom Schubertschen Wandersmann den klassischen Begleittext zu übernehmen: dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!

Unter den mit hohen Sätzen losfeuernden Draufgängern sind die Pechmonstra meiner Art relativ selten. Und wenn Ampère herausrechnet: alle müssen sich ruinieren, so bringt die Erfahrung den verbessernden Zusatz: nur sehr wenige! Denn der ungeheuren Bankkraft gegenüber besitzt auch der Spieler eine gewisse Überlegenheit. Die Bank kämpft nicht nur mit dem Übergewicht ihrer 40 Goldmillionen, sie haftet auch damit, sie bietet sie jederzeit als Einsatz, während der Spieler nur an ein Limitum gebunden bleibt, das er so niedrig halten kann als er will, – vorausgesetzt, daß er nicht die Besinnung verliert. Tatsächlich läßt sich die Philistermoral hier in höherem Grade von der Legende bedienen als von der Wirklichkeit. Im ganzen weiten Kreise meiner Bekannten befanden sich nur zwei Personen, die als Hasardeure Vermögen und Leben verloren, und diese beiden fielen nicht als Opfer der Rivieralust, sondern wurden vielmehr durch Extravaganzen in Klubs überwältigt, in denen weit gefährlichere Bedingungen lauern als in Monte. An der Riviera kommen doch auch die Existenzen vor, die durch Gewinn vom Ruin errettet werden, während der Klub vom Verlierer wie vom Gewinner zehrt. Aber ich höre: Wie viele haben sich doch schon im Park von Monte Carlo erschossen! Das kann nachgeprüft werden, mit dem Resultat: diese Schüsse gehören bis auf geringe Ausnahmen zur Theaterfeuerwerkerei sensationshungriger Journalisten. Gewiß, es gibt auf dem Boden von Monaco einen Selbstmörderfriedhof, sehr schwer auffindbar, denn durchweg erhält man auf die Frage nach dem Ort die Antwort »ça n'existe pas«. Ich habe ihn in langwieriger Suche auf steilem lehmigem Wege ermittelt und zugleich festgestellt, daß sämtliche Selbstmörder, soweit sie nicht von Angehörigen im Ausland reklamiert werden, dort ihre letzte Unterkunft finden. Sechs oder sieben Grabhügelchen mit verwitterten Gedenkzeichen liefern das ganze Register. Dieser Totentanz ist also weit dünner instrumentiert als die geräuschvollen danses macabres, die seit so vielen Jahrzehnten von den Zeitungen aufgespielt werden.

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Ich mißtraue auch anderen Legenden, so denen, die mit erotischer Betonung vorgetragen werden. Wer sich das Land als ein Cythere-Gestade vorstellt, in dem die Macht des Weibes hochaufgerichtet dasteht, als eine große Cour d'amour mit romanhaftem Gewirre von Kurtisanen und Troubadouren, der trägt eine phantastische Deutung in ein materiell angelegtes Treiben. Das Wesentliche liegt hier nicht darin, daß die Geschlechtsliebe in dieser Landschaft einen vorwiegend metallischen Beigeschmack hat; nein, die Substanz selbst, das Edelmetall wird durch die Interessen des Hasard so stark in Anspruch genommen, daß der Tempel der Venus nur von einem Nebenstrom des flutenden Goldes bespült wird. Sehr viele Kavaliere, und gerade die lebetüchtigsten, sind einfach um die Fors-Fortuna so eifrig beschäftigt, daß ihnen zum Umgang mit anderen Gottheiten die Zeit und die Möglichkeit fehlt. Ja mir hat es mehr als einer vertraut, daß sich in der Bannmeile der grands et petits jeux sogar das elementare Verlangen abstumpft. Jener Ironiker traf wohl das Rechte mit seiner Glosse: Wir Lebemänner haben hier am Trente et quarante bei den abgezogenen Kartentaillen so reichlich zu tun, daß wir gar nicht dazu kommen, anderswo »Taillen« abziehen zu sehen. Diese Bonvivants werden zumeist vorsichtig mit dem Gelde, sobald es sich um ces dames handelt. Weil sie sich auf ihren kalkulierenden Scharfsinn so viel einbilden und weil sich an der Bank auch nicht um einen Pfennig feilschen läßt, verlegen sie die Kunst des Abhandelns auf den Liebesmarkt und finden ihre Genugtuung an den Ersparnissen in Venere. Nirgends in der Welt werden die Preise so weit vorgeschlagen und so tief gedrückt; das Markten ist zum Sport geworden, die Spannung zwischen Angebot und Begehr trägt in die frivolen Händel die Usancen des Börsenspiels; das Erotische wird noch unteranimalisch, man liebt mit der Uhr in der Hand, wägt Kosten gegen Kitzel der Renommage und – das Unmoralische versteht sich immer von selbst. So ähnlich sagt es wohl auch Vischer, nur dem Sinne nach entgegengesetzt und deshalb grundfalsch.

Vom Laster ist zu verlangen, daß es sich zu dem bekenne, was es vorstellt, und daß es nicht gänzlich verleugne, was es unter Umständen sein kann: interessant. Es würde dadurch nicht moralisch im Bürgersinne, aber es könnte wenigstens eine Fassade mit romantischen Lichtern bewahren. Nur ganz vereinzelt habe ich dergleichen in dem Treiben der kokottösen Kolonie bemerkt. Ich bediente mich zuvor des Ausdrucks Chronique scandaleuse als eines Begriffs, der überall verstanden wird. Allein der Skandal dieser Chronik besitzt nicht einmal den pikanten Auftrieb; keinen Schwung, keine Schärfe, keine Dynamik, er macht nicht einmal Spektakel. Er schleppt sich nur so hin, er humpelt, und die in ihn verwickelten Figuren sind die langweiligsten auf der ganzen von der Natur so verschwenderisch dekorierten Bühne. Jeder Kellner im Hotel, der Liftboy und die Aufräumefrau sind dem Erleben näher, als das parfümierte mondäne Gesindel mit seinem halbweltlerischen Getue, das an der Amüsitis krankt, ohne das mindeste Talent zum Amüsement; Schattenexistenzen, die schleimig am Boden kriechen und sich dabei ein flatterndes Schmetterlingsdasein einreden. Die Scheuerfrau und der Boy, der durch Schlüssellöcher guckt, leisten sich doch manchmal einen vergnügten Tratsch und Klatsch, beleben ihre Korridorgespräche durch knallige Wendungen, schwingen Satire; aber die Fifines und Gastons in den Zimmern plärren wie die Sprechautomaten und repetieren immer nur die bis zum Ekel abgedrehte Walze, immer nur die tausendmal vor- und wiedergekäuten Blödsinnsphrasen. Von den Grandes Cocottes geht das Küstengerede, aber es ist keine vorhanden; keine einzige, die den Ehrgeiz hätte, einen Machtbereich aufzurichten, eine Imperia oder Tullia d'Aragona zu werden. Ja die ganze Klasse hat nicht einmal eine Ahnung davon, daß es unter ihnen einen Edelstand geben könnte mit einem Nachglanz der großen Kurtisanen aus der Renaissance. Sie betreibt nur ein fades Metier mit einem unveränderlichen Vorrat handwerklicher Kniffe. Eine Dirne des Berliner Scheunenviertels, eine Karreeläuferin zwischen Zuhälter und Polizei, zwischen Messerstich und Klinik, umhergejagt von Plünderungsgier und Trieben der Anhänglichkeit, kann immer noch eher an ein erotisches Abenteuer gelangen, als die in Seide und Pelz rauschende Verdienerin an der Azurküste.

Diese Damen – bleiben wir bei der Bezeichnung Fifine – sind ihrer Gastons wert. In irgend einem Kloakenblatt hat gestanden, daß man sich momentan für diese Fifine, in der Fremdenliste als Baronne de X. verzeichnet, zu interessieren hat; folglich bemüht sich Gaston um sie, wenn auch nicht entfernt so eifrig wie um den Preis im Taubenschießen. Dort in dem entsetzlichen Halbrondell nahe dem Kasino, wo man täglich schockweise Tauben aus dunklen Verschlägen aufflattern läßt, um sie beim ersten Flügelschlag im Sonnenlicht dem Gemetzel preiszugeben, dort ist sein Lieblingsstand; für diese Mordfexerei reicht sein Verständnis, und wenn er gerade diesem stupiden Knallsport obliegt, vergißt er das verabredete Schäferstündchen. Eine Stunde darauf begegnet er auf dem Parkwege einer anderen Fifine. Auch diese ist »en évidence«, auf ihrer Karte steht Esmeralda; so hieß sie schon vor zehn Jahren als glänzende Zirkuskünstlerin, und heute führt sie die Reste ihrer Schönheit in Monte spazieren. Man verhandelt in freier Natur mit ungedämpfter Stimme über den Preis. Von ihren stolz gewölbten Lippen kommt es: 3000 (was nicht übertrieben ist, da schon in weit billigeren Zeitläuften Lais von Demosthenes 10 000 Drachmen gefordert hat). Er kalkuliert vorhandene Frauenvaleur plus Renommage und bietet als Gegenofferte 500. Sie weist tiefentrüstet ab und nennt als unerschütterliches Limitum 2000. Daran scheitert die Sache, und Gaston ist im Grunde entzückt darüber, daß der Handel im Sande verläuft. Zwei Abende darauf findet er sie am Spieltisch in tiefster Zerschmetterung. Wie so viele solcher Damen ist sie besinnungslos in die déveine getaumelt; der Augenschein zeigt bereits das Fehlen ihrer Juwelen – (vom Roulettetisch zum Versatzamt sind dort nur einige Schritte) – und Esmeralda weiß nicht mehr, wovon sie ihr Diner bezahlen soll. Das ist der psychologische Moment, den Gaston erhofft hat. Sie erwartet in dieser Lage keinen Seladon, keinen spendablen Lüstling, sondern nur noch einen Herrn, der ihr etwas zu essen gibt. Und die Amoretten der Venus Vulgivaga stimmen einen Chor an über das Leitmotiv: 100 Franken, – ab dafür!

*

Zu jener Zeit erschienen in einem Pariser Spektakelblatt, ich glaube im »Gil-Blas«, große Lebensbeschreibungen und Monographieen zur Charakteristik der Demimondaines, für die man sich in der Welt der Nichtstuer zu begeistern hatte. Diese Schriften wurden bald zu einem Prachtwerk mit Portraitschmuck vereinigt, und es gehörte zum guten Ton, es zu besitzen und studiert zu haben. Selbstverständlich verbrachte ein großer Teil der also abgeschilderten und glorifizierten Huldinnen die Karneval-Zeit im Süden, und wenn man Glück hatte, so konnte man sie persönlich kennen lernen. Ich hatte dieses Glück.

Denn es fügte sich, daß einer meiner Bekannten, der praktische Arzt Professor Felsing, gerade in diesen Kreisen eine ausgebreitete Kundschaft pflegte. Er besaß, als in Paris ausgebildet und graduiert, die Behandlungslizenz und galt als Docteur à la mode besonders in der Kolonie der Kokotten. Man denke dabei nicht gleich an schlimme Fälle mit Quecksilber und Salvarsan-Medikamenten. Nein, diese Damen waren in puncto Veneris ganz gesund; sie kokettierten nur gern mit gewissen nervösen Leiden und legten Wert darauf, einen beliebten und weltgewandten Arzt zu beschäftigen; zumal dieser junge Äskulap nicht nur behorchte, beklopfte und Tropfen verschrieb, sondern auch kleine Konvivien in niedlichen Restaurantnischen veranstaltete. Und bei solchen Gelegenheiten hatte ich, wie angedeutet, den Vorzug, als Gesprächspartner eingeladen zu werden und die lebenden Urbilder jenes Pariser Prachtwerks in Augenschein zu nehmen.

Das waren sie also, die Lancierten, die in großer Karriere Dahinrauschenden, die Freundinnen der Kavaliere vom Jockeiclub. Allzugroße Illusionen hatte ich mir ja nicht vorgegaukelt, allein hier schwand auch der letzte Rest einer Beziehungsmöglichkeit zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Diese eine, »Madame de Roubence«, wurde gegenwärtig von einem amerikanischen Zeitungskrösus vergöttert, der an der Azurküste seine Luxusyacht schwimmen ließ. Sie selbst gab in ihren Salons Empfänge, die in den Journalen vom Littoral beschrieben wurden mit dem Begleitmotiv: Wohl dem, der sich auch nur an ihrem Anblick berauschen, eine Luft mit ihr atmen darf! Daß sie in Person unschön war, hätte mir ihren Nimbus noch nicht zerstört, denn es gibt ja weibliche Exemplare, auf die das Kennwort paßt: c'est sa laideur qui fait sa beauté. Aber diese Madame war nicht einmal interessant, nur eben grazienverlassen, Inhaberin von Zügen, bei deren Herstellung die Natur gestümpert hatte; dazu eine diphtheritische Sprechstimme, die so klang, als würde sie über ein Reibeisen gezogen. Und für so etwas, redete die Legende den galanten Crétins ein, hatte man sich zu ruinieren! Auch unter den andern war nicht viel los, keinesfalls befand sich unter ihnen eine, die ihre Reklame, die journalistischen Paukenschläge, ja auch nur ihren Lagertarif gerechtfertigt hätte; höchstens etliche mit leidlichen Gesichtern, die ihren konversationellen Blödsinn vergnüglich abschnurrten und mit jenen »petits cris« würzten, die auf der Bühne des Palais Royal die Höhepunkte des Reizes darstellten.

Was man während des Karnevals auf den Redouten und in den Blumenschlachten des Corso erblickte, erhob sich bisweilen über dies Niveau, allein auch hier war fast durchweg zu beobachten: je berühmter im Sinne des Tamtams, desto schlechtere Klasse. Sehr en vogue war Emilienne d'Alençon, die es bis zum Range einer Sehenswürdigkeit gebracht hatte und unausgesetzt im Kreuzfeuer snobistischer Huldigungen stand. Ihr Andenken ist dadurch gesichert, daß sie in den nachgelassenen Schriften des Oscar Wilde vorkommt, der sie schon als Berühmtheit gekannt hat, ohne sich übrigens für sie zu begeistern. Jedenfalls konnte man damals in der guten Gesellschaft ohne Kenntnisse in Wissenschaft und Literatur ganz gut bestehen, während der Makel der Unbildung einem anhaftete, der Emilienne d'Alençon nicht kannte. Sie war Trägerin unzähliger Schönheitspreise, und keinem fiel es ein zu prüfen, ob sie diese Auszeichnungen verdiente; das war gar nicht Angelegenheit der Ästhetik, sondern der Tradition; wer Preisrichter wurde, übernahm damit die Verpflichtung, die Emilienne d'Alençon zu krönen. In Wirklichkeit war sie eine ganz gleichgültige Erscheinung von dürftiger Figur, salopp in der Haltung, mit einem Dutzendgesicht, nicht verlohnend, daß man auch nur den Kopf danach wendete; Musterbeispiel der Massensuggestion, die den Leuten einen Effekt, als Wirkung ohne Ursache aufredete.

Davon verstehe ich nichts? Schon möglich. Aber ebenso möglich, daß die anderen ebensowenig davon verstanden, und ganz gewiß, daß der Begriff des Verständnisses hier gänzlich illusorisch wird. So profan das Beispiel ist, die Frage des Pilatus »Was ist Wahrheit?« bleibt bestehen, ohne Beantwortung, denn aller Weibesschönheit liegt ein imaginäres Wertmaß zugrunde, das nur dann den Anschein einer Objektivität gewinnt, wenn viele Beurteiler übereinstimmen. Wir übertragen einfach das Prinzip der Mehrheit wie eine parlamentarische Abstimmung auf alles Künstlerische, Sexuelle und nehmen das Ergebnis der großen Zahl als gültige Schönheitsnorm. Und nur in vereinzelten Augenblicken der Erkenntnis dringt es uns ins Bewußtsein: Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn! – ohne daß wir mit Sapieha hinzufügen dürften: Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen. Nein, auch nicht bei den wenigen, überhaupt bei gar keinen, denn der Schönheitsverstand ist nichts als eine fiktive Formel, mit der wir uns aus dem Relativen in ein nicht vorhandenes Absolutum hineinzuschwindeln trachten. Die Instanz, vor der eine schöne Frau – ebenso wie ein Klanggebilde – als schön besteht, empfängt ihre Kompetenz vom Raum und von der Zeit, wird mit deren Wechsel hinfällig, und es hat keinen Sinn, die nächstfolgende Instanz als die weisere, übergeordnete zu betrachten, denn im raumzeitlichen Geschehen sind die Punkte gleichwertig, und es läuft nur auf einen Wortunterschied hinaus, ob man von einem progressus oder von einem regressus in infinitum spricht.

Ich habe sonach nicht zu begründen, weshalb mir die oder jene gefällt oder mißfällt, sondern ich darf mich auf den Allerweltsstandpunkt zurückziehen, der zwar ästhetisch bedeutungslos, aber durch keinen besseren zu ersetzen ist. Und weiß ganz gut, daß ich ebenso leicht der Suggestion verfallen kann wie irgendein Jedermann. Um bei der Kategorie zu bleiben: jene Lina Cavalieri, die damals allgemein als Schönheit gepriesen wurde, und deren Bilder in mehr als zehn Millionen Exemplaren Verbreitung fanden, erschien auch mir als bewundernswert; besonders in der Struktur des Oberkörpers, worin sie das Modell eines sehr zarten und sehr tief gelagerten Busens verwirklichte. Im Widerspruch mit dem griechischen Ideal und der Norm des Rokoko; eine Hebe, Aglaia, Danae oder Ninon mit ähnlicher Brustanlage wären nicht denkbar gewesen. Allein die Suggestion hatte eben diese Linie als die lieblichste von allen jedem Urteil aufgeredet, und ich fand das durch Jahre selbstverständlich, ohne mir darüber geometrische Bedenken zu machen. Eine andere Dame hätte eigentlich die Berühmtheit mit der Cavalieri teilen müssen: Miß Chapman, vormals Favoritin eines südeuropäischen Monarchen, der bei irgendwelcher interessanten Revolte an einem Tage die Krone und die Geliebte verloren hatte. Jetzt wandelte sie durch die Kasinosäle als eine leibhaftige Venus, blieb aber trotzdem im Dunkeln, da sich die skandalmachenden Chroniqueure zufällig mit ihr nicht sonderlich beschäftigten. Denen leuchtete eine Otéro stärker ein, die unwiderruflich als »la belle Otéro« herumlief, ein Gegenstück zum Beinamen Lucifer, der dem Fürsten der Finsternis anhaftet, und zum etymologischen Wortspiel lucus a non lucendo. Um viele Grade höher stand eine gefällige Priesterin Mme de Sorel, die sich in Monaco eine Saison lang als prima omnium behauptete. Von ihrer Namensschwester Agnes her klingt ihr Titel »Dame de Beauté«, der aber nicht überschwenglich gemeint war, denn die Maitresse Karls des Siebenten hieß also nach dem Schloß an der Marne »Beauté«, das der König ihr geschenkt hatte. Der modernen Sorel gegenüber griffen die Chronisten ziemlich tief in die Psaltersaiten. Sie hatten damals ein neues Schlagwort in Umlauf gesetzt: »La Parisine«, womit sie ein unkörperliches Fluidum bezeichneten, eine geistige Essenz, gleichsam den Extrakt der pariserischen Eleganz und Anmut; und es galt als ausgemacht, daß von der Sorel solche elysische ätherdünne Parisine wahrnehmbar ausströme. Diese Herrlichkeit bekam allerdings einen leisen Knacks, als sich einwandfrei herausstellte, daß die Sorel eigentlich Sorauer hieß und nicht aus Paris, sondern aus Krotoschin stammte.

Betreffs einer anderen Figur lag der Irrtum lediglich bei mir. Ich sah sie zuerst im Sporting-Klub, wo sie mit mäßigen Louisdorsätzen herumspielte, in elastischer Bewegung zwischen den Tischen wandelnd. Sie sah verjährt aus, allein die schönen Reste ihrer Körperlichkeit konnten noch imponieren, und aus gewissen Symptomen in Blick und Haltung glaubte ich schließen zu dürfen: ein vormaliges Mitglied der cytherischen Garde, zu stolz und zu einsichtig, um noch mit den Tändelkniffen der Jugend zu operieren, aber doch noch weit von der Resignation entfernt. Meine Mutmaßung betreffs der sozialen Schicht, der ich sie zuwies, ging gänzlich fehl: diese Dame war Anastasia, ihres Zeichens Großfürstin und nahe Anverwandte der Hohenzollern. Sie hätte übrigens nicht weit zu wandern brauchen, um viele Personen von gleichem Geburtsniveau anzutreffen. Dicht neben Monte Carlo, auf dem Cap Martin, hauste Eugenie von Montijo-Teba, die einstmalige Kaiserin der Franzosen, damals schon steinalt und in verlöschende Erinnerung an ihren Gatten Napoleon, ihren Sohn Lulu und an ihre »petite guerre« von 1870 versenkt. Und noch einige Schritte weiter befand sich in einer ganz abenteuerlichen Gesteins- und Waldungszenerie, kaum noch unserem Planeten zugehörig, das Grand Hotel von Cap Martin, einst Wintersitz der Kaiserin Elisabeth von Österreich, zu meiner Zeit eine Karawanserei für alle erdenklichen Kronenträger und exilierte Monarchen. Ich versuchte einmal dort hineinzuschnüffeln und erzwang es wohl auch, daß mir ein Schälchen Mokka serviert wurde. Allein, ich saß unter den vernichtenden Blicken eines hellseherischen Personals, das meine Herkunft als nicht von Gottes Gnaden gründlich durchschaute und mir folgerichtig den Trank mit Verachtung würzte; und ich glaube, daß ein simpler Baron oder Graf dort auch noch schnell genug zum Bewußtsein der eigenen Minderwertigkeit gelangt wäre. Wie es heute dort hergeht, weiß ich nicht. Die geburtsaristokratische Tönung wird wohl etwas nachgelassen, die plutokratische entsprechend zugenommen haben. So oder so, der kosmopolitische Wanderer hat in solchem Grand Hotel (lies: Hotel für die Granden) nichts zu suchen, und wenn er sich darauf versteift, dort Herberge zu finden, so gerät er zwischen die zermalmenden Puffer des Ranges und des Reichtums.

Nichtsdestoweniger blieb in dem ganzen Gelände der kosmopolitische Zug spürbar, wenigstens insofern, als man nur selten an nationalistische Stacheln geriet. An der italienischen Riviera, in San Remo und Bordighera, in Nervi, Pegli, Rapallo, Portofino fühlte sich der Deutsche geradezu von milder Freundschaft umspült, und an der französischen gaben sich die Leute Mühe, eine wohltemperierte, neutrale Stimmung aufrecht zu halten. Viele Einrichtungen und Veranstaltungen trugen internationales Gepräge, und wer nicht mißtrauisch tiefer forschte, der konnte sich mit seinem Deutschtum ganz behaglich in diesem Internationalismus eingebettet glauben. Daß der Germane eine geringere Rolle spielte als der Brite, lag in der Natur der Dinge, die sich doch zuerst und zuletzt nach metallischen Gesichtspunkten bestimmten. Die ganze splendide Vorstadt Cimiez von Nizza mit ihren üppigen Gastburgen Alhambra, Regina, Riviera-Palace, Majestic, ebenso die Stadtteile Carabacel, Montboron und die Umgebung des Jardin public standen unter der Herrschaft des Sterlings. Hätte sich auch die deutsche Kolonie verdreifacht, verzehnfacht, so wäre es doch für die glanzvolle Strandlinie bei dem Namen »Promenade des Anglais« verblieben, und niemals tauchte ein Antrag auf, sie in Promenade des Allemands umzutaufen, obschon in den Bauten sehr viel deutsches, zumal Frankfurter Geld investiert war. Mit solchen Gegebenheiten hat man sich zudem überall abgefunden, sogar in Deutschland selbst: Bristol ist nach Weltgeltung ein Provinznest gegen Hamburg, aber unser mitbürgerlicher Hotelbesitzer schreibt doch noch lieber Bristol an seine Fassade, als Stadt Hamburg.

Im sprachlichen Tohuwabohu behauptete sich das Deutsche mit ansehnlicher Stärke; ein Teil der industriösen Bevölkerung hatte sich hierauf eingestellt, und an manchem Schaufenster der südfranzösischen Läden sah man ermunternde Hinweise. Mit der teutonischen Rechtschreibung freilich wurde es nicht genau genommen, die Einladung lautete in der Regel: »Man spritch Deutch«; und wie zur Beruhigung des nationalen Gewissens versicherte ein Plakat daneben: »On parle français.«

Neidlos öffnete sich der Kunstbereich des musikalischen Parnaß der deutschen Hegemonie, und das fiel bei der weiten Ausdehnung dieser Betriebe immerhin ins Gewicht. Zu drei Vierteln boten die Programme der »Klassischen Konzerte« unsere Meister von Bach bis Richard Wagner, während der Rest mit Franzosen, Russen, Italienern und Skandinaviern für den internationalen Einschlag zu sorgen hatte. Hier hatte Albion nichts zu sagen, und der übrige nichtdeutsche Komplex immer noch weniger als etwa in den philharmonischen Veranstaltungen der Reichshauptstadt. In all den Riviera-Konzerten war die Absicht kenntlich, dem deutschen Genius Ovationen zu bereiten und seine via triumphalis täglich neu zu beflaggen.

Die Literatur nahm natürlich an diesen Huldigungen nur den bescheidensten, die Wissenschaft gar keinen Anteil. Denn diese besitzt keine gesellschaftlichen Talente und steht außerhalb der Möglichkeit, in das öffentliche Leben hineinzustrahlen. Nichts erinnerte daran, daß Nietzsche dort gelebt und geschrieben, daß einer unserer größten Naturkünder dort geforscht hatte. Aber da sich die Riviera-Chroniken darüber ausschweigen, so möge hier eine der verwehten Spuren aufgedeckt werden:

Vor langen Jahren geriet ich an einen verwahrlosten Palastbau mit kirchenartigen Giebelfenstern, der den felsigen Ausläufer des Kap Antibes nahe bei Nizza bekrönte. Von Wildpflanzen umsponnen, lag er in märchenhafter Stille wie ein verwunschenes Schloß, und erst nach langem Umhersuchen entdeckte ich im benachbarten Busch eine menschliche Seele, die mir Auskunft gab. Es war der Verwalter des Anwesens, das sich demnächst – welchem romantischen Herrensitz bliebe das erspart? – in ein Grand Hotel umwandeln sollte. Es hätten sich auch bereits Fremde angemeldet, Gäste aus Deutschland – und er wies mir zwei Zettel, die deren Namen aufzeigten: Hermann Helmholtz und Werner Siemens; vermutlich zwei exzentrische Herren, die auf spukhafte Abenteuer in einer vereinsamten Burg ausgingen.

Mit dem Spuk hatte es seine Richtigkeit: es galt, den Wind- und Wassergespenstern Geheimnisse abzufangen, für deren Entschleierung diese Steilküste mit ihrem weiten Überblick über tiefe Wogenzüge die günstigsten Bedingungen bot – vorausgesetzt, daß ein menschlicher Genieblick diese Geheimnisse durchdrang.

Wenige Monate später legte Helmholtz, als Präsident der Physikalischen Reichsanstalt, der Berliner Akademie seine Ergebnisse vor unter dem Titel »Die Energie der Wogen und des Windes«. Diese Arbeit bildete den Abschluß seiner Untersuchungen über atmosphärische Bewegungen und bedeutet in wunderbarem Einklang von Theorie und Erfahrung einen Triumph der meteorologischen Wissenschaft. Vordem unerklärliche Zusammenhänge von Wind und Meer wurden als Probleme der Variationsrechnung behandelt, und was dem gewöhnlichen Sterblichen im Schäumen und Branden der Wogenkämme als ein liebliches oder imposantes Spiel erscheint, fand nunmehr seinen Ausdruck in mathematisch begründeten Gesetzen.

Das lag jenseits des Horizontes aller Rivieraschwärmer, die selbstverständlich von einem Helmholtz nicht die geringste Notiz nahmen. Wenn sie sich überhaupt jemals um etwas Wissenschaftliches bekümmerten, so kam für sie nur die Heilkunde in Betracht. Denn die Riviera ist zwar das Sanatorium Gottes, aber zugleich ein diabolisches Institut für Anzüchtung der Katarrhe. Die Tuberkulösen werden dort oft genug gesund, die Gesunden lernen dafür das Husten, und es ist des Behandelns kein Ende. Die Landesbehörden wußten sehr wohl, weshalb sie mit der Verteilung der Lizenzen so rigoros verfuhren: der deutsche Arzt stand sehr hoch im Kurse, und Fremde wie Einheimische bezeigten ihre Reverenz einer Wissenschaft, als deren Vertreter der deutsche Äskulap mit Vorliebe aufgesucht wurde.

Einer meiner Freunde, Dr. Leo Bardach, ursprünglich in Nizza, später in Monte ansässig, hatte es bis zur offiziellen Anerkennung gebracht, bis zum dirigierenden Arzt einer großen Pflegeanstalt, seine erfolgreiche Praxis erstreckte sich über weites Küstengebiet. In seinem Hause, von ihm und seiner Gattin betreut, habe ich Stunden verbracht, die mir noch heute als irdische Höhepunkte erscheinen. Von der internationalen Atmosphäre der Außenwelt drang ein spürbarer Hauch in die Bardachschen Räume, wahre Schmuckfächer, in denen Behaglichkeit und Eleganz nisteten, mit offnem Prospekt über die Palmenkronen des Parkes hinweg bis zum Zusammenfluß der beiden Azurbogen, wo Himmel und Meeresflut ununterscheidbar werden.

Die Gastlichkeit des Paares stand ursprünglich mir gegenüber vor harten Aufgaben. Sie hatten mich in der Blüte meines neurasthenischen Leidens übernommen, ich war zweifellos das Musterbild aller Unausstehlichkeit; und in einer Zeit, da ich selbst es schroff abgelehnt hätte, mit so einem Subjekt umzugehen, widmeten sie sich dem Unhold, er mit beruhigendem Phlegma, sie mit einem Temperament, das mich nicht selten aus dem Elend der Minute gewaltsam herausschleuderte. Frau Ella war – und ist noch heute – die Weltgewandtheit in Person, jeder Situation gewachsen, mit divinatorischem Verständnis begabt, Meisterin aller Verkehrskünste. Hier wollte ich in einen Park, der nach irgend einer Verfügung geschlossen und fürs Publikum unzugänglich war. Im Moment erfand sie eine Sesam-Formel, und das verschlossene Gehege sprang auf. Hier spürte ich ein unstillbares Gelüst nach einer kulinarischen Unmöglichkeit, von der ich nicht einmal den Namen wußte. Sie erriet, was ich meinte, und in der nächsten Stunde stand das Ersehnte, Undefinierte, auf einem Tischleindeckdich. Man hatte für ein Bahnziel den letzten Zug versäumt und geriet dadurch in Verlegenheit. Wenn Frau Ella ihre Kombinatorik spielen ließ, offenbarte sich plötzlich eine Verbindung durch einen überletzten Zug, der gegen alle Ansage der Fahrpläne auftauchte. Es gab für sie keine Sprachschwierigkeit, sie verstand das Unverständliche, und ich glaube, sie hätte erforderlichenfalls Hindostanisch gesprochen.

Ein Kuriosum: Wir hatten uns sehr gebildet unterhalten und waren an einem Zitat von verschleierter Herkunft hängen geblieben. Die Frage: von wem mag das sein? chikanierte uns, allein es war ersichtlich, daß wir für dieses hirnbohrende Exempel keine Lösung finden konnten; selbst wenn ein Büchmann unter uns geweilt hätte. Bald darauf brachte Frau Ella die Aufklärung: jene Verszeilen stammten aus der »verhängnisvollen Gabel« des Grafen Platen. Das hatte sie ermittelt durch einen Eilbrief an den damaligen Reichskanzler, zu dem sie sonst nicht die geringste Beziehung besaß. Sie wußte nur, daß der Fürst Bülow sich auf den Zitatensport verstand, und dies genügte ihr, um den höchsten Reichsbeamten vor ihren Fragekasten zu spannen. Und der Fürst drückte ihr eigenhändig und postwendend Platens Gabel in die Hand.

Frau Ella paßte in die Landschaft, und sie war die einzige mir bekannte Person, deren innere Schwingungsfäden auf das rein Intelligible dieser Welt reagierte. Sie vernahm wie ich das Transzendentale. Dort drüben, hoch auf dem Schloßfelsen der Grimaldi, wiegte sich eine einsame Palme wie verloren, in abgetrennter Silhouette. Kein Fremder hat sie beachtet, und der Eingeborene erst recht nicht, denn unten auf Promenaden und in Parken gab es ja viele Hunderte von der Sorte. Aber uns beiden wurde sie ein elegisches Sinnbild, und sie flüsterte uns Geheimnisse zu: von einer atavistischen Beziehung der Empfindungen zur Vorwelt im Orient. Sie sang uns eine leise Arie über das Motiv: Heimweh nach Mesopotamien, nach dem Garten von Eden. Ein singuläres Lied, wie der Einzeltraum des Fichtenbaums im Norden von der Palme, die einsam und schweigend trauert auf brennender Felsenwand. Von ihr wird der Sehnsuchtstraum aufgenommen und fortgesponnen über unvordenkliche Zeiten hinweg, und unser eigenes Sehnen regt sich beim Winken der Pflanze. Aber eines Tages blickten wir vergebens nach der Palme auf dem Felsen, sie war und blieb verschwunden. Ob sie von einer vandalischen Axt gefällt wurde, ob sie an Heimatsweh starb, wir haben es nicht erfahren.

Ich glaube schon erwähnt zu haben, daß ich es in Monte Carlo niemals sehr lange aushielt; das wäre mir wie beständiges Atmen in reinem Sauerstoff gewesen, allzu lustvoll und gefährlich. Aber auch in meinem gewöhnlichen Domizil, in Nizza, hielt ich durch viele Jahre an der Gepflogenheit fest, die klimatischen und gesellschaftlichen Erregungen durch regelmäßige Berufsarbeit zu kompensieren. Ich begann damit alltäglich am frühesten Morgen in meinem schmucklosen Zimmer, das nur auf öde Häuserrückwände Aussicht bot – und auf die Südsonne, die es selten versäumte, mir den Vormittag zu vergolden und mich beim Hervortauchen über den Hausfirsten in eine Chantecler-Stimmung zu versetzen.

»Oh, monsieur est tres - matinal!« rief meine Wirtin regelmäßig, wenn ich um sieben Uhr das Frühstück verlangte, ganz im Widerspruch zur Hausordnung, deren Langschläferei ich allein durchbrach, der einzige Deutsche in dem kleinen stockfranzösischen Gasthof. Aber nie und nirgends bin ich besser bedient und eifriger versorgt worden als bei jener vortrefflichen Hotelmama, die dem schreibseligen Herrn mit dem unaussprechlichen Namen alle Wünsche von den Augen ablas. Ich stammte, ihrer Vorstellung nach, aus einer Stadt hoch im unwirtlichen Norden, oh, noch viel nördlicher als Grenoble, so etwa zwischen Lappland und Kamtschatka, und da war eine froststarrende Stadt Berlin, für deren Zeitungen ich Artikel verfaßte. Was wohl darin stünde, wollte sie gelegentlich erfahren. Ich erläuterte ihr den Sinn der Riviera-Berichte; meinen Landesgenossen mache es Freude, Gedrucktes über ein so glückseliges Land zu lesen, in dem auch ein Deutscher, mancher früheren Spannung ungeachtet, eine Art von Heimat finden könne; und ich selbst verlöre nie den Gesichtspunkt außer Augen, so viel ich als homme de lettres vermöchte, alles recht lieblich auszumalen zugunsten wachsender Freundlichkeit zwischen den Ländern, die bei aller Verschiedenheit des Klimas geistig und moralisch zusammengehörten.

Aber etliche Jahre darauf hätte ich bei solcher Erklärung an den Worten und Silben würgen müssen. Ich spürte den Umschwung, spürte ihn deutlicher als Hunderte von Leitartiklern und Dutzende von diplomatischen Zünftlern, die auf Gesandtschaft und Konsulaten die Vogelstrauß-Methode übten und mit dem Kopf in den Akten sich vor der Wirklichkeit verschlossen.

Gar nicht zu reden von den Allerweltsfahrern, den Baedekermenschen, die immer nur den internationalen Regenbogen vor sich sahen, nicht die Gewitterwolken dahinter, immer nur den anmutigen Tanz auf einem Boden, der ihnen je nachdem als Parkett oder Wiesenflur erschien, ohne zu ahnen, daß sie auf Lava standen, unter der es vulkanisch zu sieden begann.

Meine zahlreichen deutschen Freunde da unten, Passanten wie angesiedelte, schwammen nach wie vor im sanften kosmopolitischen Fahrwasser; nicht ein einziger, wörtlich zu verstehen, wurde gewahr, daß da etwas vorging. Von den Warnzeichen der Außenwelt drang ja keines bis in das ligurische Idyll, wo man ungestraft unter Palmen wandelte. Lasen die Freunde keine Zeitungen? O ja, sie blätterten täglich im Eclaireur, im Petit Niçois, auch im deutschen »Riviera-Tageblatt« und lasen von rauschenden Festen, mondänen Empfängen, Redouten in allen Farben, Konfettigestöber, aber sie lasen nicht, was zwischen den Zeilen der französischen Blätter, zwischen den Spalten stand, und wenn sie es lasen, so verstanden sie nicht die Geheimsprache, die hier angeschlagen wurde.

In den pomphaften Karnevals-Umzügen tobte sich der Witz der Bevölkerung aus, satirische Feuerwerke entzündeten sich, aber nicht eine Rakete zischte gegen irgend etwas Deutsches. Alles Lokale, alles Französische, bis hinauf zu den Landesspitzen in Paris wurde durchgehechelt, mit sarkastischer Laune bespritzt, aber niemals wagte sich ein Spott gegen das Deutschtum auf die lachende Straße. War das nicht beweiskräftig? Während der Blumenschlachten zogen französische Flieger durch die Lüfte, warfen auf die Menge Büsche von Veilchen und Rosen, die wie Freundesgrüße aus den Wolken anmuteten, und frohgelaunt erhaschten die Deutschen diese duftenden Spenden, die ja auch ihnen galten, unterschiedslos, wie flatternde Symbole weltbürgerlicher Gleichheit und Brüderlichkeit. Nein, es wäre überflüssige Anstrengung gewesen, auch nur eine Sekunde an mißtrauische Gedanken zu verschwenden.

Da blitzte mancherlei auf, was auf einen anderen Karneval deutete: lauernde Augen hinter Masken, unheimlich metallisches Funkeln unter Dominogewändern; griff man aber nach den kleinen obskuren Radaublättern, die an der Küste erschienen, so stieß man auf deutlichere Zeichen der Stimmung in der Tiefe. Dem Durchschnittsfremden fallen diese dunklen Organe selten in die Hände, er würde sich auch in ihren provinziellen Anspielungen nicht zurechtfinden. Der Ortskundige aber – und zu diesen durfte ich mich zählen – konnte nicht daran vorbei, daß hier geheime Signale ausgesteckt wurden. Sie beunruhigten mich auf Minuten, in denen der Schatten Déroulèdes an uns vorbeihuschte, bis mich der zauberische Frühling ringsum und all das fröhliche Treiben der allgemeinen Stimmung wieder zurückgaben.

Von fernher kamen einem Notizen zwischen die Finger über eine erhöhte Tätigkeit fachmilitärischer Federn vom Schlage der Civrieux, Driant, Regarney, Boucher. Man las von der »Schlacht auf dem Birkenfelde«, von ähnlichen phantastischen Voraussagen französischer Siege im konstruierten Zukunftskrieg. Und wenn man auf Sekunden hellblickend ward, konnte es der Aufmerksamkeit nicht entgehen, daß auch der Südfranzose mit dieser Zukunft liebäugelte, der nämliche Nizzarde, der anscheinend kein höheres Interesse kannte, als den Deutschen und Österreichern, seinen Geldimporteuren, das Leben so angenehm wie nur möglich zu machen; wie mir einmal ein confrère von der Zunft, und noch dazu ein recht gebildeter, ganz harmlos bekannte: »Que voulez-vous, nous vivons ici des étrangers, des élections et de nos femmes«; mit Voranstellung der Etrangers, die ja tatsächlich Stern und Kern des ganzen lebensfrohen Betriebes am lachenden Gestade bedeuten.

Erschrak man dann plötzlich über einen unvermuteten Blitz aus heiterem Himmel, so fiel es nicht allzu schwer, sich in das Gefühl des sonnigen Rivierafriedens zurückzuversetzen. Man brauchte bloß eine der zahlreichen Wirtschaften der Avenue de la Gare zu betreten, um Mutterlaute in der Landessprache zu vernehmen: – un boc – un hareng saur – un bittèr – un kummél – un knickebein – des brezèls (Brezeln) – le tringuelte dans la kneipe – das waren schließlich Gegenständlichkeiten, die im Augenblick drastischer wirkten als irgendwelche gelegentliche Chauvinismen, die man ebensogut bemerken wie ignorieren konnte.

Blicke ich zurück, so erscheinen mir gewisse über das azurblaue Gelände dahinzüngelnde Schwefelflämmchen greller als vordem; aber auch damals deuteten sie mir auf Möglichkeiten einer Zukunft, die inzwischen grelle Gegenwart geworden ist. Die Notizen hierüber besitzen natürlich keinen offiziellen Wert und würden in kein diplomatisches Buntbuch hineinpassen. Sie vereinigen sich indes zum privaten Graubuch eines Wanderers, dessen Blätter im Lichte der späteren Ereignisse Bedeutung gewinnen.

Auf einem dieser Blätter steht ein Ausflug, auf dem ich französischen Rekruten begegnete, anno 1912, Kindern des Landes, die gewiß so wenig an baldigen Krieg dachten wie alle Welt um sie herum. Aber auf den Militärwagen hatten mutwillige Hände allerhand Kreidestriche gezogen, und zwischen harmlosen Blüten der Rekrutenlaune las der Wanderer: »à bas l'Allemagne!« Ja, diese Kritzeleien verstiegen sich an versteckter Stelle bis zu dem blutrünstigen »Mort aux Allemands!« Woher war diesen jungen Leuten dieser lauernde Haß gekommen? Von den Eltern her? die den Deutschen kaum je anders als in der Gestalt des geldstreuenden Landesbefruchters gesehen hatten?

Einen leisen Hinweis finde ich auf Seite 2 meines Graubuches. Ich hatte in französischen Leitfäden geblättert, die zum ersten Schulunterricht dienen, und fand darin eine merkwürdige Geographielehre: nämlich Grenzlinien, die den Frankfurter Frieden ablehnten; Elsaß-Lothringen in französischen Umrißfarben mit einer Schraffierung, die den Schulkindern erläuterte: Okkupationsgebiet in zeitweis deutscher Verwaltung. Also ein pädagogisches Seitenstück zur Statue der Stadt Straßburg auf dem Pariser Konkordienplatz mit ihren beständig zur Revanche aufrufenden Trauerfloren.

Aber in die Wahrnehmungskreise der Normalfremden drangen solche Dissonanzen niemals ein. Über der Schwelle ihres Bewußtseins lagerten noch immer die Freundlichkeiten; gab es doch sogar in den Theaterrevuen Figuren, die man bei gutem Willen als germanophile Merkbilder auslegen konnte. Bis plötzlich in jenem Jahre 1912 ein Drama hereinplatzte, das bei Sonne und Windstille einen nahen Wettersturz ankündigte.

Auf Seite 3 meines Graubuches steht, der Titel dieses merkwürdigen Stückes: »Coeur de Française«. Eine Wandertruppe hatte es mitgebracht, und wer sich um die Provinzpresse kümmerte, konnte erfahren, daß viele solcher Truppen unterwegs waren, um Schauspiele gleicher Tendenz in Hunderten von Vorstellungen hinauszutragen. »Coeur de Française« war ein äußerst geschickt auf die Instinkte der Masse berechnetes Revanchestück wie »Alsace« aus dem Repertoire der Réjane, wie ähnliche Giftblüten, die damals auf dem Boden des Nachbarlandes wucherten; umso gefährlicher, als die Revanche-Idee darin nicht nackt vorgetragen wurde, sondern unter der szenischen Decke eines freiheitlich aufgedonnerten Patriotismus brütete. Zahlreiche preußische Uniformen belebten die Bühne, und in einer Kriegsgerichtsszene war sogar dem Bilde Wilhelms II. die Rolle einer herausfordernden Karikatur zuerteilt. Ich stellte mir den unmöglichen Fall einer reziproken Begebenheit vor: ein auf deutschem Boden dargestelltes Theaterstück mit ähnlicher Verunglimpfung des französischen Staatsoberhaupts; das wäre unfehlbar schon in den ersten Szenen vom Publikum gelyncht worden! Und hier? Mir stockte der Puls, als ich die Stimme der Hörerschaft vernahm, das berechnete und pünktlich hervorbrechende Echo der dramatischen Absicht. Und als ich nach Mitternacht hinaustrat, um mir den brennenden Kopf in der Meeresbrise zu kühlen, da wußte ich deutlicher, als ich es nach der aufgeregtesten Kammerdebatte im Palais Bourbon gewußt hätte, wohin der Weg ging.

Andere Deutsche außer mir werden sich wohl kaum bei jener Vorstellung im Parkett befunden haben; ich füge hinzu, auch keine Engländer, keine Russen; man hatte das Gefühl: die Leute in dieser Theaterspelunke waren unter sich. Die nämlichen Menschen, die tagsüber als lächelnde Verkörperungen der friedlichsten Neutralität umherliefen, zeigten einander abends ihre Erkennungszeichen, murmelten ihre Verschwörungsformeln.

Ich wandte mich mit meinen Wahrnehmungen an unsere Behörden und stieß auf gewolltes Nichtwissen. Was mir denn einfiele?! Die Politik und die Weltgeschichte würde in den Kanzleien gemacht, nicht in den Amüsierlokalen. Bloß nicht zufällige Theaterstimmungen in die Akten hineintragen, bloß nicht die offizielle Melodie verderben und den amtlichen Text: ein Herz und eine Seele!

Die weiteren Seiten meines Graubuches sind leer. Es hatte keinen Zweck mehr, Symptome einzuzeichnen, da die Wirklichkeit bereits an die Schicksalspforte zu pochen begann und die Schatten der apokalyptischen Reiter über die Erde fegten. Noch waren die anderen, meine Freunde und Kollegen, in glückseliger Taubheit befangen, und sie verlachten im Trubel der Festivitäten meine Kassandrarufe während der Galgenfristen bis 1914. Aber im Zuge dieser Betrachtungen öffnet sich die Frage: wird für den Deutschen die holde internationale Täuschung der Riviera in irgendwelcher Zeit wiederkehren? Wird ein Wanderer nach fernen Jahren ein neues Buntbuch anfangen können, ein in Azurfarbe gehaltenes Blaubuch? Mit Vignetten von schaukelnden Agaven und klingendem Silberschaum an Küstenpunkten, zwischen denen Hapagschiffe den Verkehr vermitteln? Ich habe in meinem Dasein sehr viel richtig prophezeit und könnte hier die Prognose umso leichter wagen, als mich eine Widerlegung bei Lebzeiten nicht mehr betreffen wird. Aber ich unterdrücke sie, da die Voraussage so oder so in keinem Fall einen rechten Sinn hätte. Die Vorfrage müßte lauten: wird in dereinstigen Zeiten die Verfassung der Menschennatur überhaupt noch fähig sein, Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten, wie sie uns als beglückend im verlorenen Paradies gegenwärtig waren?

Der Optimismus soll das Wort haben. Also in zehn oder zwanzig Jahren soll sich die reizende Szene wiederholen mit den Fliegern, die aus den Wolken auf den Rivierakorso Veilchen und Rosen streuen. Aber dazu wird die geschichtliche Erinnerung ihren Begleitkommentar liefern mit einer andern Art von Wurfgeschossen und Zielen. Und dabei wird man sich auch entsinnen, daß in der Fliegeridee von Urbeginn nichts anderes gelegen hat als Mord und Verwüstung. Denn kaum hatten die Montgolfiers ihre ersten Proben aufsteigen lassen, als die weisen Prognostiker der Welt ansagten, das wahre Wesen und die Zukunft aller Fliegertechnik läge in kriegerischer Zerstörung. Das hatte man in vergangenen Korsos nur vergessen, das Exempel war ja noch nicht bewahrheitet; die Zukunft indeß wird solchem scharmanten Luftspiel ein anderes Bewußtsein entgegenstellen mit dem Bekenntnis: oblivisci nequeo!

Aber der Optimismus kapituliert nicht so leicht. Er läßt alle Lichter vom ewigen Frieden und vom Völkerbund spielen, mit Berufung auf Kant, der für die Möglichkeit, ja Gewißheit dieser Dinge die allgemeine Überzeugung in Anspruch nimmt; denn ohne die Voraussetzung dieser Denkform als einer allgemeinen wäre die Kantische Konstruktion gar nicht möglich. Aber zu Kants Zeiten lebte ein Ketzer, der diese Allgemeinheit ganz anders, nämlich genau entgegengesetzt beurteilte und hierfür den rücksichtslosen Ausdruck fand: ». . . daß der philosophische Chiliasmus, der auf den Zustand eines ewigen auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens hofft, ebenso wie der theologische, der auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harrt, als Schwärmerei allgemein verlacht wird.« Wer war dieser freventlich unkende Ketzer, dieser grimmige Verneiner des messianischen Reiches? Er hieß Immanuel Kant, und er war identisch mit dem Verfasser der philosophischen Bibel vom ewigen Frieden.

*

Zu meiner Zeit, etwa um die Jahrhundertwende, als uns der Südstrand noch als das Land der Verheißung anlächelte, wurde einmal die Gesellschaft durch eine sardanapalische Szene alarmiert. Ein trotz seiner Jugend in allen Lebenskünsten erfahrener Nabob veranstaltete in Monte Carlo eine Orgie größten Stiles mit zahlreichen Eingeladenen, die ihn als das Muster eines freigebigen Hedonikers verehrten. Um Mitternacht, als die Festwogen hochgingen, hielt er eine Ansprache an die Genossenschaft: er wäre glücklich, schon mit seinen zweiundzwanzig Jahren alles ausgekostet zu haben, was das Dasein an Genüssen zu bieten vermöchte, und er halte den gegenwärtigen Moment als den Gipfelpunkt aller denkbaren Wonne für so wertvoll, daß er gesonnen sei, sich gegen jede mögliche Abschwächung der Sensation sicherzustellen. Dabei zog er aus der Brusttasche einen Revolver und erschoß sich mitten im Bacchanal. Derartige sittenverderbte Exentrics werden in der Zukunfts-Riviera nicht mehr vorkommen. Deren Insassen werden sich mehr und mehr dem Weltnivellement angleichen, sich mit sozialer Heilslehre durchdringen und besonders auch einen gesunden Haß gegen luxuriöse Extravaganz nähren. Sehr zu beneiden sind die Chronisten der Fernzeit mit ihren gegen ehedem sehr vereinfachten Aufgaben, besonders meine Heimatskollegen von anno dereinst. Für sie fällt die Plage der Landschaftsbeschreibung fort, da die ganze Palmenküste ohnedies jedermann so bekannt sein wird wie die Gegend von Schierke, Elend und Sorge, – vorausgesetzt, daß der Optimismus Recht behält mit seiner Prognose der friedlichen Gastlichkeit in aller Welt. Meine Fernkollegen brauchen auch ihre Entrüstung gegen die Luxusstätten nicht zu mobilisieren, denn diese werden bis dahin vom Fortschritt der Gewissenskultur längst ausgemerzt sein. Eine Hauptsache nicht zu vergessen: schnurgrade Verbindung ab Berlin bis Nizza in drei Stunden, wodurch der lästige Ausguck auf Gotthard- und Apennin-Szenerie vermieden wird; und dieses einzig menschenwürdige Tempo wird unsere Enkel außerordentlich glücklich machen!


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