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Das nächste Mal – so hatte eine Unterredung geschlossen – das nächste Mal, wenn Sie darauf bestehen, soll von Entdeckungen im allgemeinen die Rede sein. Das war mir eine besondere Verheißung. Denn hier galt es, einem Urquell der Belehrung nahezukommen, Aussprüche erfahren, über die hinaus man eine höhere Instanz wohl nicht aufzusuchen braucht.
Es ist uns verschlossen, einen Galilei über die Grundlagen der Mechanik mündlich zu befragen, einen Kolumbus über die inneren Vorgänge eines Seefahrers vor einer großen Landauffindung, einen Sebastian Bach über die Wertung des Kontrapunktes. Aber ein großer Entdecker lebt unter den Zeitgenossen, der uns Aufschluß geben will über das Wesen der Entdeckung selbst. Hätte ich nicht die Bedeutsamkeit verspüren sollen, die in dieser Zusage lag?
Ich wurde schon vorher von Betrachtungen überstürmt, die in mir aufbrachen, sobald sich nur das Stichwort »Entdeckung« anmeldete. Es gibt, so schien mir, nichts höheres; der Menschheit Einlagerung im Kreise des Erschaffenen, die Summe seiner Erkenntnisse kann abgeleitet werden aus der Summe der Entdeckungen, die in den Begriffen Kultur und Weltanschauung gipfelt, wie sie selbst durch die Weltanschauungen mitbedingt werden. Man könnte fragen: was geht vorher, was folgt nach? Und vielleicht könnte man schon in dem Doppelsinn dieser Frage den Keim der Beantwortung finden. Denn im letzten Grunde darf man die zwei Elemente gar nicht nach Ursache und Wirkung, nach Grund und Folge auseinanderspalten.
Keines ist primär, keines sekundär: sie sind auf das innigste verwoben, bieten nur verschiedene Aussichten ein und desselben Geschehens. An der Wurzel dieses Geschehens liegt der grundsätzliche Glaube an die Begreiflichkeit der Welt, der unerschütterliche, als elementarer Naturtrieb durchgreifende Wille aller denkenden Menschen, die wahrnehmbaren Vorgänge im Universum in Übereinstimmung zu bringen mit den inneren Vorgängen im Denken selbst. Ewig bleibt dieser Trieb, verschieden und dem Zeitwechsel unterworfen gestaltet sich nur die Form der Versuche, die Begreiflichkeit der Welt für uns zu vollenden. Die Versuchsform findet ihren Ausdruck in der jeweiligen Weltanschauung, die jede Entdeckung reifen lässt, wie sie selbst schon Bestandteile der reifen Entdeckung in sich trägt.
Schon auf diesem Punkte der Betrachtung glaubte ich einer Deutung der Einsteinschen Geistestat nahe zu sein. Sein Relativitätsprinzip entspricht ja tatsächlich einem regulativen Weltprinzip, das sich uns im Weltgeschehen mächtig genug eingebohrt hat. Wir haben das Ende des Absolutismus erlebt, die Maße der Machtfaktoren haben uns die Relativität, ihre Veränderlichkeit nach Standpunkt und Bewegung erwiesen, mit einer Entschiedenheit, an die kein Erlebnis früherer Geschichtsperioden heranreicht. Die Welt war in ihrer Anschauung reif geworden für eine abschließende Gedankenleistung, die das Absolute auch physikalisch-mathematisch, also restlos vernichtete. So zeigte sich Einsteins Entdeckung im Lichte der Notwendigkeit.
Ein leiser Zweifel befiel mich trotzdem. Einsteins Entdeckungen traten im Jahre 1905 hervor, als von den Stürmen, die seither in der Welt den Absolutismus entwurzeln sollten, kaum noch ein Vorwind zu spüren war. Wie nun, wenn in die Weltgeschichte und damit in die Weltanschauung eine andere Notwendigkeit hineingespielt hätte? Wir wissen heut aus urkundlichen und unbezweifelten Darstellungen, dass alles von uns in Krieg und Revolution Erlebte an dem haarfeinen Faden einer vereinzelten, äußerlich ganz unscheinbaren Menschenexistenz gehangen hat; – an einer Bürokratenfigur in der Wilhelmstraße, an einem galligen Sonderling, der das englisch-deutsche Bündnis, um die Jahrhundertwende sechs Jahre lang immer wieder von drüben dringlich angeboten, zu vereiteln gewußt hat.
In dem dröhnenden Gang der Historie kann die geheime, kleinliche Nagearbeit eines Maulwurfs nicht als weltgeschichtliche Notwendigkeit gewertet werden. Denkt man sie aus dem Gesamtbild fort, so bleibt als Ergebnis das genaue Gegenteil unserer Erlebnisse. Der Absolutismus wäre nicht über Bord gegangen, sondern er hätte voraussichtlich erstarkt auf Jahrhunderte das Steuer geführt, als Exponent einer deutsch-englischen Welthegemonie. Und eine grundsätzlich anders gerichtete Weltanschauung würde heut auf dem Erdball regieren.
Aber die Einsteinsche Relativitätstheorie hätte danach nicht im geringsten gefragt. Sie wäre entstanden unabhängig von Formen der geschichtlichen Weltanschauung, nur aus dem Grunde einer geistigen Fälligkeit. Eben deswegen, weil Einstein lebte und dachte. Und die Frage, ob sie auch für den Nichtphysiker den Absolutismus erschüttert hätte, ist nicht zu beantworten.
Ja, man könnte sogar bezweifeln, ob sie überhaupt schon fällig war. Bei manchen bedeutsamen Geisteserscheinungen läßt sich dies fast auf das Jahrzehnt nachweisen. So etwa bei der Deszendenztheorie, die tatsächlich in mehreren Köpfen gleichzeitig keimte, und unbedingt aus einem herausspringen mußte, selbst wenn die andern versagten. Ich möchte die Ansage wagen: Ohne Einstein hätte die Relativitätstheorie im weitesten Sinne, also mit Einschluß der neuen Gravitationslehre, möglicherweise noch zweihundert Jahre auf ihre Geburtsstunde zu warten gehabt.
Der Widerspruch beginnt sich zu lösen, wenn man die Zeiträume weit genug absteckt. Die Weltgeschichte richtet sich nicht nach den Zeitmaßen der Politik und des Journalismus, und die Weltanschauungen rechnen nicht nach den Einheiten der Tagesuhr. Die Weltanschauung des Aristoteles hat das Mittelalter beherrscht, und die des Epikur wird sich vielleicht erst in der kommenden Generation voll durchsetzen. Gibt man aber den säkularen Maßstab zu, so bleibt der Zusammenhang zwischen ihr und der großen Entdeckung bestehen.
Wer es unternimmt, dieser Bedingtheit nachzuforschen, der kann an der Tatsache nicht vorbei, dass das Resultat allerdings fast durchweg schon nachweisbar vorgebildet war, in reiner Anschauung, bevor noch die große Entdeckung – oder Erfindung – es in voller Begreiflichkeit hinzustellen vermochte. Selbst die Tat eines Kopernikus würde sich dieser allgemeinen Entwickelungsregel fügen: Sie war die letzte Ausfolgerung des sonnenmythologischen Bewußtseins, das die Menschheit niemals verlassen hatte, mochte auch Kirche und Eigenwille noch so stark auf die geozentrische Anschauung hindrängen. Kopernikus faßte zusammen, was aus uralter Priesterweisheit – und die reicht bis in energetische und elektrische Vorstellungen von heute – was aus Anaxagoras und Eleaten unter der Schwelle des Bewußtseins sich lebendig erhalten hatte, seine Entdeckung war die Verwandlung eines Mythos in Wissenschaft. Die Menschheit, die mit schweifender Phantasie ahnt, dann denkt und wissen will, bedeutet die Großausgabe des einzelnen Denkers. Der sieht nur weiter, da er sozusagen auf den Schultern einer weltanschauenden Gesamtheit steht.
Nehmen wir ein Beispiel aus der neuesten Anschauungs- und Entdeckungsgeschichte. Der Ablauf der Geschehnisse in völliger Stetigkeit und Lückenlosigkeit gehörte zu den allgemeinen Denkformen, wird auch noch heute von ernstzunehmenden Philosophen als ein sicherer Bestandteil der Weltanschauung vorgetragen. Der alte, durch Linné popularisierte Satz »die Natur macht keine Sprünge« gehört zu den Wortformeln dieser anscheinend unantastbaren Erkenntnis. Aber im Unterbewußtsein der Menschen hat stets ein Widerspruch dagegen bestanden, und wenn der französische Philosoph Henri Bergson es unternahm, mit metaphysischen Mitteln jene Stetigkeitskette zu zerreißen, der menschlichen Erkenntnis einen sprunghaften, geradezu kinematographischen Charakter zuzuweisen, so verkündete er nur als beredtsamer Lautsprecher, was eine noch unfertige neue Weltanschauung im Stillen mit sich herumgetragen hatte. Bergson hat da nichts »entdeckt«, er wie die Anschauung haben nur hindurchgefühlt in ein neues Feld der Erkenntnis, dass die wirkliche Entdeckung reif und fällig war. Und tatsächlich wurde diese in unseren Tagen geliefert von dem hervorragenden Physiker Max Planck, dem Träger des Nobelpreises von 1919, in seiner »Quantentheorie«. Nicht so zu verstehen, dass nunmehr eine gärende Weltanschauung und eine Errungenschaft der strengen Forschung restlos ineinander aufgingen; aber doch insoweit, als hier mit dem Rüstzeug der exakten Wissenschaft ein unstetiger, sprunghafter Ablauf, eine atomistische Struktur nachgewiesen wurde in Energien, für welche die landläufige Anschauung vordem eine ganz ebenmäßige, unabgeteilte Ausstrahlung verlangte. Hier lag wohl kein zufälliges Zusammentreffen neuphilosophischer Anschauung und physikalischer Begründung vor, sondern ein Erfordernis der Zeit, in der sich ein neues Denkprinzip zur Geltung durchringen will.
Schwieriger ist es, wie schon angedeutet, von Einsteins Entdeckungen zu vorausgehenden relativistischen Ahnungen die Brücke zu schlagen. Denn mit der bloßen Berufung auf den Niedergang des Absolutismus in der Welt menschlicher Geschehnisse kommen wir da nicht aus. Bei Einstein erlebten wir ein so ungeheures Vorstürmen der Gedanken eines Einzelnen, dass man beinahe im Sinne der Quantentheorie an eine Unstetigkeit im Ablauf der geistigen Weltgeschichte glauben muss. Und doch sind die inneren Fäden, die Einsteins Tat mit vorausahnender Anschauung verknüpften, sicher vorhanden. Nur dass man hier auf Jahrhunderte verteilen muss, was sich bei anderen Entdeckungen schon im Vergleich nach Jahrzehnten als Parallelerscheinung ergeben kann. Jener Faustische, in der Brust der Denkenden wühlende Zweifel, »ob es auch in jenen Sphären ein Oben oder Unten gibt« – er reicht bis zu Pyrrhon und Protagoras –, ist bereits relativistisch, ist der Zweifel an der Gültigkeit des durch den eigenen Lebensmittelpunkt gelegten Koordinatensystems. Hier handelt es sich im letzten Grunde um Standpunktsäußerungen, und die mathematisch-physikalischen Ausfolgerungen der unendlichen Fragen, der Beziehung, die sich aus dem »Oben-Unten« entspinnen, führt ja wohl zur neuen Erfassung der Weltkonstitution. für welche Einsteins Schaffen den erlösenden Ausdruck in abstrakter Sprache gefunden hat. Und von hier wird sich in weiterer Wechselwirkung ein neuer Strom der Erkenntnis in vernebelte Gelände der Philosophie ergießen. Reform an Haupt und Gliedern unserer Weltanschauung scheint unabwendlich, Reform zumal an den Vorstellungen von Raum und Zeit, vielleicht sogar Reform der Begriffe von der Unendlichkeit und von der Kausalität. Viel Schutt wird abzuräumen sein aus alten Denkkategorien und Weltweisheiten, die einst zum Baustoff schöner Gebäude gehörten. Wie die schöneren aussehen werden, die auf physikalischen Befehl an deren Stelle treten müssen? Wer wollte sich heute getrauen, das zu ermessen?
Vieles wird wanken, und es könnte sich ereignen, daß selbst das trotzige »Ignorabimus«, der Gegenpol der Wahrheitsforschung von Pyrrhon bis Dubois, aus seiner Verzichtstellung heraustreten wird. Denn der verzweifelnden Unsicherheit gegenüber besteht die eine Gewißheit: Das Unbegreifliche wird mehr und mehr eingekreist durch die großen Entdecker! Und wenn auch der absolute Konvergenzpunkt nie zu erreichen ist, so ergibt sich ein anderer Punkt als greifbar ruhender Pol in flutender Weltanschauung: ein moralischer Pol, umkreist von Strömungen des Glücksgefühls. Im Mittelpunkt dieser Weltanschauung steht der erhebende Glaube an einen Erkenntnisfortschritt trotz alledem, an das Verschwinden uralter Rätsel und Schwierigkeiten unter dem Sturm der Entdeckungen. Und wenn sich danach und daneben immer neue Rätsel und Schwierigkeiten auftun, so vermögen diese das Siegesgefühl nicht abzudämpfen. Jede Tat auf diesem Felde wirkt wie eine Befreiung von Vorurteilen, nicht zum wenigsten auch von Engherzigkeiten der Gesinnung zwischen den Völkern. Die Entdecker konstruieren nicht nur Gedankenbrücken, die in Siriusfernen reichen, sondern, was schwerer, sie bauen Gefühlsbrücken, die politische Hemmungen überspannen. Jeder Denkende, der teilnimmt an großer Entdeckung, der sich erschauernd beugt vor neuer Geistestat, nähert sich der politischen Universalreligion, dem Glauben an den Völkerbund des Geistes. Dass sich eine Einheit anbahnen muß in den Anschauungen hüben und drüben, und dass jede große Entdeckung an diesem Werk mithilft, – das ist der Kern einer Weltanschauung, der die Zukunft gehört.
Wenn nach Pascals wundervollem Wort das menschliche Wissen eine Kugel darstellt, die in dauerndem Wachsen begriffen ihre Berührungspunkte mit dem Unbekannten vermehrt, so knüpft sich an diese Ansage kein Verzagen. Nicht die Vergrößerung des Unbekannten, einzig die des Wissens rührt mit ethischer Gewalt an unsere Empfindung. Das Positive äußert sich uns als eine lebendige Kraft, aus dem Bewußtsein heraus, dass die Wissenskugel zum Wachsen bestimmt ist, und dass es für alle geistigen Energien keinen höheren Befehl gibt, als den Ruf zur vereinigten, zur welteinigenden Mitarbeit an diesem Wachstum.
Solcher Betrachtungen voll, betrat ich das Heim des großen Entdeckers, dessen Wirken mir unausgesetzt als Paradigma vorschwebte. Ich fand ihn, wie fast stets, vor losen Papierblättern, die sich unter seiner Hand mit mathematischen Zeichen bedeckt hatten, mit Runen jener Weltsprache, in denen, nach Galilei, das große Buch der Natur abgefaßt ist.
Wie anders stellt sich mancher Fernstehende die Arbeitsweise eines Himmelsforschers vor! Man denkt sich ihn wie einen Tycho Brahe von seltsamen Apparaten umgeben in einem Kuppelbau, mit dem Forscherauge am Okular eines durchdringenden Refraktors in das Weltall spähend, dem er die letzten Geheimnisse ablauscht. Das wirkliche Bild entspricht dieser Vorstellung nicht im mindesten. Nichts gemahnt in der Aufmachung des Raumes an transterrestrische Erhabenheit, keine instrumentale noch bibliothekarische Fülle tritt uns entgegen, und man wird bald inne, dass hier ein Denker waltet, der zu seiner weltumspannenden Arbeit nichts anderes braucht, als seinen eigenen Kopf, allenfalls noch ein Blättchen Papier und einen Schreibstift. Was da draußen die Institute der Sternwarten bewegt, was zu großen wissenschaftlichen Expeditionen Anlass gibt, ja, was in letztem Betracht die Beziehung der Menschheit zur Verfassung des Universums reguliert, die Revolution in der Erkenntnis der Dinge zwischen Himmel und Erde, all das vereinigt sich hier in der schlichten Erscheinung eines jugendlichen Gelehrten, der aus seines Gehirnes Rocken unendliche Fäden herausspinnt. Und ein Dichterwort steigt vor uns auf, das an alle gerichtet, unter den Lebenden von Einem, im tiefsten Grunde erfüllt wurde:
Wo du auch wandelst im Raum, es knüpft dein Zenith und Nadir
An den Himmel dich an, dich an die Achse der Welt.
Wie du auch handelst in dir, es berühre den Himmel der Wille,
Durch die Achse der Welt gehe die Richtung der Tat!
Dieser eine hier hat es mitverwirklicht, dessen Gedankengang ich unterbreche, um mit der Frage anzuklopfen: Was ist und was bedeutet »Entdeckung«?
Eine durchaus begriffliche Frage, die manchem vielleicht als inhaltlich leer vorkommen mag. Der Herr Jedermann sagt sich, so gut er es vermag, die Liste der Entdeckungen her und meint: Entdeckung ist, wenn einer etwas Wichtiges findet, die Fallgesetze, oder die Entstehung des Regenbogens, oder die Abstammung der Arten; und etwas Allgemeines ließe sich höchstens darin finden, dass man der Entdeckung etwas Hochgeistiges, Schöpferisches zuschriebe.
Ich war nun zuerst geradezu verblüfft, als ich von Einstein die Worte hörte: »Der Ausdruck ›Entdeckung‹ an sich muss bemängelt werden. Denn Entdeckung ist gleich dem Gewahrwerden einer Sache, die schon an sich fertig vorgebildet vorliegt: damit verknüpft ist der Beweis, der schon nicht mehr den Charakter der ›Entdeckung‹ trägt, sondern eventuell des Mittels, das zur Entdeckung führt.« Und hieraus erfloss bei Einstein die zuerst blank hingestellte, später am Beispiel genau erörterte Ansage: »Entdeckung ist eigentlich kein schöpferischer Akt!«
Für- und Gegenargumente schossen mir durch den Kopf, und ich mußte an einen Großmeister der Tonkunst denken, der einstmals auf die Frage »Was ist Genie?« antwortete: Genie ist, wenn einem etwas einfällt. Die Parallele wäre noch weiter durchführbar, denn ich habe tatsächlich von Einstein wiederholt als »Einfälle« bezeichnen hören, was wir andern als Denkwunder betrachten. Spricht doch auch der Philosoph Fritz Mauthner von der Entdeckung der Gravitation als von einem »Aperçu« des Newton; ja, von den »Aperçus« der altgriechischen Philosophie, worunter so ziemlich alles fallen soll, was Pythagoras, Heraklit usw. uns als Zeichen ihrer Genialität hinterlassen haben. Anderseits steckt doch in uns allen das Bedürfnis nach reinlicher Scheidung zwischen dem Einfall und dem schöpferischen Denkakt, gemäß Grillparzers Sinnspruch: »Einfälle sind keine Gedanken; der Gedanke kennt die Schranken, der Einfall setzt sich darüber weg – und kommt in der Ausführung nicht vom Fleck.«
Da müssen wir also umlernen. Denn wie zum Beispiel Einsteins »Einfälle«, von ihm selbst so empfunden und so bezeichnet, in der Ausführung vom Fleck gekommen sind, das wissen wir ja zur Genüge. Geben wir ihm das Wort zu einer kurz charakterisierenden Darstellung seines weltbewegenden »Einfalls«:
»Der Grundgedanke der Relativität,« so sagte er in diesem Zusammenhang, »ist der, dass es physikalisch keinen ›ausgezeichneten‹ (bevorzugten) Bewegungszustand gibt. Oder noch genauer: es gibt unter allen Bewegungszuständen keinen in dem Sinne bevorzugten, dass man ihn zum Unterschied von anderen als den Zustand der Ruhe bezeichnen kann. Ruhe und Bewegung sind nicht nur nach formaler anschaulicher Definition, sondern auch in ihrer tiefsten physikalischen Bedeutung relative Begriffe.«
Nun also, so warf ich ein, dies war doch wohl ein schöpferischer Gedanke! In Ihnen, Herr Professor, ist er doch aufgeblitzt, in ihm steckt doch Ihre Entdeckung, also können wir doch wohl das Wort in der uns ständig vorschwebenden Bedeutung bestehen lassen!
»Keineswegs,« erwiderte Einstein. »Es trifft nämlich nicht zu, dass dieses Grundprinzip bei mir als primärer Gedanke auftrat. Wäre es so aufgetreten, dann läge vielleicht eine Berechtigung vor, ihn als ›Entdeckung‹ zu bezeichnen. Aber die Plötzlichkeit, die Sie voraussetzen, muß eben geleugnet werden. Vielmehr wurde ich dazu schrittweise geführt durch die aus den Erfahrungen entnommenen einzelnen Gesetzmäßigkeiten.«
Einstein ergänzte, indem er den Begriff der »Erfindung« betonte und dieser einen erheblichen Anteil zuwies: »Das Erfinden tritt hier als eine konstruierende Tätigkeit auf. Hierin also liegt nicht das, was die Originalität der Sache im wesentlichen ausmacht, sondern die Schaffung einer gedanklichen Methode, um zu einem logisch geschlossenen System zu gelangen ... das eigentlich Wertvolle ist im Grunde die Intuition!«
Ich hatte über diese Thesen lange und eifrig nachgedacht, um möglichst genau zu ermitteln, was ihren Inhalt von der landläufigen Auffassung trennt. In den tiefliegenden Unterschieden offenbart sich eine Fülle von Anregungen, deren Wichtigkeit um so stärker einleuchtet, je mehr man sie an Beispielen zu erproben versucht. Und ich bin heute überzeugt, dass man sich mit jenen Worten Einsteins, die wie ein Bekenntnis auftreten, zu beschäftigen haben wird, wie mit dem berühmten »hypotheses non fingo«, das Newton als den Leitgedanken seines Schaffens hingestellt hat.
Hier wie dort tritt etwas Negatives hervor, eine Leugnung. Bei Einstein anscheinend die Abwehr des eigentlichen schöpferischen Aktes in der Entdeckung; die Hervorhebung des Schrittweisen, Methodischen, Konstruierenden; daneben freilich auch die Betonung der Intuition. Es wird nichts übrig bleiben, als auf Umwegen eine Synthese dieser Begriffe zu versuchen, und das anscheinend Widersprechende in ihnen aufzulösen.
Ich halte das für möglich, wenn man sich entschließt, die Entdeckung in eine Folge von Einzelakten zu zerlegen, in denen das Nacheinander an die Stelle der summarischen Plötzlichkeit tritt. Dann kann das Schöpferische bestehen bleiben, ja, es gewinnt einen noch höheren Bedeutungsgrad, wenn man sich vorstellt, daß eine Reihe schöpferischer Ideen sich aneinander schließen müssen, um eine einzelne bedeutsame Entdeckung zu ermöglichen.
Niemals tritt der Urgedanke fertig gegürtet und gepanzert heraus, wie Minerva aus dem Haupt ihres Erzeugers. Und man wird gut tun, daran zu denken, dass selbst Jupiter in seinem Kopf eine Schwangerschaft mit sehr heftigen Geburtswehen zu überstehen hatte. Nur im nachträglichen Bilde tritt uns Pallas Athene mit dem Attribut der Plötzlichkeit entgegen. Es liegt im Wesen unserer mythenbildenden Phantasie, dass sie den eigentlichen Zeugungsakt überspringt, um das fertige Ergebnis desto leuchtender zu gestalten.
Es gefällt uns ausnehmend, wenn wir erfahren, wie der princeps mathematicorum Gauß im Zuge seiner bedeutenden Denkerakte erklärte: »Ich habe das Resultat, ich weiß nur noch nicht, auf welchem Wege ich es erreichen werde!« – Denn wir erblicken in dieser Äußerung zunächst das Hervorheben einer blitzhaften Intuition. Er hat den Besitz einer Sache, die doch noch nicht sein ist, die erst sein werden kann, wenn er den Weg zu ihr findet. Widerspruch? Elementar-logisch genommen allerdings, aber methodologisch keineswegs. Hier gilt: Erwirb es, um es zu besitzen! Eine Reihe weiterer Intuitionen werden hierzu erforderlich sein, auf dem Wege des Erfindens, des Konstruierens. Hier also setzt das ein, was Einstein als das »Schrittweise« bezeichnet. Die erste Intuition muss vorhanden sein, ist sie da, so verbürgt sie in der Regel die Angliederung weiterer Intuitionen.
Nicht immer. Wir besprachen im Vorbeigehen einige besondere Fälle, die zu besonderen Schlüssen Veranlassung geben mögen. Der gewaltige Mathematiker Pierre Fermat hat der Welt einen von ihm entdeckten, überaus einfach gestalteten Lehrsatz vermacht, dessen Beweis noch bis heute nach einem Vierteljahrtausend gesucht wird. Er lautet (leichtfasslich umschrieben): Die Summe zweier Quadratzahlen kann wieder eine Quadratzahl ergeben, z.B. 5² + 12² = 13², das ist 25 + 144 = 169. Aber die Summe zweier Kubikzahlen ergibt niemals eine Kubikzahl, und ganz allgemein ausgedrückt: sobald der Exponent, der Potenzzeiger n, größer ist als 2, lässt sich die Gleichung x n + y n = z n niemals in ganzen Zahlen befriedigen; es ist unmöglich für x, y, z, drei ganze Zahlen zu finden, welche in die Gleichung eingesetzt, ein richtiges Ergebnis liefern.
Ganz sicherlich: ein intuitives Finden. Aber wenn Fermat behauptete, er habe einen »wunderbaren Beweis« in Händen, so darf man diese Behauptung aus sehr guten Gründen ernstlich bestreiten. Niemand zweifelt an der unbedingten Gültigkeit des Satzes. Aber die weitere Inspiration, die Fortsetzung der Intuition, hat sich weder seither noch bei Fermat selbst eingestellt. Ob bei ihm bezüglich des Beweises ein subjektiver Irrtum vorlag, oder eine haltlose Ansage, das lässt sich nicht entscheiden. Jedenfalls bleibt es wahrscheinlich, dass Fermat das Resultat per intuitionem besessen hat, ohne den Weg zum Resultate zu kennen. Sein schöpferischer Akt brach ab, war nur ein Anlauf, erfüllte nicht die Bedingung, die Einstein mit dem Begriff der logisch geschlossenen Methode verbindet.
Ja, man kann die Angelegenheit bei Fermat noch weiter verfolgen. Er hatte, wiederum per intuitionem, den Satz aufgestellt, man könne nach einer von ihm aufgestellten Formel Primzahlen in beliebiger Höhe konstruieren. Euler zeigte später an einem bestimmten Beispiel die Falschheit dieses Satzes. Der Satz; ausgesprochen in einem Brief an Pascal 1654, lautet: dass eine fortgesetzte Quadrierung von 2 bei Vermehrung der Potenzen um 1, also (2 2) k + 1 immer Primzahl sei. Fermat fügte hinzu: »Es ist dies eine Eigenschaft, für deren Wahrheit ich einstehe.«
Euler versuchte zufällig k = 5, und fand 2³² + 1 = 4294967297 welche Zahl das Produkt von 641 und 6700417 darstellt, mithin nicht prim ist.
Man kann sich vorstellen, dass kein Euler gelebt, dass kein anderer an seiner Stelle das Dementi gefunden hätte. Wie stand es dann um diese »Entdeckung« Fermats?
Man hätte ihr ganz gewiss bis heute das Schöpferische nicht abgestritten, denn man hätte gesagt: sie entspricht einer Tatsache, die an sich vorgebildet vorliegt, ohne erweislich zu sein. Nunmehr, da wir wissen, die Tatsache existiert gar nicht, sieht die Sache anders aus. Es war gar keine Entdeckung, vielmehr eine fehlerhafte Vermutung. Aber auch zu dieser Falschheit konnte einer nie gelangen ohne mathematisches Genie und ohne die Inspiration des Momentes. Und hieraus folgt wiederum, daß zu einer Entdeckung im Vollsinne des Wortes die Augenblicks-Intuition nicht ausreicht, daß sie durch einen Plural der Intuitionen gestützt werden muß, und deren Probe zu bestehen hat, um in den sicheren Bestand der Wahrheitserforschung einzugehen.
Wenn in Einsteins Erklärung sofort auf die Tätigkeit des »Erfindens« hingewiesen wird, so erblicke ich hierin einen Anhalt dafür, daß streng genommen das Entdecken und das Erfinden niemals abtrennbar gedacht werden sollen. Im Entdecken bleibt das Konstruierende bestehen, im Erfinden das Entdecken des Weges, auf dem das Gelingen liegt, sei es einer Methode, eines Beweises oder eines Werkes im allgemeinen. Wir sprachen von Kunstwerken, und ich bemerkte zu meiner Freude, daß Einstein durchaus nicht abgeneigt ist, gewisse rein gedankliche Arbeiten, die man sonst dem Gebiet der wissenschaftlichen Entdeckung einordnet, als Kunstwerke anzusprechen. Nun aber scheint bei diesen das reine Erfinden obenan zu stehen, denn in ihnen wird doch etwas dargestellt, was vordem noch gar nicht vorhanden war; was schon wiederholt dazu geführt hat, der künstlerischen Tat den höheren Rang, das eigentlich und ausschließlich Schöpferische zuzuweisen. Etwa mit dem Argument: die Infinitesimalrechnung wäre ganz sicher auch ohne Newton und Leibniz gekommen, aber ohne Beethoven hätten wir keine C-moll-Symphonie, und niemals in aller Zukunft könnte sie zutage treten, wenn sie nicht ihr Schöpfer als ein Einziges, Urerschaffenes hingestellt hätte.
Ich glaube, man kann dies zugeben und trotzdem die Ansicht vertreten, daß auch im Kunstwerk die Tätigkeit des Entdeckers anzutreffen ist. Nehmen wir das Grundmaterial des ersten Satzes jener fünften Symphonie, eines Kolossalsatzes von 500 Takten, das sich ganz präzise in vier Noten ausspricht, von denen die eine, das G, dreimal identisch auftritt. »So pocht das Schicksal an die Pforte« lautet Beethovens Motto, tonal ausgedrückt in einer Kombination, die längst, ja von Ewigkeit her, in den möglichen permutativen Anordnungen der Klänge vorhanden war.
Beethoven, so sagt man, hat sie erfunden. Aber es ist genau so richtig, zu sagen – ich benutze Einsteins Worte –: »er wurde gewahr, was schon an sich fertig vorgebildet vorlag« – also hat er das Grundthema »entdeckt«, um es nachher in einer methodischen Durchführung von unerhörter Schönheit musiklogisch zu »beweisen«. Ja, man kann noch weitergehn. Jenes viertonige Motiv lag nicht nur als Abstraktum, als ein in mathematischer Ordnung Eingelagertes vor, sondern als etwas Natürliches. Czerny, Beethovens Schüler, dem der Meister mancherlei über seine Werkentstehung vertraut hat, berichtet, ein Goldammer hätte Beethoven im Walde dieses Motiv zugetragen. Aber auch der Singvogel hat es nicht erfunden, überhaupt kein Lebewesen, sondern in einem klangempfindlichen Material hat sich objektiviert, was nie zu erschaffen war, weil es schon von jeher existierte. Beethoven hat es gefunden, es war res nullius, als er es fand, als er zugleich mit der Tonfolge deren Eignung für eine gewaltige musikalische Darstellung des dröhnenden Schicksals entdeckte. Jedes Thema, ob von Beethoven, Bach, Wagner oder sonst woher, läßt sich graphisch in einer Kurve abbilden (für Bach'sche Fugenthemen hat man dies sogar zu besonderen Zwecken ausgeführt), und so gewiß der Ellipsenbogen schon vor aller Geometrie existierte, so sicher läßt sich behaupten, alles Musikalische war vor der Komposition vorhanden, wartete auf den Entdecker, den wir als den Erfinder, als das schöpferische Ingenium bezeichnen.
Könnte aber von hier aus nicht etwas zurückstrahlen auf die wissenschaftliche Entdeckung? Wenn wir im Höchstgrad der Bewunderung von einem Schöpferakt sprechen als von einem Göttlichen, das uns bemeistert, so dürfte man wohl auch dem Wissenschaftler zubilligen, was wir mit leiser Begriffsvermengung dem Künstler gewähren. Und ich glaube auch, daß Einsteins Definition in dieser Hinsicht für unsere Schwärmerei keine unüberfliegbare Schranke bietet. Diese will um jeden Preis hinüber, mag nicht stehen bleiben vor der starren Tatsache, daß der Entdecker nur das Vorgebildete aufdeckt, und die Empfindung erweist sich als stärker, als der objektiv wertende Gedanke. Schließlich, so meinen wir, schafft doch auch der wissenschaftliche Entdecker etwas Neues, nämlich eine Erkenntnis, die zuvor nicht da war. Und wir gehorchen dem Bedürfnis des Heroenkultus, wenn wir einen bestimmten ersten Entdecker als einen Schöpfer bezeichnen.
Womit freilich die Gegenrede sich nur zeitweilig bescheidet, ohne darum aus der Welt zu gehen. Denn auch die Erkenntnis lag schon parat, vor dem ersten Entdecker; er schuf nicht, sondern er zog nur einen Schleier fort, der die Erkenntnis verhüllte. Es bleibt also im letzten Grunde bei der »Intuition«, wörtlich zu verstehen, bei der Anschauung, bei dem genauen Betrachten der Dinge, Zustände und Zusammenhänge, und dieses eingehende, des Staunens volle Betrachten ist immer das Vorrecht sehr weniger Auserlesener gewesen.
Man könnte fragen: existierte denn schon irgendeine Erkenntnis des pythagoreischen Lehrsatzes vor dem pythagoreischen Beweise? Und man müßte antworten: zum mindesten im unbelichteten Sehfelde des Pythagoras, das sich eines Tages beleuchtete, als er das Zahlenverhältnis 3 – 4 – 5 so ins Auge faßte, daß ein »Intueri«, ein genaues Anschauen zustande kommen konnte. Es ist irrig, anzunehmen, daß ihm ein Schöpferakt plötzlich die Figur mit den drei nach außen geklappten Quadraten vor die Seele zauberte. Er entwickelte vielmehr »schrittweise« (wie wir aus Vitruvius wissen), aus einem nach bestimmten Maßzahlen aufgebauten Dreieck; und der bekannte Beweis, der uns als unabtrennlich von seinem Akt vorschwebt, ist gar nicht von ihm, sondern von Euklid. Aber die Chronologie verblaßt, die Jahrhunderte werden übersprungen, und das Diplom mit dem Titel des Schöpfers verbleibt bei dem Mann, der zuerst solch ein Dreieck klar anzuschauen vermochte.
Es liegt nahe, das Entdeckertum am Experiment zu prüfen, und das erste, was sich dabei ergibt, ist das Auftreten eines sehr merkwürdigen Tempos in der Entwickelung des intuitiven Verfahrens. Die Intuition des Altertums hatte, wie es scheint, kaum das Bedürfnis, sich am Experiment zu bewahrheiten, das allermeiste, was Archimedes auf mechanischem, die Pythagoreer auf akustischem, Euklid auf optischem Gebiete fanden, läßt sich beinahe auf die Formel des »Heureka« zurückführen; und man übertreibt wohl nicht, wenn man aussagt, daß heutzutage in einer Woche mehr und fruchtbarer experimentiert wird, als in aller Vorzeit zusammengenommen.
Neuerdings versuchen gewisse Begriffsspalter, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Wirklichkeits-, Experimental-Physikern und »Kreide-Physikern« zu konstruieren. So nennen sie spöttisch die Theoretiker, weil diese ihrer Meinung nach die Natur ausschließlich durch Formeln, mit der Kreide an der Tafel, ergründen wollen. Die Geschichte der Wissenschaft kennt diesen Unterschied nicht, wenngleich es natürlich vorkommen könnte, daß ein Physiker fernab von jedem Experiment Bedeutsames erschlösse.
Eher ließe sich behaupten, daß der große Theoretiker nicht notwendig ein großer Experimentator zu sein braucht, und umgekehrt. Aber ich wüßte kein Beispiel dafür, daß der Theoretiker sich einseitig auf die Kreide versteift und die Versuchsarbeit prinzipiell verleugnet.
Ich bemerke hierzu, daß Einstein selbst gern experimentiert und sich als erfahrener Experimentator erfolgreich betätigt hat. Zahlreich sind zudem die Anregungen und Ratschläge, die er anderen Arbeitern auf diesem Felde gegeben hat und dauernd erteilt. Er nimmt aber die eigentliche Routine nicht für sich in Anspruch und weist darauf hin, daß er sich für gewisse reale Ausführungen auf fremde Hilfe angewiesen sieht. Es gibt spezifische Experimentiergenies, deren Tätigkeit sich am schönsten und ersprießlichsten gestaltet, wenn sie die des Theoretikers sowohl ergänzt, wie befruchtet. Das Experiment ist, wenn auch
nicht zum alleinigen, so doch zum deutlichsten Prüfstein der Intuition geworden. Ich brauche nur an die Beobachtungen der Sonnenfinsternis von 1919 zu erinnern, welche experimentalen Charakter trugen, insofern sie die Natur mit Apparaten befragten. Für die Welt brachten sie die unwiderlegliche Bestätigung der Einstein'schen Gravitationslehre, nicht für Einstein selbst, dessen Intuition in ihrer Selbstgewißheit dem Experimente nichts anderes übrig gelassen hatte, als eben die blanke Bestätigung.
Aber das ist nicht der Normalfall. Und bei vielfachen Untersuchungen tritt die Intuition des Forschers an das Experiment wie an eine Instanz mit ausgedehnter Vollmacht, zu bewahrheiten, zu verwerfen oder zu berichtigen.
Greifen wir einige Beispiele heraus, um die Stärke und den Wert der Intuition am experimentellen Ergebnis zu messen. Benjamin Franklins Drachenexperiment möchte als ein klassischer Fall erscheinen. Da ist ein Mann, in dessen Kopf sich die Vorstellung gebiert: Gewitter und elektrischer Vorgang ist ein und dasselbe. Unzählige neben und vor ihm hätten auf denselben Gedanken verfallen können, der nun schon längst zu den Weisheiten der Kinderstube gehört. Aber nein, ein Einzelner mußte kommen, der die vorgebildete Sache gewahr wurde und der auch sofort die Methode ersann, die zum Beweise führen mußte. Er baute 1752 einen Drachen, ließ ihn bei Gewitterluft in die Wolken steigen, fing unten an metallener Handhabe die Funken auf, und, wie d'Alembert in der französischen Akademie so eindringlich sagte:
Er entriß dem Himmel den Blitz, Jupiter tonans beleuchtete eine große Entdeckung, eine gewaltige Intuition, die selbst blitzartig in den Hirnganglien eines Erforschers aufgetreten war.
Der Fall wäre allerdings klassisch, wenn er nicht zu neun Zehntel aus Legende bestünde. Franklin war gar nicht der erste Träger dieser Intuition, und sein Experimentalbeweis litt derart an Mängeln, daß er um ein Haar mißglückt wäre. Franklin benutzte eine trockene Hanfschnur, die er für einen Leiter hielt, die sich aber erst im nachfolgenden Regen in einen Leiter verwandelte. Bis dahin war das Funkenspiel nahe dem Erdboden kärglich genug ausgefallen, und es hatte wenig daran gefehlt, daß Franklin den Versuch aufgab, um einzugestehen, daß ihn nicht sowohl eine Intuition als eine Halluzination überfallen habe.
Aber wem gebührt denn nun der Ruhm dieser Entdeckung? Das ist schwer zu entscheiden. Schon 1746, sechs Jahre bevor zu Philadelphia Franklins Drache stieg, hatte der Leipziger Professor Winkler die Gleichheit der Erscheinungen in einer Abhandlung behauptet und theoretisch bewiesen; noch drei Jahre vorher erklärte der Abbé Nollet die Gewitterwolken als den Konduktor einer Elektrisiermaschine, und fast gleichzeitig mit Franklin vollführten Dalibard, Delor, Buffon, Le Monnier, Canton, Bevis, Wilson großangelegte Versuche, die an Ergebnissen den amerikanischen weitaus übertrafen. Wobei zu bemerken, daß das Experiment erst 1753 zu voller Evidenz gedieh, als de Romas zu Nerac in Südfrankreich einen wirklichen Leiter, feinen ausgeglühten Draht, in die Drachenschnur einwebte und dadurch ein richtiges Donnerwetter mit 10 Fuß langen Blitzen und betäubendem Krachen heranholte. Und dann erst verfolgte man die Spur der Inspiration nach rückwärts durch die Zeiten, um zunächst in den römischen Königen Numa Pompilius und Tullus Hostilius die ersten Gewitter-Experimentatoren zu ermitteln. Bis der Physiker Lichtenberg den Nachweis zu führen unternahm, daß schon die altjüdische Bundeslade samt der Stiftshütte nichts anderes gewesen waren, als großartige elektrische Apparate, mit intensiver Ladung aus Luftelektrizität, wonach die Grund-Intuition, die Priorität der Entdeckung, auf Moses oder auf Aaron zurückzuführen wäre. Und im Anschluß hieran ergab sich die mit umständlichem Beweismaterial belegte Tatsache, daß der Salomonische Tempel zu Jerusalem durch Blitzableiter geschützt war.
Ich darf nicht unterlassen hinzuzufügen, daß Einstein diese ganze in die Vorzeit führende Beweiskette als durchaus nicht schlüssig erachtet, obschon sich außer Lichtenberg noch andere bedeutende Gelehrte, wie Bendavid in Berlin und Michaelis in Göttingen für deren Geltung eingesetzt haben. Und da es sich hier um elektrische Zusammenhänge handelt, so wird man sich nicht entschließen dürfen, Einsteins Zweifel zu vernachlässigen. Soweit ich mich entsinne, richtete sich dieser auch nicht gegen die grobsinnlichen Fakten an sich, als gegen die Deutung, die ihnen untergelegt werden soll. Das will sagen: man hat sowohl bei den altrömischen wie bei den alttestamentarischen Dingen den Begriff der Entdeckung auszuschalten, diesen vielmehr nur denjenigen Geistesakten aufzubewahren, die zur Schaffung einer gedanklichen Methode hinführen. Immerhin darf man dabei bleiben, daß in diesem vermeintlich klassischen Fall weder Franklin noch sonst einer als der Entdecker oder als Träger eines schöpferischen Aktes anzusprechen ist.
Ungleich einfacher und unbestreitbarer liegt der Experimental-Fall bei der Spektralanalyse. Zweifellos eine Entdeckung von fundamentaler Bedeutung mit allen Kennzeichen der Erstmaligkeit und unbestritten ohne jede Vorläuferschaft. Was mich dabei stets ein wenig beunruhigt hat, ist die Tatsache, daß zwei Männer erforderlich waren, um sie zu erdenken, ein Duo von Geistern für einen Denkakt, der sich doch ganz einheitlich, elementar, unabtrennlich von der Intuition eines einzelnen vorstellt. Aber es scheint möglich, daß die historische Tradition hier nicht ganz getreu überliefert, und daß die beiden Männer aus freiem kollegialem Willen zusammengefaßt haben, was allerdings in der nachfolgenden Zusammenarbeit, nicht aber im ersten Entstehen als Dioskurenleistung auftrat. Diese Möglichkeit wurde mir klar aus einem Worte Einsteins, der mir ziemlich deutlich zu verstehen gab: Kirchhoff und Bunsen, das bedeutet: erst Kirchhoff, dann Atempause, und schließlich auch Bunsen. Schalten wir aber diese Frage nach Einheit oder Zweiheit aus, so bleibt bestehen: der Gedanke einer Spektralanalysis tauchte auf (als Folge vorangehender optischer Versuche an Frauenhofer-Linien) und wurde durch die nachfolgenden Experimente restlos bestätigt. Bloß restlos? Nein, die Klassizität dieses Falles offenbarte sich noch weit triumphaler: denn unmöglich konnte Kirchhoff-Bunsens Intuition die ganze Tragweite ihrer Entdeckung übersehen haben, als sie sie schon in Händen hatten.
Jede Entdeckung umschließt ein Hoffnungsquantum. Sei es bei Kirchhoff noch so groß gewesen, so konnte es nicht im entferntesten an den Grad der Erfüllung hinanreichen. Aus dem theoretischen Grundgedanken, »ein Dampf absorbiert aus dem ganzen Strahlenkomplex des weißen Lichts gerade nur jene Wellenlängen, die er auch auszusenden vermag«, entwickelte sich ein Verfahren von einer Findigkeit, Feinheit und Sicherheit, die ans Unbegreifliche grenzen. In prismatisch zerlegten, von Dämpfen ausgehenden Lichtstrahlen, zeigten sich feine, gefärbte Linien, die das Unbekannte verrieten, und Schlag auf Schlag bewies das spektroskopische Experiment, daß der Urheber des Gedankens nicht nur eine, sondern eine Fülle von Entdeckungen gemacht hatte. Hier tauchte, um ein Beispiel zu nennen, beim Verbrennen winziger Rückstände von Mineralwasser eine zuvor noch nicht gesehene rote und eine blaue Linie im Spektralband auf. Und sofort wußte man: ein nie vordem ermittelter Urstoff kündigte sich an. So wurde in dichter Folge das Element Cäsium entdeckt, dann das Rubidium, das Thallium, Indium, Argon, Helium, Neon, Krypton, Xenon, – gewiß Dinge, die in der Natur schon vorgebildet waren, wie ja auch die Idee einer Brücke von der Optik zur Chemie schon in der Natur beschlossen vorlag; aber den erstaunten Zeitgenossen wird es nicht zu verwehren sein, wenn sie hier in der Grundentdeckung eine Geistestat von schöpferischer Kraft erblickten.
In jenem Hoffnungsquantum befand sich auch der Ausblick auf den Genauigkeitsgrad. In dieser Hinsicht bestätigte das Experiment unfaßbar mehr, als die verwegenste Phantasie des Entdeckers vorausahnen konnte. Eine gelbe Linie zeigt sich im Spektralbild des Natriums. Und es ergab sich experimentell: der dreimillionste Teil eines tausendstel Gramm von Natronsalz reicht hin, um im Bunsenbrenner diese gelbe Linie hervorzurufen. Ein schwindelerregendes Spiel der Wahrscheinlichkeitsrechnung setzte ein. Wenn weiterhin spektralanalytisch ermittelt wurde: in der Sonnenatmosphäre gibt es Wasserstoff, Kohlenstoff, Eisen, Aluminium, Calcium, Natrium, Nickel, Chrom, Zink, Kupfer, so ließ sich hinzufügen, wie groß die Möglichkeit eines Irrtums in solcher Feststellung wäre. Kirchhoff hat es berechnet: Eine Trillion gegen eins läßt sich darauf wetten, daß diese Stoffe wirklich in der Sonne vorhanden sind!
Nie zuvor hat sich das Experiment in ähnlichem Ausmaß als Bewahrheiter eines entdeckerischen Gedankens erwiesen. Und hier erscheint es angezeigt, sich mit einer Lehre zu beschäftigen, die in die tiefsten Gründe der Beziehung zwischen Experiment und Entdeckungsakt hineinleuchten will. Es wird nämlich behauptet, daß ein restlos bewahrheitendes Experiment, »Experimentum crucis«, in der Physik unmöglich sei. Das will sagen: in jedem Entdeckergedanken steckt eine Hypothese; und mag das nachfolgende Experiment ausfallen, wie es wolle, so bleibt die Möglichkeit, daß diese Hypothese falsch war und späterhin einer anderen, wesentlich widersprechenden, auch wiederum nur für beschränkte Zeit gültigen wird weichen müssen.
Der Haupt-Wortführer dieser Theorie ist der bedeutende Gelehrte Pierre Duhem, Membre de l'Institut. Er setzt das Experiment in Parallele mit dem mathematischen Beweis, besonders mit dem indirekten, apagogischen, der in der Euklidischen Geometrie sich so erfolgreich bewährt hat. Da wird methodologisch angenommen, eine Behauptung wäre falsch; diese Annahme, so wird gezeigt, führt zu einem offenkundigen Widersinn, folglich war die Behauptung richtig bis zur Ausschließung irgend eines Zweifels. Und damit ist auf mathematischem Felde ein wirkliches Experimentum crucis geliefert.
Hiernach prüft Duhem die Gültigkeit zweier physikalischer Theorien, die beide ihrerzeit mit dem Anspruch der Entdeckung auftraten. Newton hatte als das Wesen des Lichtes die »Emission« entdeckt; für ihn, für Laplace und Biot besteht das Licht aus Projektilen, die mit äußerster Geschwindigkeit abgeschleudert werden. Die Entdeckung von Huyghens, gestützt durch Young und Fresnel, setzt an Stelle der Ausschleuderung die Wellenbewegung. Also hier haben oder hatten wir, nach Duhem, zwei Hypothesen, als die einzigen, die überhaupt als möglich erscheinen. Das Experiment soll Antwort geben, und es entscheidet zunächst unwiderleglich für die Wellentheorie. Folglich besteht einzig die Erkenntnis des Huyghens zu Recht, die des Newton ist als Irrtum entlarvt, ein Drittes gibt es nicht, das Experimentum crucis steht in absoluter Sicherheit vor uns.
Der Ausdruck stammt aus Bacon's »Novum organon«. Er enthält nicht, wie Duhem voraussetzt, den Hinweis auf ein Kreuz an der Straße, das die verschiedenen Wege anzeigt, ebensowenig hängt er mit »croix ou pile« (Kopf oder Schrift) zusammen. Vielmehr bedeutet Experimentum crucis eine Probe durch ein Gottesurteil am Kreuz, das heißt eine über jede Berufung erhabene, absolut entscheidende Erprobung. – Aber nein! ergänzt der nämliche Gelehrte: zwischen zwei kontradiktorischen Aussagen der Geometrie ist für ein drittes Urteil kein Platz, wohl aber zwischen zwei widersprechenden physikalischen Ansagen. Und tatsächlich ist dieses dritte hier aufgetreten in der Entdeckung Maxwells, der das Wesen des Lichts als in einem Vorgang periodischer elektro-magnetischer Störungen begründet nachgewiesen hat. Mithin, so schließt Duhem, läßt sich aus dem Experiment niemals die Alleingültigkeit einer Theorie erschließen; der Physiker ist niemals sicher, alle denkbaren Vorstellungsmöglichkeiten erschöpft zu haben. Die Wahrheit einer physikalischen Aussage, der Rechtsgrund einer Entdeckung, ist durch kein Experimentum crucis zu erhärten.
Hiernach wäre es also auch möglich, daß die wissenschaftliche Voraussetzung der Spektralanalyse nicht der Wahrheit entspräche. Es könnte sogar eine kontradiktorische Hypothese auftreten, und die nämlichen Experimente, welche scheinbar die Kirchhoff'sche Entdeckung von Sieg zu Sieg geführt haben, würden dann in ganz anderem Sinne interpretiert werden müssen.
Ich gestehe offen, daß ich mich zu einer so extremen Möglichkeit nicht entschließen kann, und zwar deswegen nicht, weil gerade das von Duhem herangezogene Gleichnis aus der Mathematik diese Möglichkeit meines Erachtens ausschließt. Denn wenn die Sicherheit sich hier durch Trillion zu eins ausdrückt, so wage ich zu behaupten, daß auch bei irgend welcher mathematischer Wahrheit die Sicherheit keinen größeren Grad erreicht. Aus der Geschichte der Mathematik kennen wir Sätze, die mit allem Rüstzeug des Beweises auftraten und sich trotzdem nicht zu behaupten vermochten, so daß wir es auch bei anscheinender Evidenz immer nur mit einem sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrad zu tun haben. Nehmen wir diesen nach unserer Denkgewohnheit für das absolut Gewisse, so dürfen wir auch die vereinigten Experimente im Gebiet der Spektralanalyse als ein großes Experimentum crucis für die unbedingte Richtigkeit der spektralanalytischen Lehre betrachten.
In weitem Abstand von ihr, aber doch mit ihr zusammenhängend, erscheint das »Periodische System der Elemente« als die Entdeckung von Mendelejew und Lothar Meyer. Auch sie umschloß prophetische Ausblicke in die Zukunft, sagte Unbekanntes voraus, deutete auf Dinge, die nur in der Vorstellung vorhanden waren, in einem Gedankenschema, das dem Unerforschten bestimmte Existenzstellen anwies.
Das Periodische System stellt sich dar als eine Tabelle mit Vertikal- und Horizontalreihen, in deren Linienfächern die Elemente nach gewissen, ihren Atomgewichten entsprechenden Regeln eingetragen werden. Die Entdeckung besagte theoretisch, daß die physikalischen und chemischen Eigenschaften, die das Element charakterisieren, genau das arithmetische Mittel zwischen den Eigenschaften der horizontalen und vertikalen Nachbarn darstellen. Und hieraus entwickelten sich Orakel, die in den vorläufig noch unbesetzten Linienfächern nisteten. Die leeren Kammern, die weißen Flecke auf der Tabelle fingen an, prophetisch zu reden: hier fehlen Elemente, die findbar sein müssen! Die Nachbarn werden sie verraten, die leere Stelle selbst zeigt den Weg zum Fund. Mendelejew vermochte mit detektivischem Scharfsinn anzusagen: es muß Elemente mit den Atomgewichten 44, 70 und 72 geben. Wir kennen sie noch nicht, aber wir sind in der Lage, diese Findlinge der Zukunft nach ihren Eigenschaften zu bestimmen, und mehr als das, nach den Eigenschaften ihrer Verbindungen mit andern Grundstoffen. Und die weitere Forschung hat tatsächlich in Auffindung der Elemente Scandium, Gallium und Germanium das Orakel mit allen vorhergesagten Eigenschaften bestätigt.
Das Metall Gallium wurde 1875 spektroskopisch entdeckt. Bezüglich seiner Eigenschaften steht es zwischen dem Aluminium und Indium, genau an der Stelle, wo es schon vor seiner eigentlichen Entdeckung schematisch im Periodischen System gestanden hatte. Auf Grund einer Lücke im System war es fünf Jahre vorher von Mendelejew angesagt worden, ohne daß er von seinen spektralanalytischen Zeichen – zwei schönen violetten Linien – etwas wußte. Auch das 1900 entdeckte Radium mit dem Atomgewicht 226 hat diese Probe vollkommen bestanden und fügte sich genau in die Stelle, die ihm die Zahl in der Tabelle vorbehielt. Also erwies sich hier Vorentdeckung und Nachentdeckung als durchaus kongruent, das Experiment heftete sich an die entdeckende Einsicht wie ein euklidischer Beweis an eine mathematische Behauptung, und mit allem Grund darf man es hinstellen, daß das System von Mendelejew – Lothar Meyer die Kreuzprobe ausgehalten hat. Zukünftige Hypothesen werden das System vielleicht ergänzen, in der Erkenntnis erweitern, aber gewiß nicht ad absurdum führen.
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* Abseits davon stehen Entdeckungen, deren Urheber als glückliche Finder bezeichnet werden können, ohne daß sie sich als findende, oder gar als schöpferische Genies erwiesen hätten. Diesen Geistern hat der Physiker-Philosoph Ernst Mach einen Vortrag gewidmet, der mir schon wesentlich deshalb sehr wertvoll erscheint, weil er die Begriffe der Entdeckung und Erfindung auf denselben Erkenntnisgrund zurückführt und deren Verschiedenheit nur in den nachträglichen Gebrauch setzt, der von der Erkenntnis gemacht wird
Aber wenn Ernst Mach in diesem Vortrag »Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwickelung von Erfindungen und Entdeckungen« das Spiel des Zufalls bis auf die zufälligen Umstände ausdehnt, die nur bei gespannter Aufmerksamkeit des Entdeckers mitwirken konnten, so erscheint da wohl eine gewisse Einschränkung angezeigt. Andernfalls könnte man im extremen Verfolg der Mach'schen Gedankenlinie dahin gelangen, jede Entdeckung als vom Zufall geleitet zu erklären, womit das Intuitiv-Schöpferische gänzlich verschwände. Schließlich bliebe in der Behauptung nur der Sinn, daß das Genie dem Zufall der molekularen Anordnung in den Gehirnzellen seine Leistung verdankt; was an sich ebenso richtig und ebenso falsch wäre, als das Schach für ein Zufallsspiel zu erklären, weil man verliert, wenn man zufällig an einen stärkeren Spieler gerät.
Huyghens, der große Entdecker und Erfinder, sagt in seinem Werk Dioptrica, er müßte den für einen übermenschlichen Genius halten, der das Fernrohr ohne die Begünstigung durch den Zufall erfunden hätte. Warum gerade das Fernrohr? Manchem wird die Erfindung der Differentialrechnung als großartiger und auf erhöhteren Scharfsinn gestellt erscheinen. Und da diese rein methodisch, mit Ausschluß des Zufalls entwickelt wurde, so mag man deren Urheber nach Huyghens getrost als übermenschliche Genies ausrufen.
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Manche echte Inspiration wartet auf Außenhilfe. Wer hat den Elektromagnetismus entdeckt? Das Weltecho antwortet: Örsted. Mit der nämlichen Zuversicht, mit der es die Namen Amerika und Columbus aneinanderheftet. Seine ungeheure Bedeutung ist damit erwiesen. In allen Betrieben hat nächst der Dampfkraft nichts so revolutionierend gewirkt, als der Elektromagnetismus. Ohne ihn sähe die Welt heut anders aus. Ohne ihn besäße sie keine Dynamomaschinen, keine elektrischen Bahnen, keine Drahttelegraphie, keine elektrischen Kraftanlagen, die aus dem Wirken Aragos, Gay-Lussacs, Ampères, Faradays, Grammes, Siemens emporwuchsen. Ohne ihn auch nicht eine Fülle geistiger Erleuchtungen, die sich an die Namen Maxwell, Hertz und Einstein knüpfen. Wenn die Physik vordem in drei getrennte Teile zerfiel – Mechanik, Optik, Elektrodynamik –, wenn sich seitdem die Einheit des physikalischen Weltbildes entwickelte, so strahlt vom Hintergrund dieses Bildes die Figur des Hans Christian Örsted. Es darf indes dabei nicht übersehen werden, daß auch bei seiner großen Entdeckung der Zufall eine mitwirkende Rolle gespielt hat. Er trat zu Tage, als Örsted im Winter von 1819–1820 einen Vortrag hielt und eine nahe bei seiner Volta-Batterie stehende Magnetnadel in unregelmäßige Schwankungen geriet. In diesem unscheinbaren Erzittern einer Metallspitze lag zuerst eine Tatsache beschlossen, deren volle Tragweite dem ersten Beobachter vor hundert Jahren gewiß nicht ins Bewußtsein fallen konnte; bei aller Genialität des Dänen, für die seine Abhandlung vom Juli 1820 »Experimenta circa effectum conflictus electrici in acum magneticam« das klassische und vielgefeierte Dokument bildet. Sie machte das Feld frei für Intuitionen, die für die Theorie in gleichem Maße befruchtend wurden, wie für die Praxis. Dreizehn Jahre nach jener ersten Entdeckung erlebte die Welt deren folgenschwere Ausgestaltung in Gauß' und Webers elektrischem Telegraphen, und bald darauf verkündete der bedeutende Forscher Fechner in Leipzig seine Überzeugung, binnen zwei Jahren würde der Elektromagnetismus alles Maschinenwesen gänzlich umgestalten, Dampf- und Wasserkraft völlig verdrängen. Freilich, er maß viel zu kurz im Ausmaß der Zeiten. Erst der heutigen Generation ist es klar geworden, daß wir in einer elektromagnetischen Welt leben und theoretisch wie praktisch ein elektromagnetisches Dasein zu absolvieren haben. Der Anfang dieser Erkenntnis schwebte auf einer zitternden Nadelspitze, aus ihr erwuchs die elektromagnetische Notwendigkeit, die wir uns so gern als unsere Dienerin vorstellen, während sie in Wahrheit uns alle beherrscht.
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Ein beträchtlicher Teil der Entdeckungsgeschichte wäre umzuredigieren. Die Archimedische Spirale ist nicht von Archimedes, das Mariotte'sche Gesetz nicht von Mariotte, die Cardanische Formel nicht von Cardano, die Crookes'sche Röhre nicht von Crookes, und der Galvanismus hängt mit Galvani eigentlich nur anekdotisch zusammen. Ein zufälliges Küchenerlebnis der Frau Galvani, – ein halbabgezogener Frosch, der zum Abendbrot geröstet werden sollte und zwischen Skalpell und Zinnteller nahe bei einer zufälligen Funkenentladung in Metallberührung zuckte – eine sehr naive Deutung des Vorgangs durch den Hausherrn –, das waren die Anzeichen, unter denen der Galvanismus in die Welt trat. Es wäre ein müßiges Beginnen, hier die Beziehungen zwischen Experiment und Grundgedanken aufspüren zu wollen, da dieser erst in Alexander Volta lebendig wurde. Was unter Galvanis Händen Froschballett geblieben war, gedieh nun durch einen denkenden Physiker, der die »Spannungsreihe« aufstellte, zum Range einer Entdeckung, die weiterhin durch Nicholson, Davy, Thomson, Helmholtz, Nernst Würde und Macht gewann. Das Wort Galvanismus müßte – zugunsten von Voltaismus – gänzlich verschwinden, wie so mancher Ausdruck, bei deren Entstehung Zufall und Mißverstand Pate gestanden haben.
Oft genug tritt das Experiment als berichtigende Tatsache neben den Grundgedanken, den es weder bestätigt, noch auch widerlegt, sondern sozusagen in Erziehung nimmt, um ihn zu stärken und von anhaftenden Fehlern zu befreien. Derartige Experimente, teilweise unter Mitwirkung des Zufalls, spielen in den Arbeiten von Dufay, Bradlay, Foucault, Fresnel, Fraunhofer, Röntgen eine gewichtige, mehrfach entscheidende Rolle. Faraday, der gar nicht anders beobachten konnte, als mit intensivem Vorausblick, mußte doch im Verfolg der Induktionserscheinungen seine Ausgangsvorstellung wesentlich verändern, und gerade diese Korrektur am Experiment stellt Faraday's eigentliche Entdeckung vor. Vielfach wird die Ausgangsvorstellung durch den Erfolg korrigiert, ja überwältigt. Kolumbus handelte methodisch, als er auf dem Westwege Ostindien erreichen wollte; was er entdeckte, war aber nicht die Bestätigung seiner nautischen Annahme, sondern etwas Gewaltigeres, das nicht in seiner Berechnung liegen konnte. So wurde er Vorbild aller Finder, die ihr Programm wesentlich anders dachten und aufstellten, als nachträglich durch den Fund bewahrheitet wurde. Zu ihnen gehören Priestley und Cavendish, die an der irrtümlichen Idee des Phlogiston noch festhielten, als sie schon in ihren eigenen Element-Entdeckungen, Sauerstoff und Wasserstoff, den Gegenbeweis in Händen hatten. Graham-Bell, der Erfinder, wollte etwas ganz anderes erfinden, als ihm später gelang: er suchte als Taubstummenlehrer die Klänge sichtbar darzustellen, um seinen Zöglingen die Lautbildung verständlich zu machen, hierbei kam er auf einen elektrischen Apparat, und dieser führte zum Telephon.
Den wirklichen, schärfsten Kontrast zum Experimentum crucis zeigt das Experiment, wenn es genau das Gegenteil dessen beweist, was der Forscher erwartet hatte. Da aber ein vollkommenes Nein auch ein sehr starkes Ja enthält – nämlich hier die Bejahung eines zuvor als unmöglich vorausgesetzten Zusammenhangs –, so wird ein solches Negativexperiment, wo es auch auftritt, sich als äußerst folgenschwer erweisen; und zwar um so folgenschwerer, je elementarer die Frage war, deren Bejahung der Physiker mit aller Sicherheit erwarten durfte.
Als die eigentlich klassischen Fälle dieser Experimente mit verblüffender Verneinung betrachten wir die Versuche von Michelson und Morley, die sich an die Existenz oder Nichtexistenz des Weltäthers knüpfen. Sie erzeugten zunächst eine Ratlosigkeit, einen Gedankenstillstand, ein Vakuum in den Möglichkeiten der Vorstellung. Und aus diesem Vakuum entstiegen neue Weltbilder, in denen wir heute die wahren Gedankenabbildungen des Universums erblicken. Die großen Namen Lorentz – Minkowski – Albert Einstein leuchten auf!
Wie alles oder fast alles Bedeutungsvolle seine Vorläufer hat, so auch das Contraexperimentum crucis des Amerikaners Michelson. Henri Poincaré, der berühmte Mathematiker, hatte schon als Schüler der Ecóle Polytechnique mit seinem Studiengenossen Favé optische Experimente angestellt, die das gleiche Ziel verfolgten. Michelsons Versuch war zum mindesten auf die hundertfache Genauigkeit eingestellt. Das Ergebnis lautete in beiden Fällen, daß die Gesetze der Optik durch die Translation, durch die Bewegung der Erde im Weltenraume, nicht gestört werden. Das müßten sie aber, wenn die alten physikalischen Vorstellungen in Kraft bleiben sollten.
Setzen wir die Existenz eines raumerfüllenden Lichtäthers voraus, so hätte die Erde mit ihrer Eigengeschwindigkeit von 30 Kilometern in der Sekunde einen Äther-Orkan zu passieren, wie wir einen Luftorkan in einem offen dahinsausenden Kraftfahrzeug zu bestehen haben. Senden wir nun von irgend einem Punkt der Erdfläche gleichzeitig Lichtstrahlen nach allen Richtungen, so gehen einige direkt gegen den Äthersturm vor, andere erfahren nur einen Teil der vollen Sturmwucht, und wenn zwei Lichtstrahlen genau entgegengesetzt laufen, so müßte sich zwischen ihnen die Förderung und die Hemmung eigentlich ausgleichen. Nicht ganz, denn eine einfache Rechnungsüberlegung ergibt für jeden Fall ein Übergewicht der Hemmung.
Dies kann schon an einem leicht konstruierbaren Modell gezeigt werden, noch besser an der Vorstellung eines Schiffes, das gleichzeitig der treibenden gleichbleibenden Strom- und der Windkraft unterliegt. Ob der Wind in der Richtung des Stromes hilft oder entgegengesetzt hemmt, das ergibt im Hin und Her niemals die gleichen Beträge. Die Hemmung überwiegt, und das Übergewicht läßt sich bei gegebenen Triebstärken nach Stunden, Minuten und Sekunden bestimmen.
Für unseren, durch Spiegelvorrichtungen hin- und zurücklaufenden Lichtstrahl, müßte das wahrnehmbar gemacht werden können; an Interferenz-Streifen, die in der Feinheit ihrer Anzeige noch weitaus über die Anforderungen des Versuchs hinausgehen. Das Experimental-Orakel sollte sprechen, und es schwieg. In düsterem Schweigen enthüllte sich: kein Interferenz-Effekt, keine Wirkung des Ätherstroms, keine Wahrnehmbarkeit der Translation, – Nichts!
Und in diesem Nichts noch ein Befehl von besonderem Schrecknis. Denn jener Versuch stand zudem in schroffem Widerspruch zu einem anderen hochberühmten Experiment. Fizeau hatte bewiesen, daß der Äther ganz oder nahezu starr im Raum zwischen den Himmelskörpern unbewegt verharrt. Der Befehl lautete: du mußt dich für Fizeau oder für Michelson entscheiden. Das war unmöglich, denn beide hatten mit unübertrefflicher Exaktheit operiert. Und beide zusammenzubringen war ebenso unmöglich, denn sie gingen kontradiktorisch auseinander. Der Widerspruch bleibt unlösbar bestehen, selbst wenn man bei Fizeau eine andere Hypothese mit Fortdenkung des Äthers unterstellt. Unlösbar, wenn man nicht grundstürzende Neuerungen im ganzen physikalischen Denken vornimmt.
Diese Umwälzung war Einsteins Werk, und jener rätselhafte Widerspruch wurde in dieser Gedankenrevolution vernichtet. Einstein ersetzte den absoluten durch den relativen Zeitbegriff und damit verschwand das abenteuerliche Rätsel. Zwei große Prinzipe erhoben sich zu Regulatoren des Denkens, und wo man sie ansetzte, da schafften sie erklärende Wunder: der neue Zeitbegriff, der die Erde aus ihrer Weltherrschaft betreffs der Zeit verdrängt, nach dem Satze, daß die Zeit in verschieden bewegten Systemen verschieden abläuft; und das Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Fast fühlt man sich versucht, ein mythisches Gleichnis anzuwenden: Wie die Welt nach biblischer Vorstellung aus dem Nichts hervorging, so steigt aus dem »Nichts« jenes Versuches eine neue Welt empor, eine Erkenntniswelt, ein Kosmos der Gedanken, in dem eine vollendete, man könnte sagen künstlerische Harmonie waltet.
Seine Wahrheit trug er in sich, vor allem experimentellen Beweis. Aber auch diese Wahrheitserfüllung ist Tatsache geworden im Experimentum crucis, zu welchem Sonne und Sterne das Material lieferten. Davon wird an andern Stellen dieses Buches gesprochen.
»Das eigentlich Wertvolle ist im Grunde die Intuition!« hatte Einstein zu mir gesagt. An das Wort des Huyghens mußte ich denken, von dem Genius, der ohne Zufallshilfe das Fernrohr hätte erschaffen können. Saß er mir nicht gegenüber, dieser von Huyghens imaginierte Geist? Ich bejahte mir im Stillen diese Frage, denn Einsteins Gedankenbau erschien mir in diesem Moment wie ein aus reiner Anschauung erwachsenes, bis an die Weltgrenzen reichendes Teleskop für den menschlichen Intellekt!