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Erscheinungen am Firmament.

Verkündung der neuen Mechanik. – Bewahrheitung theoretischer Ergebnisse. – Parallele mit Leverrier. – Neptun und Merkur. – Erprobung der Relativitätstheorie. – Die Sonnenfinsternis von 1919. – Das Programm einer Expedition. – Der gekrümmte Lichtstrahl. – Feinheit in Berechnung und Messung.– Sternphotographie. – Das Aequivalenzprinzip.– Sonnenmythus.

Am 13. Oktober 1910 gab es im Berliner Wissenschaftlichen Verein ein Ereignis: Henri Poincaré, der eminente Physiker und Mathematiker, hatte sich zu einem Vortrag angekündigt, der im Raume des Instituts »Urania« eine an Personenzahl ziemlich bescheidene Hörerschaft versammelte. Noch sehe ich ihn vor mir, den seither in der Blüte seines denkerischen Schaffens dahingerafften Gelehrten, einen Mann, der äußerlich so gar nicht als eine Leuchte erschien, mit seinem gepflegten Bartantlitz eher an den Typus eines routinierten Advokaten erinnerte. Mit lässigen weltmännischen Gebärden spazierte er auf dem Podium auf und ab, nichts Doktrinäres haftete an ihm, in leichtem Fluß und trotz der Sprachverschiedenheit unmittelbar erschließbarer Verständlichkeit entwickelte er sein Thema.

In diesem Vortrag geschah es zum erstenmal, daß wir den Namen Albert Einstein hörten.

Poincaré sprach über: »Die neue Mechanik«, um uns mit dem Beginn einer Strömung bekanntzumachen, die ihn selbst, wie er bekannte, in seinen vormaligen Grundansichten stark aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Wiederholt hob er seine sonst ebenmäßig dahingleitende Stimme zu kräftigeren Akzenten, und mit nachdrücklicher Geste wies er darauf hin, daß wir hier möglicherweise am kritischen, am epochalen Punkte einer geistigen Weltenwende stünden.

» Möglicherweise« – wie er immer wieder betonte. Mit Beharrlichkeit unterstrich er seine Zweifel, unterschied er zwischen erhärteten Tatsachen und Hypothesen, ja, er klammerte sich noch an die Hoffnung, daß die neue, von ihm erläuterte Lehre vielleicht einen Ausweg zur Rückkehr offen lassen könnte. Diese Revolution, so sagte er, scheint zu bedrohen, was in der Wissenschaft bis vor kurzem als das Sicherste galt: die Grundlehren der klassischen Mechanik, die wir dem Geiste Newtons verdanken. Vor der Hand ist diese Revolution freilich nur erst ein drohendes Gespenst, denn es ist sehr wohl möglich, daß über kurz oder lang jene altbewährten Newtonschen dynamischen Prinzipien als Sieger hervorgehen werden. Und im weiteren Verlauf erklärte er wiederholt, daß er vor Ängsten kopfscheu würde angesichts der sich auftürmenden Hypothesen, deren Einordnung in ein System ihm schwierig bis zur Grenze der Unmöglichkeit erschien.

Es ist nun zwar in der Sache höchst gleichgültig, wie die Enthüllungen Poincarés auf einen Einzelnen wirkten. Wenn ich aber von mir auf andere schließen darf, so bleibt mir nur der Ausdruck: erschütternd! Über alle Zweifel des Vortragenden hinweg bestürmte mich der Eindruck eines gewaltigen Erlebnisses, und dieser entzündete in mir zwei Wünsche: mich mit den Forschungen Einsteins, soweit mir dies gelingen könnte, näher bekanntzumachen und womöglich: ihn einmal leibhaftig zu erblicken. Das Abstrakte verschmolz für mich mit dem konkret Persönlichen. Mir schwebte es wie eine Ahnung vor und wie ein Glück, in irgendwelcher Zukunft seine Lehre aus seinem Munde zu vernehmen.

Einige Jahre später wurde Einstein als Professor der Akademie mit Lehrbefugnis an der Universität nach Berlin berufen, und damit durfte mein Privatwunsch feste Formen annehmen. Auf gut Glück versuchte ich es, ihn zu realisieren. In Verbindung mit einem Kollegen bat ich ihn brieflich, einem der zwanglosen Abende unserer »Literarischen Gesellschaft« im Hotel Bristol seine Anwesenheit zu spenden, und hier wurde er wirklich zu stundenlanger Unterhaltung mein Tischnachbar. Heut weiß jeder aus zahllosen Zeitungsbildern, wie er aussieht. Mir trat er damals entgegen mit unbekannter Physiognomie, und ich versenkte mich in seine Züge, die mich als die eines liebenswürdigen, künstlerisch angehauchten, keineswegs professoral-zünftigen Weltkindes anmuteten. Er gab sich lebhaft, gesprächig, streifte willig auf unser Begehren sein eigenes Gebiet, soweit es Ort und Gelegenheit zuließen, eine Verkörperung des Horazischen Spruches »Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci, tironem delectando pariterque monendo«. Es war tatsächlich delektierend. Und doch mußte ich auf Momente an eine männliche Sphinx denken, an das Rätselvolle hinter dieser ausdrucksreichen Stirn. Noch heute, nach jahrelanger Berührung in freundlichem Verkehr, komme ich davon nicht los. Oft überkommt es mich im Fluß der gemütlichen, von Scherzworten belebten Unterhaltung bei Tee und Zigarre: plötzlich spüre ich es wie das Walten eines denkerischen Geheimnisses, an das man sich nur herantasten darf, ohne es zu ergründen.

Damals, im Beginn von 1916, wußten wohl nur wenige Mitglieder der Literarischen Gesellschaft, wen sie an ihrer Tafel beherbergten. Einsteins Stern war, von Berlin aus gesehen, eben im Aufsteigen, aber dem Horizont noch zu nahe, um allgemein sichtbar zu werden. Mein Blick, durch den französischen Vortrag und durch einen Physiker meines Freundeskreises Dr. Fritz Reiche, seither Dozent der Universität, hatte mir zum Studium der Fachschriften von und über Einstein wiederholt seine wertvolle Hilfe geliehen. geschärft, eilte den Ereignissen voraus und sah Einsteins Stern schon hoch zu seinen Häupten; obschon ich damals noch gar nicht wußte, daß Poincaré inzwischen seine Zweifel längst überwunden und die nachhaltige Bedeutung der Einsteinschen Forschungen voll anerkannt hatte. Mir war es instinktmäßig klar: ich saß neben Galilei. Und alles, was die Folgezeit aus der Mitwelt an rauschenden Fanfaren löste, war nur die reichere Instrumentierung der Schicksalsklänge, die ich seit Jahren unablässig gehört hatte.

Eine Episode ist mir in Erinnerung. Einer der Teilnehmer, eifriger Literaturfreund, aber gänzlich ahnungslos in Naturkunde, hatte zufällig etliche gelehrte Notizen gesehen, die an Einsteins Berichte in der Akademie anknüpften und diese Ausschnitte in seiner Brieftasche verwahrt. Jetzt hielt er den Aufklärungsmoment für gekommen. Mit einer kurzen persönlichen Anfrage mußte man sich doch über diese verzwickten Dinge orientieren können. Also, bitte, Herr Professor, was bedeutet Potential, invariant, kontravariant, Energietensor, Skalar, Relativitätspostulat, hypereuklidisch und Inertialsystem?? Können Sie mir das ganz kurz erklären? – Gewiß, sagte Einstein: »das sind Fachausdrücke!« Damit war dieser Kursus beendet.

Bis tief in die Nacht verweilten wir noch zu dreien in einem Kaffeehaus, und Einstein begann vor meinem journalistischen Freunde und mir einige Schleier seiner neuesten Entdeckung sanft zu lüften. Wir entnahmen aus seinen Andeutungen, daß die »Spezielle Relativitätstheorie« das Präludium zur Allgemeinen darstellt, welche das Gravitationsproblem in weitestem Sinne und damit die physikalische Konstitution der Welt umfaßt. Mich interessierte neben diesem, wie natürlich nur oberflächlich gestreiften thema probandum etwas Persönlich-Psychologisches. Herr Professor, sagte ich, derartige Untersuchungen müssen doch wohl mit enormen inneren Aufregungen verknüpft sein. Ich stelle mir vor, daß hinter jeder Problemlösung immer wieder ein neues Problem droht oder lockt, das doch jedesmal in der Seele des Erforschers einen Tumult erregen muß. Wie sind Sie imstande, dessen Herr zu werden? Werden Sie nicht ständig von Beunruhigungen heimgesucht, die in Ihre Träume hineintoben? Können Sie denn überhaupt einmal richtig schlafen?

Schon der Ton, in dem die Antwort gegeben wurde, zeigte deutlich, daß er sich von den Nervositäten frei fühlte, die sonst auch den geringeren Geistesarbeiter bedrängen. Und es ist wohl ein Glück, daß diese Zustände nicht bis in sein hohes Niveau hineinreichen: Ich unterbreche, wann ich will, sagte er, und komme zur Schlafenszeit von aller Schwierigkeit los. Eine denkerische Traumarbeit, etwa vergleichbar der künstlerischen, die beim Dichter und Komponisten den Tag in die Nacht hineinspinnt, liegt mir fern. Allerdings muß ich erwähnen, daß ich in der allerersten Zeit, als die spezielle Relativität in mir aufging, von allerhand nervösen Konflikten heimgesucht wurde; ich ging wochenlang wie verwirrt umher, als ganz junger Mensch, wie gesagt, der wohl in solcher Lage erst einmal das Stadium der Betäubung durchlaufen mußte. Seitdem ist das anders geworden, und um meine Ruhe brauchen Sie sich keine Sorge zu machen.

Immerhin, entgegnete ich, können doch Fälle eintreten, in denen ein Resultat durch Beobachtung oder Experiment bewahrheitet werden soll. Da können sich doch unter Umständen gefährliche Dinge ereignen. Wenn zum Beispiel die Theorie zu einer Berechnung hinführt und diese mit der Wirklichkeit nicht stimmt, so muß sich doch der Theoretiker schon durch die bloße Möglichkeit sehr bedrängt fühlen. Nehmen wir ein bestimmtes Ereignis: ich hörte davon, daß Sie auf Grund Ihrer Lehre die Bahn des Planeten Merkur einer neuen Berechnung unterzogen. Das war doch sicher eine langwierige und umständliche Arbeit. Die Theorie stand in Ihnen fest, vielleicht nur in Ihnen allein, noch nicht an einer erweislichen Tatsache verifiziert. Da müssen doch eigentlich psychische Spannungszustände als ganz unvermeidlich auftreten. Was geschieht, um Gottes willen, wenn das erwartete Rechnungsergebnis ausbleibt? Wenn es der Theorie zuwiderläuft? Das ist doch für den Begründer der Theorie gar nicht auszudenken!

– Solche Fragen, meinte Einstein, lagen nicht auf meinem Wege. Das mußte ja stimmen! Es handelte sich nur darum, das Ergebnis sauber hinzustellen. Daß es sich mit den Beobachtungen decken würde, war mir auch nicht eine Sekunde zweifelhaft. Und es hat keinen Sinn, sich über Selbstverständliches aufzuregen.

Betrachten wir nun abseits jenes Gespräches, aber im Zusammenhange damit einige Daten der Naturkunde, über die sich zwar nicht Einstein, dafür aber die Welt desto stärker aufgeregt hat; und verknüpfen wir sie erläuternd mit dem Ergebnis eines Vorgängers, der, wie Einstein, auf dem Papier feststellte, was sich am Firmament zu ereignen hatte.

Wenn man ehedem einen besonders kräftigen Trumpf der Forschung ausspielen wollte, so nannte man wohl die Tat des französischen Forschers Leverrier, der einen bis dahin völlig unbekannten, nie gesehenen Wandelstern mit der Feder in der Hand dingfest machte. Aus gewissen Störungen im Lauf des damals äußersten Planeten Uranus war ihm die Gewißheit von der Existenz eines noch entfernteren Planeten aufgestiegen, und lediglich mit den Hilfsmitteln der theoretischen Himmelsmechanik, auf Grund des Drei-Körper-Problems, gelang es ihm, aus dem Sichtbaren das Verborgene zu erschließen. Das Resultat seiner Berechnungen meldete er vor nunmehr einem dreiviertel Jahrhundert der Berliner Sternwarte, die damals über vergleichsweise überlegene Instrumente verfügte; und hier begab sich das Erstaunliche: noch am nämlichen Abend fand der Berliner Beobachter, Gottfried Galle, den angesagten neuen Stern fast genau an der angesagten Himmelsstelle, nur um eine halbe Mondbreite abstehend von dem vorbestimmten Punkt. Der neue Planet Neptun, der äußerste körperliche Vorposten unseres Sonnensystems, saß gefangen im Teleskop, das scheinbar Unerforschliche kapitulierte vor der Gedankenarbeit eines rechnenden Gelehrten, der sinnend im stillen Gemach seine Zirkel entworfen hatte.

Das war nun freilich verblüffend genug. Aber immerhin: das fabelhafte, die Phantasie so mächtig erregende Ergebnis wurzelte in der Wirklichkeit, lag in der geraden Linie der Forschung, floß mit zwingender Notwendigkeit aus den damals bekannten Bewegungsgesetzen und offenbarte sich als ein neuer Beweis für die längst anerkannten und souverän gültigen astronomischen Grundlehren. Diese hatte Leverrier nicht geschaffen, sondern vorgefunden und freilich in höchst genialer Weise angewandt. Wenn einer heute bei genügender Vorbildung die extrem verwickelte Rechnung Leverriers vornimmt, so hat er alle Ursache, eine durchaus mathematische Arbeit zu bestaunen.

Wir haben in unseren Tagen Bedeutsameres erlebt. Es traten in den Beobachtungen am Himmelsdom Unregelmäßigkeiten und Unerklärbarkeiten auf, denen in keiner Weise nach den gültigen Methoden der klassischen Mechanik beizukommen war. Zu ihrer Erklärung waren grundstürzende Denkakte notwendig. Bis ins tiefste Fundament hinein mußte die menschliche Anschauung von der Magna Charta des Weltgebäudes umgeformt werden, um die Probleme zu erfassen, die gleichzeitig im Größten wie im Kleinsten auftraten, in den Umläufen der Sterne, wie in den Bewegungen der letzten, aller direkten Wahrnehmbarkeit entrückten Atom-Bestandteile der Körperwelt. Es galt, durch tiefste Ergründung des Weltsystems jene Lehren zu vollenden, die in den Geistestaten von Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton die Wahrheit in ihren Grundzügen verkündet, aber nicht erschöpft hatten. Hier tritt Einstein hervor.

Hatte sich der äußerste Planet, Neptun, durch seine bloße Nachweisbarkeit den vorhandenen Gesetzen gefügt, so erwies sich der innerste, Merkur, als störrisch gegenüber den feinsten Errechnungsformeln. Es verblieb ein unlösbarer Rest, eine Unstimmigkeit, die in Zahlen und Worte gefaßt, recht winzig erschien und doch ein tiefes Geheimnis umschloß. Worin lag diese Unstimmigkeit? In einer Bogendifferenz, die gleichfalls von Leverrier entdeckt, allen Erklärungsversuchen trotzte. Es handelte sich um etwa 45 unmerklich kleine Größenwerte, – Bogensekunden – , die fast zu verschwinden schienen, da sich die Abweichung nicht etwa auf einen Monat oder auf ein Jahr erstreckte, sondern, alles in allem, auf ein volles Jahrhundert bezogen werden sollte. Um so viel, so wenig, differierte die Drehung der Merkurbahn im Sinne der Bahnbewegung von dem sozusagen erlaubten astronomischen Werte. Die Beobachtung war exakt, die Berechnung war exakt, folglich –?

Folglich mußte in den Grundanschauungen über die Weltenmechanik an sich etwas Verborgenes, noch Unerforschtes obwalten. Der vordem ungesehene Neptun brachte, als er auftauchte, die Bestätigung der alten Regel. Der sichtbare Merkur lehnte sich dagegen auf.

Poincaré hatte 1910 die peinliche Frage berührt, schon mit dem Hinweis darauf, daß hier eine Prüfung der neuen Mechanik vorläge. Die Vermutung mancher Astronomen, daß hier ein neues Leverrier-Problem vorhanden sei, daß ein noch unentdeckter, bahnstörender Planet in noch größerer Sonnennähe existieren müsse, wies er ab; ebenso die Annahme, daß etwa ein Ring um die Sonne gelagerter kosmischer Materie die Störung verursachen könnte. Poincaré ahnte wohl, daß die neue Mechanik den Schlüssel zum Rätsel bieten könnte, allein er kleidete diese Ahnung, vom offensichtlichen Gewissenskonflikt bedrängt, in sehr vorsichtige Worte. Er sagte damals, daß noch eine besondere Ursache zur Erklärung der Merkur-Anomalie gefunden werden müßte; bis dahin dürfe man nur sagen, daß die neue Lehre »nicht gerade im Widerspruch« mit den astronomischen Tatsachen stünde.

Aber die Erkenntnis war auf dem Marsche. Fünf Jahre später, am 18. November von 1915 legte Albert Einstein der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Bericht vor, der das in Sekunden so unmerkliche, in seinem inneren Wesen so ungeheure Rätsel auflöste. Er wies nach, daß bis auf die Sekunde genau das Problem sich entschleiert, wenn die von ihm begründete Allgemeine Relativitätstheorie als das allein gültige Fundament allen kosmischen Bewegungserscheinungen zugrunde gelegt wird.

Hier nun dürfte mancher entgegenrufen: man erkläre mir leicht-faßlich das Wesen der Relativitätslehre! Ja, mancher geht in seinem Begehren noch weiter und wünscht die bequeme Darlegung in wenigen knappen Sätzen. Was nach Schwierigkeit und Möglichkeit gemessen, ungefähr wie der Wunsch wäre, den Inhalt der Weltgeschichte aus einigen Quartseiten Manuskript oder aus einem Feuilleton zu erfahren. Aber selbst, wenn man sehr weit ausholt und reiches Darstellungsmaterial aufwendet, wird man die Vorstellung der spielenden Leichtfaßlichkeit aufzugeben haben. Denn diese Lehre, wie sie den Zusammenhang des Mathematischen mit den physikalischen Geschehnissen erweist, fußt im Mathematischen und findet hinsichtlich ihrer Darstellbarkeit hierin ihre Grenze. Wer es unternimmt, sie bequem faßlich, also gänzlich unmathematisch und dabei doch vollständig zu entwickeln, der begibt sich in ein undurchführbares Wagnis; etwa wie einer, der die Keplerschen Gesetze auf der Flöte vorblasen, oder Kants Kritik der reinen Vernunft durch farbige Illustrationen erläutern wollte. Um es einmal ganz offenherzig zu bekennen: es kann sich bei allen nach der Richtung der Allgemeinverständlichkeit unternommenen Versuchen immer nur um lose Andeutungen handeln, diesseits der mathematischen Grenze. Aber auch in solchen Hinweisen liegt Ersprießliches, wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hörers so einzustellen, daß sich ihm die Zusammenhänge, sozusagen die Haupt-Leitmotive der Lehre wenigstens ahnungsweise erschließen.

Es muß also genügen, wenn hier wie an andern Stellen dieser Schrift der Begriff der Annäherung in den Vordergrund gerückt wird. Allen astronomischen Bewahrheitungen wurden bis in die neueste Zeit die Newtonschen Bewegungsgleichungen zugrunde gelegt. Das sind in Formeln gefaßte symbolische Darstellungen, die das im Kerne überaus einfache Gesetz der Massenanziehung umschließen. Sie enthalten das durchgreifende Prinzip, daß die Anziehung proportional zur Masse erfolgt und umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung; so daß also die bewegende Kraft bei zweifacher Masse sich verdoppelt, während sie sich bei doppelter Entfernung auf den vierten Teil, bei dreifacher Entfernung auf den neunten Teil usf. vermindert.

Nach der Relativitätstheorie ist dies fundamentale Gesetz nicht etwa falsch und ungültig, aber bis in die äußerste Konsequenz verfolgt, nicht mehr lückenlos gültig. Bei seiner Korrektur treten neue Faktoren auf, so das Verhältnis vorhandener Geschwindigkeiten zur Lichtgeschwindigkeit und die veränderte mit »Weltlinien« operierende Geometrie im Raume, der mit Einschluß der Zeitdimension als ein vierfach ausgedehntes Kontinuum aufgefaßt wird. Einstein hat nun tatsächlich jene Grundgleichungen für die Massenbewegung so vervollständigt, daß die Urform, dagegen gehalten, die Wahrheit nur in Annäherung ausspricht, während die Einsteinschen Gleichungen die Bewegung in höchster Genauigkeit ausdrücken.

Die vorgenannte Einsteinsche Abhandlung verfährt so, als müsse dem von Newton hinterlassenen Instrument die äußerste, allerfeinste Spitze angeschliffen werden. Für den Mathematiker wird diese Spitze durch eine Kombination von Zeichen erzielt, die sich hier als ein sogenanntes »Elliptisches Integral« darstellt. Solch ein Integral ist ein höchst unheimliches Gebilde, und der Mann, der es dem Allerweltsverständnis nahe bringt, soll noch geboren werden. Wenn Lord Byron sagte: »Gelehrter, du erklärst uns die Philosophie, – doch die Erklärung, wer erklärt uns die?«, so stand er immer noch auf dem gesicherten Boden der Begreiflichkeit, relativ zum Nichtmathematiker, der ein solches Gebilde erklärt haben will. Und welcher Komplex mathematischer Gefährlichkeiten muß schon überstanden werden, bevor sich erst die Frage nach jenem Integral herauskristallisiert!

Aber nun stand es da und war der Ausrechnung, wiederum in Annäherung, zugänglich. Bevor wir das Resultat nennen, sei wenigstens ein einziger Fachausdruck umschrieben: Man versteht unter »Perihel« denjenigen Punkt einer Planetenbahn, welcher der Sonne am nächsten liegt. Diese Bahn ist ein Ellipse, d. h. eine längliche krumme Linie, in der man, der Länglichkeit entsprechend eine große und die auf ihrem Mittelpunkt senkrecht stehende kleine Achse unterscheidet. Sonach bildet in der Planetenbahn das Perihel den einen Endpunkt der großen Achse.

Dieser Perihelpunkt verändert seine Lage im Raume, er ist im Sinne der Bahnbewegung im Vorschreiten begriffen, und man hätte voraussetzen dürfen, daß das Maß des astronomisch beobachteten Vorrückens mit der aus Newtons Theorie hervorgehenden Rechnung übereinstimmen würde. Das war eben nicht der Fall, es verblieb ein unerklärter Rest, den die Astronomen auf 45 (Bogen-)Sekunden in 100 Jahren feststellten; mit einer möglichen Schwankung von plus oder minus 5 Sekunden. Lag also das neue Ergebnis zwischen 40 und 50 Sekunden, so war damit die neue Theorie ab sofort die fortan alleingültige erwiesen.

Und es kam genau so, wie Einstein vorausgesehen: die Rechnung liefert für den Planeten Merkur ein Vorschreiten des Perihels um 43 Sekunden für 100 Jahre, was eine volle Übereinstimmung bedeutet und jene Unerklärlichkeit vollständig zum Verschwinden bringt. Hatte Leverrier seiner Zeit einen neuen Planeten aufgezeigt, so machte Einstein das weit Bedeutungsvollere sichtbar: eine neue Wahrheit.

Es war eine Genauigkeitsprobe, so glänzend, daß sie allein genügt hätte, um die Richtigkeit der Einsteinschen Prinzipe zu erweisen. Allein noch folgenschwerer und durchgreifender erschien eine zweite Probe, die erst mehrere Jahre später angestellt werden konnte und die sich zu einem Weltereignis ersten Ranges gestaltete.

Einstein hatte nämlich zur selben Zeit, als er das Merkurproblem löste, in seine grundstürzenden und grundlegenden Untersuchungen den Gang der Lichtstrahlen einbezogen und war zu der Aussage gelangt, daß jeder Strahl unter dem Einfluß eines Gravitationsfeldes, also z. B. in der Nähe der Sonne, eine Krümmung erleiden müsse. Für diese abenteuerlich klingende Behauptung eröffnete sich die Möglichkeit eines praktischen Beweises durch die totale Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919. Denn bei einer Verdunkelung der Sonnenscheibe werden die zunächst gelegenen Fixsterne (sogar schon für das unbewaffnete Auge) sichtbar. Sie können photographiert werden, und aus den Abständen der Lichtpünktchen im Photogramm läßt sich herauslesen, ob die am Schwerkörper der Sonne vorbeistreichenden Sternstrahlen wirklich die von Einstein angesagte Abbeugung durchgemacht haben.

Abermals stieß sich das landläufige Denken an eine harte Kante, und der »gesunde Menschenverstand«, der sich selbst sein Gesundheitsattest ausstellt, wollte rebellisch werden. Wie denn? Ein Sternstrahl sollte krumm werden können? Widerstrebt das nicht dem Elementarbegriff der geraden, der kürzesten Linie, für die wir ja keine anschaulichere Vorstellung besitzen, als eben den Strahl? Hat doch Leonardo da Vinci die Gerade direkt so definiert, so benannt, als die »linea radiosa«.

Aber für derlei vermeintliche Selbstverständlichkeiten ist in der Raumzeitwelt kein Platz mehr. Und hier galt es, ein angesagtes physikalisches Abenteuer zu prüfen. Fand die Strahl-Abbiegung wirklich statt, so mußte sich dies dadurch offenbaren, daß auf der photographischen Platte die Sterne weiter auseinanderstanden, als man nach ihrer wirklichen Position erwarten konnte.

Denn die Krümmung wendet ihre Konkavseite zur Sonne, was unschwer einzusehen, sobald man das Phänomen selbst erst für möglich hält. Als ob der Strahl unmittelbar der Schwerkraft unterläge. Nun stelle man sich zwei Sterne rechts und links der Sonne vor. Das Auge empfängt deren Strahlen vermöge deren Hohlbiegung nach innen unter vergrößertem Gesichtswinkel, deutet diesen auf vergrößerten Abstand der Lichtquellen, sieht also die beiden Sterne weiter auseinander, als bei gradliniger Lichtbotschaft.

Um wieviel wohl? Die vorausgehende Berechnung und die nachfolgende direkte Beobachtung verlangten unglaubliche Feinheiten des Ausmaßes. Man denke sich den ganzen Himmelsbogen, in leichtübersehbare Größen, in Grade eingeteilt. Dann ergibt eine Mondbreite etwa einen halben Grad. Hiervon der dreißigste Teil, eine Bogenminute, ist noch gut vorstellbar. Aber hiervon wiederum der sechzigste Teil, die Bogensekunde, entzieht sich nahezu aller sinnlichen Erfaßbarkeit. Und auf dieses Kleinmaß kam es an: denn die in reiner Gedankenarbeit entwickelte Theorie sagte eine Ablenkung von ein und sieben Zehntel Bogensekunde an. Das entspricht etwa einer Haaresbreite aus einer Entfernung von fünfzehn Metern gesehen, oder der Dicke eines Streichholzes, aus der Distanz eines Kilometers betrachtet. An solcher unvorstellbaren Kleinheit hing eines der größten Probleme der universalsten Wissenschaft.

Nicht für ihn selbst im Sinne eines möglichen Zweifels. Ich hatte wiederholt Gelegenheit, ihn vor dem Mai von 1919 danach zu befragen. Da gab es keine Spur irgendwelcher Bedenklichkeit, kein Schatten huschte über seine Seele. Schließlich stand doch sehr viel auf dem Spiele. Die Beobachtung sollte nach dem für alle Welt ausdrücklich verkündeten Programm »die Richtigkeit des Einsteinschen Weltsystems« erweisen, und das stand auf des Messers Schneide von weniger als zwei Bogensekunden. Aber Herr Professor, sagte ich wiederholt, wenn es nun doch etwas mehr wird oder weniger? So etwas bleibt doch an Apparate gebunden, die mangelhaft sein können! oder an irgendwelche nicht vorherzusehenden Unvollkommenheiten der Beobachtungen. Einstein lächelte dazu. Und in diesem Lächeln lag zugleich das unbedingte Vertrauen zu den Instrumenten und zu den Beobachtern, denen das Amt dieser Feststellung anvertraut werden sollte.

Und man beachte dabei, daß für diese Aufnahme keine erheblichen Zeiten zum gemächlichen Ausprobieren zur Verfügung standen. Denn die größtmögliche Dauer einer totalen Sonnenfinsternis für einen bestimmten Ort beträgt noch nicht acht Minuten. In dieser knappen Zeitspanne durfte nichts mißglücken, durfte auch, nebenbei erwähnt, keine störende Wolkenbedeckung eintreten. Des Himmels gütige Mitwirkung war unerläßlich, und er versagte sie nicht. Die Sonne, hier die verdunkelte Sonne, bracht' es an den Tag.

Zwei englische Expeditionen waren aus Anlaß dieses Ereignisses nach Sobral in Brasilien und nach der Insel Principe bei portugiesisch Afrika ausgerüstet worden, sozusagen staatsoffiziell, mit Hilfsmitteln, die von der altehrwürdigen Royal-Society ausgingen. In Anbetracht der Zeitläufte als erstes Zeichen wissenschaftlicher Internationalität ein preiswertes Unternehmen. Ein ungeheurer Apparat wurde aufgeboten, einzig zu einem rein wissenschaftlichen Ziele, das nicht die geringste Beziehung zu irgend einem der Praxis dienlichen Zwecke aufwies; zu einem außerirdischen Ziele, dessen eigentliche Bedeutung wohl nur von sehr wenigen Köpfen erfaßt werden konnte. Und doch regte sich die geistige Teilnahme weit über den Fachkreis hinaus. Beim Herannahen der Sonnenfinsternis begann sich auch das Bewußtsein der Laien mit unbestimmten kosmischen Ahnungen zu erfüllen. Und wie der Seefahrer nach dem Polarstern, so blickte man nach dem auf keiner Karte vorgezeichneten Sternbild des Einstein, aus dem irgend etwas Unverstandenes, aber sicherlich höchst Wichtiges herausblitzen sollte.

Im Juni erfuhr man, daß die Sternaufnahmen in überwiegender Mehrzahl gelungen waren, allein, man mußte sich noch wochenlang, monatelang gedulden, denn die mit Blitzesschnelle aufgenommenen Photogramme mußten erst entwickelt und vor allem ausgemessen werden. Das war bei der Größenordnung der zu vergleichenden Abstände eine schwierige und umständliche Angelegenheit, die Lichtpünktchen auf der Platte antworteten nicht ohne weiteres mit Ja oder Nein, sondern erst nach peinlicher Befragung mit dem äußersten Aufgebot feinmechanischer Künste.

Ende September wurde ihre Botschaft vernehmlich. Sie lautete bejahend, und dieses Ja aus transzendenten Fernen fand in der irdischen Welt ein dröhnendes Echo. Wirklich und wahrhaftig: die von Einstein angesagten ein und sieben Zehntel Bogensekunde waren bis auf das Dezimal genau herausgekommen. Die Punktrunen hatten geredet in ihrer pythagoreischen Sprache der Sphärenharmonie. Und indem sich die Kunde verbreitete, hörten wir die Erläuterung des Goetheschen Ariel:

Welch Getöse bringt das Licht!
Es trompetet, es posaunet,
Auge blinzt und Ohr erstaunet!

Nie zuvor war Ähnliches erlebt worden. Eine Hochflut des Erstaunens wogte über die Kontinente; tausende von Menschen, die sich sonst ihr lebelang niemals um Lichtschwingungen und Gravitation gekümmert hatten, wurden von dieser Woge ergriffen und emporgetragen, wenn auch nicht zum Begreifen, so doch zu dem Wunsche nach Erkenntnis. Und alle verstanden doch so viel, daß hier aus der Gedankenarbeit eines stillen Gelehrten eine Heilsbotschaft für die Erforschung des Weltalls ergangen war.

Kein Name wurde in dieser Zeit so viel genannt, wie der dieses Mannes. Alles verschwand vor dem Universalthema, das sich der Menschheit bemächtigt hatte. Die Unterhaltungen der Gebildeten kreisten um diesen Pol, kamen davon nicht los, kehrten, wenn durch Not oder Zufall abgedrängt, immer wieder zum Thema zurück. Die Zeitungen machten Jagd auf Federn, die ihnen Längeres oder Kürzeres, Fachliches oder nur sonst irgend etwas über Einstein zu liefern vermochten. An allen Ecken und Enden tauchten gesellschaftliche Unterrichtskurse auf, fliegende Universitäten mit Wanderdozenten, welche die Leute aus der dreidimensionalen Misere des täglichen Lebens in die freundlicheren Gefilde der Vierdimensionalität führten. Die Damen vergaßen ihre häuslichen Sorgen und unterhielten sich über Koordinatensysteme, über das Prinzip der Gleichzeitigkeit und negativ geladene Elektronen. Alle zeitgenössischen Fragen hatten einen festen Kern gewonnen, von dem sich zu all und jedem Fäden spinnen ließen: die Relativität war das beherrschende und erlösende Wort geworden.

Soviel Groteskes dabei auch zutage trat, eines ließ sich nicht verkennen: man stand vor den Äußerungen eines geistigen Hungers, der nicht minder gebieterisch auftrat wie der leibliche, und der sich mit den Mitteln der vormaligen Populärwissenschaft und Schöngeistigkeit nicht mehr abfertigen ließ.

Und während die Volksweisen, Staatsmänner und Tribunen mit der Stange im Nebel umherfuhren, um auf etwas Volksdienliches zu stoßen, fand die Menge das für sie Zweckdienliche, Erbauliche, das ihr von fern wie Wiederaufbau vorkam. Da war ein Mann, der nach den Sternen gegriffen hatte, in dessen Lehre mußte man sich vertiefen, um die irdische Plage zu vergessen. Es war seit undenklicher Zeit das erstemal, daß ein Akkord durch die Welt zog, die gemeinsame Einstellung auf etwas, das wie Musik oder Religion außerhalb der politischen, sozialen und materiellen Interessen lag.

Schon die Vorstellung: ein lebender Kopernikus wandelt unter uns, hatte etwas Erhebendes. Wer ihm huldigte, hatte das Gefühl, sich über Raum und Zeit zu schwingen, und diese Huldigung bedeutete einen schönen Zug dieser an Erfreulichkeiten sonst so armen Epoche.


Wie schon angedeutet, fehlte es auch nicht an seltsamen Blüten, und der Chronist hätte sich davon ein hübsches Album anlegen können. Ich brachte Einstein einige Auslandsblätter mit großen Illustrationen, die ihren Verfassern und Herstellern sicherlich viel Kopfarbeit und Kosten verursacht hatten. Da waren unter anderm seitengroße, prachtvoll gedruckte bildliche Darstellungen, die dem Betrachter den Gang der Sternstrahlen während der totalen Sonnenfinsternis veranschaulichen sollten. Daran hatte Einstein sein helles Vergnügen, nämlich e contrario, denn auf den Blättern stand physikalisch genommen der blanke Blödsinn. Sie zeigten das genaue Gegenteil des wirklichen Strahlenvorgangs dadurch, daß der Zeichnungsentwerfer die Konvexseite der Strahlenbiegung zur Sonne gekehrt hatte. Ja, er besaß nicht einmal von dem Wesen einer Ablenkung eine Ahnung, denn seine Strahlen marschierten streng gradlinig durch das Universum und bekamen in der Sonnennähe einen plötzlichen storchbeinigen Knick. In dem Schwall der Journal-Huldigungen traten auch vereinzelte dissentierende, ja feindselige Stimmen auf. Einstein begegnete diesen nicht nur ohne Zorn, sondern mit einem gewissen Wohlwollen. Denn tatsächlich, es wurde ihm in der ununterbrochenen Ovation unbehaglich, und es lehnte sich in seiner Seele dagegen etwas auf, wie gegen einen Primadonna-Kultus. Und so tat es ihm förmlich wohl, wenn aus irgend einer Zeitungsecke irgend eine, wenn auch noch so unmotivierte, sachlich verfehlte Polemik losfuhr, bloß weil er doch endlich einmal in der ewigen Konsonanz eine dissonierende Stimme zu hören bekam. Gelegentlich sagte er sogar bezüglich eines schrill trompetenden Widersachers: »Der Mann hat ja ganz recht!« Und das kam ihm vom Munde, wie die natürlichste Sache von der Welt. Man muß ihn kennen, um diese Exzesse der Toleranz richtig zu verstehen. Auch Sokrates hat seine Gegner verteidigt.

Wir kehrten im Gespräch zum Ausgangspunkt zurück, und ich fragte, ob es nicht ein Mittel gäbe, um dem Nichtfachmann die Strahlbiegung verständlich zu machen.

Einstein erwiderte: In ganz oberflächlicher Andeutung ist dies allerdings möglich. Und indem er auf Papier einige Striche entwarf, die ich hier annähernd mit Worten nachzeichnen will, erläuterte er – ungefähr – folgendermaßen:

Dieses Viereck bedeute den Querschnitt eines geschlossenen Kastens, den man sich irgendwo in der Welt befindlich vorstelle. In seinem Innern lebt ein Physiker, der Beobachtungen anstellt und daraus seine Schlüsse zieht. Er macht unter anderm die uns allen geläufige Wahrnehmung, daß jeder sich selbst überlassene, nicht unterstützte Körper, z. B. ein Stein, den er aus der Hand läßt, zu Boden fällt, und zwar mit konstanter Beschleunigung, das heißt mit stetiger Zunahme der Geschwindigkeit von oben nach unten. Wenn er sich diesen Vorgang erklären will, so stehen ihm zwei Wege offen.

Erstens könnte er vermuten – und diese Annahme wird ihm am nächsten liegen –, daß sein Kasten auf einem Himmelskörper ruhe; denn in der Tat, wäre der Kasten ein Hohlraum einer irdischen Behausung, so böte das Fallen des Steines nichts Auffälliges, wäre vielmehr jedem Insassen selbstverständlich und also dem Physiker nach den Galileischen Fallgesetzen vollkommen erklärlich. Er brauchte aber dabei nicht ausschließlich an die Erde zu denken, denn wenn sich der Kasten auf einem andern Stern befände, so würde das Fallen gleichfalls auftreten, langsamer oder schneller, aber jedenfalls mit konstanter Beschleunigung des fallenden Körpers. Der Physiker könnte also sagen: hier liegt eine Gravitationswirkung vor, eine Erscheinung der Schwerkraft, die ich mir wie üblich durch die Massenanziehung eines Himmelskörpers erkläre.

Er könnte aber zweitens noch auf einen andern Gedanken verfallen. Denn wir haben ja über den Ort des Kastens nicht das geringste ausgesagt und nichts anderes vorausgesetzt, als daß er sich »irgendwo in der Welt« befinden sollte. Der Physiker im Kasten könnte also folgende Überlegung anstellen:

Gesetzt, ich befände mich hier weltenweit von jedem anziehenden Himmelskörper, gesetzt, eine Gravitation existierte gar nicht für mich und den Stein, den ich aus der Hand lasse, so könnte trotzdem das von mir beobachtete Phänomen vollkommen erklärt werden. Ich brauchte dann eben nur anzunehmen, daß der Kasten sich mit konstanter Beschleunigung »nach oben« bewegt. Die von mir als ein Fallen »nach unten« gedeutete Bewegung braucht gar nicht stattzufinden. Der Stein, als ein träger Körper, könnte in seiner Lage verharren und würde mir trotzdem, bei aufwärts beschleunigtem Kasten, genau dasselbe Verhalten zeigen, als fiele er mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts.

Da nun jener Physiker kein System, das ihm zur Orientierung dient, in seinem weltabgeschlossenen Kasten kein Mittel zur Verfügung hat, anderweitig festzustellen, ob er sich im Wirkungskreise eines attrahierenden Weltkörpers befindet oder nicht, so bleiben ihm tatsächlich beide Erklärungen offen, beide in gleicher Weise gültig, so daß es ihm unmöglich wird, eine Entscheidung zu treffen. Er kann die Beschleunigung so oder so auffassen, nach unten oder nach oben, in Relativität zu einander; ein prinzipieller Grund, der einen Auslegung den Vorzug zu geben, fehlt durchaus, da das Fallphänomen sich unverändert darstellt, ob man den fallenden Stein bei ruhendem Kasten oder den trägen Stein bei bewegtem Kasten annimmt; und dies läßt sich in Verallgemeinerung so ausdrücken:

An jedem Punkt des Universums kann man die beobachtete Beschleunigung eines sich selbst überlassenen Körpers entweder als Trägheitswirkung auffassen, oder als Gravitationswirkung; das heißt, man kann mit gleichem physikalischen Recht behaupten, das System (der Kasten, der Orientierungskomplex), von dem aus ich den Vorgang beobachte, ist beschleunigt – oder der Vorgang findet in einem Gravitationsfelde statt. Die Gleichwertigkeit beider Auffassungen wird von Einstein als das »Äquivalenzprinzip« bezeichnet. Es spricht die Äquivalenz aus, die Identität von träger und gravitierender Masse.

Macht man sich mit dieser Identität vertraut, so tritt ein höchst wichtiger Erkenntnisgrund ins Bewußtsein. Wir gelangen zu der unverlierbaren Vorstellung, daß jede Trägheitswirkung, die wir an einem Körper wahrnehmen, das Elementarste an ihm: sozusagen er selbst, in seinem beharrlichen Wesen zurückzuführen ist auf den Einfluß, den er von andern Körpern erleidet.

Nachdem wir diese Einsicht gewonnen haben, drängt es uns, zu erfahren, wie sich wohl ein Lichtstrahl unter dem Einfluß der Gravitation verhalten würde. Wir kehren daher zu dem Physiker in dem Kasten zurück und wissen nunmehr, daß es uns nach dem Äquivalenzprinzip freisteht, unter dem Kasten einen attrahierenden Himmelskörper, z. B. die Sonne, vorauszusetzen, oder die Erscheinungen auf den nach oben beschleunigten Kasten zu beziehen. Wir unterscheiden in dem Kasten den Boden, die Decke, vier Seitenwände, und unter diesen wiederum, je nachdem wir Posto fassen, die linke und die ihr gegenüberliegende rechte Wand.

Nun stellen wir uns vor, daß sich außerhalb des Kastens, außer Zusammenhang mit uns, ein Schütze frei im Weltall befände, der mit einem wagerecht gehaltenen Gewehr auf den Kasten feuert, dergestalt, daß er die linke und mit demselben Schuß auch die rechte Wand durchbohrt. Bliebe sonst alles in Ruhe, so müßten die Einschuß- und die Ausschlagsöffnung gleich weit vom Boden abliegen, die Kugel würde sich in gradliniger Bahn, parallel zum Boden und zur Decke bewegen. Nun spielen sich aber alle Vorgänge so ab, als bliebe der Kasten selbst in beständiger Beschleunigung nach aufwärts. Die Kugel, die zu ihrem Flug von Wand zu Wand Zeit gebraucht, findet somit die rechte Wand, wenn sie bei ihr anlangt, etwas emporgerückt, bohrt somit ihre Ausschlagsöffnung etwas tiefer. Die Gradlinigkeit des Kugelfluges besteht also nicht mehr für unsere Beobachtung im Inneren des Gehäuses. Von Punkt zu Punkt verfolgt, würde die Kugel vielmehr, für uns im Innern, eine krumme, abwärts gebogene Linie beschreiben, mit der Konkavseite zum Boden.

Und genau dasselbe begibt sich mit einem Strahl, der in wagerechtem Fluge, von einer Lichtquelle außerhalb entsandt, den Weg von Wand zu Wand durcheilt. Nur das Geschwindigkeitsmaß wäre verschieden. Er verhielte sich in der Erscheinung seiner Bahnlinie wie ein Projektil, das mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometern pro Sekunde dahinsaust. Aber es müßte bei allerfeinster Ausmessung doch noch eine, wenn auch noch so winzige Abweichung von der gradlinigen Horizontalen nachweisbar sein, eine geringfügige Hohlkrümmung nach unten.

Folglich muß die nämliche Krümmung des Lichtstrahls (Sternstrahls) auch dort wahrnehmbar werden, wo er dem Einfluß eines Schwerefeldes unterliegt. Machen wir uns von der Hilfsvorstellung des Kastens los, so ändert sich nichts an dem Tatbestand. Ein Sternstrahl, der nahe der Sonne vorbeistreicht, erleidet für unsere Wahrnehmung eine Hohlbiegung zur Sonne, und der Grad dieser Abbiegung ist für genügend feine Instrumente feststellbar. Es kommt, wie erwähnt, auf einen Größenunterschied von 1,7 Sekunde an, der sich durch Abstandmessung auf dem Photogramm ergeben soll und wirklich ergibt.

Daß man imstande ist, dies zu ermitteln, erscheint für sich als ein Wunder der Präzisionstechnik, für das der Ausdruck »haarfein« keineswegs ausreicht. Denn das bewußte feine Haar muß sich ja in sehr respektabler Entfernung spannen, um zum Winkelvergleich überhaupt zugelassen zu werden. Zum Glück ist die Stellarphotographie schon im allgemeinen etwas so wunderbares, daß sie in jedem Einzelfall bereits bei erster Ausmessung recht erhebliche Genauigkeiten ermöglicht.

In der bisher geübten astronomischen Praxis gestalten sich die Verhältnisse so, daß auf der Platte ein Millimeter in linearem Maße einer Bogenminute entspricht. Das ergibt für die Sonnenscheibe selbst einen Durchmesser von drei Zentimetern auf der Photographie. Die Sterne erscheinen als minimale Scheibchen, die in Vergrößerung scharfe Begrenzung zeigen. Sichtbar werden die Sterne bis zur 14. Größenklasse und darüber hinaus, während das bloße Auge bei der 6. Größe Halt machen muß. Ein auf der Platte aufkopiertes Gitter mit Strichen von 1/ 100 Millimeter Breite hilft zu weiterer Genauigkeit der Messung, so daß die Positionen der Objekte bis auf wenige Zehntel einer Bogensekunde mit Sicherheit bestimmt werden können. Die bei der Sonnenfinsternis von 1919 gestellte Aufgabe stand mithin im Einklang mit der Leistungsfähigkeit des Verfahrens.

Man hatte Einstein ein Exemplar dieser Aufnahme von England hergesandt, und er erzählte mir davon in freudig betonten Ausdrücken. Immer wieder kam er auf das reizende Himmelsbildchen zurück, ganz erfüllt von der Sache selbst, ohne die mindeste Hervorkehrung eines persönlichen Interesses an dem Erfolg. Ja, ich gehe noch weiter und irre mich ganz gewiß nicht in der Deutung: er dachte dabei nicht einmal an seine neue Mechanik, noch an deren Bewahrheitung durch das Strahlenexperiment, vielmehr kam hier die Verfassung eines Gemütes zum Vorschein, das sich beim Genie wie beim Kinde in Naivität ausspricht. Ihn entzückte die Hübschheit der Photographie und die Vorstellung, daß der Himmel in Gala dazu Modell gestanden hatte.

Alles wiederholt sich nur im Leben. In diesen Ereignissen, die den 29. Mai 1919 zu einem hochwichtigen Datum der Wissenschaftsgeschichte stempeln, begab sich Sonnenmythus in Wiederauflebung. Unbewußt dem Einzelnen, aber als eine Äußerung des Gesamtbewußtseins. Auch als Kopernikus die geozentrische zur heliozentrischen Vorstellung umbildete, war Sonnenmythus lebendig gewesen; die Verkörperung des Schicksals im leuchtenden und wärmenden Gestirn. Diesmal stieg er auf, von allen Schlacken gereinigt, kaum noch sinnlich erfaßbar, wie eine Aureole, mit welcher allerfernste Strahlenquellen unsere Sonne umwebten, einem Prinzip zu Ehren. Und wenn auch die meisten bis heute noch nicht wissen, was ein »Bezugsystem« bedeutet, so hatte sich doch ein solches für viele entwickelt: ein geistiges System, auf das sie ihre Erkenntniswünsche bezogen, wenn sie von Einstein sprachen, wenn sie an ihn dachten.


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