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Am Eingange dieser Betrachtungen haben wir uns vorerst zu vergegenwärtigen, was das römische Reich war in bezug auf seinen intellektuellen Inhalt und Standpunkt. Man kann sagen, daß alle alte Geschichte in die römische sich hinein ergießt, gleichsam in einen Strom, der in einen See mündet, und daß die ganze neuere Geschichte wieder von der römischen ausgeht. Ich wage es zu behaupten, daß die ganze Geschichte nichts wert wäre, wenn die Römer nicht existiert hätten.
Die erste Frage, welche Ew. Majestät angeregt haben, ist die, ob die alte Geschichte abgestorben ist, oder inwiefern in der römischen Geschichte alle Elemente wirksam waren, welche die alte Geschichte angeregt hat. Die Lösung dieser Frage ergibt sich daraus, wenn wir erwägen, daß das römische Reich errichtet wurde auf dem ihm vorangegangenen, durch Alexander den Großen und seine Nachfolger gestifteten griechisch-mazedonisch-orientalischen Reiche, welches in sich die bedeutendsten Momente des Orientalismus aufgenommen hatte.
Werfen wir hier einen kurzen Rückblick auf die älteste Geschichte, so finden wir im Orient starke religiöse Gegensätze. Wir finden dort die Juden, auf der einen Seite von den Ägyptern, auf der anderen Seite von dem assyrischen und babylonischen Reiche begrenzt, dessen religiöse Vorstellungen mit denen der Ägypter eine unverkennbare Ähnlichkeit tragen.
Inmitten dieser heidnischen Völkerschaften waren die monotheistischen Juden unaufhörlichen Kämpfen und Anfechtungen ausgesetzt. Sie wurden von den Assyrern und Babyloniern in die Gefangenschaft fortgeführt, und für einen Augenblick schien der nationale Monotheismus dem Untergange nahezustehen, wenn nicht ein anderes Element, welches mit dem jüdischen Verwandtschaft hatte, hilfreich an dasselbe herangekommen wäre. Dieses Element war das persische. Die Perser, deren religiöse Anschauungen reiner und geläuterter waren als die der assyrischen und semitischen Götzendiener überhaupt, machten es sich zur Aufgabe, das jüdische Element zu restaurieren. Darauf kam aber Alexander der Große, der selbst ein eifriger Götzendiener war, und restaurierte wieder den nationalen Götzendienst. Während Kambyses den Apis getötet hatte, erklärte Alexander sich für einen Sohn des Jupiter Ammon und akzeptierte den orientalischen Mythus.
Die beiden Momente, nämlich die reinere Religion, an der die Perser einen gewissen Anteil hatten, und welche bei den Juden als Monotheismus erschien, wie die Götzendienerschaft der anderen Völker, gingen nun in das römische Reich über, welches das mazedonische, syrische und ägyptische Reich zwar eroberte, im übrigen aber alles dort bestehen ließ, wie es war.
Die Römer waren, gleich den Nachfolgern Alexanders, heftige Gegner der Juden, und da geschah nun jenes große Weltereignis, daß aus den Juden die Idee der Weltreligion hervorging. Die Juden hatten nämlich zwar die Idee von der Einheit Gottes – wahrscheinlich die Uridee der Urzeiten – erhalten, aber sie betrachteten Gott mehr als einen Nationalgott. Da erschien Christus und hat, auf ihre Religion fußend, den allgemeinen Gott gepredigt und von allen Völkerinteressen und Nationalgöttern abstrahiert. Aus dem Judentum ging die Weltreligion hervor, in dem Augenblicke, wo die Römer die Eroberung des Orients vollendet hatten und eine Masse orientalischer Elemente in ihr Reich aufnahmen. Der ganze religiöse Kampf, der sich im orientalischen Reiche vollzogen hatte, ging in das römische Reich über, und erst im römischen Reiche hat das Christentum seine Welteroberung gemacht. –
Wir haben somit gesehen, daß in religiöser Beziehung das Römerreich ein Komplex aller früherer Elemente war. Gehen wir nun auf die politischen Gegensätze über.
Die alten Völker des Orients waren religiös entzweit, aber politisch vereint und waren alle Gegner der Griechen. Es hatte sich dort eine ungeheure Monarchie ausgebildet, deren Herrschaft sich nur die entfernten Karthager entziehen konnten, und nun trat diesem Koloß das kleine Häufchen der Griechen entgegen, welche sich dem ungestümen Andrang zu widersetzen wagten. Die Elemente der stetigen Unabhängigkeit und der großen konzentrierten Monarchie gerieten miteinander in einen Konflikt, in welchem weder die Perser die Griechen, noch die Griechen die Perser unterwerfen konnten, solange nämlich die ersteren republikanisch waren, weil während dieser Epoche die Eifersucht des Volkes jeden stürzte, dem eine größere Unternehmung zu glücken schien. Die Perser wurden nur dadurch dem griechischen Elemente untertan, daß auch in Griechenland die Monarchie aufkam, eine Monarchie, welche das griechische Wesen mit orientalischen Formen repräsentierte. Die Monarchie, die bisher rein orientalisch und barbarisch gewesen war, wurde gräzisiert. Man kann sagen: wenn die Monarchie bloß persisch geblieben wäre, so hätte sie niemals im Okzident populär werden können, und wir hätten dann vielleicht nichts anderes gesehen als ein wunderliches Wesen, ähnlich der Herrschaft der Sassaniden. Allein, wie gesagt, so sehr sich auch die Nachfolger Alexanders als die Nachfolger der Pharaonen und anderer Dynastien betrachteten, so wurde doch die orientalische Monarchie mehr zivilisiert, indem diese Könige nun zugleich als Träger der Kultur auftraten: Man denke z. B. nur an Alexandria, jene große Pflanzschule des griechischen Geistes!
Das monarchische Element blieb also in den Gebietsteilen, welche später römisch wurden, sehr lebendig, so sehr, daß ich glaube, daß, wenn Marcus Antonius, der nach Ägypten ging und mit der Kleopatra haushielt, gesiegt hätte, er vermöge seiner orientalischen Sympathien die orientalische Monarchie auf den Okzident übertragen haben würde. –
Der griechisch-republikanische Geist wurde aber durch diese Vorgänge nicht unterdrückt, sondern erhielt sich fortwährend lebendig und wirkte auf Rom zurück, zu einer Zeit, wo dort nur mehr die Formen der Republik bestanden. Dieser griechisch-republikanische Geist hatte einen um so größeren Einfluß auf Rom, als er das republikanische Prinzip mehr theoretisiert hatte und es in solcher Gestalt fortpflanzte, indem die vornehmen Römer eine vollkommen griechische Erziehung sich aneigneten. Auf diesem griechisch-republikanischen Boden hat Augustus seine Monarchie errichtet, keine Monarchie, wie wir sie uns denken, sondern ein Prinzipat, in dem alle republikanischen Formen stehen blieben. Augustus hätte es nie gewagt, sich König zu nennen, und insofern unterschied sich die Tendenz des Antonius total von der des Augustus.
Bei den Griechen war indes außer der Religion und Politik noch ein Moment hervorragend, welches Rom in sich aufnahm, nämlich das der Kunst und Literatur, ein Moment, welches sich schon unter den Nachfolgern Alexanders des Orients zu bemächtigen gesucht hatte. Ein Gedanke, auf den ich hier Wert lege, ist der, daß bei den anderen Nationen die bisherigen literarischen Bestrebungen vereinzelt geblieben waren, bei den Griechen aber sich nach und nach eine Erscheinung entwickelte, die man Literatur nennen darf, d. h. ein Umkreis von literarischen Produktionen, welche die Tendenz hatten, alles Wissenswürdige in sich aufzunehmen. Dieses alles ging in das römische Reich über. Freilich kann man sagen: wenn das römische Reich einen anderen Charakter gehabt hätte, der dem griechischen nicht analog gewesen wäre, so würde es sich nicht auf diese Weise haben entwickeln können. Dadurch aber, daß die republikanische Form in Rom die Oberhand behielt, blieb die Analogie zwischen den beiden Volksgeistern fort und fort aufrecht. Die Schriftsteller unter Augustus brauchten sich bloß an Griechenland anzuschließen, was, wenn Antonius die Oberherrschaft errungen hätte, nicht der Fall gewesen wäre. So aber trat die ganze orientalische, jüdisch-semitisch-griechische Welt in allen Produktionen in das römische Reich ein und kam mit demselben in einen unbedingten Zusammenhang. –
In dem ersten Jahrhundert unserer Ära hingegen trat Rom in Zusammenhang mit dem Okzident. Dieses erste Jahrhundert, das man gewöhnlich so mißachtet, war ein Jahrhundert voll von Geist und Leben.
Hier aber müssen wir in unseren Betrachtungen einen Augenblick zurückgehen in die frühere Geschichte des Westens. Diese Geschichte beruht darauf, daß in früheren Zeiten die keltischen Völkerschaften in Gallien und Spanien die Oberhand hatten, in ersterem zum Teil in Verbindung mit den Germanen. Gallier waren bis nach Rom vorgedrungen; ein Brennus hatte Rom, ein anderer Delphi genommen; sie hatten ein kleines Reich in der Nähe von Byzanz gegründet; sie waren nach Syrien hinübergegangen und wollten einen Augenblick sogar Ägypten erobern. Kurz, die Gallier waren eine Zeitlang das mächtigste Volk, und ein Teil der römischen Geschichte beschäftigt sich damit, die Hinaustreibung der Gallier aus Italien zu beschreiben.
Da kam Cäsar und vollzog die große Eroberung Galliens; eines der wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte, denn auf Gallien beruht die ganze nachmalige Konfiguration des Okzidentes. Ich sage in meiner französischen Geschichte: das sind die großen Eroberer, welche zu gleicher Zeit auch die Kultur verbreiten, und dadurch zeichnete sich auch Cäsar aus! Er eroberte Gallien nicht allein, um es zu haben, sondern romanisierte und kultivierte es zugleich. Nun kann man zwar die Zwischenfrage einwerfen, ob es nicht möglich gewesen wäre, daß die Kelten sich selbst kultiviert hätten. Ich glaube kaum, diese Frage mit Ja beantworten zu können; denn sie waren von karthagischen und anderen zivilisierenden Einflüssen umgeben, und doch brachen sie stets als Räuber in Italien und Asien ein und setzten sich fortwährend der Kultur entgegen, und erst durch ihre Besiegung bekam die Kulturwelt in Italien, in Griechenland und im Orient Ruhe vor diesen Barbaren.
Nachdem Cäsar auch nach Britannien übergesetzt hatte, so erschien später Augustus und erwarb sich durch seine Eroberungen immense Verdienste um den Okzident; denn er ist es, der Spanien vollends den Römern unterwarf, Gallien von Lyon aus nach allen Richtungen hin kolonisierte und seine Kulturbestrebungen bis an den Rhein ausdehnte. Mit einem Worte: was Cäsar verrichtete, war unübertrefflich im Kriege; was aber Augustus vollführte, war noch stabiler; er vollendete die Romanisierung Galliens, und die Kelten mußten anfangen, alle lateinisch zu sprechen. Eine der größten Taten des Augustus war aber die, daß er, mit Hilfe des Drusus und Tiberius, die Alpen öffnete. Solange die barbarischen Bevölkerungen der Alpentäler sich wie ein Querbalken zwischen die Kulturwelt – Italien usw. – und den übrigen Okzident legten, war eine Verbreitung der Zivilisation in Mitteleuropa nicht denkbar. Nun aber, nachdem die Alpen eröffnet waren, fingen die Römer an, auf der einen Seite bis nach Pannonien vorzudringen – so Tiberius –, auf der anderen Seite rückten sie in Deutschland bis in das Innerste von Westfalen vor. Hier wurden sie zwar geschlagen; aber demungeachtet wurde das ganze Gebiet längs des Rheines und südlich der Donau romanisiert: Köln und Augsburg waren römische Städte.
Was Cäsar in einer anderen Richtung begonnen hatte, vollendete Claudius, der als einer der dümmsten Menschen verschrien ist, nämlich die Eroberung Britanniens. Diese Ländererwerbungen zogen sich fort bis ins zweite Jahrhundert, in welchem Trajan nach Besetzung Daciens und Mösiens das Gebiet der Rumänen oder Walachen vorbereitete. Die Herrschaft der Römer erstreckte sich über das Schwarze Meer bis an den Euphrat und fand ihre westliche Grenze im Atlantischen Ozean.
Das Hauptereignis des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung war also, daß die in Rom aufgenommene orientalisch-griechische Kultur, die sich mit der lateinischen vereinigt hatte, nunmehr in den Okzident strömte, daß also alles in diesem ersten Jahrhundert eroberte Land Kulturgebiet wurde. Es ist ein Glück, daß diese Eroberungen ihre Grenze in Deutschland fanden; aber ohne die römischen Eroberungen würden wir nichts von Kultur wissen, und innerhalb dieser Grenzen war ihre Erscheinung das größte Weltereignis, welches je vor sich gegangen ist. Diese ungeheure Einheit löste sich zwar wieder auf in zwei Hälften, in eine griechische und eine lateinische; der Westen redete lateinisch, der Osten griechisch; aber das Ganze bildete doch eine Einheit. –
Es fragt sich nunmehr, was, nachdem das Reich der Römer in den ersten Jahrhunderten gegründet worden war, auf diesem von ihnen eingenommenen unermeßlichen Schauplatz zustande kam.
Dies kann der Natur der Sache nach nicht mehr etwas nach außen hin, sondern nach innen Gehendes gewesen sein, da es nicht möglich ist, daß ein Reich sich unaufhörlich nach außen entwickle. Auch Rom fand also seine Grenze, und es trifft in gewisser Hinsicht mit der welthistorischen Tendenz, die man freilich erst hinterher erkennen kann, zusammen, daß die erobernde Kraft sich bloß nach dem Okzident ergoß. Wenn man sich wundert, daß die Römer nicht auch, wie Alexander der Große, nach Arabien und Indien gingen, sondern alle ihre Kräfte darauf verwendeten, Spanien, Gallien, Germanien, Dacien zu zivilisieren, so liegt der welthistorische Grund dieser Erscheinung darin, daß die zivilisierende Tendenz im Osten schon durchgeführt war, und der welthistorische Beruf Roms nur der war, von der Mitte der Welt aus, welche Rom eingenommen hatte, den Okzident zu zivilisieren. Dazu brauchten die Römer aber nichts weiter als die eroberten Elemente; die übrigen konnten sie ausschließen.
Die Produktionen, welche Rom zum Vorschein brachte, sind folgende: 1. eine allgemeine Weltliteratur – 2. die Ausbildung des römischen Rechts zu einem allgemeinen Rechte – 3. die Bildung der monarchischen Verfassung und damit im Zusammenhang die Bildung einer durchgreifenden Verwaltung – 4. die Erhebung der christlichen Kirche zur Herrschaft.
Das ganze römische Wesen hatte zwar einen griechisch redenden und einen lateinisch redenden Teil, die beiden daraus hervorgehenden Literaturen aber hatten, obwohl die eine im Orient herrschte und die andere im Okzident herrschend wurde, doch gewissermaßen ein Hauptziel. Dieses sieht man unter anderem in der Historie mit der größten Bestimmtheit: sobald die Römer zur Weltherrschaft gelangten, hatten die Griechen keine höhere Idee, als das römische Gemeinwesen zu erfassen und zu beschreiben – Polybius, Dionys von Halikarnassus! – Diese Tendenz setzte sich auch in den folgenden Jahrhunderten fort, wie denn der Hauptgeschichtsschreiber der Kaiserzeit, Dio Cassius, ein Grieche war. Die Römer haben zwar in ihrem Tacitus einen der größten Geschichtschreiber, welche je gelebt haben, aufzuweisen; allein dieser ergreift mehr die moralische Seite der Weltgeschichte und beschreibt die Inkonvenienzen, die durch das Prinzipat im römischen Staate hervortraten; aber das Universalhistorische in der Geschichte wurde mehr von den Griechen als von den Römern erfaßt – so von Appian, von Plutarch, der die Römer als Persönlichkeiten zu begreifen suchte, indem es ihm darauf ankam, sie durch Vergleichung mit den Helden einer anderen Nation zu welthistorischer Bedeutung und Würde zu erheben.
Es bildete sich also jene sonderbare Erscheinung einer Doppelliteratur, jene Literatur in zwei Sprachen, welche, obwohl beiderseits mit einer besonderen Tendenz, doch in der Idee ganz identisch ist. Hiernach fragt es sich: welches war der Erfolg dieser Literatur? Um die Frage zu beantworten, werfe ich einen kurzen Rückblick auf die klassische griechische Literatur. Die Produkte dieser Zeit sind entstanden wie Naturprodukte, jedes in eigentümlicher Weise auf eigentümlichem Boden; jeder Autor schrieb in seinem Dialekte, und die klassische Literatur von Athen z. B. ist in den Epochen des prägnantesten, ich möchte sagen, schroffsten Geistes entstanden. Diese Art von literarischer Produktion konnte nun später nicht mehr stattfinden. Die Dialekte schliffen sich ab, und anstatt des attischen kam der allgemeine Dialekt auf; es konnten jetzt auch Schriftsteller von der Größe wie in der früheren Zeit nicht mehr entstehen. Die nunmehrigen Autoren der Griechen teilen nur das allgemein Wissenswerte mit, und ihnen gesellten sich die Römer bei. Da keine Reibung der Parteien mehr stattfand, so hörten selbstverständlich auch die großen Redner auf, und man schrieb Briefe wie Plinius und andere.
Mit einem Wort: es wurde eine allgemeine Literatur gegründet, welche, alle Zweige des Wissens umfassend, sich in beiden Sprachen bewegte, in der griechischen mit mehr Glück, in der lateinischen mit mehr Applikation.
Hier muß man davon ausgehen, daß der eigentlich wissenschaftliche Genius der Römer juridischer Natur war. In keinem Zweige sind sie so originell gewesen wie im bürgerlichen Rechte. Die anderen Nationen haben zwar hierin auch einiges geleistet, aber die Römer haben vom Ursprung ihres Staates an die Begriffe des Rechtes so scharf erfaßt und mit so großer Konsequenz ausgebildet wie kein anderes Volk.
Ursprünglich wurde das Recht nur übertragen von einem Lehrer auf den anderen sowie als gültiges Recht auf dem Forum. Das römische Recht erhielt aber darum eine so bedeutende Ausbildung, nachdem das römische Reich mächtig geworden war, weil da den großen Juristen, die in den Juristenschulen von den Kaisern herangezogen wurden, in ihren Aussprüchen Gesetzeskraft beigelegt wurde, so daß Theorie und Praxis sich niemals enger vereinigten als während der römischen Kaiserzeit. Darum finden wir in einer Epoche, die sonst in anderen Literaturzweigen wenig fruchtbar war, jene Reihe der größten Juristen, aus deren Aussprüchen im 6. Jahrhundert die Pandekten und Institutionen zusammengesetzt wurden, wie Gajus, Ulpian, Papinian usw.
Das erste Moment bei der Entwicklung des Rechtes war das, daß Männer von juridischem Genius die ursprünglich römischen Rechtsideen ausbildeten; das zweite, daß die regelmäßig ausgebildeten Rechtsideen durch die Kaiser Gesetzeskraft erhielten, wodurch dieses Recht, wie es die Konstitutionen enthielten, zugleich einen wissenschaftlichen Inhalt bekam. Das dritte, für die Menschheit höchst wichtige Moment war, daß das römische Recht infolge seiner wissenschaftlichen Entwicklung das Partikuläre, was ihm noch anklebte, abstreifte und eine hohe allgemeine Bedeutung dadurch gewann. Auf diese Weise entstand nun das jus gentium in diesem Sinne, nämlich als das römische Recht, welches applikabel gemacht worden war. Ew. Majestät sehen hieraus, welche Wichtigkeit es hat, daß ein richtig entwickeltes Recht von Partikularitäten freigemacht werde, welche dessen Anwendung auf andere Nationen stören, wie es bei dem römischen Rechte der Fall gewesen war. Man kann behaupten, daß das römische Recht die größte Produktion des römischen Reiches überhaupt war.
In dem Kampfe zwischen Augustus und Antonius, der vielleicht ein Kampf zwischen dem okzidentalen und orientalen Prinzip war, blieb zwar Augustus Sieger und kumulierte darauf die wichtigsten republikanischen Würden in seiner Person; allein er hätte niemals daran denken können, sich König zu nennen, und erfand den Titel Augustus, das ist: der Verehrungswürdige. Mit einem Wort: es kam eine Differenz zutage zwischen der Persönlichkeit des Fürsten und den republikanischen Bestrebungen, die eigentlich noch immer konstitutionell waren. Daher rührte es auch, daß viele Kaiser, abgesehen von ihrer unwürdigen Persönlichkeit, in eine schiefe Stellung gerieten und eine so wunderliche Rolle spielten; denn wiewohl sie eine unumschränkte Gewalt in Anspruch nahmen, so erschienen sie in den Augen der alten Geschlechter und insbesondere der Senatoren immerhin nur als große Oberhäupter, welche in dem Bürgerkriege faktisch die Oberhand erhalten hatten. Der erste, der eine gewisse Festigkeit in den Prinzipat brachte, war Vespasian, aus der Familie der Flavier. Als dieser gesiegt hatte, ließ er sich von dem Senate in der berühmten lex regia gewisse Rechte dekretieren, namentlich das, für sich allein Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen zu dürfen ohne die Mitwirkung des Senates.
Dessenungeachtet traten später wieder die alten Reibungen und Gewalttätigkeiten hervor. Der Senat gelangte wieder zur Herrschaft und ernannte den Nerva zum Kaiser, wie denn auch die nachfolgenden Kaiser durch Adoption von dem regierenden ernannt und unter Zustimmung des Senates eingesetzt wurden, so die Antonine. Im 3. Jahrhundert hingegen brach jene Epoche der gräßlichsten Verwirrung über das Reich herein, welche man auch die Zeit der dreißig Tyrannen nennt, und während welcher bereits die Barbaren mit Macht in das römische Reich eindrangen. In dieser Zeit der Bedrängnis, da einerseits die Grenzen des Reiches eines mächtigen Schutzes bedurften, andererseits jede Armee denjenigen, der an ihrer Spitze stand, als Kaiser durchzusetzen suchte, erfand Diokletian einen Ausweg, um sowohl den Trotz der Armeen zu brechen als auch dem Bedürfnis einer kräftigen Verteidigung des Staates zu genügen. Er aggregierte sich einige Männer als Augusti oder als Cäsares, welche bei ungeteilter Gewalt mit ihm zugleich die Regierung führten, so daß der eine da, der andere dort die höchste Autorität repräsentierte, die in ihm als oberstem Kaiser konzentriert blieb.
Aus dieser Kombination ging Konstantin hervor, welcher im 4. Jahrhundert die Alleinherrschaft auf Grund der Diokletianischen Institutionen vollständig durchführte, was ihm übrigens ebensowenig wie anderen Generälen der Kaiserzeit gelungen wäre, wenn er nicht die Reform der Verfassungszustände in die Hand genommen und sich nicht alsogleich mit dem Christentum in Verbindung gesetzt hätte. Vor allem galt es, das Übergewicht der Armeen vollständig zu bewältigen und den Umtrieben der aristokratischen Parteien ein Ziel zu setzen. Das Wichtigste, was Konstantin zu diesem Zwecke einführte, war die Trennung der Zivil- und Militärgewalt, deren Vereinigung in einer Hand bisher den Provinzialbeamten eine so unermeßliche Macht beigelegt hatte. Dadurch wurde die ganze Population in den Städten ruhiger, und die Aristokratie bewegte sich mehr in lokalen und darum weniger gefährlichen Parteiungen. Ferner teilte Konstantin das ganze Reich in Diözesen und die Diözesen in Provinzen und führte eine förmliche Hierarchie der Titel und Würden ein, von denen manche noch bis auf den heutigen Tag bestehen; der Corregidor in Spanien ist z. B. der alte Corrector provinciae. In diesen Verwaltungssprengeln richtete Konstantin eine absolute Verwaltung ein, in welche er, nur um die Population nicht geradezu den Übergriffen der Praesides provinciarum preiszugeben, das Institut der Defensores einreihte, Anklänge an frühere provinzialische Institutionen, die zu keiner Zeit ganz verschwunden waren. Zu diesen Zentralisationsbestrebungen gesellten sich noch andere Reformen, z. B. die Heranziehung des bisher exemten Italiens zu dem ingens malum tributorum, die Aufhebung des Unterschiedes zwischen den Civitates, die Ausdehnung des römischen Bürgerrechts auf sämtliche Provinzen schon durch Caracalla usw.
Auf diese Weise wurde das römische Reich zu einer noch nicht dagewesenen großen Einheit verbunden, deren Bedeutung dann erst recht hervortritt, wenn man sie mit der Masse der unabhängigen Nationalitäten vergleicht, welche früher bestanden hatten. Also auch hier begegnet man in großartiger Weise, wie bei der Literatur und dem Rechte, der Erscheinung, daß aus dem Partikulären sich allmählich etwas Allgemeines entwickelt. An der Spitze dieser Einheit stand der Prinzeps, dessen Erblichkeit, wenn sie auch nicht geradezu ausgeschlossen war, doch nicht als herkömmlich betrachtet wurde.
Fragt man am Schlusse dieser Betrachtung, ob der Orient auf die Bildung der Monarchie Einfluß hatte, so läßt sich zwar nicht verkennen, daß einige Attribute derselben, z. B. das Diadem, von dort herstammen: aber der Kern dieser Institution ging aus der Macht der Verhältnisse und dem Bedürfnisse des Landes hervor.
Nachdem im ersten Jahrhundert die römische Eroberung vollzogen war, im zweiten Jahrhundert die Weltliteratur sich entwickelt, im dritten Jahrhundert die Ausbildung des römischen Rechtes und zu Ende des dritten und im vierten Jahrhundert die Ausbildung der Monarchie in einigermaßen haltbarer Form stattgefunden hatte, so trat nun auch die Begründung einer Weltreligion als die größte in die Reihe der welthistorischen Produktionen ein.
Konstantin basierte seine Würde: 1. auf seinen Sieg und die Waffen, 2. auf die Reform der Verwaltung, 3. auf die Religion. Die welthistorische Frage ist aber die: worauf beruht es, daß das Christentum im römischen Reich begründet werden konnte, und hat das römische Reich seiner Natur nach etwas hierzu beigetragen?
Man kann sagen, daß das römische Reich die Idee des Christentums, weltlich gefaßt, im höchsten Grade gefördert hat. Es mußte zuerst ein großer Völkerkomplex entstanden sein, der eine gewisse Einheit hatte, in welchem die Idee der Weltreligion sich Bahn brechen konnte; solange die Völker nebeneinander als verschiedene Individualitäten mit verschiedenen Religionen bestanden, waren nur nationale Gottheiten möglich. Meine Idee von Kirche und Staat ist die, daß der Staat zuerst vorhanden sein muß, und danach die Kirche erscheint. Der Staat macht die Kirche möglich, und dies zeigt sich bei der Erscheinung der Kirche im römischen Staat im höchsten Grade; ohne denselben wäre die christliche Religion schwerlich auf der Erde eingeführt worden.
Gehen wir um einen Schritt weiter, so würde die Einführung des Christentums, wäre nicht die orientalische Welt bereits gräzisiert gewesen, auf die größten Schwierigkeiten gestoßen sein. Hätte nicht eine allgemeine Sprache und Literatur damals existiert, so hätte die Religion nicht eine so allgemeine Wirksamkeit haben können. Gesetzt den Fall, das Christentum hätte durchaus in dem syrischen Idiom, welches Christus sprach, verkündet werden müssen, so wäre es den Menschen als etwas ganz Nationales und Absonderliches erschienen; in der Weltsprache mitgeteilt, wurde es den Menschen, wurde es der übrigen Bildung analog.
Außer diesen Momenten der politischen und literarischen Einheit lag aber noch etwas im römischen Wesen, was die Ausbreitung der Weltreligion unendlich gefördert hat. Dadurch, daß die Römer alle nationalen Gottheiten der ihnen bekannten Völker nach Rom transportierten und dort verehrten, wurde diesen Götzen gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Verehrung der Isis z. B. hatte nur in Ägypten ihre große Bedeutung, in Rom hatte sie gar keinen Sinn. Durch die Aufnahme fremder Götter verlor das nationale Prinzip seinen Wert; und eine Idee, welche durch sich selbst Geltung hat und deren Durchführung in den Dingen selbst präpariert ist, konnte um so leichter die verschiedenen Kulte überwältigen, als sie ihre ursprüngliche Bedeutung verloren hatten.
Dazu kam noch folgendes, kaum minder wichtiges Moment: die Römer hatten von Anfang an sowohl in religiöser als moralischer Beziehung einen eigentümlichen Geist, eine größere Fülle strenger moralischer Begriffe als irgendein Volk der Welt. Man denke z. B. an die hohe Vorstellung, welche die Römer von der Ehe hatten, so daß Jahrhunderte vorübergingen, bis die erste Ehescheidung eintrat; man denke an das häusliche Leben der Römer, an das Institut der väterlichen Gewalt usw. Diese stärkere Repräsentation moralischer Tendenzen wirkte auch später in den Zeiten der größten Entsittlichung noch fort.
Ein ferneres entscheidendes Moment ist der unaufhörliche Widerstreit der reineren religiösen Anschauungen der Römer und des semitischen Götzendienstes. Dieser zeigte sich schon im Kampfe gegen die Karthager, deren Menschen opfernden Kultus die Römer stets verschmähten. Selbst der sonst ganz anrüchige Kaiser Claudius verbot ausdrücklich die Menschenopfer. Diese und noch andere Vorkommnisse weisen darauf hin, daß die Römer höhere Begriffe vom Werte des Menschen hatten als andere Völker. Also auch in dieser Beziehung trafen die römischen, wenn auch immerhin noch unvollkommenen Vorstellungen mit den christlichen zusammen.
Die weitere Frage ist nun die: welchen Wert gewann das Christentum in seiner ersten Ausbreitung, welche Eigentümlichkeiten waren es, die das Christentum fähig machten, stärker zu werden als alle anderen Religionen?
In den ersten Jahrhunderten suchten noch orientalische Götzendienste und Glaubensvorstellungen überall in das Christentum einzudringen; ich erinnere an die Manichäer, deren Glaubenssätze bis nach Afrika und Indien sich verbreiteten, und andere mehr. Hätten diese Sekten die Oberhand gewonnen, welche das Christentum zu orientalisieren suchten, so wäre auch aus letzterem nichts anderes geworden als eine dieser orientalischen Religionen. Das Christentum fand aber eine andere Verbindung, mit deren Hilfe es sich diesen Einflüssen widersetzte, nämlich die mit der römischen und griechischen Philosophie. Die Weltweisen, ja zuweilen auch die Dichter dieser beiden Nationen hatten von jeher in einer gewissen Opposition gegen den Götzendienst gestanden, und so wurde es auch dem Christentum nicht schwer, sich an diese Philosophen anzulehnen, wohingegen auch viele der christlichen Märtyrer den Heiden als Philosophen erschienen, insofern sie von vielen Dingen abstrahierten, an denen andere festhielten (Justinus).
Das Hauptmoment, welches dem Christentum zustatten kam, ist wissenschaftlicher und dialektischer Natur. Während der Götzendienst mehr oder minder in die größten Abenteuerlichkeiten und Phantasmagorien ausgeartet war, besaßen die wissenschaftlichen und religiösen Begriffe des Christentums, abgesehen von dem unergründlichen Mysterium, auf dem es basiert, vielmehr die Eigenschaft, nach den verschiedensten Seiten hin erörtert werden zu können. Man erkannte bald, daß das Christentum mit den größten Produktionen des menschlichen Geistes zusammentraf, und diese Erkenntnis war einer der mächtigsten Hebel bei der Verbreitung der Weltreligion. Diese Verbindung des Christentums mit der antiken Kultur, die Ehe der zwei Prinzipien, die einander widerstehen und doch unaufhörlich verbunden waren, sie ist es, die der Sache eigentlich ihre Weltbedeutung gegeben hat.
Ganz unabhängig von Interessen, die irgendein Potentat wie Konstantin verfochten haben mag, hat die Weltstellung des römischen Reiches, die eigentümliche Richtung des römischen Geistes in religiöser und moralischer Beziehung und die einheitliche Verfassung in Verbindung mit der allgemeinen Literatur zusammengewirkt, um dem Christentum das Übergewicht über alle anderen Religionen zu geben.
Nachdem wir von der Ausbreitung der Religion gesprochen haben, ist die Frage zu beantworten, auf welche Weise die Begründung einer Kirche vor sich gegangen ist. Hierbei ist einiges als Analogie aus dem Judentum herübergenommen worden, z. B. der Unterschied zwischen Geistlichen und Laien. So wie es bei den Juden einen besonderen Stamm, die Leviten, gab, dem die Besorgung des Gottesdienstes vorzugsweise oblag, so wurden auch im Christentume die Geistlichen, im Gegensatz zum Volke (λαός), als Los Gottes (κλῆρος) angesehen. Ungeachtet der in manchen Beziehungen nicht zu verkennenden Analogie mit dem Judentum gewann die Kirche jedoch eine andere Gestalt als dieses, namentlich durch die höchst eigentümliche Bildung und Erscheinung der Synoden und Konzilien.
Schon in der frühesten Zeiten der Kirche bildeten sich Gemeinden, welche in einer gewissen Verbindung miteinander standen und sich eine Art von kirchlichem Selfgovernment angeeignet hatten. Die Hauptsache aber ist, daß die Vorsteher dieser Gemeinden, die Episcopi, zusammentraten und streitige Fragen über das Dogma in letzter Instanz entschieden, unter der Behauptung, daß dieser ihrer Verbindung der Heilige Geist innewohne. Merkwürdig ist es hierbei, daß diese Synoden zuerst in echt republikanischen Gegenden zusammenkamen, wo noch die Idee von den alten Bundesverhältnissen sich erhalten hatte, wie in Achaja. Ursprünglich waren diese Synoden partikulärer Natur, später dehnten sie sich zu allgemeinen Konzilien aus, zu denen die ganze Welt (die Οἰκουμένη) zusammenströmte, und auf welchen dem Christentum jene doktrinelle Grundlage gegeben wurde, auf der wir heutzutage noch stehen. Dieses höchst wichtige Institut gab dem Christentum auch eine größere Repräsentation für die Doktrin, wie sie noch nicht dagewesen war, und während die Staatsverfassung sich zur Absolutheit ausbildete, trat in der Kirche eine ganz andere Erscheinung hervor, nämlich die der Selbstregierung und Selbstbestimmung von unten her, welche, alles zusammenfassend, wieder neben dem großen Staate ein eigenes Reich bildete.
Das Christentum war bereits, bald unter der Verfolgung, bald unter der Konnivenz der Kaiser, ziemlich weit verbreitet worden, als Kaiser Konstantin in der Mitte des vierten Jahrhunderts es in seinem Interesse fand oder durch irgendeinen uns unbekannten Umstand bewogen wurde, das Christentum anzunehmen. Es war für ihn von der größten Wichtigkeit, sich, nachdem er als Imperator an der Spitze der Armee und als Regent an der Spitze der von ihm eingerichteten Verwaltung stand, auch an die Spitze dieser neuen Organisation zu stellen. Er begriff auch die hohe Bedeutung dieses Schrittes und gerierte sich als obersten, sozusagen äußeren Bischof der Kirche, wodurch erst die Einheit des Reiches zum vollständigen Abschluß kam.
Dadurch aber wurde zu gleicher Zeit auch die Kirche, die bisher noch keine Einheit gewesen war, zu einer großen Genossenschaft erhoben; denn die römischen Bischöfe waren damals noch weit entfernt davon, sich als Oberhäupter der Kirche zu betrachten; vielmehr standen die Patriarchen gemeinschaftlich unter den Kaisern, obwohl sie sich in geistlicher Beziehung nicht viel von ihnen dreinreden ließen.
Da nun entstand die Frage: sollte das Christentum in diesem doch immer engen Bezirke des römischen Reiches eingeschränkt bleiben?
Das römische Reich barg eine Menge Mißstände in seinem Schoße. Hierzu muß man vor allem die verderbliche, viel zu gewaltsam eingreifende Verwaltung rechnen. Ferner war das römische Reich nicht prolifik genug; es hatte infolge der verheerenden Bürgerkriege, infolge der gegen die Ehe nach und nach eintretenden Abneigung und aus anderen Gründen eine unendliche Abnahme der Bevölkerung erlitten, zu deren Vermehrung auch das Christentum nichts beitrug, in welchem sich sehr bald mönchische Tendenzen kundgaben.
Wir sehen also hier die merkwürdige Tatsache, daß das römische Reich, nachdem es die größten Produktionen hervorgebracht hatte, die für die Welt nötig waren, in sich selbst verödete. Es kam nun darauf an, daß sich die expansive Kraft der zur Herrschaft gelangten Weltideen betätigte. Dies konnte auf zweierlei Weise geschehen: erstens indem diese Anschauungen den übrigen Nationen durch Übertragung nahegebracht wurden, was auch teilweise der Fall war – in Britannien verbreitete sich das Christentum weit über den römischen Wall hinaus. Jedoch geschah das mehr in einer sektiererischen Form, welche der Aufgabe nicht ganz genügen konnte. Zweitens konnte die Expansion der christlichen Ideen vor sich gehen durch den Krieg, welcher eine Menge Völkerschaften, namentlich aber Germanen, in unaufhörliche Berührung mit den Römern brachte und dadurch auch zu einem Moment der Kulturverbreitung wurde.
Beides konnte aber nicht bewirken, daß die Welt jene Elemente sämtlich in sich aufgenommen hätte: die Propagation der welthistorischen Ideen und der Kultur, wie sie sich im römischen Reiche entwickelt hatte, wurde mehr vollzogen durch die Eroberungen fremder Völker im römischen Reiche als durch die Eroberungen der Römer über fremde Nationen. Hätten die Römer diese Ideen durch Besiegung der anderen Völker über die Welt verbreitet, so würden sie damit zugleich ihre Sprache und ihr ganzes Wesen den anderen Völkern aufgeprägt haben; die übrige Welt würde ebenso romanisiert und gräzisiert worden sein, wie es bereits im Orient und teilweise auch im Okzident geschehen war. Dahin aber sollte es nicht kommen; die anderen Nationen der Welt hätten dadurch ihre ganze Ursprünglichkeit eingebüßt. Da indes die Römer auch nicht stark genug waren, das zu vollführen, so fiel jene Aufgabe den Germanen zu. Diese durchbrachen auf allen Seiten den römischen Limes, und erst dadurch, daß sie das Christentum annahmen, wurde die Weltreligion die Religion aller Nationen.
Einen merkwürdigen Gegensatz hierzu bilden die Araber, welche nicht die Weltreligion, wohl aber die römische Kultur in sich aufnahmen. Dadurch aber entwickelte sich die wunderbare Weltverkettung, daß auf der einen Seite im Westen die Germanen, auf der anderen Seite im Osten die Araber die von den Römern überlieferten Anschauungen kultivierten und fortpflanzten.
Unsere germanischen Altvordern waren in folgender Weise um die römische Welt gelagert:
An der nordfranzösischen und niederländischen Küste saßen die Friesen und Sachsen. Die Römer hatten in diesen Gegenden nach der Mitte des 3. Jahrhunderts gegen die Seeräuber, welche die Küsten beunruhigten, einen Befehlshaber, namens Carausius, aufgestellt. Dieser hatte empörerische Neigungen, vereinigte sich mit den sächsischen Küstenanwohnern in Deutschland und lehrte sie zur See mächtig werden, was sie schon frühe zu Einfällen in das gegenüberliegende Britannien benützten. Am Niederrhein erschienen um die Mitte des 3. Jahrhunderts die Franken an den römischen Grenzen, und zwar im Delta des Stromes als salische, weiter aufwärts als ripuarische Franken. Die Sachsen auf der einen, die Franken auf der anderen Seite waren hier im Norden die nächsten Nachbarn der Römer.
An dem Limes zwischen Rhein und Donau lagerten verschiedene germanische Völker, unter denen die Alemannen die vornehmsten waren. Die Deutschen breiteten sich überhaupt an der ganzen Donau bis zu deren Ausflüssen aus, wo die Goten (in Dacien und Mösien) die Hegemonie über viele andere Stämme, Vandalen, Gepiden usw., besaßen.
Da besitzen wir nun aus den ersten Zeiten des Kaisertums jene merkwürdigen Schilderungen des Tacitus von den Germanen, eines Geschichtschreibers, der so viel welthistorischen Sinn besaß, um die natürlichen Gegensätze zu fassen, welche zwischen den Römern und Germanen bestanden. Von diesen Unterschieden will ich nur einige hervorheben: vor allen die römische Korruption im Gegensatz zu der germanischen Einfachheit und Naturgemäßheit; sodann insbesondere die höchst eigentümliche Kriegsverfassung der Germanen. Während der römische Heeresverband vorzugsweise auf dem streng militärischen Gehorsam beruhte, basierte die germanische Kriegsverfassung auf dem Prinzip der persönlichen und erblichen Treue. Bei den Germanen bestand: erstens das Königtum als eine Art religiöser Würde, und: zweitens das Gefolgschaftswesen, eine Institution, der zufolge sich an die vornehmsten Germanen eine Anzahl anderer im Kriege anschloß, diese mit der Verpflichtung, den erkorenen Führer zu schützen, jener mit der Verpflichtung, ihnen ein treuer und sorgsamer Anführer zu sein; eines der vorzüglichsten Elemente, welches den Unterschied zwischen den Römern und Germanen begründete, indem bei den Römern alles Staat war und die persönlichen Verhältnisse verkümmerten. Gerade diese Gefolgschaftsverfassung gab den Germanen den Römern gegenüber einen stärkeren Zusammenhalt. Dieser Umstand war für die ganze Weltgeschichte von der größten Bedeutung insofern, als bei den Römern zwar eine Verfassung gefunden war, aber nur als eine Form, die sie nie recht realisieren konnten, indem ein Machthaber den anderen ausstieß, dahingegen bei den Germanen in ihrem uralten Königtum und in ihrem eigentümlichen militärischen Wesen der alles durchdringende Kitt der Treue die ganze moderne Geschichte zu dem stempelte, was sie geworden ist. Diese Germanen wurden für die Römer um so bedeutungsvoller, als, wie wir gesehen haben, der römische Staat an Bevölkerung verarmte und seine Grenzen nicht mehr behaupten konnte. Das Grenzgebiet wurde durch eine lange und langsame Bewegung noch vor der Völkerwanderung germanisiert; wie man sich denn überhaupt die letztere nicht als eine allgemeine Bewegung von Europa – diese trat nur einmal ein – zu denken hat, sondern als einen Kampf an den Grenzen, in welchem die Germanen vordrangen und die Romanen zurückwichen. Doch wäre ohne dieses Ereignis jene große Veränderung in Europa nicht erfolgt, welche gleichsam von dem Geschicke intendiert schien.
Der erste Anstoß zur Völkerwanderung ging von den Goten aus. Diese gerieten am Schwarzen Meere mit den Hunnen in Konflikt, einem Volke, welches zu demselben Stamme gehört wie die Tschuden und Finnen. Die Hunnen stürzten im 4. Jahrhundert das große Reich des Ostgoten Hermanarich und bedrängten darauf die Westgoten dergestalt, daß sie im römischen Reich um eine Zufluchtsstätte bitten mußten, die ihnen auch nicht verweigert wurde. Sie zogen hierauf in großen Scharen auf Kähnen über die Donau in das römische Reich. Hier kamen sie aber mit den Befehlshabern der Provinzen in Streit, welche ihnen, um sich für gelieferte Lebensmittel bezahlt zu machen, ihre Kinder und ihr Vieh abnahmen. Darüber kam es im Jahre 378 zu einer Hauptschlacht bei Adrianopel, in welcher der Kaiser Valens getötet wurde und die Goten Sieger blieben, so daß dieselben sich in Mösien festsetzten und dort eine große Rolle zu spielen anfingen.
Während man sich hier unaufhörlich schlug und dadurch das römische Reich in die größte Verwirrung geriet, kamen fast alle germanischen Völker in eine gewisse Bewegung. Die Westgoten selbst, die in das oströmische Reich übergegangen waren, und aus denen dort zu Anfang des 5. Jahrhunderts Alarich hervorging, machten den römischen Befehlshabern unendlich zu schaffen. Kaiser Arcadius wußte sich zuletzt nur dadurch zu helfen, daß er sie gegen das westliche Reich hetzte, worauf sie in der Tat unter Alarich nach Italien vordrangen.
Eben nach dem Westen aber ergossen sich gleichzeitig noch andere Völker, nämlich die Vandalen, Alanen und Sueven. Diese drei Völkerschaften gingen zuerst über den Rhein, zogen nach Gallien und von da nach Spanien. Die Vandalen setzten später nach Afrika über und gründeten dort auf den Trümmern von Karthago zu Anfang des 5. Jahrhunderts ein großes Reich.
Man muß nun aber zwischen diesen germanischen Nationen einen Unterschied machen: die einen drangen, wie z. B. Alarich und seine Mannschaften, als Volksheere vor, d. h. als Völker, die zugleich Armeen waren, Weiber und Kinder, wie überhaupt alles, was zum Leben gehört, mit sich führten und beständig zum Kriege bereit waren. Sie kamen in das römische Reich, um entweder Geld (Subsidien) oder Lebensmittel zu bekommen, und da sie zu keinem von beiden gelangten, so siedelten sie sich unter ihren Oberhäuptern, denen sie Heeresfolge leisteten, die aber zugleich ihre Könige waren, wie eine Kriegerkaste in einem großen Teil des römischen Reiches an, wo sie sich mit den Provinzialen in der Art abfanden, daß diese ihnen einen Teil des Landes einräumten. Zu diesen Völkerschaften gehörten die Goten, von denen ein Teil, eben die Westgoten, Rom eroberte, sodann nach Gallien überging – ihr Hauptsitz war Toulouse – und von da auch in Spanien sich ausbreitete; sodann die Burgunder, welche sich in den römischen Provinzen am Rhein und an der Rhone niederließen; die Sueven, die mit ihnen verbündeten, nicht ganz germanischen Alanen und die Vandalen.
Der andere Teil der Germanen drang von den heimischen Sitzen aus langsamer über die Grenze vor und kolonisierte. Während die vorher genannten Völkerschaften, wenn sie endlich zur Ruhe kamen, nur einen Teil des Gebietes einnahmen, blieb da, wohin diese kolonisierenden Völker drangen, nichts mehr vom römischen Wesen übrig. Zu ihnen gehörten die Alemannen, Sachsen, Franken.
Für den Augenblick aber trat noch eine andere Frage ein. Von Anfang an hatten die Hunnen einen großen Anteil an der allgemeinen Umwandlung gehabt; jetzt errichteten sie an der Donau ein mächtiges Reich und beherrschten dort eine Menge germanischer Völker (Ostgoten, Gepiden usw.). Nun machte der Hunnenkönig Attila den Versuch, das ganze weströmische Reich unter die Herrschaft seiner Hunnen zu bringen. Diese waren aber noch ganze Barbaren und der Kultur fast unzugänglich. Wären sie Herren des römischen Reiches geworden, so hätte die Barbarei den Sieg in Europa davongetragen. Dem sollte aber nicht so sein. Attila wurde in der welthistorischen Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden in Gallien (bei Chalons sur Marne) geschlagen. Eine Schlacht, die auch deswegen merkwürdig ist, weil hier ein Teil der Germanen, namentlich die Westgoten, mit den Römern vereint, ein anderer mit Attila verbündet, sich gegenüberstanden (451).
In Italien hatte der Anführer der germanischen Hilfsvölker, der Heruler, Turkilinger usw., namens Odoaker, dem weströmischen Reiche ein Ende gemacht (476); die Oströmer aber behaupteten, daß ihnen Italien gehöre, und stifteten daher die Ostgoten an, nach Italien zu gehen, welcher Aufforderung diese auch nachkamen und nach Besiegung Odoakers unter Theoderich das ostgotische Reich gründeten, das sich übrigens mehr dem Systeme der Volksheere anschloß.
Das oströmische Reich hatte dadurch, daß es nunmehr von den Goten befreit war, wieder größere Kraft erlangt, und zu Anfang des 6. Jahrhunderts konnte Justinian die Idee, das römische Reich in vollem Umfange wiederherzustellen, mit Hilfe seines trefflichen Feldherrn Belisar nachdrucksamer verfolgen. Diesem gelang es, zuerst das Reich der Vandalen wieder zu zertrümmern, worauf er sich gegen die Ostgoten wendete. Um diese völlig niederzuschlagen, rief sein Nachfolger im Oberbefehl, Narses, auch Langobarden zu Hilfe, welche damals an der mittleren Donau saßen. Diese erschienen indes bald darauf mit gesamter Macht, um den Byzantinern das kaum eroberte Italien wieder abzunehmen und es für sich zu behalten. Die Griechen blieben nur in dem Besitz eines großen Teils der Küste: des Exarchats von Ravenna, Venedigs, Neapels und der südlichen Landspitzen.
Sehen wir nun, in welcher wunderlichen Weise sich die verschiedenen Teile des weströmischen Reiches gestalteten.
In Italien konnte es zu keiner Einheit kommen, denn hier widerstrebten einander beständig drei Elemente: 1. das Papsttum, welches in der allgemeinen Verwirrung mächtig wurde; 2. das griechische Element, welchem auch Rom eigentlich mit Recht gehörte, und 3. die Langobarden, welche fast ganz Oberitalien, Toskana und von Unteritalien Benevent besaßen. Es setzte sich also schon damals jene Trennung Italiens in verschiedene Landschaften durch, die bis auf den heutigen Tag fortbesteht.
Die Vandalen verschwanden ganz aus der Geschichte, nachdem ihr Reich in Afrika zertrümmert worden war; dagegen gewann das westgotische Reich in Spanien eine höchst eigentümliche Gestalt, indem hier die Hierarchie nach Bekehrung der Westgoten vom Arianismus einen mächtigen Einfluß gewann, so daß die Könige, welche Wahlkönige waren, fortwährend den geistlichen Großen Gehorsam leisteten und überhaupt die ganze spanische Verfassung bereits einen hierarchischen Charakter an sich trug.
Am merkwürdigsten hatten sich aber die Verhältnisse in Gallien ausgebildet, wohin zu Ende des 5. Jahrhunderts die Franken drangen. Ihr König Chlodwig besiegte zuerst die Römer, die unter Syagrius noch eine Art Königtum gebildet hatten, sodann die Burgunder und den Teil der Westgoten, welcher nicht nach Spanien gezogen war. Er scheint eine Vereinbarung mit den zwar besiegten, aber nicht vernichteten Römern getroffen zu haben, infolge deren sie sich an ihn anschlossen. Durch seine Bekehrung zum katholischen Bekenntnis und durch seine Bekämpfung des Arianismus, welchem die Burgunder und Westgoten zugetan waren, gewann er die kräftige Unterstützung der Geistlichkeit, die es ihm möglich machte, nicht nur seine Feinde im Inneren zu unterdrücken, sondern auch seine Herrschaft tief nach Deutschland hinein auszudehnen.
In Britannien dagegen wurde von den Barbaren das ganze römische Wesen vernichtet. Alles, was noch von kirchlichen Elementen vorhanden war, zog sich in die christlichen, nichtrömischen Keltenländer, besonders nach Irland zurück, und erst später wurde das Christentum im germanischen Britannien neu eingeführt.
In den übrigen Provinzen aber war es gerade die Kirche, die sich unter allen diesen Trümmern allein stabil erhielt. Die ganze Macht des Widerstandes, wenn der Staat vernichtet war, konzentrierte sich in den Bistümern. Dadurch empfingen indes auch die Könige ein natürliches Interesse, die Kirche zu fördern und auszubreiten; so daß durch diese Eroberungen unter den größten Stürmen dennoch zwei Hauptmomente der Weltentwicklung vollbracht wurden. Das römische Reich wurde im Westen zwar zerstört, aber die Provinzialen traten dort in eine gewisse Verbindung mit den Eroberern, aus denen neue Nationen hervorgingen. Zugleich jedoch ward auf solche Weise der Westen – Italien, Spanien, Gallien, Britannien, Germanien – vom Orient vollkommen getrennt; er bildete seitdem infolge dieser Mischung von germanischen und romanischen Elementen eine Welt für sich. Hierauf beruht die ganze Entwicklung unserer Zustände bis auf die neueste Zeit.
Unter den vornehmsten Elementen der nunmehr gebildeten Welt tritt uns von römischer Seite her die Provinzialaristokratie entgegen, welche sich mit den eingedrungenen Volkskönigen und adeligen Häuptern in einem friedlichen Zustand unter Vertrag vereinigte. Fragt man nun, unter welchen Umständen sie zu einer Einheit gelangten, so zeigt sich uns als wichtiges Moment jener Epoche die Gesetzesbildung.
In dem Augenblick, wo dies alles geschah, kam in Konstantinopel Kaiser Justinian auf den Thron (527-565), der die Gesetzesbildung des römischen Reiches zum Abschluß brachte. Er kodifizierte das römische Recht, dessen lebendige Fortbildung unter dem Einströmen der Barbaren aufgehört hatte, gerade in dem rechten Moment zu zwei großen Sammlungen, so daß dieses ursprüngliche Werk des römischen Geistes, an dem derselbe jahrhundertelang gearbeitet hatte, erst zur Zeit des Umsturzes der römischen Weltherrschaft zu einer festen Gestaltung gedieh. Wir sehen auch hier die Beobachtung bestätigt, daß, solange die Geister im fortwährenden Bilden und Schaffen begriffen sind, sie an eine Fixierung der Dinge nicht denken, daß vielmehr erst dann, wenn die Epoche erschienen ist, in welcher der lebendige Trieb fehlt, sich Leute finden, die mit dem Sammeln sich abgeben. Die Sammler der justinianischen Zeit suchten unter der Masse des vorliegenden Stoffes dasjenige hervor, was ihnen am besten zu sein schien, und dieses wurde von Justinian für das allein gültige Gesetz des römischen Reiches erklärt.
Daran war freilich nicht zu denken, daß schon die damaligen Germanen Lust gehabt hätten oder auch nur fähig gewesen wären, unter diesen Gesetzen zu leben. Der Westgotenkönig Athaulf, der Nachfolger Alarichs, sprach es offen aus, wie er aus Italien nach Gallien ging, er würde das römische Reich in ein gotisches verwandeln, wenn seine Goten nur auch unter Gesetzen, wie die Römer, leben wollten. Eine gewisse Summe legaler Einrichtungen aber erwies sich nunmehr als unentbehrlich. Es wurde daher unter diesen Nationen eine eigentümliche Art von Gesetzesbildung versucht, die dahin abzielte, die beiden nebeneinander lebenden Völker, Germanen und Romanen, in eine einzige Genossenschaft zu verbinden. Diese Bedeutung haben die Leges oder Volksrechte der Westgoten, Burgunder, Franken usw. Das am meisten in die Augen Fallende, was uns bei diesen Gesetzen entgegentritt, ist das sogenannte Wergeld, welchem die Auffassung zugrunde liegt, daß nicht der Staat, sondern die Familie des Ermordeten oder sonst Beschädigten bei solchen Kriminalfällen beteiligt sei, eine Auffassung, welche der römischen Staatsidee schnurstracks entgegenläuft. So barbarisch nun auch diese Kombination von Rechtssätzen sich ausnahm, so war sie doch ein Fortschritt des gesetzlichen Geistes, und es ist dieselbe eines der wichtigsten Ereignisse dieser Zeit, aus welchem wir gleichfalls die Propagation der Weltidee wahrnehmen können.
Wie aber konnten nun diese Länder im übrigen regiert werden, und wie wurden sie regiert? Von der altrömischen Verwaltung war überall noch vieles bestehen geblieben, was die germanischen Könige zur Vermehrung ihrer Macht benutzten und annahmen. Hierzu gehört namentlich die Organisation der Finanzverwaltung, welche für die Könige sehr einträglich war, da nicht die Germanen, wohl aber die Provinzialen der tributaria sollicitudo unterworfen waren. Also auch die Idee der römischen Verwaltung ging auf den germanischen König über, was um so mehr zu sagen hatte, als die germanischen Könige einen Ehrgeiz darein setzten, sich von den oströmischen Kaisern anerkennen zu lassen. Die ganze spätere absolute Monarchie beruht auf dem Gedanken, das römische Kaisertum wiederherzustellen. In das germanische Königtum aber, wie es sich in der späteren Zeit entwickelte, ging außer römischen Elementen insbesondere das germanische Prinzip über, welches die Regierungsgewalt für ein erbliches Recht hält, was bei den Römern nicht der Fall gewesen war.
Nachdem wir von der Politik gesprochen haben, müssen wir jetzt unseren Blick auf die Religion und Kultur werfen, um auch hier die Keime der modernen Zeit zu entwickeln.
In der romanischen Welt war, wie oben gesagt, das Vornehmste, was übriggeblieben war, die Kirche, die durch ihre Verbindung mit der Philosophie und Literatur einen immensen Inhalt der Zivilisation hatte. In diese Kirche gingen nunmehr auch die Germanen ein. Wie die Römer in den germanischen Hof- und Kriegsdienst, so traten die Germanen in den geistlichen Dienst, wie wir z. B. bei den Westgoten und im fränkischen Reiche eine Menge Germanen als Bischöfe finden; im letzteren hatten die Könige eine Zeitlang die größte Autorität über die Bischöfe, ja sie setzten dieselben geradezu ein; je machtloser aber die merowingischen Könige wurden, desto höher stieg die Autorität der Bischöfe, ohne damals schon von Rom abzuhängen.
Die weitere Frage ist, wie Dogma und Kultus dieser Kirche den Barbaren beigebracht werden konnten, wie sie fähig waren, ein Dogma, das durch die tiefsinnigsten Kombinationen gebildet war, in sich aufzunehmen, und wie der Kultus der reinen Religion mit dem durch die Kriege und in den Kriegen verwilderten germanischen Wesen verschmolzen werden konnte.
Das Dogma wurde den Germanen als reine Formel überliefert, ohne daß man sich um den Inhalt bekümmerte, und in den Kultus mischte sich auf sonderbare Weise der heidnische Götzendienst. Wenn aber auch das Dogma in einer Formel begriffen war, so hatte doch diese Formel die Wahrheit in sich, und es konnte sich später doch wieder ein Gefühl für das Mysterium entwickeln; ja, es war jenes der einzige Weg, auf dem das Christentum diesen Völkern beigebracht werden konnte.
Auch in der Kultur und Literatur standen sich zwei verschiedene Elemente gegenüber: die römische Kultur und Literatur der späteren Zeit hatte sich rein resümierend verhalten; die Doktrin wurde in den überall vorhandenen Schulen als etwas Gewonnenes den Gemütern überliefert, von einer Forschung war in keinem Zweige der Wissenschaft mehr die Rede. Mit dieser etwas verknöcherten römischen Literatur kam nun gleichfalls das Germanentum mit seiner Poesie und seinen Sagen in Kontakt. Sehr anschaulich tritt das bei den Historikern hervor, so bei Jordanes in seiner Geschichte der Goten, bei Gregor von Tours in seiner Frankengeschichte, später bei Paulus Diaconus in seiner Geschichte der Langobarden. In diesen höchst unvollkommenen Versuchen zeigt sich jene Vermischung und Berührung der Geister, woraus in der späteren Zeit ein drittes lebensfähiges Element hervorging.
Die Kirche, das Königtum, die Verfassung, die Verwaltung, das Recht, die Literatur waren nunmehr romano-germanisch geworden.