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Ich möchte jetzt in meiner Erzählung innehalten dürfen, sie nicht fortzusetzen brauchen – ja, das möchte ich! Bei dem Gedanken, daß ich so viel Schändlichkeit beichten muß, verläßt mich der Mut, meine Stirn bedeckt die Schamröte, und es befällt mich plötzlich eine solche Feigheit, daß die Feder mir zwischen den Fingern zittert … Und so habe ich mich selber um Gnade angefleht … Ach! ich muß diesen schmerzlichen Golgathaweg bis zu Ende wandern, wenn auch mein Fleisch in blutigen Fetzen an den Steinen und Felsblöcken hängen bleiben sollte, wenn auch meine Knochen bei lebendigem Leibe auseinandergezerrt werden sollten. Fehltritte wie die meinen, die ich durchaus nicht allein dem Einflusse atavistischer Fatalitäten und den schädlichen Wirkungen einer Erziehung, die meiner Natur so entgegengesetzt war, zur Last legen will, bedürfen einer furchtbaren Sühne, und die Sühne, welche ich erwählt habe, besteht in der öffentlichen Beichte meines Lebens. Ich glaube, daß die edlen Herzen mir für diese freiwillige Demütigung Dank wissen werden; ich glaube auch, daß mein Beispiel als abschreckende Lehre wirken wird … Sollte ein junger Mann, nur ein einziger junger Mann, der dem Straucheln nahe ist, beim Lesen dieser Blätter solchen Schrecken und solche Abscheu empfinden, daß er für immer der Gefahr entrissen würde – dann, scheint mir, müßte die Errettung dieser Seele der Anfang zur Erlösung der meinen werden. Und außerdem hoffe ich – obgleich ich nicht an Gott glaube, hoffe ich darauf – daß in jenen Ruhestätten des Friedens, wo im großen Schweigen der erlösenden Nacht, der traurige und doch trostreiche Gesang derer, die für die Toten flehen, gen Himmel steigt, auch ich meinen Anteil am christlichen Mitleiden und Verzeihen erhalten werde.
Ich hatte zweiundzwanzig Tausend Franken Rente; außerdem war ich überzeugt, daß ich mit meinen litterarischen Arbeiten wenigstens eine ebenso große Summe verdienen konnte … Im übrigen schien es mir keine Schwierigkeiten zu geben; der Weg lag offen und gerade vor mir, ohne irgend ein Hindernis, und ich brauchte nur darauf los zu marschieren … Von meiner früheren Scheu, meiner Furcht, meinem Zweifel, meinem mühseligen Arbeiten, meiner Angst – war nicht mehr die Rede! Ein Roman, oder zwei, im Jahre, ja selbst Theaterstücke … Was war das alles, ich bitte Sie, für einen verliebten Mann wie mich? … Sagte man nicht, daß H… und daß Z… die unverbesserliche und offenkundige Idioten waren, in einigen Jahren ein ungeheures Vermögen verdient hätten? Ideen zu Romanen, Komödien und Dramen strömten auf mich ein … Ich sah mich schon im Geiste alle Bibliotheken, alle Theater und Zeitungen, ja die allgemeine Aufmerksamkeit der ganzen gebildeten Welt in Beschlag nehmen. In den Stunden unzulänglicher, mühsamer Inspiration würde ich Juliette betrachten, und durch die Macht ihrer Augen würden Meisterwerke entstehen, gleichwie Königreiche durch einen Zauberstab … Ich zögerte keinen Augenblick zu verlangen, daß Malterre das Feld räume, und die Sorge für Juliettens Existenz auf mich zu nehmen. Malterre schrieb verzweifelte Briefe, flehte und drohte; schließlich reiste er ab. Später erzählte Jesselin uns mit den ihm eigenen guten Geschmack und Geist, daß Malterre, furchtbar unglücklich, in Italien umherreise.
»Ich habe ihn nach Marseille begleitet«, sagte er … »Er wollte sich das Leben nehmen und weinte fortwährend … Sie wissen ja, ich habe nicht viel Glauben an die Menschheit, aber er that mir bei Gott leid … ja wahrhaftig!«
Und er fügte hinzu:
»Wissen Sie, daß er sich absolut mit Ihnen schlagen wollte? … Sein Freund Lirat hat ihn daran verhindert … Ich übrigens auch, denn mir sind nur die Duelle mit tödlichem Ausgang verständlich.«
Juliette hörte schweigend, mit scheinbar gleichgültiger Miene, diese Einzelheiten an. Sie ließ von Zeit zu Zeit ihre Zunge über ihre Lippen gleiten; in ihren Augen leuchtete es wie von einer inneren Freude. Dachte sie an Malterre? Machte es sie glücklich zu wissen, daß jemand ihretwegen litt? Ach! Ich war schon nicht mehr imstande, mir diese Fragen zu stellen.
Ein neues Leben begann.
Das Viertel, in dem Juliette wohnte, behagte mir nicht; in ihrem Hause gab es Bekanntschaften, die mir unangenehm waren, und vor allem weckte die Wohnung Erinnerungen, die ich mir angelegen sein ließ auszulöschen. In der Furcht diese Kombinationen möchten Julietten nicht angenehm sein, wagte ich nicht, ihr allzu plötzlich damit zu kommen; aber bei den ersten Worten, die ich darüber fallen ließ, jauchzte sie auf.
»Ja! ja!« rief sie vergnügt … »Ich hatte schon daran gedacht, Liebster! Und weißt Du, woran ich noch gedacht habe? … Sag' es, sag' es schnell, woran Deine kleine Frau gedacht hat!«
Sie stützte ihre beiden Hände auf meine Schulter und fuhr lächelnd fort: »Du weißt es nicht? … Du weißt es wirklich nicht? … Dann will ich's Dir sagen: sie hat gedacht, daß Du dann bei ihr wohnen würdest? Ach, wie reizend würde es sein, eine niedliche kleine Wohnung, in der wir beide ganz allein mit unserer Liebe wären, nicht wahr, mein Jean? … Du solltest dann fleißig arbeiten; ich würde während der Zeit mit meiner Stickerei neben Dir sitzen ohne mich zu rühren, und ab und zu würde ich Dir einen Kuß geben, damit Du herrliche Ideen kriegst … Und dann wirst Du sehen, Liebster, welch eine tüchtige Wirtschafterin ich sein kann, und wie gut ich all Deine kleinen Sachen in Ordnung halten werde … Erstens werde ich immer Deinen Schreibtisch abstäuben … Jeden Morgen wirst Du eine frische Blume drauf finden … Und für Spy wird ebenfalls ein hübsches Körbchen da sein … nicht, mein Spychen? … ein feines Körbchen mit roten Schleifen dran … Und dann wollen wir fast nie ausgehen … Und dann wollen wir uns früh schlafen legen … Und dann, und dann … Oh! Wie wundervoll wird das werden!«
Und nachdem sie wieder ruhiger geworden, fügte sie mit ernster Stimme hinzu:
»Außerdem wird es viel billiger sein, gerade um die Hälfte billiger, mein Freund.«
Wir mieteten eine Wohnung in der Rue de Balzac, und nun galt es sie geschmackvoll einzurichten. Das wurde eine wichtige Sache. Den ganzen Tag über liefen wir in die Läden, betrachteten Teppiche, wählten Portièren aus und besprachen unsere Pläne und Einfälle. Juliette hätte am liebsten alles gekauft, was sie sah, aber im ganzen hatte sie eine ausgesprochene Vorliebe für überladene Möbel, schreiende Farben und massive Stickereien. Der Flitterstaat des flimmernden Goldes, der Prunk der grellen Farbentöne zog sie an und fesselte sie. Wenn ich versuchte, irgend eine Bemerkung zu machen, antwortete sie sofort:
»Ach, davon verstehen die Männer doch nichts, Liebster … das kennen wir Frauen viel besser.«
Sie hatte sich in den Kopf gesetzt eine Art von arabischer Truhe, die in greulicher Weise überpinselt und mit Elfenbein, Perlmutter und falschen Steinen eingelegt war – noch dazu viel zu groß für unsere Wohnung – haben zu wollen.
»Du siehst ja, daß sie viel zu groß ist; sie wird gar nicht hineingehen,« sagte ich zu ihr.
»Meinst Du wirklich? … Aber wenn wir die Beine absägen lassen, Liebster?« Und mehr als zwanzigmal am Tage unterbrach sie unser Gespräch, um mich zu fragen:
»Du meinst also wirklich, daß sie zu groß ist, die schöne Truhe?«
Wenn wir dann heimfuhren, drückte Juliette sich im Wagen fest an mich an, reichte mir ihre Lippen und überhäufte mich, glückselig und strahlend, mit Liebkosungen.
»Ach, der böse Mensch, der nichts sagte, mich nur immer mit seinen schönen, traurigen Augen anblickte … mit Deinen schönen traurigen Augen, die ich liebe, Du böser, böser Mensch! … Und so mußte ich denn daran, trotzalledem! … Denn er hätte es nie gewagt, niemals! … Ich flößte Dir Angst ein, nicht wahr? an dem Abend, weißt Du noch, als Du mich in Deine Arme nahmst? … Ich wußte von nichts mehr, ich sah nichts von meiner Umgebung mehr … meine Kehle, meine Brust … es ist sonderbar … aber es war, als hätte ich etwas zu Heißes getrunken … Ich glaubte sterben zu müssen, ich brannte, verbrannte … verbrannte durch Dich … Ach, es war wunderschön, wunderschön, Liebster! … Übrigens habe ich Dich immer geliebt, vom ersten Tage an … Nein, ich liebte Dich schon vorher … Du lachst? … Du glaubst vielleicht nicht, daß man jemanden lieben kann, ohne ihn zu kennen, ohne ihn gesehen zu haben? … Ich aber glaube es! … Ja, ich bin fest davon überzeugt! …«
Mein Herz war so voll, diese Dinge waren mir alle so neu, daß ich kein einziges Wort erwidern konnte; die Freude erstickte mich fast. Ich konnte nur Juliette an mich drücken, abgerissene Worte hervorstammeln und weinen, glückselige Thränen weinen. Plötzlich wurde sie nachdenklich, die Falte in ihrer Stirn wurde sichtbar, und sie zog ihre Hand aus der meinen. Ich fürchtete sie beleidigt zu haben.
»Was fehlt Dir, liebe Juliette? …« fragte ich sie … »Weshalb bist Du so gegen mich … habe ich Dir wehe gethan?«
Und Juliette seufzte, ganz trostlos, ganz unglücklich:
»Der Eckschrank! … Liebster Jean, was machen wir? … Wir haben ja den Eckschrank im Salon ganz vergessen!«
So konnte sie von einem Lächeln, von einem Kuß, plötzlich zu einer ernsten Sache übergehen, vermischte ihre Zärtlichkeiten mit den Größen der Zimmer und ließ ihre Liebe in Konfusion geraten mit den Tapeten. Es war allerliebst!
Abends, in unserer Kammer, verschwanden alle diese niedlichen Kindereien. Die Liebe prägte Juliettens Gesicht mit etwas sonderbar Strengem, Gefaßtem, und einem Zug von Wildheit; sie verwandelte sie total. Sie war nicht depraviert; ihre Leidenschaft zeigte sich im Gegenteil robust und gesund, und in ihren Umarmungen hatte sie den großartigen Adel, den brüllenden Heroismus der großen Raubtiere. Ihr Leib vibrierte, als sei er für gewaltige Mutterschaften bestimmt.
Mein Glück war von kurzer Dauer … Mein Glück! … Wahrlich, es ist eine merkwürdige, eine seltsame Thatsache, daß ich niemals eine Freude vollauf habe genießen können, daß sich die Unruhe immer bald darauf gemeldet und den kurzen Glücksrausch gestört hat. Während meines ganzen Lebens bin ich waffenlos und kraftlos im Leiden, unsicher und furchtsam im Glück gewesen. Ist es eine eigenartige Anlage meines Geistes? … Ist es eine sonderbare Entartung meiner Sinne? … oder lügt das Glück in Wirklichkeit allen Menschen wie es mir log, und sollte es nur eine raffiniertere und grausamere Form des universellen Leidens sein? … Hört mich an … Das Licht der Nachtlampe zittert leise auf den Vorhängen, auf den Möbeln, und Juliette ist eingeschlafen. Es ist gegen Morgen – der Morgen unserer ersten Liebesnacht. Einer ihrer schönen Arme ruht entblößt auf dem Betttuch; der andere, ebenfalls nackend, hat sich weich unter ihren Nacken geschoben. Um ihr erschöpftes Antlitz, blaß von den Reflexen des weißen Bettes, um ihr Antlitz mit den schattenumränderten Augen, fließen ihre langen, losen, schwarzen und welligen Haare. Begehrlich betrachte ich sie … Sie schläft da neben mir, den ruhigen und tiefen Schlaf eines Kindes. Und zum ersten Male hinterläßt die Besitznahme eines Weibes keine Reue, keinen Widerwillen; zum ersten Male kann ich mit gerührtem und dankbarem Herzen ein Weib betrachten, das sich mir eben hingegeben hat. Was ich dabei empfinde, ist etwas ganz Undefinierbares, etwas sehr Mildes, sehr Ernstes und sehr Religiöses, eine Art von eucharistischer Ekstase, wie sie mich damals ergriff, als ich das erste Mal zum heiligen Abendmahl ging. Ich empfinde dieselbe mystisch-selige Weltentrücktheit, dieselbe erhabene und heilige Furcht wieder … es ist, als schaute meine Seele in leuchtender Klarheit zum zweiten Male die Gottheit … Es ist mir, als sei die Gottheit zum zweiten Male zu mir niedergestiegen … Sie schläft da in der stillen Kammer mit halboffenem Munde und unbeweglichen Nasenflügeln, einen so leichten Schlaf, daß ich den Hauch ihres Atems nicht höre … Auf dem Kamine steht eine welkende Blume, und ich spüre den Duft, den sie sterbend aushaucht … Von Juliette höre ich nichts; sie schläft, sie atmet, sie lebt, und ich höre nichts … Ich beuge mich sanft und ganz nahe über sie, indem ich sie fast mit meinen Lippen berühre, und rufe leise:
»Juliette!«
Juliette regt sich nicht. Aber ich spüre ihren Atem, der schwächer ist als der Atem der sterbenden Blume, ihren Atem, der immer so frisch ist, und in den sich in diesem Augenblick eine feine, fade Wärme mischt, ihren Atem, der immer so lieblich duftet, und von dem jetzt ein fast unmerklicher Geruch von Verwesung aufsteigt.
»Juliette!«
Juliette regt sich nicht … Aber das Betttuch, das den Wellenlinien des jugendlichen Körpers folgt, die Form der Beine zeichnet und sich unten an den Füßen wieder in eine steife Falte legt, macht auf mich den Eindruck, als sei es ein Leichentuch. Und der Gedanke an den Tod steigt plötzlich vor meinem Geiste auf und bemächtigt sich meiner in hartnäckiger Weise. Es überfällt mich plötzlich die Angst, daß Juliette tot sei!
»Juliette!«
Juliette regt sich nicht. Da ergreift mich ein schwindelndes Entsetzen, und während vor meinen Ohren ferne Totenglocken läuten, erblicke ich rings um das Bett herum feierliche Lichter von tausend Wachskerzen, die unter den Klängen des de profundis hin und herflackern. Es stehen mir die Haare zu Berge vor Schrecken, die Zähne klappern mir im Munde, und ich rufe, rufe:
»Juliette! Juliette!«
»Endlich bewegt Juliette den Kopf, stößt einen Seufzer aus und murmelt wie im Traum:
»Jean! … mein Jean!«
Ich nehme sie kraftvoll in meine Arme, wie um sie zu verteidigen; ich ziehe sie an mich und zitternd, eiskalt, flehe ich:
»Juliette! … Meine Juliette! … schlafe nicht … Ach, ich bitte Dich, schlafe nicht … Du machst mir Angst! … Zeige mir Deine Augen und sprich zu mir, sprich zu mir! … Und drücke mich an Dich, ach, drücke mich fest an Dich … Aber schlafe nicht mehr, ich beschwöre Dich.«
Sie kauert sich in meinen Armen zusammen, stammelt unverständliche Worte hervor und schläft, den Kopf auf meiner Schulter, wieder ein … Aber das Bild des Todes, das stärker ist als die Offenbarung der Liebe, bleibt, und obgleich ich Juliettens Herz regelmäßig gegen das meine schlagen höre, schwindet es erst mit Tagesanbruch.
Wie oft habe ich später in ihren Flammenküssen den kalten Kuß des Todes gefühlt! … Wie oft auch ist mir, in voller Ekstase, jährlings das fratzenhafte Bild des Sängers vom Bouffes erschienen! … Wie oft hat sein obscönes Lachen die heißen Liebesworte aus Juliettens Munde übertönt! … Wie oft habe ich ihn, während er sein höhnisches und verzerrtes Gesicht über mich neigte, sagen hören: »Labe Dich an diesem Körper, Thor, den ich besudelt habe, den ich entheiligt habe … Erquicke Dich daran! … Wo Du auch Deine Lippen hinsetzest, wirst Du den unreinen Hauch meiner Lippen einatmen; wohin sich auch Deine Liebkosungen auf diesem prostituierten Körper verirren, werden sie dem Schmutz der meinigen begegnen … Labe Dich daran! … Bade Deine Juliette, bade ihren Körper in dem geweihten Wasser Deiner Liebe … Wasche sie rein mit dem Speichel Deines Mundes … Reiße ihr die Haut vom Körper mit Deinen Zähnen, wenn Du willst; niemals wirst Du das Geschehene auslöschen, – denn die Spuren der Infamie, womit ich sie gebrandmarkt, sind unauslöschlich.«
Und ich spürte eine heftige Lust, Juliette über diesen Sänger, dessen Bild mich verfolgte, auszufragen. Aber ich wagte es nicht. Ich begnügte mich damit, es auf künstlichen Umwegen zu versuchen, ihr die Wahrheit zu entlocken; oft warf ich während des Gesprächs unvermutet einen Namen hin, indem ich hoffte, daß Juliette plötzlich dabei auffahren, erröten und verwirrt werden sollte, so daß ich mir sagen konnte: »Er ist's!« Aber ich erwähnte in dieser Weise die Namen aller Sänger an allen Theatern, ohne daß Juliettens gleichmäßige Haltung mir den geringsten Fingerzeig gab. Was Malterre betraf, so dachte ich nicht mehr an ihn.
Ungefähr vier Monate gingen mit unserer Einrichtung hin. Die Tapezierer wurden nie fertig, und Juliettens Launen machten öfter sehr langwierige Veränderungen nötig. Sie kam stets von ihren täglichen Ausfahrten zurück mit neuen Ideen für die Ausstattung des Salons und des Toilettenzimmers. Dreimal mußten die Vorhänge im Schlafzimmer ganz und gar verändert werden, weil sie ihr nicht mehr gefielen … Endlich bezogen wir aber eines schönen Tages unsere Wohnung in der Rue de Balzac … Es war hohe Zeit … Diese in der Luft schwebende Existenz, dieser unausgesetzte Fieberzustand, die offenen Koffer, die mich wie ebensoviel offene Särge anstarrten, das rücksichtslose Umherwerfen intimer Kleidungsstücke, die Stöße von Wäsche, die zusammenstürzten, wenn man sie anrührte, die Pyramiden von Schachteln, die man im Vorbeigehen umriß, die Bindfäden, die überall herumlagen, diese Unordnung, das Drüber und Drunter eines solchen Daseins, das pietätlose Treten mit den Füßen der liebsten, wehmütigsten Erinnerungen, und vor allem, was eine Abreise an Unbekanntem, an Angstvollem enthält, was sie an traurigen Betrachtungen veranlaßt – alles das machte mich von neuem unruhig und melancholisch und, soll ich's sagen, ließ mich Gewissensbisse empfinden … Während Juliette vergnügt zwischen den Paketen herum kramte, fragte ich mich, ob ich nicht eine unverbesserliche Dummheit begangen hätte. Allerdings, ich liebte sie. Ja, gewiß! Ich liebte sie mit der ganzen Kraft meiner Seele; ich wußte von nichts mehr als von dieser Liebe, die mich mit jedem Tage stärker beherrschte, jede Fiber meines Wesens erfüllte und mich Ungeahntes empfinden ließ … Trotzdem bereute ich so schnell und leichtsinnig einem begeisterten Einfall nachgegeben zu haben, der vielleicht unangenehme Folgen für sie wie für mich haben würde; ich war unzufrieden, dem in einer so zärtlichen Weise ausgedrückten Wunsche Juliettens, gemeinschaftliche Haushaltung zu führen, keinen Widerstand geleistet zu haben … Hätten wir uns nicht ebenso gut lieben können, sie in ihrem Heim, ich in dem meinen, und so die möglichen Reibungen jener Situation, die man mit dem Namen: wilde Ehe, nennt, vermeiden können? Und während der Glanz der farbigen Plüsche, der aufdringliche Prunk des vielen Goldes, das uns fortan umgeben sollte, mich erschreckte, empfand ich für meine armen, in alle Winde verstreuten Tannenholzmöbeln, für meine kleine strenge und ruhige Wohnung von ehemals, die jetzt leer stand, jene schmerzliche Zärtlichkeit, welche man den Dingen widmet, die man geliebt hat und die tot sind. Aber Juliette eilte geschäftig und flink und allerliebst anzusehen an mir vorüber, gab mir im Fluge einen sanften Kuß, und es lag in ihrem Wesen eine solch lebhafte Freude, ein so kindliches Erstaunen und so naive Verzweiflung, wenn sie irgend einen verlegten Gegenstand nicht wiederfinden konnte, daß meine grämlichen Gedanken verschwanden, wie Nachtvögel bei den ersten Strahlen der Sonne.
Ach, die schönen Tage, die auf die Abreise von der Rue Saint Petersbourg folgten! … Zuerst mußte jedes Stück einzeln und genau geprüft werden. Juliette setzte sich auf die Divans, auf die Sofas, ließ sich in die Fauteuils fallen, indem sie die Sprungfedern in die Höhe schnellen ließ, die weich und elastisch waren. »Du auch,« sagte sie. »Probiere mal, lieber Schatz« … Sie verweilte bei jedem Möbel, betastete die Gardinen, spielte mit den Zugschnüren der Portièren, gab einem Stuhl einen anderen Platz und ordnete irgend etwas an der Falte eines Stoffes. Und alle Augenblick stieß sie einen kleinen entzückten Schrei der Bewunderung aus.
Als die Rouleaus herabgelassen waren, wollte sie die Wohnung einer neuen Musterung unterwerfen, um sich über die Wirkung bei Licht klar zu werden; sie wurde nicht müde einen und denselben Gegenstand ins Unendliche zu betrachten und lief von einem Zimmer ins andere, indem sie sich auf einem Stückchen Papier notierte, was noch fehlte … Schließlich kamen die Schränke an die Reihe, in denen sie meine und ihre Wäsche mit peinlicher Sorgfalt, mit kompliziertem Raffinement und der Geschicklichkeit einer vollendeten Verkäuferin einkramte. Ich schalt sie, weil sie die schönsten Riechkissen für mich aufhob …
»Nein! nein! nein! … ich will einen kleinen Mann haben, der schön duftet!«
Von ihren ehemaligen Möbeln und Nippsachen hatte Juliette nur die Liebesgöttin aus Terracotta behalten, die ihren Ehrenplatz auf dem Kamin des Salons wieder einnahm; ich meinerseits hatte nur meine Bücher mitgebracht und zwei bis drei schöne Skizzen von Lirat, die ich mir zur Pflicht machte in meinem Arbeitszimmer an die Wand zu nageln. Juliette schrie entrüstet auf:
»Aber Schatz, was machst Du da? … Solche Greuel in einer ganz neuen Wohnung an die Wand zu hängen! … Ich bitte Dich! … Liebster Jean! Steck doch die gräßlichen Dinger irgend wohin, daß sie wegkommen.«
»Meine liebe Juliette,« antwortete ich in etwas pikiertem Tone, »Du hast ja Deine Liebesgöttin aus Terracotta, nicht wahr?«
»Allerdings habe ich meine Liebesgöttin aus Terracotta … was hat denn das damit zu thun, darf ich fragen? … Meine Göttin aus Terracotta ist ganz außerordentlich niedlich … Während die da, na, ich danke schön! … Und außerdem sind sie unpassend! … Ich kann wohl sagen, jedesmal wenn ich die Sachen von diesem verrückten Lirat ansehe, bekomme ich Leibweh!«
Ich war ehemals stolz auf mein Kunstverständnis und verteidigte es bis zum Äußersten. Es wäre mir aber sehr kindisch vorgekommen, mit Juliette eine Diskussion über Kunst anzufangen, und ich begnügte mich damit die beiden Bilder, ohne gar zu viel Bedauern, unten in einen Wandschrank zu stellen.
Eines Tages war es denn auch so weit, daß sich alles in bewunderungswürdiger Ordnung befand; jedes Ding war an seinem Platze, die zierlichen Gegenstände in koketter Weise auf die Tische, die Konsolen gestellt und in den Glasschränken angebracht; die Zimmer mit breitblätterigen Pflanzen geschmückt, die Bücher auf dem kleinen Bücherregal mit der Hand zu erreichen, Spy in seinem neuen Körbchen, und überall Blumen … Es fehlte nichts, nicht einmal auf dem Nähtische eine Rose, die ihren Stengel in ein schlankes Krystallglas tauchte … Juliette strahlte, triumphierte und wiederholte unaufhörlich:
»Sieh doch, sieh doch nur, wie Deine kleine Frau gearbeitet hat.«
Und ihr Haupt auf meine Schulter legend, murmelte sie mit verschleierten Augen und aufrichtig bewegter Stimme:
»Oh, mein geliebter Jean, wir sind in unserem Heim jetzt, in unserem Heim, verstehst Du … Wie glücklich wir in unserem reizenden Nestchen sein werden! …«
Am nächsten Tage sagte Juliette zu mir:
»Es ist lange her, daß Du Herrn Lirat einen Besuch gemacht hast … Ich möchte nicht gern, daß er glaube, ich wäre die Ursache davon!«
Und sie hatte recht! Seit länger als fünf Monaten hatte ich den armen Lirat links liegen lassen, hatte ich ihn vergessen … Wirklich vergessen? … Ach nein … Es war die Scham, die mich zurückhielt … Die Scham allein, die mich von ihm entfernte. Ich hätte es der ganzen Welt zurufen mögen: »Ich bin Juliettens Liebhaber!« aber diesen Namen vor Lirat auszusprechen – das wagte ich nicht! … Zu Anfang hatte ich gedacht, ihm alles anzuvertrauen, selbst auf das Risiko hin, daß die Folgen davon unserer Freundschaft schaden könnten … Ich hatte mir gesagt: »Morgen gehe ich zu Lirat …« Ich war auch den ganzen Tag über bei diesem Entschluß geblieben … Aber am folgenden Tage dachte ich: »Nein heute nicht … es eilt ja nicht, … morgen!« … Und die Tage, die Wochen, die Monate verstrichen … Morgen! … Jetzt, nachdem er durch Malterre, der sicher vor seiner Abreise bei ihm gewesen und seinen Divan wieder einmal mißhandelt hatte, Kenntnis von den Dingen erhalten, in welcher Weise sollte ich ihm da entgegentreten? … Was sollte ich ihm sagen? … Wie sollte ich seinen Blick, seine Verachtung, seinen Zorn aushalten? … Seinen Zorn, oh ja! … Aber seine Verachtung, sein furchtbares Schweigen, diesen niederschmetternden Hohn, den ich schon um seine herabgezogenen Mundwinkel zucken sah? … Nein, wahrhaftig, ich wagte es nicht! … Ihn weich stimmen, seine Hand ergreifen, ihn für den Mangel an Vertrauen um Verzeihung bitten und an den ganzen Edelmut seines großen Herzens appellieren? … Nein! … Ich würde diese Rolle nur schlecht spielen, und überdies würde Lirat mich augenblicklich erstarren machen und meine Herzensergüsse zum Schweigen bringen. Unterdessen trennte uns jeder Tag, der verstrich, noch mehr von einander und legte eine noch größere Entfernung zwischen uns … nur noch einige Monate, und in meinem Leben würde nie mehr die Rede von Lirat sein! … Aber selbst das würde ich dem vorziehen, seine Thürschwelle überschreiten und seinen Augen trotzen zu müssen … Ich antwortete Juliette:
»Lirat? … Ja, ja … Ich habe schon daran gedacht … einen von diesen Tagen …«
»Nein, nein!« fuhr Juliette beharrlich fort … »Heute mußt Du hingehen … Du kennst ihn ja, wie boshaft er ist … Er wird bereits schöne Klatschereien über uns gemacht haben!«
Ich mußte mich also wohl oder übel entschließen. Von der Rue de Balzac nach der Cité Rodrigues ist nur ein kurzer Weg. Um nun den Augenblick dieser peinlichen Zusammenkunft so lange wie möglich hinauszuschieben, machte ich weite Umwege und verweilte lange vor den Schaufenstern im Faubourg Saint-Honoré. Und ich überlegte mir: »Wenn ich nun überhaupt nicht zu Lirat hinaufginge! … Ich könnte, wenn ich zu Haus komme, sagen, daß ich ihn gesehen hätte, daß wir uns gezankt hätten und irgend eine Geschichte erfinden, die mich für immer von diesem fatalen Besuche befreien würde.« Ich schämte mich sofort dieses Gedankens … Mir kam nun die Hoffnung; Lirat möchte ausgegangen sein! … Mit welcher Freude würde ich meine Karte unter die Thür gleiten lassen! … Dieser Gedanke beruhigte mich, und ich betrat endlich die Cité Rodrigues, wo ich vor der Thür des Ateliers stehen blieb … Die Thür jagte mir einen wahren Schrecken ein; trotzdem klopfte ich an und sofort antwortete mir von drinnen eine Stimme, Lirats Stimme:
»Herein!«
Das Herz schlug mir zum Zerspringen, ein glühendes Eisen durchzuckte meine Kehle … Ich wollte fliehen …
»Herein!« wiederholte die Stimme.
Ich drehte die Thürklinke um:
»Ach, Sie sind's Mintié!« rief Lirat … »bitte, treten Sie doch ein …«
Lirat saß vor seinem Tische und schrieb an einem Brief.
»Sie erlauben, daß ich fertig schreibe? …« sagte er zu mir. »In zwei Minuten stehe ich zu Diensten.«
Er schrieb weiter. Es beruhigte mich etwas seinen kalten Blick nicht auf mich gerichtet zu fühlen. Ich benutzte den Umstand, daß er mir den Rücken zuwandte, um zu sprechen und mir die Last von der Seele zu wälzen, die mich bedrückte.
»Wie lange ist es doch her, daß ich Sie nicht gesehen habe, mein guter Lirat!«
»Freilich, lieber Mintié.«
»Ich bin umgezogen …«
»Ah so! …«
»Ich wohne jetzt Rue de Balzac.«
»Schönes Viertel! …«
Die Kehle schnürte sich mir zu … Ich machte eine letzte Anstrengung und faßte alle meine Kräfte zusammen … aber durch eine seltsame Verirrung meinte ich eine nachlässige Haltung annehmen zu müssen … Auf Ehrenwort! ich ging in einen scherzenden Ton über! ja ich machte einen Scherz daraus!
»Ich kann Ihnen eine Neuigkeit erzählen, Lirat, die Sie amüsieren wird … ha! ha! … die Sie ganz sicher amüsieren wird … ich … ich lebe … mit Juliette zusammen … Ha! ha! mit Juliette Roux … Ja, also mit Juliette ha! ha! …«
»Ich gratuliere! …«
Ich gratuliere! Er hatte dies »Ich gratuliere« mit einer vollkommen ruhigen und gleichgültigen Stimme gesprochen! … Was! kein einziges böses Wort, kein bischen Hohn, gar keine Aufgeregtheit! … Ich gratuliere! … Als ob er gesagt hätte: »Was geht mich das an?« Und sein Rücken, der sich über den Tisch beugte, blieb unbeweglich, kein plötzliches Auffahren, kein Zittern, nichts! … Die Feder war ihm nicht aus der Hand gefallen, er schrieb ruhig weiter! … Was ich ihm da mitteilte, wußte er bereits seit langem … Aber es aus meinem Munde zu hören! … Ich war verdutzt, und – soll ich's gestehen – beleidigt, daß es ihn nicht empört hatte! … Lirat erhob sich und sagte, indem er sich die Hände rieb:
»Sonst was Neues passiert?«
Ich konnte nicht mehr an mich halten. Ich stürzte auf ihn los mit Thränen in den Augen:
»Hören Sie mich!« rief ich schluchzend … »Lirat, ich bitte Sie, hören Sie mich … ich habe schlecht an Ihnen gehandelt … Ich hätte Ihnen alles sagen müssen … Ich habe es nicht gewagt … Ich habe Angst vor Ihnen … Außerdem, erinnern Sie sich, Juliette … was Sie hier im Atelier von ihr erzählten? … Sie wissen doch noch? … das hat mich daran verhindert … Sie verstehen, nicht wahr?«
»Aber, mein lieber Mintié,« unterbrach mich Lirat … »ich bin Ihnen durchaus nicht böse darob … Ich bin ja weder Ihr Vater noch Ihr Beichtvater … Sie thun, was Sie wollen, und ich habe mich in keiner Weise darein zu mischen …«
Ich rief aufgeregt:
»Allerdings sind Sie nicht mein Vater, nein … aber Sie sind mein Freund, mein einziger Freund, und ich war Ihnen Vertrauen schuldig … Verzeihen Sie mir! … Ja, ich lebe mit Juliette, und ich liebe sie, und sie liebt mich! … Ist es denn ein Verbrechen, ein wenig Glück zu suchen? Juliette ist nicht das Weib, das Sie denken … man hat sie in abscheulicher Weise verleumdet … Sie ist gut und anständig … lächeln Sie nicht … ja anständig! … Sie ist von einer kindlichen Naivität, die Sie rühren würde, Lirat … Sie mögen sie nur nicht, weil Sie sie nicht kennen! … Wenn Sie wüßten wie liebevoll, wie zuvorkommend sie gegen mich ist, wie ihr Wesen ganz das einer anständigen Frau ist! … Juliette will, daß ich arbeiten soll … Sie würde stolz darauf sein, wenn ich etwas Gutes schaffen könnte … So zum Beispiel war sie es, die mich heute zwang zu Ihnen zu gehen … ich selbst schämte mich … ich wagte nicht … Aber sie! … Ja, Lirat, haben Sie ein wenig Mitleid mit ihr … Haben Sie sie ein klein wenig lieb, ich bitte Sie flehentlich darum!«
Lirat war ernst geworden. Er legte mir die Hand auf die Schulter, blickte mich traurig an und sagte mit bewegter Stimme:
»Mein armes Kind! … Weshalb sagen Sie mir das Alles?«
»Weil es die Wahrheit ist, mein lieber Lirat! … weil ich Sie liebe und Ihr Freund bleiben will … Beweisen Sie mir, daß Sie noch immer der meine sind! … Kommen Sie heute Abend zu uns, essen Sie zu Mittag bei uns, wie Sie früher zu mir kamen … Ich bitte Sie herzlich darum, kommen Sie!«
»Nein!« sagte er.
Und dieses Nein war unbarmherzig und endgiltig, kurz wie ein Pistolenschuß.
Lirat fügte hinzu:
»Aber kommen Sie nur oft her, Mintié … Und wenn Sie Lust verspüren sollten zu weinen … Sie wissen … da steht mein Divan … er kennt sie wohl, die Thränen der armen Teufel! …«
Als die Thür sich hinter mir schloß, war es als ob mit ihr sich etwas Schweres und Wuchtiges hinter meiner Vergangenheit zuschlösse, als ob Mauern, die höher als der Himmel und tiefer als die Nacht, mich für immer von meinem anständigen Leben, von meinen Künstlerträumen trennten. Und mein ganzes Wesen bebte vor schmerzlicher Zerrissenheit … Während einer Minute blieb ich mit schlaff niederhängenden Armen, stumpfsinnig stehen, die Augen weit und starr auf diese Thür gerichtet, hinter der ich soeben eine Weissagung vernommen, hinter der ein Etwas zu Ende gegangen, ein Etwas unwiederbringlich verloren war.