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Mit Riesenschritten nahte der Zeitpunkt heran, der alljährlich ein Ereignis ersten Grades im Leben des Herrn kaiserlichen Leibarztes bedeutete: der 1. Juni! Die Reise nach Karlsbad!
Jeden Morgen bei Sonnenaufgang umkreiste der rotbewestete Kutscher die königliche Burg, "bis das Fenster klang" und er der Haushälterin allerlei für den gnädigen Herrn bestimmte frohe Botschaften hinaufrufen konnte: das neue Riemzeug sei blank geputzt, die mit Email-Kutschenlacksolventnaphtaersatz gestrichene Reisekutsche glücklich trocken geworden, und Karlitschek habe bereits im Stall gewiehert. –
Der Herr kaiserliche Leibarzt konnte den Tag des Aufbruchs kaum mehr erwarten.
Es gibt keine Stadt der Welt, der man so gern den Rücken kehren möchte, wenn man in ihr wohnt, wie Prag; aber auch keine, nach der man sich so zurücksehnt, kaum, daß man sie verlassen hat.
Auch der Herr kaiserliche Leibarzt war ein Opfer dieser sonderbaren Anziehungs- und Abstoßungskraft, obwohl er eigentlich gar nicht in Prag wohnte, vielmehr – im Gegenteil – auf dem Hradschin.
Die Reisekörbe standen bereits gepackt im Zimmer umher. Der Herr kaiserliche Leibarzt hatte in der verflossenen Nacht einen Tobsuchtsanfall bekommen, sämtliche junge und alte "böhmische Liesels", Zrcadlos, Mandschus und "Grüne Frösche" zum Teufel gejagt – kurz: einen Energiesturm aus seiner Brust heraufbeschworen, der ihn befähigte, in weniger als einer Stunde alles, was sich in Schränken und Kommoden für den Karlsbader Aufenthalt Geeignetes vorfand, in die Schlünde der Felleisen und Ledertaschen hineinzustopfen – etwa wie ein wirklicher Pinguin Fische in die Schnäbel seiner Jungen – und schließlich die dickgeschwollenen Koffer, denen die Rockschöße, Halsbinden und Unterhosen nur so zum Maul heraushingen, so lange zu behüpfen und zu beflattern, bis ihr Widerstand endgültig gebrochen war und die Riegel seufzend ins Schloß knipsten.
Nur ein Paar Pantoffel mit eingestickten Tigerköpfen und Vergißmeinichtkränzen aus Glasperlen sowie ein Nachthemd hatte er zurückbehalten und beides vor Ausbruch seiner Raserei sorgfältig mit Bindfaden am Kronleuchter befestigt, damit sie sich nicht vor seinem blinden Wüten verkröchen und dann wochenlang unauffindbar seien. – – –
Erstere trug er jetzt an den Füßen, in letzteres – eine Art bis auf die Knöchel herabwallendes Bußgewand mit goldenen Knöpfen und hinten einer Kämmererspange, um, zu Sitzbadezwecken, ein Hochstecken der hinderlich langen Schlippen bewerkstelligen zu können – hatte er seinen hagern Leib gehüllt.
In diesem Aufzug durchmaß er ungeduldigen Schrittes sein Zimmer.
So glaubte er wenigstens.
In Wirklichkeit lag er im Bett und schlief – zwar den unruhigen Schlaf des Gerechten vor der Abreise, aber immerhin: er schlief und träumte.
Das Träumen war eine lästige Begleiterscheinung des Karlsbader Unternehmens – er kannte das –; jedesmal im Mai pflegte es sich einzustellen; und gar in diesem Mai hatte es geradezu unerträgliche Formen angenommen. In früheren Jahren hatte er hartnäckig alles, was ihm in solchen Fällen träumte, tagebücherlich vermerkt – im Wahn, es zu bannen, bis er dahinterkam, daß es dadurch nur schlimmer wurde.
So war ihm schließlich nichts anderes übriggeblieben, als sich mit der unleidlichen Tatsache abzufinden und auf die übrigen elf Monate zu hoffen, in denen ihm erfahrungsgemäß tiefer bewußtloser Schlummer gewiß war. – Beim Hinundherwandern blieb sein Blick zufällig auf dem Abreißkalender über dem Bett haften, und verblüfft las er, daß dort immer noch der 30. April, das niederträchtige Datum der Walpurgisnacht, hing.
"Das ist ja gräßlich", murmelte er, "vier volle Wochen noch bis zum 1. Juni? Und die Koffer schon gepackt! Was soll ich jetzt nur anziehen? Ich kann doch nicht im Hemd zum 'Schnell' frühstücken gehen!" – Der Gedanke, alles wieder aufsperren zu müssen, war ihm entsetzlich. Er malte sich aus, wie die zum Platzen vollen Reisetaschen sogleich die ganze Garderobe ausspeien müßten – womöglich rülpsend und ächzend, als hätten sie Brechweinstein gefressen. Im Geiste sah er bereits zahllose Krawatten jeglicher Gattung sich auf ihn zuschlängeln wie Nattern; der Stiefelzieher wollte ihn, aus Wut, so lange eingesperrt gewesen zu sein, mit Krebsscheren in die Ferse beißen – und gar in rosa Strickgeflecht – ähnlich einem Kinderhäubchen, nur mit weißen weichen Glacélederriemen statt Bändern – – es war die höchste Unverschämtheit, daß sich ein toter Gebrauchsgegenstand so etwas erlauben durfte! – – "Nein", beschloß er im Traum, "die Koffer bleiben zu!"
In der Hoffnung, doch vielleicht falsch gelesen zu haben, setzte der Herr kaiserliche Leibarzt seine Brille auf und wollte den Kalender nochmals nachprüfen, da wurde das Zimmer plötzlich eiskalt, und die Gläser beschlugen sich im Nu mit Wasserdampf.
Als er sie abnahm, stand ein Mann vor ihm, nackt, nur ein Schurzfell um die Lenden, dunkelhäutig, hochgewachsen, unnatürlich schmal und eine schwarze Mitra, aus der goldene Funken herausleuchteten, auf dem Haupt.
Der Herr kaiserliche Leibarzt wußte sofort, daß es der Luzifer war – wunderte sich aber nicht im geringsten, denn es wurde ihm gleichzeitig klar, daß er tief innerlich eine solche Erscheinung längst erwartet hatte.
"Du bist der Mann, der alle Wünsche in Erfüllung gehen lassen kann?" fragte er und verbeugte sich unwillkürlich. "Kannst du auch – –?"
"Ja, ich bin der Gott, in dessen Hände die Menschen ihre Wünsche legen", fiel ihm das Phantom in die Rede und deutete auf das Lendentuch; "ich bin der einzig Gegürtete unter den Göttern; die andern sind geschlechtslos.
Nur ich kann Wünsche verstehen; wer in Wahrheit geschlechtslos ist, der hat für immer vergessen, was Wünsche sind. Die unerkennbare, tiefste Wurzel jedes Wunsches ruht stets im Geschlecht, wenn auch die Blüte – der wache Wunsch – scheinbar nichts mit Geschlechtlichkeit zu tun hat. –
Der einzige Erbarmer unter den Göttern bin ich. – Es gibt keinen Wunsch, den ich nicht auf der Stelle hörte und erfüllte.
Aber nur die Wünsche der Seelen höre ich und bringe sie dem Lichte. Darum heißt ich: luci–fero.
Für die Wünsche, die aus dem Munde der wandelnden Leichname kommen, ist mein Ohr taub. – Deshalb entsetzen sich diese 'Toten' vor mir.
Ich zerfleische die Leiber der Menschen erbarmungslos, wenn ihre Seele es wünscht – wie ein erbarmungsreicher Chirurg, erbarmungslos aus höherem Wissen, brandige Glieder erkennt und entfernt, so auch ich.
Manches Menschen Mund schreit nach dem Tod, indes seine Seele nach Leben schreit – dem zwing' ich das Leben auf. Viele lechzen nach Reichtum, aber ihre Seele sehnt sich nach Armut, um durch das – Nadelöhr einzugehen – –, die mach' ich zu Bettlern auf Erden.
Deine Seele und die deiner Väter haben sich nach Schlaf im irdischen Dasein gesehnt: Drum hab' ich euch zu Leibärzten gemacht – hab' eure Leiber in eine steinerne Stadt gesetzt und euch mit Menschen aus Stein umgeben.
Flugbeil, Flugbeil, ich weiß, was du willst! – Du sehnst dich, wieder jung zu sein! – Aber du zweifelst an meiner Macht und meinst, ich könnte die Vergangenheit nicht mehr zurückbringen, und wirst mutlos und möchtest lieber wieder schlafen gehen. – – Nein, Flugbeil, ich lasse dich nicht! – Denn auch deine Seele fleht: Sie will jung sein.
Darum werde ich euer beider Wunsch erfüllen.
Ewige Jugend ist ewige Zukunft, und in dem Reich der Ewigkeit wacht auch die Vergangenheit wieder auf als ewige Gegenwart." – – –
Der Herr kaiserliche Leibarzt bemerkte, daß die Erscheinung bei den letzten Worten durchsichtig wurde und statt ihrer – da, wo die Brust gewesen war – eine Ziffer immer deutlicher und deutlicher erschien, bis nur mehr das Datum "30. April" übrigblieb.
Um dem Spuk ein für allemal ein Ende zu setzen, wollte er die Hand ausstrecken und den Zettel abreißen, aber es gelang ihm nicht, und er sah ein, daß er wohl noch für eine Zeit die "Walpurgisnacht" mit ihren Gespenstern über sich werde ergehen lassen müssen.
"Ich habe ja eine schöne Reise vor mir", tröstete er sich, "und die Verjüngungskur in Karlsbad wird mir guttun."
Da es ihm nicht glücken wollte, aufzuwachen, blieb ihm nichts anderes übrig, als in festen, traumlosen Schlummer zu versinken. – – – – – – – – – – – –
Punkt 5 Uhr früh pflegte regelmäßig ein scheußlicher schriller Ton, hervorgerufen durch einen elektrischen Straßenbahnwagen, der um diese Zeit unten in Prag beim böhmischen Theater in eine Kurve bog und die Schienen zum Heulen brachte, die Schläfer auf dem Hradschin zu wecken.
Der Herr kaiserliche Leibarzt war so gewöhnt an diese unliebsame Lebensäußerung der verächtlichen "Welt", daß sie ihn gar nicht mehr störte und er vielmehr anfing, sich unruhig im Bett hin und her zu werfen, als diesen Morgen der Ton befremdlicherweise ausblieb.
"Es muß was los sein da unten", schob sich eine Art logischer Erwägung durch sein Bewußtsein und zog ein Heer dumpfer Erinnerungen an die letzten Tage hinter sich drein.
Des öfteren hatte er – gestern noch – durch sein Fernrohr geguckt, und jedesmal waren die Straßen überfüllt von Menschen gewesen; sogar über die Brücken war das Getümmel gewogt und das unaufhörliche "Slava"- und "Nas zdar"-Geschrei hatte sich in langgezogenen "Haahaahaa"-Rufen bis zu seinem Fenster verirrt. Gegen Abend war dann über dem Hügelrücken im Nordosten Prags das riesige Transparentbild Zizkas, beleuchtetet von zahlreichen Fackeln, sichtbar geworden wie ein weißes Spektrum aus der Unterwelt. – Seit Kriegsausbruch zum erstenmal wieder.
Er hätte der Sache weiter keine Beachtung geschenkt, wenn ihm nicht schon vorher allerlei sonderbare Gerüchte zu Ohren gekommen wären: Zizka habe sich, auferstanden von den Toten, leibhaftig und wirklich (die Haushälterin beschwor es sogar unter allen Zeichen höchster Erregung mit sämtlichen zehn Fingern), da und dort nächtlicherweile in den Gassen gezeigt.
Daß den Prager Fanatikern nie etwas unwahrscheinlich genug dünkt, um es nicht so lange weiterzuerzählen, bis sie es selber glauben und ein Massenauflauf entstanden ist, wußte er aus langer Erfahrung; aber eine derartig hirnverbrannte Idee festen Fuß fassen zu sehen, war ihm denn doch neu.
Kein Wunder daher, daß er sich im Halbschlaf das Ausbleiben des Trambahngeräusches als Anzeichen ausbreitender Unruhen deutete – überdies mit voller Berechtigung, denn tatsächlich stand Prag wieder einmal im Zeichen des Auflaufs.
– – – Einige Stunden später erschien ihm, mitten ins schönste Dröseln hinein – wie weilend dem Belsazar – eine Hand, nur war es die eines Hausknechts namens Ladislaus, und obendrein schrieb sie nicht (hätte es auch gar nicht können), sondern überreichte ihm vielmehr eine Visitenkarte, darauf zu lesen war:
STEFAN BRABETZ
behördlich concessionirtes Prifad-Organ zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit sorgfältigste Überwachung des Ehelebens nebst Eruirung discreter Kinder sowie ununterbrochenes Imaugebehaltung säumiger Schuldner, Wechseleßkommt und Häuserverkauf. Jeder verlorene Hund wird unter Garantie der Wiedererkenntniß zurückgebracht.
!Zahllose Dankschreiben!
"Walpurgisnacht", murmelte der kaiserliche Leibarzt und glaubte allen Ernstes einen Augenblick, er träume noch.
"Was will der Mensch?" fragte er laut.
"Das weiß ich nicht", war die lakonische Antwort.
"Wie sieht er denn aus?"
"Jeden Tag anderscht, bitt schän."
"Was soll das heißen?" –
"No, der Stefan Brabetz ziecht sich doch alle finf Minuten um. Weil er nicht will, daß man weiß, daß er's is."
Der Herr kaiserliche Leibarzt dachte eine Weile nach. – – "Gut, er soll hereinkommen."
Somit ließ sich ein heftiges Räuspern auf der Türschwelle vernehmen, und an dem entschwindenden Hausknecht vorbei huschte auf lautlosen Gummisohlen ein Mann ins Zimmer, mit beiden Augen schielend, eine aufgeklebte Warze auf der Nase, die Brust voller Blechorden, unter dem verbindlich gekrümmten Arm eine Aktentasche nebst Strohhut, und ließ einen Schwall serviler Phrasen los, der mit den Worten schloß:
"Womit ich Euer Exlenz gnä Herrn kaiserlich-käniglichen Leibharz meine alleruntertänigste Aufwartung zu machen gestatte!"
"Was wünschen Sie?" fragte der Pinguin scharf und machte unter der Bettdecke eine unwirsche Flatterbewegung.
Der Spitzel wollte wieder zu säuseln beginnen, wurde aber jäh unterbrochen:
"Was Sie wünschen, will ich wissen!"
"Es – bitt schän, Pardon –, es handelt sich nämlich um die gnädigste Fräulein Komtesse. – Natrierlich, bitt schän, Exlenz, eine sehr hochansehnliche junge Dame. Nicht, daß ich auf sie sag! Gotteswillen!"
"Was für eine Komtesse?" fragte der Leibarzt erstaunt.
"No – – Exlenz werden schon wissen."
Flugbeil schwieg; er scheute sich aus Taktgefühl, weiter nach dem Namen zu forschen. "Hm. – Nein. Ich kenne keine Komtessen."
"Alsdann – bitte: nicht, Exlenz."
"Ja. Hm. – Übrigens: was habe ich damit zu tun?"
Der Detektiv ließ sich schwalbenhaft und ehrerbietig auf die Sesselkante nieder, drehte seinen Hut, schielte süßlich lächelnd zur Decke empor und wurde dann plötzlich beredt:
"Tschuldigen schon, Exlenz, aber ich hab' ich mir gedenkt, die Freilein Komtesse is nämlich eine wunderschäne junge Dame mit noch zarten Formen, wie man so sagt. No und so und ieberhaupt. – – No, und da hab' ich mir gedenkt, es ise sich doch jammerschad, daß sich eine vornehme Dame, und noch dazu in jungen Jahren, wo sie's doch nicht nötig hat, an einen elendigen Lumpen wie den Vondrejc wegschmeißt, der was keinen Heller nicht in der Tasche hat. Und so. – – –- No, und gar, wo Exlenz gnä' kaiserlich-känigliche Leibharz im Hause ein- und ausgehen. – – Und es im Haus doch viel bequemer wär. – –
Ibrigens, wenn es zu Hause nicht paßt, wißt' ich ein anderes Haus, wo ein jeds Zimmerl einen extern Ausgang hat. Und so."
"Interessiert mich nicht. Schweigen Sie!" – fuhr der Pinguin auf, senkte aber noch im selben Atem versöhnlich die Stimme, denn er hätte gern gewußt, was weiter kommen werde. – "Ich habe keine Verwendung für – für den Artikel."
"Alsdann; bitte nicht, Exlenz!" – hauchte das "Privatorgan" sichtlich enttäuscht. – "Ich habe ja auch nur gemeint. – – Schade! – Es hätt' mich nur ein Wort an die Freilein Komtesse gekostet, denn ich weiß etwas auf sie. – – No, und außerdem hab' ich mir halt gedenkt, Exlenz hätten dann" – die Stimme des Herrn Brabetz bekam einen spitzigen Ton – "auch nicht mehr – zur 'bähmischen Liesel' zu gehen gebraucht. – Tje."
Der Herr kaiserliche Leibarzt erschrak – wußte einen Moment lang nicht, was er sagen solle – –
"Sie glauben doch nicht am Ende, ich sei deshalb zu der alten Vettel gegangen? – Sind Sie verrückt?"
Der Detektiv hob abwehrend die Hände: "Ich und so was glauben? Mein Ehrenwort! Exlenz!" – Er vergaß mit einemmal zu schielen und blickte den kaiserlichen Leibarzt lauernd an – "ich weiß doch von selbstverstehtsich, daß Ezlenz – gewisse – andere – Gründe – gehabt haben, als Exlenz – Pardon – zur 'bähmischen Liesel' – tje – gegangen sind. No und deswegen bin ich ja eigentlich gekommen! – Tje – andere Gründe."
Der Pinguin schob sich neugierig vom Polster: "Und die wären?"
Brabetz zuckte die Achseln. "Ich leb' doch von – von Dischkretion. – Ich will ja nicht direkt sagen, daß Ezlenz in die Verschwärung, die was mit der Liesel zusammenhängt, verwickelt sin, obwohl ..."
"Was: obwohl?"
"Obwohl heitigentags sehr angesehene Leute im Verdacht des Hochverrats stehen."
Der Herr kaiserliche Leibarzt glaubte nicht recht gehört zu haben –
"Hochverrat?"
"Nein; im Verdacht; im Ver–dachtä! – – Tje. – Im Verdach–tä!" – Da der kaiserliche Leibarzt den Wink offenbar nicht verstand, wurde der Spitzel deutlicher: "Tje. – No und ein Verdacht" – er betrachtete gramerfüllt seine Plattfüße – "geniegt. Leider! – Es wär von rechtswegen meine Pflicht, an gewisser Stelle untertänigs zu vermelden – und so – wenn ich etwas von einem Verdachte weiß. – Tje – Ich bin nämlich ein pflichttreier Mensch; mein Ehrenwort. – Außer, freilich, wenn ich zu der Überzeigung komm, daß ein Verdacht entkräftet is – –. No, und schließlich wäscht ja im täglichen Läben eine Hand die andere" – er blickte unwillkürlich auf seine schmutzigen Fingernägel.
In dem Herrn kaiserlichen Leibarzt kochte die verhaltene Wut.
"Mit anderen Worten: Sie wollen ein Trinkgeld?"
"Bitt schän, ganz nach Euer Exlenz Ermessen."
"Gut." – Der kaiserliche Leibarzt klingelte.
Der Hausknecht erschien.
"Ladislaus, pack den Kerl beim Kragen und schmeiß ihn die Stiegen hinunter!"
Eine ungeheure Tatze entfaltete sich wie ein Palmenblatt, verfinsterte das Zimmer, und eine Sekunde später waren Spitzel und Hausknecht verschwunden, als seien sie bis dahin nur ein Filmbild gewesen.
Der Herr kaiserliche Leibarzt lauschte: ein Krach unten im Flur!
Dann polterten schwere Fußtritte die Stiegen hinab. – Dem lebenden Geschoß nach.
"Na Servus, der Ladislaus hebt den Kerl, scheint mir, auf und wirft ihn vielleicht gar noch die Schloßstiege hinunter. Er nimmt die Sache wörtlich", brummte der kaiserliche Leibarzt, kreuzte die Arme über der Brust und schloß die Lider, um die gestörte Morgenruhe wiederherzustellen.
Kaum eine Viertelstunde war vergangen, als ein Winseln ihn aufschreckte.
Gleich darauf öffnete jemand vorsichtig die Tür, und Baron Elsenwanger, gefolgt von seinem gelben Jagdhund Brock, schlich, den Finger warnend auf die Lippen gelegt, auf den Zehenspitzen herein.
"Grüß dich Gott, Konstantin! Ja, wo kommst denn du her so in aller Frühe?" – rief der kaiserliche Leibarzt erfreut, aber es verschlug ihm sofort die Rede, als er ein leeres, blödsinniges Lächeln im Gesicht seines Freundes gewahrte. "Armer Teufel", murmelte er, tief erschüttert, "er hat sein bißchen Verstand verloren."
"Pst, pst", flüsterte der Baron geheimnisvoll, "pst, pst. – Nur nöt, nur nöt!" – Dann blickte er sich scheu um, zog hastig einen vergilbten Briefumschlag aus der Tasche und warf ihn aufs Bett. "Da nimm, Flugbeil. – Aber: nur nöt, nur nöt!"
Der alte Jagdhund zog den Schwanz ein, richtete die halbblinden, milchigglänzenden Augen unverwandt auf seinen wahnsinnigen Herrn und öffnete rund das Maul, als wollte er heulen, aber es kam kein Ton aus seiner Kehle.
Ein unheimlicher Anblick.
"Was willst du, was ich nicht soll?" fragte der kaiserliche Leibarzt mitleidig.
Elsenwanger hob den Finger: "Taddäus, ich bitt' dich. – Aber nur nöt, nur nöt! – – Weißt d' – –, weißt d' –, weißt d'" – mit jedem seiner Flüsterworte kam er dem Ohr Flugbeils näher, bis er es fast mit dem Mund berührte. "Die Polizei is mir auf der Spur, Taddäus. – – Und die Dienerschaft weiß auch schon davon. Pst, pst. – Alle sin s' fortgeloffen. – Die Božena auch."
"Was? Deine Dienerschaft ist weggelaufen? Warum denn? Und wann?"
"Heut früh. Pst, pst. Nur nöt, nur nöt. – Weißt d', gestern war einer bei mir. Einer mit schwarze Zähn'. Und schwarze Handschuh. Und gscheangelt hat er auf beide Augen. – weißt d', einer von der – – von der Bolizei."
"Wie hat er geheißen?" fragte der kaiserliche Leibarzt.
"Brabetz, hat er gsagt, heißt er."
"Und was wollte er von dir?"
"Das Xenerl ist auf und davon, hat er g'sagt. – Pst, pst. – Ich weiß schon, warum sie weg ist. – Sie hat alles erfahren! – Pst, nur nöt. – Weißt d', und ein Geld hat er wollen; sonst sagt er all's, hat er gsagt."
"Du hast ihm doch hoffentlich keins gegeben?"
Der Baron sah sich wieder scheu um: "I' hab ihn halt vom Wenzel d' Stiegen 'runderschmeißen lassen."
"Merkwürdig, wie richtig Verrückte manchmal doch handeln", dachte der Pinguin bei sich.
"Pst, aber jetzt is der Wenzel auch weg. Der Brabetz hat ihm halt alles g'sagt."
"Ich bitte dich, Konstantin, überleg doch ruhig: Was könnte er ihm denn gesagt haben?!"
Elsenwanger deutete auf das vergilbte Kuvert.
Der kaiserliche Leibarzt nahm es – es war offen und, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, leer: "Was soll ich damit, Konstantin?"
"Jezis, Maria und Josef, nur nöt, nur nöt!" jammerte der Baron.
Der kaiserliche Leibarzt sah ihn ratlos an.
Elsenwanger näherte sich – Furcht in den Augen – wieder seinem Ohr und ächzte:
"Der Bogumil – der Bogumil – der Bogumil."
Der kaiserliche Leibarzt fing an zu verstehen: sein Freund hatte – wahrscheinlich rein zufällig – irgendwo im Bilderzimmer den Briefumschlag gefunden und sich so lange eingebildet, das Papier stamme von seinem toten Bruder Bogumil – alle möglichen Erinnerungen an Zrcadlo hineinmischend –, bis er darüber den Verstand verloren hatte.
"Weißt d', Taddäus, es kann ja sein: Er hat mich enterbt, weil ich ihn nie drunten in der Teinkirch besucht hab'. Aber Jezis, Maria, mir kann sich doch nicht nach – Prag gehen! – Gibt's weg, Taddäus, gibt's weg! Nur nöt, nur nöt. – Ich derf doch net wissen, was drin steht! Ich wär' doch sonst enterbt! – – Heb's auf, Flugbeil, heb's gut auf; na, na, naa, nur net neischaugen! Net neischaugen. – Und schreib drauf, daß es mir ghört, wenn du amal stirbst. Weißt d': Daß es mir ghört! – Aber versteck's gut, hörst d'? Bei mir is es nimmer sicher; alle wissen davon. Drum sin's fort. – Das Xenerl is auch fort."
"Was? Deine Nichte", rief der Leibarzt, "ist fort? Wohin denn?"
"Pst, pst. Fort is. Weil s' jetzt alles weiß." – Unablässig beteuerte Elsenwanger auf Flugbeils Frage, Polyxena sei verschwunden, "weil sie alles wisse." Mehr war aus ihm nicht herauszubringen.
"Weißt d', Taddäus, die ganze Stadt is auf. Alle wissen davon. Gestern am Abend war der Zizkaberg beleuchtet, weil sie das Testament gesucht haben. – – Und der Brock" – er zwinkerte geheimnisvoll nach dem Jagdhund hin – "muß doch was gmerkt haben. – Schau nur, wie er sich fürcht'. – No, und bei der Zahradka is die Fliegenpest ausgebrochen. – Alles voller Fliegen. Das ganze Palais."
"Konstantin, um Gottes willen, was redest du da zusammen!" rief der kaiserliche Leibarzt. "Du weißt doch, in ihrem Haus war nie eine Fliege! Sie bildet sich das bloß ein. Glaub doch nicht alles, was du hörst!"
"Meiner Seel und Gott!" beteuerte der Baron und schlug sich auf die Brust. "Mit meine eignen Augen hab ich's gsegen."
"Die Fliegen?"
"Ja. Alles schwarz."
"Von Fliegen?"
"Ja, von die Fliegen. – Aber ich muß jetzt gehen. Sonst merkt's die Polizei. – Und: hörst d', gut aufheben! – Und net vergessen: wenn's d' stirbst: Es ghört mir! Aber net drin lesen, sonst bin ich enterbt. – Nur nöt, nur nöt. – Und niemand sagen, daß i hier war! – – Servus, Flugbeil, Servus!"
Auf den Zehenspitzen, leise, wie er gekommen war, schlich der Wahnsinnige hinaus.
Mit eingekniffenem Schwanz der Jagdhund hinterdrein. Das Gefühl unsäglicher Bitternis überkam den Pinguin.
Er stützte den Kopf in die Hand.
"Wieder einen hat der Tod bei lebendigem Leib geholt. – Armer, armer Kerl!"
Er mußte an die "böhmische Liesel" denken und ihren Jammer, daß die schöne Jugend dahin war. – – –
"Was das nur sein mag mit der Polyxena? – Und – und mit den Fliegen? – – Sonderbar, ihr ganzes Leben hat die Zahradka sich gegen eingebildete Fliegen geschützt – so lang, bis sie wirklich gekommen sind. – Es ist rein, als hätte sie sie allmählich herbeigewünscht."
Eine dumpfe Erinnerung stieg in ihm auf, es habe ihm heute nacht ein nackter Mann mit einer Mitra auf dem Kopf etwas von der Erfüllung unbewußter Wünsche erzählt – irgend etwas, was sich ganz gut mit dem Erscheinen der Fliegen in Verbindung bringen ließ. – –
"Ich muß fort", scheuchte es ihn plötzlich auf. "Ich muß mich doch anziehen. – – Wo nur das Frauenzimmer mit den Hosen wieder bleibt –- Besser, ich fahr' heute schon. – Nur weg aus diesem grämlichen Prag! – Da dunstet ja der Wahnwitz wieder einmal aus allen Gassen. – Ich muß nach Karlsbad, mich verjüngen."
Er klingelte.
Wartete. Niemand kam.
Er klingelte nochmals.
"Na endlich!" – Es klopfte.
"Herein!" – –
Erschrocken warf er sich in die Kissen zurück und zog die Bettdecke bis zum Kinn: – Statt der Haushälterin stand die Gräfin Zahradka auf der Schwelle, eine Ledertasche in der Hand.
"Um Himmels willen, Gnädigste, ich – ich hab' nur ein Hemd an!"
"Kann ich mir denken, daß Sie nicht in Reitstiefeln schlafen", murmelte die Alte, ohne ihn anzusehen.
"Die hat heute wieder mal ihren Rappel", dachte der kaiserliche Leibarzt und wartete, was die Gräfin sagen werde.
Sie schwieg eine Weile und starrte in die Luft.
Dann riß sie die Handtasche auf und reichte ihm eine uralte Reiterpistole:
"Da! Wie ladet man das Zeug?"
Flugbeil betrachtete die Waffe und schüttelte den Kopf:
"Es ist ein Steinschloßgewehr, Gnädigste. Man kann es heutzutage kaum mehr laden."
"Ich will's aber!"
"Nun, man müßte zuerst Pulver in den Lauf schütten, dann eine Kugel und Papier hineinstampfen. – Und dann Pulver auf die Pfanne geben. – Wenn der Feuerstein niederschlägt, entzündet der Funke das Ganze."
"Gut, ich danke." Die Gräfin steckte die Pistole wieder ein.
"Gnädigste werden doch nicht am Ende Gebrauch von der Waffe machen wollen? – Wenn Sie fürchten, es könnte zu Unruhen kommen, wär's doch das beste, Sie führen aufs Land."
"Sie meinen, ich soll vor dem Gesindel davonlaufen, Flugbeil?" – Die Greisin lachte grimmig auf. – – "Das fehlte noch! – Reden mir sich von etwas anderm." –
"Wie geht es der Komtesse?" begann der kaiserliche Leibarzt stockend nach einer Pause.
"Die Xena ist fort."
"Was?! – Fort?! Um Gottes willen, ist ihr etwas geschehen? – Weshalb sucht man sie nicht?"
"Suchen? Warum? – Glauben Sie, es wird besser, wenn man sie findet, Flugbeil?"
"Aber wie ist denn das alles zugegangen? – So erzählen Sie doch, Gräfin!"
"Zugegangen? – Sie ist seit Johanni von zu Hause fort. – sie wird wohl beim Ottokar – Vond–rejc sein. – Hab's mir immer gedacht, daß es so kommen muß. – Das Blut! – – – – Ja, und da war kürzlich ein Kerl bei mir, langer gelber Vollbart, grüner Zwicker. ("Aha, der Brabetz!" murmelte der Pinguin.) – Hat gesagt: Er weiß was auf sie. – Hat Schweigegeld haben wollen. – Hab' ihn natürlich hinausgeschmissen."
"Und hat er denn nichts Genaueres erzählt? Ich bitte Sie! – Gnädigste!!"
"Gsagt hat er, er weiß, daß der Ottokar mein unehelicher Sohn is."
Der kaiserliche Leibarzt richtete sich empört auf: "Und das haben Sie sich gefallen lassen? Ich werde dafür sorgen, daß man den Halunken unschädlich macht!"
"Kümmern Sie sich nich um meine Angelegenheiten, Flugbeil!" brauste die Gräfin auf. "Die Leute reden noch ganz andere Sachen über mich. – Haben Sie's denn nie gehört?"
"Ich wäre doch sofort eingeschritten", versicherte der Pinguin, "ich – –"
Aber die Alte ließ ihn nicht zu Wort kommen. –
"Weil mein Mann, der Zahradka – der Obersthofmarschall selig –, verschollen is, heißt es: Ich hab' ihn vergiftet und seine Leiche im Keller versteckt. – – Gestern erst wieder, in der Nacht, haben sich drei Kerle heimlich hereingeschlichen, um ihn auszugraben. – Ich hab' sie mit der Hundspeitsche hinausgehauen."
"Ich glaube, Gnädigste, Sie sehen da ein wenig zu schwarz", fiel der kaiserliche Leibarzt lebhaft ein. "Vielleicht kann ich die Sache aufklären. – Es geht nämlich auf dem Hradschin die Sage, im Palais Morzin, wo Sie jetzt wohnen, sei ein Schatz versteckt; den haben die vielleicht ausgraben wollen."
Die Gräfin gab keine Antwort – flackerte mit ihren schwarzen Augen im Zimmer umher.
Eine lange Pause entstand.
"Flugbeil?" stieß sie endlich hervor. "Flugbeil!"
"Ich bitte sehr, Gnädigste?"
"Flugbeil, sagen S': Halten Sie's für möglich, daß, wenn man einen Toten nach vielen Jahren ausgräbt – – daß da – Fliegen – – aus der Erde kommen?"
Den kaiserlichen Leibarzt überlief es eiskalt.
"Flie – Fliegen?"
"Ja. Schwärmeweis."
Der kaiserliche Leibarzt zwang sich gewaltsam zur Ruhe; er drehte den Kopf zur Wand, damit die Zahradka das Grauen in seinem Gesicht nicht sehen solle.
"Fliegen können nur von einer frischen Leiche kommen, Gräfin. Schon nach wenigen Wochen ist der Körper eines Menschen, wenn er in der Erde liegt, verwest", sagte er tonlos.
Die Gräfin dachte ein paar Minuten nach, ohne ein Glied zu rühren. Völlig erstarrt.
Dann stand sie auf und ging zur Tür – wandte sich noch einmal um:
"Wissen Sie das bestimmt, Flugbeil?"
"Es ist ganz sicher, ich kann mich nicht irren."
"Gut. – – Adieu, Flugbeil!"
"Küss' – die Hand –, Gnä – Gnädigste" – der kaiserliche Leibarzt brachte die Worte kaum heraus. – Die Schritte der alten Frau verhallten in dem steinernen Vorzimmer. – – – –
Der kaiserliche Leibarzt wischte sich den Schweiß von der Stirn:
"Die Gespenster meines Lebens nehmen Abschied von mir! – – – Entsetzlich. Entsetzlich. – Eine Stadt des Irrsinns und des Verbrechens hat mich umgeben und meine Jugend gefressen! – Und ich hab' nicht gehört und nicht gesehen. War taub und blind."
Er klingelte wie rasend. – "Meine Hosen! Zum Donnerwetter, warum bringt man mir meine Hosen nicht?" –
Er sprang aus dem Bett und lief im Hemd zum Treppengeländer:
Alles wie ausgestorben.
"Ladislaus! – La – dis – laus!" –
Nichts rührte sich.
"Die Haushälterin scheint wahrhaftig davongelaufen zu sein wie die Diener Konstantins. – Und der Ladislaus! Verdammter Esel! – Wetten möchte' ich, daß er den Brabetz totgeschlagen hat."
Er riß das Fenster auf:
Keine Seele auf dem Schloßplatz.
Durch das Teleskop zu schauen, hatte keinen Zweck: Das Ende des Rohrs war mit einem Klappenverschluß bedeckt, und er konnte doch nicht – halbnackt – auf die Brüstung hinaustreten, um ihn zu entfernen.
Soviel er mit freiem Auge unterscheiden konnte, wimmelten die Brücken von Menschen.
"Narretei, verfluchte! – – Jetzt bleibt mir also nichts anderes übrig, als die Koffer wieder auszupacken! –"
Er wagte sich an eines der ledernen Ungeheuer heran und öffnete ihm den Rachen, wie der gottselige Androklus dem Löwen, es quoll ihm eine Flut von Kragen, Stiefeln, Handschuhen und Strümpfen entgegen. – Nur keine Hosen.
Ein Felleisen hauchte die Seele in Form einiger zerknüllter Gummimäntel, durchspickt mit Bürsten und Kämmen aus und sank dann entleert und seufzend zusammen.
Ein anderes hatte seinen Inhalt mit Hilfe einer rötlichen Flüssigkeit, die es mehreren Mundwasserflaschen zu entlocken gewußt, nahezu verdaut.
Im Bauch eines Korbes von sonst recht vertrauenswürdigem Aussehen fing es hoffnungsvoll an zu klingeln, kaum, daß der Pinguin die Hand ans Schloß legte – aber es war nur der versehentlich eingepackte Küchenwecker, der, von der engen Umarmung zahlreicher Schlummerpolster und feuchter Handtücher betäubt gewesen, nunmehr ahnungsfroh wie eine Lerche sein schmetterndes Morgenlied angestimmt hatte.
Bald glich das Zimmer dem Tummelplatz eines Hexensabatts, angeordnet behufs Inventuraufnahme von Tietz oder Wertheim.
Nur eine einzige utensilienfreie Insel war dem Pinguin verblieben, von der er aus, gestreckten Halses, das unter der plutonischen Schaffenskraft seiner Hände aufgetürmte vulkanische Gelände ringsum überschauen konnte.
Mit zornglimmenden Augen spähte er zu seinem Bette hin, von dem Wunsche durchglüht, seiner Taschenuhr auf dem Nachtkastl habhaft zu werden, um nachsehen zu können, wie spät es sei, und von jäh ausbrechendem Ordnungssinn befallen, spannte er seine Kniekehlen, um einen Gletscher weißgestärkter Frackhemden zu erklimmen – aber es gebracht ihm an Mut, sein Vorhaben auszuführen. Nicht einmal "Harras, der kühne Springer" hätte es gewagt, sich über solche Hindernisse hinwegzusetzen. – – –
Er dachte nach:
Nur noch zwei Koffer konnten die heißersehnten Beinhüllen bergen – entweder der eine – eine gelbe langgestreckte Kanaille aus Leipzig – von Mädler & Co. – oder der andere, ein starrer Granitwürfel aufs grauer Leinwand, regelmäßig behauen in der Form wie ein Eckstein zu Salomons Tempel.
Er entschloß sich nach längerem Schwanken zu dem "Eckstein", verwarf ihn jedoch alsbald, denn sein Inhalt entsprach nicht dem Gebot der Stunde.
Wohl näherten sich die Dinge, die er darin fand – Ereignissen gleich, die ihre Schatten vorauswerfen, hinsichtlich ihres Zweckes den Bedürfnissen der unteren Hälfte der Menschen, aber Hosen waren sie deshalb noch lange nicht.
Bloß zu anderen Zeiten nützliche Gegenstände traten da zutage: eine zusammengerollte Badewanne aus Kautschuk, ein Stoß Seidenpapier, eine Wärmeflasche und ein geheimnisvoll bronzefarbig lackiertes Blechgefäß mit Schnabel, daran ein langer roter Gummischlauch sich nach dem Vorbild der Seeschlange des Laokoon – nur viel kleiner und dünner – um den Hals der irrtümlich ins Reisegepäck geratenen Schreibtischstatuette des Feldherrn Graf Radetzky gewickelt hatte. – – – –
Ein Seufzer der Befriedigung entrang sich der gequälten Brust Taddäus Flugbeils – er entsprang natürlich nicht der Freude des Wiedersehens mit dem roten, hinterlistigen Schlauch, sondern vielmehr dem frohen Bewußtsein, daß hinfort kein Mißgriff mehr möglich sei und nur noch eine dünne, in Sachsen hergestellte Scheidewand Herrn und Hosen – Wunsch und Erfüllung – voneinander trennten.
Mit vorgestreckten, grausamen Ringerhänden näherte sich der Herr kaiserliche Leibarzt, gedeckt von einem Hügel aus Brokatwesten und Zigarrenschachteln, Schritt für Schritt dem scheinbar arglosen Friedenserzeugnis aus dem verbündeten Nachbarreiche.
Die Ränder fest zusammengebissen, heimtückisch funkelnden Schlüssellochs und auf das eigene Gewicht vertrauend, blond und niederträchtig, erwartete das rohrplattengepanzerte Fabrikat von den Ufern der Pleiße den Angriff des Pinguins.
Zuerst: ein prüfendes Abtasten, ein fast zärtliches Drücken und Kneten der vorspringenden Knöpfe und Warzen, dann ein ärgerliches Zerren an der messingnen Unterlippe, sogar Fußtritte – schließlich: (psychologische Schreckversuche sollten es wohl sein) Anrufungen des Fürsten der Unterwelt – – aber alles war umsonst.
Nicht einmal den Regungen des Mitleids war der Sprößling der Firma Mädler & Co. zugänglich: Es ließ ihn kalt, daß der Herr kaiserliche Leibarzt sich in der Hitze des Gefechts die Schleppe seines Hemdes abtrat – der herzzerreißende Leinwandschrei des schönen Büßergewandes verhallte ungewollt in der Luft.
Der Pinguin entwurzelte ihm das linke lederne Ohr, warf es wutfauchend dem hämisch grinsenden Spiegelschrank ins Gesicht: vergebens, der Sachse tat den Mund nicht auf!
Ansturm auf Ansturm warf er zurück.
Ein Meister der Verteidigung!
Antwerpen war ein Schmarren dagegen.
Der verschlossene Sachse wußte, daß die wahre Springwurzel, seine Bollwerke zu bezwingen – ein kleiner stählerner Schlüssel –, sicherer als in einer Dielenritze verborgen war – daß dieser Schlüssel an einem Ort hing, wo ihn der Herr kaiserliche Leibarzt tagelang nicht finden würde, nämlich: an einem blauen Bändchen am Halse Seiner Exzellenz selbst. –
Hosenlos, die Hände ringend, ragte der Pinguin wieder mitten aus seiner Insel und blickte bald hilfesuchend zu der Glocke auf dem Nachttischchen hin, bald verzweifelt an seiner dürren Wade nieder, an der, unverhüllt von dem zerrissenen Hemd, die grauen Haare wie Drähte abstanden.
Hätte er eine Flinte gehabt und ein Kornfeld: Er würde erstere in letzteres geworfen haben.
"Hätte ich doch geheiratet!" jammerte er greisenhaft weinerlich vor sich hin. – "Wie anders wäre alles gekommen! – Jetzt muß ich den Abend meines Lebens allein und verlassen verbringen. – Nicht einen einzigen Gegenstand besitze ich, der mich lieb hätte! – Und ist's denn ein Wunder? – Nie hat eine liebende Hand mir etwas geschenkt; wie sollte Liebe von Dingen ausgehen! – – Alles habe ich mir – kaufen müssen. – Sogar – die da!"
Er nickte seinen vergißmeinichtumrahmten Tigerpantoffeln trübselig zu. "Extra geschmacklos hab ich sie mir bestellt, um mir einzureden zu können, sie seien ein Geschenk. Ich habe geglaubt, daß dadurch die heimliche Traulichkeit in meiner Stube einziehen würde. O Gott, wie habe ich mich geirrt!" Und traurig gedachte er der einsam verbrachten Winternacht, wo er sich sie in einer Anwandlung von Rührseligkeit selber zum Christkind beschert hatte. –
"O Gott, wenn ich wenigstens einen Hund besäße, der mich lieb hat, wie der Brock den Elsenwanger!" – – – Er fühlte, daß es das Kindliche des Alters war, das ihn ergriffen hatte.
Er wollte sich dagegen wehren, aber er fand die Kraft nicht mehr.
Es half nicht einmal, daß er sich, wie zuweilen in solchen Fällen, selber mit "Exzellenz" anredete. – –
"Jaja, der Zrcadlo hat ganz recht gehabt beim 'grünen Frosch': Ich bin ein Pinguin und kann nicht fliegen – – Hab doch nie fliegen können!"