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Jedes Jahr am 16. Mai, zum Fest des heiligen Johann von Nepomuk, des Schutzpatrons von Böhmen, pflegte, angeordnet vom Hausherrn selbst, im Erdgeschoß des Palais Elsenwanger ein großes Gesindeessen stattzufinden, dem nach uralter Hradschiner Sitte die Herrschaft in eigener Person vorzusitzen gedachte.
In dieser Nacht, beginnend punkt 8 Uhr und abschließend mit dem letzten Schlag der zwölften Stunde, galten alle Standesunterschiede zwischen Herr und Diener als aufgehoben: Man aß und trank gemeinsam, redete einander mit "Du" an und gab sich die Hand.
Wo ein Sohn im Hause war, mußte dieser die Herrschaft vertreten; wo nicht, da oblag die Pflicht der ältesten Tochter. – –
Baron Elsenwanger fühlte sich seit dem Erlebnis mit dem Mondsüchtigen so angegriffen, daß er seine Großnichte, die junge Komtesse Polyxena, hatte bitten lassen müssen, seine Stelle einzunehmen.
"Weißt d', Xenerl", sagte er, als er sie in seinem Bibliothekszimmer (umgeben von zahllosen Büchern, von denen er in seinem Leben auch nicht ein einziges jemals berührt hatte) vor seinem Schreibtisch sitzend empfangen hatte, einen Strickstrumpf in der Hand und die Nadeln dicht ans Licht einer Kerze haltend, wenn ihm eine Masche entfallen war – "weißt d' Xenerl, ich hab' halt g'meint, du bist eh so gut wie meine Tochter, und es sind ja auch lauter bewährte Leut'. – Und wenns d' nachher schlafen willst und nöt erst so spät nach Hause gehen, dann schlafst d' halt im Gastzimmer, gelt Xenerl?"
Polyxena lächelte geistesabwesend und wollte, nur um irgend etwas zu sagen, erwidern, daß sie sich bereits ihr Bett ins Bilderzimmer habe stellen lassen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig, welche Aufregung ein solcher Entschluß bei ihrem Onkel hervorrufen müßte, und schwieg. –
Wohl eine halbe Stunde noch saßen sie wortlos in dem dämmrig dunklen Zimmer einander gegenüber – er in seinem Ohrensessel, ein gelbes Wollknäuel zu seinen Füßen und alle paar Minuten qualvoll aus tiefster Brust aufseufzend, als wolle ihm das Herz brechen –, sie, zurückgelehnt in einem Schaukelstuhl unter vergilbten Folianten, eine Zigarette rauchend und mit halbem Sinn auf das leise eintönige Klirren seiner Stricknadeln horchend. –
Dann sah sie, wie seine Hände plötzlich innehielten, den Strumpf fallen ließen, und er selbst fast unmittelbar darauf, mit vornübernickendem Kopf in den totenähnlichen Schlaf des Alters versank.
Ein unerträgliches Gemisch aus körperlicher Müdigkeit und innerem, immerwährendem Verzehrtsein von irgend etwas, für das sie keinen Namen wußte, hielt sie in ihren Sessel gebannt. –
Einmal beugte sie sich schon vor und wollte aufstehen – – "vielleicht wird es besser, wenn ich das Fenster öffne und die kühle Regenluft hineinlasse?" – der Gedanke, der alte Mann könne darüber aufwachen und wieder irgendein ödes Greisengespräch mit ihr beginnen, lähmte ihren Entschluß.
Sie sah sich in dem fast nur mehr von dem schwachen Schein der Kerze erhellten Zimmer um. –
Ein dunkelroter Teppich mit langweiligem Girlandenmuster bespannte den Boden; jede Arabeskenschlinge kannte sie auswendig, so oft hatte sie als kleines Mädchen darauf gespielt. – Jetzt noch fühlte sie den mürben Staubgeruch im Hals, der davon ausging und sie – wie viele, viele Male! – zu nervösem Weinen gebracht und so manche Stunde ihrer Kindheit vergiftet hatte.
Und dieses ewige, jahrelange: "Xenerl, gib Sie acht, daß Sie sich keine Fleckerle nicht ins Kleiderle macht!": Das Morgenrot ihrer frühesten Jugend war grau darunter geworden. – Voll Haß zerbiß sie ihre Zigarette und warf sie weit von sich. –
Wie ein beständiges Hin- und Herflüchten von einem Ort der Trostlosigkeit zum andern kam ihr die Zeit ihrer Kindheit vor, wenn sie jetzt daran zurückdachte, qualvoll erinnert durch den Anblick der langen Reihe stockfleckiger Bücher, in denen sie einst in der vergeblichen Hoffnung, ein Bild darin zu finden, so oft geblättert hatte; – wie das verzweifelte Umherflattern eines jungen Singvogels war es gewesen, der verirrt in einem alten Gemäuer, verschmachtend nach einem Tropfen Wasser sucht: – eine Woche nach Hause in das trübselige Schloß ihrer Tante Zahradka, dann über einen qualvollen Sonntag hieher und wieder zurück.
– Sie blickte lang und nachdenklich zu ihrem alten Onkel hinüber, dessen welke, blutleere Augenlider so fest geschlossen waren, daß sie sich gar nicht vorstellen konnte, er würde sie je wieder aufschlagen.
Jetzt wußte sie auch mit einemmal, was sie so an ihm haßte – an ihm und an ihrer Tante –, trotzdem die beiden ihr nie ein böses Wort gesagt hatten –: Es war der Anblick ihrer schlafenden Gesichter gewesen!
Auf ein winziges Erlebnis, scheinbar belanglos wie ein Sandkorn, in ihrer frühesten Kindheit ging es zurück:
Sie hatte in einem Bettchen gelegen, kaum vier Jahre alt, und war plötzlich erwacht – vielleicht im Fieber, vielleicht gewürgt von einem angstvollen Traum –, hatte geschrien, aber niemand kam – hatte sich aufgerichtet, und da saß ihre Tante mitten im Zimmer, schlafend, so tief und bewußtlos schlafend, daß kein Rufen sie erwecken konnte, die ringförmigen Schatten der Brillengläser um die Augen wie ein toter Geier und im Gesicht ein versteinerter Ausdruck unversöhnlichster Grausamkeit.
Und von da an hatte sich in dem Kindergemüt ein unbestimmter Abscheu vor allem festgesetzt, was irgendwie dem Abbild des Todes glich. Anfangs war es lange eine unbestimmte Furcht vor schlafenden Gesichtern geblieben, dann später wuchs es aus in einen dumpfen instinktiven Haß. In einem Haß gegen alles Tote, Blutleere – so tief, wie es nur in einem Herzen Wurzel fassen kann, in dem eine Lebensgier, schlummernd niedergehalten seit Geschlechtern, nur auf einen günstigen Augenblick lauert, um, einer Lohe gleich, hervorzubrechen und das ganze Dasein im Nu in Brand zu setzen.
Greisentum hatte sie umgeben, solange sie sich erinnern konnte – Greisentum des Leibes, des Denkens, des Redens und des Handelns, Greisenhaftigkeit in allem, was geschah – Bilder von Greisen und Greisinnen an den Wänden – die ganze Stadt und die Straßen und die Häuser greisenhaft, verwittert, gefurcht; sogar das Moos an den uralten Bäumen im Garten ein grauer Greisenbart.
Dann war die Erziehung im Kloster von Sacré-Cœur gekommen. – Anfangs wie ein helles Licht infolge des Ungewohnten, aber nur für kurze Tage, dann immer blasser und trüber werdend, viel zu weihevoll und ruhig – zu sehr wie müdes Abendrot, als daß sich nicht eine zum Raubtier geschaffene Seele heimlich zum Sprung geduckt hätte.
Dort im Kloster fiel das Wort "Liebe" zum erstenmal: Liebe zum Erlöser, den Polyxena stündlich vor Augen hatte, ans Kreuz genagelt, mit blutigen Malen, blutender Brustwunde und blutigen Tropfen unter der Dornenkrone – Liebe zum Gebet, in dem zur Sprache wurde, was gleichzeitig ihr vor Augen stand: Blut, Märtyrertum, Geißelung, Kreuzigung, Blut, Blut. – Dann die Liebe zu einem Gnadenbild, in dessen Herzen sieben Schwerter staken. Blutrote Ampeln. Blut. Blut.
Und das Blut als das Sinnbild des Lebens wurde die Inbrunst ihrer Seele, fraß sich ein ins Innerste.
Von all den jungen adligen Mädchen, die im Kloster von Sacré-Cœur erzogen wurden, war sie bald die inbrünstigste.
Aber auch – die brünstigste, ohne es zu wissen.
Das bißchen Französisch, das bißchen Englisch, das bißchen Musik und Geschichte und Rechnen und all das andere – sie begriff es kaum. Hatte es im nächsten Augenblick vergessen.
Nur die Liebe blieb haften.
Aber die Liebe zum – – Blut.
Lange, ehe sie Ottokar kennengelernt, war sie aus dem Kloster nach Hause zurückgekehrt, und als die fast vergessene Greisenhaftigkeit sie abermals umhüllte wie etwas zu neuer Gegenwart Wiedererwachtes, da schien ihr das, was sie so lange mit heißester Liebe umfangen – das Märtyrerschicksal des Erlösers –, langsam in eine Vergangenheit zu versinken, die noch tausend Jahre früher lag als all das Grabähnliche, das die Umgebung an sich trug. Nur das Blut in seiner Farbe des Lebens rieselte unablässig wie ein ewiger Quell hindurch von "drüben" her, aus der Zeit des Gekreuzigten bis zu ihr; ein dünner, sickernder, roter Faden.
Und alles, was sie lebendig sah und jung, das verband sie unbewußt mit dem Begriff "Blut". In allem, was schön war und sie anzog und mit Sehnsucht erfüllte: Blumen, spielende Tiere, quellender Frohsinn, Sonnenschein, junge Menschen, Duft und Wohlklang, alles tönte in dem Wort, das ihre Seele unablässig – unhörbar noch – murmelte, wie aus dem unruhigen Schlaf, der dem Erwachen vorhergeht: – in dem Wort Blut, Blut.
Dann war eines Tages das Zimmer bei Elsenwanger aufgesperrt worden zu einem Bankett, in dem das Bild ihrer Urahne hing, der Gräfin Polyxena Lambua; und als sie es erblickte mitten unter all den andern, von denen die meisten ebenfalls ihre leiblichen Vorfahren waren, beschlich sie das unheimliche Gefühl, als sei es gar kein Gemälde einer Verstorbenen, sondern der Widerschein eines Wesens, das irgendwo in Wirklichkeit existieren müsse, viel lebendiger als irgend etwas, was sie je gesehen. – Sie hatte gesucht, sich die Empfindung auszureden, aber sie kam immer wieder: "Es hängt hier umgeben von lauter toten Gesichtern – es wird wohl die Ähnlichkeit mit meinem eigenen Schicksal sein, die mich so unheimlich berührt", hatte sie sich gesagt, aber doch nie recht daran zu glauben vermocht.
Aber das allein war es nicht; die Sache verhielt sich anders, ging über ihr Begriffsvermögen hinaus:
Das Bild, das dort an der Wand hing, war gewissermaßen sie selber – so, wie ein Samenkorn das Konterfei der Pflanze, die es dereinst werden soll, in sich trägt, verborgen den äußeren Sinnen und dennoch in allen organischen Einzelheiten klar umrissen, so hatte jenes Bild in ihr seit der Kindheit an gehangen, war die vorbestimmte Matrize, in die ihre Seele hineinwachsen mußte mit jeder Faser und Zelle, bis auch die kleinste Vertiefung der Form von ihr ausgefüllt sein würde.
Die plötzlich erwachende, unterbewußte Erkenntnis, sich mit allen noch schlummernden und allen bereits offenbar gewordenen Eigenschaften selber erblickt zu haben, hatte das Gefühl hervorgerufen, das Gemälde ihrer Urahne sei lebendiger als irgend etwas, was sie je gesehen.
Lebendiger als irgend etwas anderes in der Welt kann aber nur der Mensch sich selbst vorkommen.
Sie kannte das Gesetz nicht, auf dem alles Magische beruht: "Wenn zwei Größen einander gleich sind, so sind sie ein und dasselbe und nur einmal vorhanden, auch wenn Zeit und Raum ihr Dasein scheinbar trennen."
Hätte sie es erkannt und erfaßt, sie wäre fähig gewesen, ihr Schicksal bis ins kleinste vorauszuwissen. –
Ähnlich wie das Bild auf Ottokar wirkte, so wirkte es auch auf sie; nur wurde sie davon nicht verfolgt wie er, denn sie verwuchs allmählich damit und wurde es selbst. – Und hätte sie als des Bildes lebendige Repräsentantin nicht auf Erden existiert, nie würde es Ottokar in Bann haben schlagen können; so aber war es mit der Zauberkraft ihres Blutes geladen, und das seine witterte das Vorhandensein eines wirklichen lebenden Wesens und fühlte sich magnetisch zu ihm hingezogen.
Als Polyxena später Ottokar im Dom traf – keine Macht der Welt hätte verhindern können, was damals geschehen war; das Schicksal brachte nach ehernen Gesetzen zur Reife, was längst gesät war. Was im Körper als Form versiegelt und beschlossen gelegen, hatte sich in die Tat verwandelt – war aus Samenkorn zur Frucht geworden. – Nichts sonst.
Was der Weise mit dem Tier gemeinsam hat: niemals Reue zu empfinden über irgendwelche vollbrachte Tat – das kam auch über sie, als das Blut in ihr den Sieg davongetragen hatte:
Die Unschuld des Weisen und die Unschuld des Tieres machten das Gewissen verstummen.
Tags darauf schon war sie zur Beichte gegangen mit klarer Erinnerung an das, was man sie im Kloster gelehrt hatte: Daß sie tot umfallen werde, wenn sie eine Sünde verschweige.
Und sie hatte tief im Innersten gewußt: Sie werde verschweigen und trotzdem lebend stehenbleiben. Und sie hatte recht behalten und dennoch – geirrt: Das, was bis dahin als ihr "Selbst" geschienen, war tot umgefallen; aber ein anderes "Selbst" – das, das dem Bilde ihrer Urahne entsprach – nahm im selben Augenblick die Stelle des ersten ein.
Es ist nicht Zufall oder blinde Willkür, daß der Mensch die Aufeinanderfolge seiner Geschlechter mit dem Namen "Stammbaum" bezeichnet, es ist in Wahrheit der "Stamm" eines "Baumes", der nach langem Winterschlaf und nach soundso oft wechselnder Färbung seiner Blätter immer und immer wieder ein und dieselben Zweige treibt:
Die tote Polyxena im Bilderzimmer war lebendig geworden und die lebendige tot umgefallen – sie lösten einander ab, und jede blieb schuldlos; die eine verschwieg in der Beichte, was die andere hatte begehen müssen. Und jeder neue Tag lockte neue Knospen aus dem jungen Zweig des alten Baumes – neue und doch uralte, wie sie der "Stammbaum" von je hervorzubringen gewohnt war: In Polyxena verschmolz Liebe und Blut zu einem einzigen untrennbaren Begriff.
Von einer süßen, wollüstigen Begierde gepeitscht, die die Greise und Greisinnen ihrer Umgebung für überspannten Wissenstrieb hielten, wandelte sie von da an auf dem Hradschin umher, von einer historischen Stätte, auf der Blut vergossen worden war, zur andern, von einem Märtyrerbild zum andern; – jeder graue, verwitterte Stein, an dem sie früher achtlos vorübergegangen war, erzählte ihr von Blutvergießen und Folterqual, aus jedem Fußbreit Erde hauchte der rötliche Dampf; wenn sie den erzenen Ring an der Kapellentür anfaßte, an den sich König Wenzel angeklammert gehalten, bevor ihn sein Bruder erschlug, durchrieselte sie die Todesangst, die an dem Metall klebte, aber: verwandelt in glühheiße, rasende Brunst.
Der ganze Hradschin mit seinen schweigsamen, erstarrten Bauten war für sie ein redender Mund geworden, der ihr mit hundert lebendigen Zungen immer neue Begebnisse des Schreckens und Entsetzens aus seiner Vergangenheit zuzuflüstern wußte. – – –
Polyxena zählte mechanisch die Schläge der Turmglocken, die den Anbruch der achten Stunde verkündeten, und ging dann die Treppe hinab in die Gesindestube.
Ein alter Diener in gestreifter Jacke kam ihr entgegen, küßte sie auf beide Wangen und führte sie zu ihrem Sitz zuoberst eines langen Eichentisches ohne Gedeck.
Ihr gegenüber am untersten Ende saß der Kutscher des Fürsten Lobkowitz, ein junger Russe mit finsterem Gesicht und tiefliegenden schwarzen Augen, der nebst anderen Bedienten aus adligen Häusern zu Gast geladen war – neben ihr, als Tischnachbar, ein Tatar aus der Kirgisensteppe – eine runde, rote, fezartige Kappe auf dem glattrasierten Schädel. Man sagte ihr, er sei Bereiter des Prinzen Rohan und ehemals Karawanenführer des Asienforschers Csoma de Körös gewesen.
Božena in Straßentoilette, einen alten Schmelzdeckel mit nickender Feder, ein Weihnachtsgeschenk der Gräfin Zahradka, über den aufgesteckten Zöpfen, trug die Speisen herein: zuerst Rebhühner mit Kraut und sodann in Scheiben geschnittene Knödel aus schwarzem Mehl mit Powidl, zu deutsch: Zwetschgenmus.
"Laß dir's schmecken, Polyxena, und iß und trink!" sagte die alte Köchin Elsenwangers und zwinkerte den jungen Spül- und Stubenmädchen ermutigend zu, die sich so dicht wie möglich an sie herumgesetzt hatten, wie um eine Glucke, der es obliege, sie unter ihre Fittiche zu nehmen, falls es der adligen Falkin am Ende doch beifallen sollte, aus ihrer Höhe raubgierig herabzustoßen. – – –
Anfangs lastete eine gewisse Befangenheit auf der Gesellschaft, die aus etwa zwanzig Männern, Frauen und Mädchen jeden Alters bestand, denn vielen von ihnen war die Sitte, mit der Herrschaft zusammen an einem Tische zu essen, neu, und sie fürchteten, beim Gebrauch der Messer und Gabeln irgendwelche Unschicklichkeit zu begehen, aber Polyxena wußte sie rasch in eine ungezwungene Stimmung zu bringen, indem sie bald den einen, bald den andern in Gespräche verwickelte, an denen auch die übrigen teilnehmen konnten.
Bloß Molla Osman, der Tatar, verzehrte schweigend mit den Fingern, die er alle Augenblicke in einer Schüssel Wasser abspülte, sein Mahl, und auch der finstere Russe ließ kein Wort hören und blickte sie nur von Zeit zu Zeit lang und durchdringend, faßt haßerfüllt an.
"Erzählt doch mal", begann sie, als die Speisen abgetragen worden und die Tschaj- und Weingläser gefüllt waren. "Was ist eigentlich damals geschehen? Ist es wirklich wahr, daß oben ein Mondsüchtiger – – –?"
"Ja, freilich, Euer Gnaden Komtesse", fiel Božena eifrig ein, verschluckte sich infolge eines Rippenstoßes, den ihr die Köchin versetzte, und verbesserte rasch ihre Anrede: "Ja freilich, Polyxena, ich hab ich's mit eigenen Augen gesegen! Es war fuchbar. Gleich, wie sich der Brock angfangt hat zum Bellen, hab ich gewußt, genau wie der gnädige Herr Baron gesagt hat: Jezis, Maria und Joseph! No und dann hat's ihm die Hände gerissen, und er ise sich rundumadum geflogen, no – wie soll ich sagen – wie ein feiriger Gockel, so gliehende Augen hat er sich ghabt. Wenn ich meinen Schottek" – sie griff nach einem Amulett, das sie am Halse trug – "nicht zum Glick bei mir ghabt hätt, ich glaub, ich wäre ich heit eine Leiche. So wild hat e' mich angschaugt. Aber dann hat's ihm über die Taxishecken gschmissen, und er ise sich 'runtegflogen; jako – jako z rouru, wie ausm Rohr. Pan Loukota", sie wandte sich an den greisen Kammerdiener, "ise sich Zeuge."
"Blädsinn", murmelte der Alte und schüttelte unwillig den Kopf, "es war alles ganz anders."
"No natrierlich, jetzt auf amals sagen Sie wieder: Sie sin sich nicht zeigungsfähig, pane Loukota", ereiferte sich Božena, "abe gefircht ham Sie sich doch."
"Was? Durch die Luft is er geflogen?" fragte Polyxena ungläubig.
"Ano, prosim. – Bitt schän: ja."
"Wirklich frei geschwebt?"
"Prosim."
"Und glühende Augen hat er gehabt?"
"Prosim."
"Und dann, höre ich, soll er sich in Gegenwart meiner Tante und meines Großonkels und der übrigen Herren so wie – verwandelt haben?"
"Ano, prosim, ganz lang und dinn, wie ein Bäsenstiel, ise sich geworden"; beteuerte Božena. "Ich hab ich's durch Schlisselloch – – –", verlegen hielt sie inne, denn sie fühlte, daß sie sich verschnappt hatte; "– no ja, freilich, weiter hab' ich nix gesegen. – Ich war ja nicht dabei; die gnädige Frau Gräfin hat mich dich zur 'bähmischen Liesel' – – –" ein neuerlicher Rippenstoß seitens der Köchin schloß ihr vollends den Mund.
Eine Weile schwiegen alle betreten.
"Wie heißt der Mann eigentlich?" fragte der Russe halblaut seinen Nachbar.
Der Angeredete zuckte die Achseln.
"Zrcadlo, soviel ich weiß", antwortete Polyxena statt seiner. "Ich denke, er wird ein fahrender Komödiant von der Fidlowacka – vom Jahrmarkt – sein."
"Ja; so – nannte man ihn."
"Du glaubst also, er heißt anders?"
Der Russe zögerte: "Ich – ich weiß nicht."
"Aber ein Komödiant ist er doch? Nicht wahr?"
"Nein. Bestimmt nicht", ließ sich der Tatar vernehmen.
"Di kennst ihn?" – "Sie kennen ihn, Pane Molla?" riefen alle durcheinander.
Der Tatar hob abwehrend die Hände: "Ich habe ihn nur einmal gesprochen. – Aber ich glaube, ich irre mich nicht: – er ist das Werkzeug eines Ewli." – Das Gesinde starrte ihn ratlos an. – "Ich weiß, hier in Böhmen kennt man das nicht, aber bei uns im Osten ist es nicht gar so selten."
Und, von Polyxena aufgefordert, die Sache näher zu erklären, erzählte er in kurzen Sätzen, jedes Paar Worte vorher im Geiste aus seiner Muttersprache ins Deutsche übersetzend:
"Ein Ewli ist ein Fakirzauberer. – Ein Fakirzauberer braucht einen Mund, sonst kann er nicht reden. – Darum wählt er sich den Mund eines Toten, wenn er reden will."
"Du glaubst also, der Zrcadlo ist ein Toter?" fragte der Russe mit allen Anzeichen plötzlicher Aufregung.
"Ich weiß nicht. – Vielleicht ist er ein Halb– –", fragend wandte sich der Tatar an Polyxena: "Wie sagt man das? Ein Halb– –?"
"Ein Scheintoter?"
"Ja. Ein Scheintoter. – Wenn der Ewli durch den Mund eines andern reden will, geht er zuerst aus sich selbst heraus und geht dann in den andern hinein. – Das macht er so:" – einen Augenblick dachte der Tatar nach, wie er es am besten erklären solle; dann legte er sich den Finger auf die Stelle oberhalb des Zwerchfells, wo die Rippen mit dem Brustbein verbunden sind: – "Hier sitzt die Seele. – Die zieht er hinauf;" – er zeigte auf seine Gurgel und dann auf die Nasenwurzel – "erst hierher, dann dorthin. – Dann verläßt er seinen Körper mit dem Atem und geht in den Toten ein. Durch die Nase, durch den Hals, in die Brust. – Wenn der Leib des Toten noch nicht zerstört ist, steht der Tote auf und ist lebendig. – Aber er ist dann der Ewli."
"Und was geschieht unterdessen mit dem Ewli selbst?" fragte Polyxena gespannt.
"Der Körper des Ewli ist wie tot, solange sein Geist in dem andern ist. – Ich habe oft Fakire und Schamanen gesehen. – Sie sitzen immer wie tot. Das kommt, weil ihr Geist in andern ist. – Mann nennt das Aweysha. – Aber ein Fakir kann auch Aweysha mit lebenden Menschen machen. – Nur müssen sie schlafen oder müssen betäubt sein, wenn er in sie eintritt. – Manche, und besonders Abgeschiedene, die zu ihren Lebzeiten einen sehr starken Willen gehabt haben oder noch eine Mission auf der Erde erfüllen sollen, die können sogar in wache Lebendige eintreten, ohne daß diese es merken, aber meistens benutzen auch sie die Körper von Scheintoten oder Lebendigen. – Wie zum Beispiel den Zrcadlo. – – – – Warum schaust du mich so an, Sergej?"
Der Russe war bei den letzten Worten aufgesprungen, hatte einen schnellen Blick mit einem andern Bedienten gewechselt und hing förmlich an den Lippen des Tataren. –
"Nichts, nichts, Molla; ich staune bloß."
"Bei mir daheim", fuhr der Tatar fort, "kommt es oft vor, daß ein Mann, der bis dahin ganz ruhig gelebt hat, plötzlich nicht mehr weiß, wie er heißt, und wegwandert. Dann sagen wir: ein Ewli oder ein Schamane hat von seinem Körper Besitz ergriffen. – Die Schamanen sind Ungläubige, aber sie können dasselbe wie die Ewliah. – Das Aweyshatum hat mit dem Koran nichts zu tun. – Wenn wir früh aufwachen und fühlen, daß wir nicht ganz so sind wie vorher abends beim Schlafengehen – so fürchten wir, daß ein Abgeschiedener in uns steckt, und atmen heftig ein paarmal aus, um wieder frei zu werden."
"Warum glaubst du, wollen denn die Toten in die Körper der Lebenden eindringen?" fragte Polyxena.
"Vielleicht um zu genießen. – Vielleicht um etwas auf der Erde nachzuholen, was sie zu tun versäumt haben. – Oder, wenn sie grausam sind: um ein großes Blutbad anzurichten."
"Da wäre es ja möglich, daß der Krieg – –"
"Gewiß" – bestätigte der Tatar. "Alles, was die Menschen gegen ihren Wunsch tun, kommt aus dem Aweysha her – ob so oder so. – Wenn die Menschen eines Tages übereinander herfallen wie die Tiger, meinst du, sie täten es, wenn nicht irgendwer Aweysha mit ihnen gemacht hätte?"
"Sie tun es, denke ich, weil sie – nun, weil sie eben begeistert sind für – für irgend etwas; für eine – Idee vielleicht."
"Nun, das ist doch Aweysha."
"Also ist Begeisterung und Aweysha dasselbe?"
"Nein; zuerst kommt Aweysha. Daraus entsteht dann Begeisterung. – Man merkt meist nicht, wenn jemand Aweysha mit einem macht. Aber die Begeisterung, die fühlt man, und daher glaubt man, daß sie in einem von selbst entstanden ist. – Weißt du, es gibt verschiedene Arten Aweysha. – Manche Menschen können Aweysha bei anderen machen, bloß indem sie eine Rede halten. – Aber es ist doch immer nur Aweysha, bloß ein mehr natürliches. – – Mit jemand, der sich nur auf sich selbst verläßt, kann kein Mensch auf der Welt Aweysha machen. Auch nicht ein Ewli oder ein Schamane."
"Und du meinst, weil ein Ewli mit uns Aweysha gemacht hat, ist der Krieg entstanden?"
Der Tatar schüttelte lächelnd den Kopf.
"Oder ein Schamane?"
Wiederum Kopfschütteln.
"Also wer sonst?"
Molla Osman zuckte die Achseln; Polyxena sah ihm an, daß er nicht reden wollte; seine ausweichende Antwort: "Wer nur an sich selbst glaubt und nachdenkt, ehe er handelt, mit dem kann keiner Aweysha machen", bestärkte sie darin. – – – –
"Du bist Mohammedaner?"
"N–nein, nicht ganz. – Du siehst: ich trinke Wein."
Der Tatar hob sein Glas und trank ihr zu.
Polyxena lehnte sich zurück und studierte schweigend seine ruhevollen Züge. Ein rundes, glattes Gesicht, frei von jeder Leidenschaft oder Erregung. – –
"Aweysha?! – Was das für ein sonderbarer Aberglaube ist;" – sie nippte an ihrem Tschaj. "Was er wohl sagen würde, wenn ich ihn fragte, ob auch Bilder Aweysha machen können? – Ach was, er ist ja doch nur ein Stallknecht!" – Und sie ärgerte sich, daß sie ihm so lange zugehört hatte – ärgerte sich mehr und mehr, je klarer ihr wurde, daß sie sich noch niemals mit irgendeinem ihrer Verwandten auch nur annähernd so interessant unterhalten hatte – fühlte sich wie an ihrer Rasse beleidigt. – – Sie kniff die Augen halb zu, damit er nicht merke, daß sie ihn ununterbrochen beobachtete. "Wenn ich ihn in meiner Gewalt hätte, ich ließe ihm den Kopf abschlagen", wollte sie sich in eine Art Blutrausch hineinreden, um ihren gekränkten Hochmut wieder aufzurichten, aber es gelang ihr nicht. –
Das Gefühl der Grausamkeit allein konnte in ihr nicht aufsteigen, wenn es nicht mit Liebe oder Wollust gepaart war – und beides prallte von dem Tataren ab wie an einem unsichtbaren Schild. – – – Sie blickte auf: Ein Teil der jüngeren Dienerschaft hatte sich während ihres Zwiegesprächs mit dem Asiaten im Hintergrund des langgestreckten Zimmers zusammengescharrt und unterhielt sich halblaut, aber anscheinend im höchsten Grade erregt.
Ein paar Worte flogen zu ihr herüber: "Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten." – Der Bediente, den der Russe vorhin so vielsagend angeblickt hatte, führte das Wort; er war ein junger Mann mit stierem Blick, offenbar ein Prager Tscheche, tat äußerst belesen und warf mit sozialistischen Zitaten nur so um sich: "Besitz ist Diebstahl."
Dann längeres Gemurmel, in dem der Name "Jan Zizka" immer wieder vorkam. – "Das ist doch alles hirnverbrannter Unsinn", zischte ein anderer hinein, nur mit Mühe den Flüsterton einhaltend, und drehte sich, wie um seinem Ärger Luft zu machen, auf dem Absatz einmal um seine Achse, "kurz und klein werden wir geschossen, wenn wir nur mucksen. – Maschinengewehre! Ma–schi–nen–geweh–re!!" – Es brachte keine Wirkung hervor, was er sagte – immer schien der Russe eine Erwiderung zu wissen. – Das Schlagwort "Jan Zizka" blieb beständig Refrain. –
Plötzlich fiel der Name "Ottokar Vondrejc." – Polyxena hatte ihn deutlich gehört; es war ihr durch Mark und Bein gefahren.
Sie beugte sich unwillkürlich vor, um genau zu verstehen, was man da verhandelte.
Der Russe bemerkte ihre Bewegung und machte den andern rasch ein Zeichen, worauf diese sofort das Gespräch abbrachen und sich so unauffällig wie möglich auf ihre Plätze begaben.
"Warum tun sie das?" überlegte Polyxena; instinktiv fühlte sie, daß es sie und ihre Kaste betraf, was da gesprochen worden war. "Wenn's bloß Unzufriedenheit mit den Löhnen oder etwas dergleichen gewesen wäre – sie hätten sich nicht so aufgeregt benommen."
Daß der Name Ottokar genannt worden war, beunruhigte sie am meisten. "Wissen Sie vielleicht etwas?" – gewaltsam schüttelte sie den Gedanken ab. – "Feiges Dienstbotengesindel. – Was kümmert es mich. Sollen sie sich denken, was sie wollen. Ich werde tun und lassen, was mir paßt." –
Sie versuchte in den Mienen Boženas zu lesen; sie wußte genau, daß Ottokar früher zu Božena in Beziehungen gestanden hatte – aber es war ihr stets gleichgültig gewesen. Sie war viel zu stolz und hochmütig, um auf ein Küchenmädchen eifersüchtig zu sein. – "Nein, Boženas Gesicht war gleichmütig und freundlich. – Also mußte Ottokars Namen in einem anderen Zusammenhang erwähnt worden sein." –
Ein mühsam verhaltener Haß in den Augen des russischen Kutschers sagte ihr, daß es sich um Dinge gehandelt haben müsse, die über Persönliches hinausgingen.
Ein Gerede, das sie vor einigen Tagen zufällig in einem Laden mit angehört hatte, fiel ihr ein:
Unten in Prag seien die üblichen albernen Unruhen im Gang. – Der Pöbel plane wieder einmal irgendwelche "Kundgebungen" – Fenstereinschlagen oder ähnliche "demokratische" Verrücktheiten.
Erleichtert atmete sie auf. – Was kümmerte es sie, wenn es weiter nichts war! – Ein Aufstand in Prag: – Lappalie. –
Bisher war so etwas noch niemals über die Brücken herüber auf den Hradschin gekommen. An den Adel traute sich die Bestie nicht heran.
Kalt und spöttisch erwiderte sie den Blick des Russen.
Und doch überlief es sie, so deutlich spürte sie den drohenden Haß, der von ihm ausging. –
Aber es steigerte sich nicht bis zur Furcht in ihr – wurde langsam ein Kitzel, eine Art lüsternes Haarsträuben, wie sie sich ausmalte, es könnte eines Tages doch ernst werden und zu – Blutvergießen kommen. – – – – "Grundwasser" – mitten in ihrer Gedankenreihe war plötzlich das Wort "Grundwasser" aufgeschossen. Eine Stimme in ihr schien es gerufen zu haben. – "Warum: Grundwasser?" – welchen Zusammenhang hatte es mit dem, woran sie dachte? – Sie wußte nicht einmal genau, was das war: "Grundwasser". – Irgend etwas, was in der Erde schläft, bis es dann plötzlich steigt und steigt, die Keller erfüllt, Mauer unterwäscht, alte Häuser über Nacht einstürzen macht, oder etwas Ähnliches. –
Und aus dieser unbewußten Vorstellung wuchs ein Bild hervor: Blut war's, das da emporstieg aus der Tiefe – ein Meer von Blut, das aus dem Boden drang, aus den Gittern der Kanäle quoll, die Straßen erfüllte, bis es in Strömen sich in die Moldau ergoß.
– Blut, das wahre Grundwasser Prags.
Eine Art Betäubung kam über sie.
Ein roter Nebel legte sich ihr vor die Augen; sie sah, daß er von ihr langsam weg auf den Russen zuschwebte, dessen Gesicht, wie unter drosselnder Angst, fahl wurde. – Sie fühlte, daß sie irgendwie den Sieg über den Mann davongetragen hatte. Ihr Blut war stärker gewesen als das seinige.
"Es ist etwas dran an diesem – an diesem – Aweysha"; – sie blickte auf die Hände des Russen: Tatzen eines Ungeheuers, breit, furchtbar, wie zum Würgen geschaffen – jetzt lagen sie hilflos und wie gelähmt auf dem Tisch.
"Die Stunde ist noch lange nicht da, wo ihr Proletarier eure Ketten zerbrechen könnt", höhnte sie innerlich. –
Sie wußte mit einemmal, daß auch sie "Aweysha" machen konnte, wenn sie wollte – es vielleicht immer schon gekonnt hatte – – sie und ihr Stamm, seit Jahrhunderten.