Gustav Meyrink
Das grüne Gesicht
Gustav Meyrink

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Viertes Kapitel

Baron Pfeill hatte in der Absicht, den Spätnachmittagszug nach Hilversum noch zu erreichen, wo sein Landhaus "Buitenzong" lag, die Richtung nach Central Spoorweg-Station eingeschlagen und war bereits durch ein Gewimmel von Zelten und Buden hindurch dem beginnenden abendlichen Kirmesgetriebe entronnen und in der Nähe der Hafenbrücke angelangt, da verriet ihm der wie auf ein Zeichen des Orchesterdirigenten hereinbrechende, ohrenbetäubende Lärm der hundert Glockenspiele auf den Kirchentürmen, daß es sechs Uhr war und er die Bahn nicht mehr erreichen konnte.

Rasch entschlossen ging er wieder in die Altstadt zurück.

Es war ihm fast eine Erleichterung, daß er den Zug versäumt hatte und ihm noch ein paar Stunden Zeit blieben, um eine Angelegenheit in Ordnung zu bringen, die ihm unablässig im Kopf herumging, seit er Hauberrisser verlassen hatte.

Vor einem wundervollen, altertümlichen Barockbau aus rötlichen, weißumrahmten Ziegeln in der düsteren Ulmenallee der Heerengracht blieb er stehen, sah einen Augenblick hinauf zu dem ungeheuren Schiebefenster, das fast die ganze Höhe und Breite des ersten Stockes einnahm, und zog dann an dem schweren, bronzenen Türdrücker inmitten des Portals, der zugleich die Hausglocke bildete.

Es verging eine Ewigkeit, bis ein alter livrierter Diener mit weißen Strümpfen und maulbeerfarbenen seidenen Kniehosen öffnen kam.

"Ist Herr Doktor Sephardi zu Hause? – Sie kennen mich doch noch, Jan, wie?" Baron Pfeill suchte nach einer Visitenkarte. "Bringen Sie, bitte, diese Karte hinauf und fragen Sie, ob –"

"Der gnädige Herr erwartet Sie bereits, Mynheer. Wenn ich bitten darf?" – Der Alte ging die schmale, mit indischen Teppichen belegte und an den Wandseiten mit chinesischen Stickereien verkleidete Treppe voraus, die so steil war, daß er sich an dem gewundenen Messinggeländer halten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Ein stumpfer, betäubender Geruch nach Sandelholz erfüllte das ganze Haus.

"Erwartet mich? Wieso?" fragte Baron Pfeill erstaunt, da er seit Jahren Doktor Sephardi nicht mehr gesehen hatte und ihm vor knapp einer halben Stunde erst der Einfall gekommen war, Sephardi aufzusuchen, um eine Erinnerung an das Bild des "Ewigen Juden" mit dem olivgrünen Gesicht in gewissen Einzelheiten festzustellen, die in seinem Gedächtnis einander seltsam widersprachen und merkwürdigerweise nicht übereinstimmen wollten mit dem, was er Hauberrisser im Café erzählt hatte.

"Der gnädige Herr hat Ihnen heute vormittag nach Den Haag telegrafiert und Sie um Ihren Besuch gebeten, Mynheer."

"Nach Den Haag? Ich wohne doch schon lange wieder in Hilversum. Es ist lediglich ein Zufall, daß ich heute hergekommen bin."

"Ich werde den gnädigen Herrn sofort verständigen, daß Sie hier sind, Mynheer."

Baron Pfeill setzte sich und wartete.

Bis ins kleinste stand alles genau auf demselben Platze wie damals, als er zum letztenmal hier gewesen: auf den Spitzen der schweren geschnitzten Stühle schillernde Samarkandseidenüberwürfe, die beiden überdachten südniederländischen Sessel neben dem prachtvollen, säulengeschmückten Kamin mit den goldeingelegten moosgrünen Nephritkacheln, in buntleuchtenden Farben Isfahanteppiche auf den schwarzweißen Steinquadern des Fußbodens, die blaßrosa Porzellanstatuen japanischer Prinzessinnen in den Nischen der Täfelung, ein Wangentisch mit schwarzer Marmorplatte, an den Wänden Rembrandtsche und andere Meister-Porträts von den Vorfahren Ismael Sephardis: eingewanderte, vornehme portugiesische Juden, die das Haus im siebzehnten Jahrhundert von dem berühmten Hendrik de Keyser bauen ließen, darin gelebt hatten und gestorben waren.

Pfeill verglich die Ähnlichkeit dieser Menschen einer vergangenen Epoche im Geiste mit den Zügen Doktor Ismael Sephardis.

Es waren dieselben schmalen Schädel, dieselben großen, dunklen, mandelförmigen Augen, die gleichen dünnen Lippen und leicht gebogenen scharfen Nasen, derselbe weltfremde, fast hochmütig verächtlich blickende Typus der Spaniolen mit den unnatürlich schmalen Füßen und weißen Händen, der mit den gewöhnlichen Juden der Rasse Gomers, den sogenannten Aschkenasi, kaum mehr gemein hat als die Religion.

Nirgends auch nur eine Spur der Anpassung an eine anders gewordene Zeit in diesem, sich durch die Jahrhunderte ewig gleich bleibenden Gesichtsschnitte.

Eine Minute später wurde Baron Pfeill von dem eintretenden Doktor Sephardi begrüßt und einer jungen, blonden, auffallend schönen Dame von etwa sechsundzwanzig Jahren vorgestellt.

"Haben Sie mir wirklich telegraphiert, lieber Doktor?" fragte Pfeill, "Jan sagte mir –"

"Baron Pfeill hat so feinfühlige Nerven", erklärte Sephardi lächelnd der jungen Dame, "daß es genügt, einen Wunsch zu denken, und schon erfüllt er ihn. Es ist gekommen, ohne meine Depesche erhalten zu haben. – Fräulein van Druysen ist nämlich die Tochter eines verstorbenen Freundes meines Vaters", wandte er sich an Pfeill, "und von Antwerpen hergereist, um mich in einer Angelegenheit um Rat zu fragen, in der aber nur Sie Bescheid wissen. Es betrifft ein Bild, – oder besser gesagt, könnte damit zusammenhängen, – von dem Sie mir einmal erzählten, Sie hätten es in Leyden in der Oudhedenschen Sammlung gesehen, und es stelle den Ahasver dar."

Pfeill sah erstaunt auf. "Haben Sie mir deshalb telegrafiert?"

"Ja. Wir waren gestern in Leyden, um das Bild zu besichtigen, erfuhren jedoch, daß niemals ein ähnliches Gemälde in der Sammlung existiert habe. Direktor Holwerda, den ich gut kenne, versicherte mir, es hingen überhaupt keine Bilder dort, da das Museum nur ägyptische Altertümer und – – –"

"Erlauben Sie, daß ich dem Herrn erzähle, warum mich die Sache so interessiert?" mischte sich die junge Dame lebhaft in das Gespräch. "Ich möchte Sie nicht mit einer breiten Schilderung meiner Familienverhältnisse langweilen, Baron, ich will daher nur kurz sagen: in das Leben meines verstorbenen Vaters, den ich unendlich geliebt habe, spielt ein Mensch, oder – es klingt vielleicht sonderbar – eine 'Erscheinung' hinein, die oft monatelang sein ganzes Denken erfüllte.

Ich war damals noch zu jung – vielleicht auch zu lebenslustig –, um das Innenleben meines Vaters zu begreifen (meine Mutter war schon lange tot), aber jetzt ist plötzlich alles von damals wieder in mir wach geworden, und eine beständige Unruhe quält mich, Dingen nachzugehen, die ich längst hätte verstehen lernen sollen.

Sie werden denken, ich sei überspannt, wenn ich Ihnen sage, ich möchte lieber heute als morgen aufhören zu leben. – Der blasierteste Genußmensch kann, glaube ich, dem Selbstmord nicht näher sein als ich"; – sie war mit einemmal ganz verwirrt geworden und faßte sich erst, als sie sah, daß Pfeill ihr mit tiefem Ernst zuhörte und die Stimmung, in er sie sich befand, sehr rasch zu verstehen schien. – "Ja, und das mit dem Bild, oder der 'Erscheinung': Welche Bewandtnis es damit hatte? Ich weiß so gut wie nichts darüber. Ich weiß nur, mein Vater sagte oft, wenn ich – damals noch ein Kind – ihn über Religion oder über den lieben Gott fragte, daß eine Zeit nahe bevorstünde, wo der Menschheit die letzten Stützen fortgerissen würden und ein geistiger Sturmwind alles wegfegen würde, was jemals Hände aufgebaut hatten.

Nur jene seien gefeit gegen den Untergang, die – das waren genau seine Worte – die das erzgrüne Antlitz des Vorläufers, des Urmenschen, der den Tod nicht schmecken wird, in sich schauen können.

Als ich dann jedesmal neugierig in ihn drang und wissen wollte, wie dieser Vorläufer aussehe, ob er ein lebender Mensch sei oder ein Gespenst oder der liebe Gott selbst, und woran ich ihn erkennen könne, wenn ich ihm auf dem Wege zur Schule gelegentlich begegnen sollte, sagte er immer: Sei ruhig mein Kind, und grüble nicht. Es ist kein Gespenst, und wenn er auch einmal zu dir kommen wird wie ein Gespenst, so fürchte dich nicht, er ist der einzige Mensch auf Erden, der kein Gespenst ist. Auf der Stirne trägt er eine schwarze Binde, darunter ist das Zeichen des ewigen Lebens verborgen, denn wer das Zeichen des Lebens offen trägt und nicht tief innen verborgen, der ist gebrandmarkt wie Kain. Und schritte er auch im Glanz einher wie ein wandelndes Licht: er wäre ein Gespenst und ein Raub der Gespenster. Ob er Gott ist, das kann ich dir nicht sagen; du würdest's nicht begreifen. Begegnen kannst du ihm überall, am wahrscheinlichsten dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Nur reif mußt du dazu sein. Auch Sankt Hubertus hat den fahlen Hirsch mitten im Gerümpel der Jagd erblickt, und als er ihn mit der Armbrust töten wollte. –"

"Als dann viele Jahre später" – fuhr Fräulein van Druysen nach einer Pause fort – "der grauenhafte Krieg kam und das Christentum sich so unsagbar blamierte –"

"Verzeihen Sie: die Christenheit! Das ist das Gegenteil", unterbrach Baron Pfeill lächelnd.

"Ja, natürlich. Das meine ich: die Christenheit; – da dachte ich, mein Vater hätte prophetisch die Zukunft geschaut und auf das große Blutbad angespielt –"

"Sicher hat er den Krieg nicht gemeint", fiel Sephardi ruhig ein, "äußere Geschehnisse wie ein Krieg, und mögen sie noch so entsetzlich sein, verhallen wie harmloser Donner an den Ohren all derer, die den Blitz nicht gesehen haben und vor deren Füßen es nicht eingeschlagen hat; sie fühlen bloß das 'Gott sei Dank, mich hat's nicht getroffen'.

Der Krieg hat die Menschen in zwei Teile gerissen, die einander nie mehr verstehen können, – die einen haben in die Hölle geblickt und tragen das Schreckbild stumm in der Brust ihr Leben lang, bei den andern ist es kaum mehr als Druckerschwärze. Zu diesen gehöre ich auch.

Ich habe mich genau geprüft und mit Entsetzen an mir erkannt und sage es ohne Scheu offen heraus: das Leid der Abermillionen ist spurlos an mir abgeglitten. Warum lügen?! Wenn andere von sich das Gegenteil sagen und sie sprechen die Wahrheit, will ich gern und demütig vor ihnen den Hut ziehen; aber ich kann ihnen nicht glauben; es ist mir unmöglich zu denken, daß ich so viel tausendmal verworfener bin als sie. – Aber entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, ich habe Sie unterbrochen."

"Er ist ein Mensch mit einer aufrechten Seele, der sich der Blöße seines Herzens nicht schämt", dachte Baron Pfeill und warf einen Blick voll Freude in das dunkelhäutige stolze Gelehrtengesicht Sephardis.

"Da glaubte ich, mein Vater hätte auf den Krieg angespielt", nahm die junge Dame ihre Erzählung wieder auf, "aber allmählich fühlte ich, was heute jeder spürt, der nicht von Stein ist, – daß eine würgende Schwüle aus dem Erdboden steigt, die mit dem Tod nicht verwandt ist, und diese Schwüle, dieses Nicht-leben-und-nicht-sterben-Können, wird mein Vater, denke ich, mit den Worten gemeint haben: Die letzten Stützen werden der Menschheit fortgerissen.

Als ich nun Doktor Sephardi von dem erzgrünen Gesicht des Urmenschen, wie ihn mein Vater nannte, erzählte und ihn, da er doch in solchen Gebieten ein großer Forscher ist, bat, mir zu sagen, was ich von all dem halten solle und ob nicht vielleicht mehr dahinterstecken könne als eine Wahnvorstellung meines Vaters, erinnerte er sich, von Ihnen, Baron, gehört zu haben, Sie kennten ein Porträt – – –"

"Das leider nicht existiert", ergänzte Pfeill. "Ich habe Doktor Sephardi von diesem Bild erzählt, alles das stimmt; auch daß ich – allerdings seit ungefähr einer Stunde nicht mehr – fest überzeugt war, das Bild vor Jahren, – wie ich annahm, in Leyden, – gesehen zu haben, stimmt.

Jetzt stimmt für mich nur noch das eine: ich habe es sicher niemals im Leben gesehen. Weder in Leyden noch irgendwo anders.

Heute nachmittag sprach ich noch mit einem Freund über das Bild, sah es in der Erinnerung in einem Rahmen an einer Wand hängen; dann, als ich zum Bahnhof ging, um nach Hause zu fahren, erkannte ich plötzlich, daß dieser Rahmen nur scheinbar, so wie hinzuphantasiert, das Bildnis des olivgrünen Gesichtes in meinem Gedächtnis umgab, und ich ging sofort in die Heerengracht zu Doktor Sephardi, um mich zu überzeugen, ob ich ihn damals vor Jahren wirklich von dem Porträt erzählte, oder auch das am Ende nur geträumt hatte.

Wie das Bild in meinem Kopf gekommen sein mag, ist mir ein unlösbares Rätsel. Es hat mich früher oft bis in den Schlaf verfolgt; ob ich auch geträumt habe, es hinge in Leyden in einer Privatsammlung, und die Erinnerung an diesen Traum dann für ein Begebnis der Wirklichkeit gehalten habe?

Noch verwickelter wird die Sache für mich dadurch, daß, während Sie, gnädiges Fräulein, vorhin von Ihrem Vater erzählten, mir das Gesicht wieder mit geradezu betäubender Deutlichkeit erschien, – nur anders, lebendig, beweglich, mit bebenden Lippen, als wolle es sprechen, nicht mehr tot und starr wie ein Gemälde – –."

Er brach plötzlich seine Rede ab und schien nach innen zu lauschen, so als ob das Bild ihm etwas zuflüstere.

Auch Sephardi und die junge Dame schwiegen betroffen.

Von der Heerengracht herauf ertönte klangvoll das Spiel einer der großen Orgeln, wie sie in Amsterdam auf pony-bespannten Wagen abends zuweilen langsam durch die Straßen fahren.

"Ich kann nur annehmen", begann Sephardi nach einer Weile, "daß es sich in diesem Falle bei Ihnen um einen sogenannten hypnoiden Zustand handelt, – daß Sie einmal im Tiefschlaf, also ohne bewußte Wahrnehmung, irgend etwas erlebt haben, das sich dann später unter der Maske eines Porträts in die Begebenheiten des Tages einschlich und mit diesen zu scheinbarer Wirklichkeit verwuchs. – Sie müssen nicht fürchten, daß so etwas krankhaft oder abnormal wäre", fügte er hinzu, als er sah, daß Pfeill eine abwehrende Handbewegung machte, "solche Dinge kommen weit häufiger vor, als man glaubt, und wenn man ihren wahren Ursprung aufdecken könnte: – ich bin überzeugt, wie Schuppen würde es uns von den Augen fallen, und wir wären mit einem Schlage eines zweiten fortzulaufenden Lebens teilhaftig, das wir in unserem jetzigen Zustand im Tiefschlaf führen, ohne es zu wissen, weil es jenseits unseres körperlichen Daseins liegt und während unseres Zurückwanderns über die Brücke des Traumes, die Tag und Nacht verbindet, vergessen wird. – Was die Ekstatiker der christlichen Mystik von der 'Wiedergeburt' schreiben, ohne die es unmöglich sei, 'das Reich Gottes zu schauen', scheint mir nichts anderes zu sein als ein Aufwachen des bis dahin wie tot gewesenen Ichs in einem Reich, das unabhängig von den äußeren Sinnen existiert, – im 'Paradies', kurz und gut." – Er holte ein Buch aus einem Spind und deutete auf ein Bild darin. "Der Sinn des Märchens vom Dornröschen hat sicherlich darauf Bezug, und ich wüßte nicht, was diese alte, alchemistische illustrierte Darstellung der 'Wiedergeburt' hier: ein nackter Mensch, der aus einem Sarge aufsteht, und daneben ein Totenschädel mit einer brennenden Kerze auf dem Scheitel, anders bedeuten sollte? – Übrigens, da wir gerade von christlichen Ekstatikern sprechen: Fräulein van Druysen und ich gehen heute abend zu einer solchen Versammlung, die am Zee Dyk stattfindet. Kurioserweise spukt auch dort das olivgrüne Gesicht."

"Am Zee Dyk?" jubelte Pfeill, "das ist doch das Verbrecherviertel! Was hat man Ihnen denn da wieder aufgebunden?"

"Es ist nicht mehr so schlimm wie früher, höre ich, nur eine einzige, allerdings sehr üble Matrosenschenke 'Zum Prins van Oranje' ist noch vorhanden; sonst leben nur harmlose, arme Handwerker in der Gegend."

"Auch ein greiser Sonderling mit seiner Schwester, ein verrückter Schmetterlingssammler namens Swammerdam, der sich in freien Stunden einbildet, der König Salomo zu sein. wir sind bei ihm zu Gast geladen", fiel die junge Dame fröhlich ein; "meine Tante, ein Fräulein de Bourignon, verkehrt täglich dort. – Nun – was sagen Sie jetzt, was für vornehme Beziehungen ich habe? – Um Irrtümern vorzubeugen: sie ist nämlich eine ehrwürdige Stiftsdame aus dem Béginenkloster und von überschäumender Frömmigkeit."

"Was?! Der alte Jan Swammerdam lebt noch?" rief Baron Pfeill lachend, "der muß doch schon neunzig Jahre alt sein! Hat er immer noch seine zweifingerdicken Gummisohlen?"

"Sie kennen ihn? Was ist das eigentlich für ein Mensch?" fragte Fräulein van Druysen lustig erstaunt. "Ist er wirklich ein Prophet, wie meine Tante behauptet? Bitte erzählen Sie mir auch von ihm."

"Mit Vergnügen, wenn's Ihnen Spaß macht, mein Fräulein. Nur muß ich mich ein wenig eilen und quasi jetzt schon Abschied von Ihnen nehmen, sonst versäume ich abermals meinen Zug. Jedenfalls adieu im voraus. Aber Sie dürfen nichts Unheimliches oder dergleichen erwarten – die Sache ist lediglich komisch."

"Um so besser."

"Also: Ich kenne Swammerdam seit meinem vierzehnten Jahr, – später verlor ich ihn natürlich aus den Augen.

Ich war damals ein fürchterlicher Lausbub und betrieb alles, das Lernen selbstverständlich ausgenommen, wie ein Besessener. Unter anderem den Terrariensport und das Insektensammeln.

Wenn's wo einen Ochsenfrosch oder eine asiatische Kröte von Handkoffergröße in einem Naturaliengeschäft gab, schon daß ich sie besaß und in großen heizbaren Glaskästen bändigte.

Nachts war ein Gequake, daß in den Nachbarhäusern die Fenster klirrten.

Und was das Viehzeug an Ungeziefer zum Fressen brauchte! Säckeweis mußte ich es herbeischaffen.

Daß es heute in Holland nur noch so wenig Fliegen gibt, ist ausschließlich meiner damaligen Gründlichkeit beim Futtersammeln zu verdanken.

Zum Beispiel die Schaben – die habe ich ausgerottet.

Die Frösche selbst bekam ich nie zu Gesicht; bei Tage waren sie unter den Steinen verkrochen, und nachts bestanden meine Eltern hartnäckigerweise darauf, daß ich schliefe.

Schließlich riet mir meine Mutter, ich solle die Biester freilassen und bloß die Steine behalten – es käme auf dasselbe heraus und sei einfacher – aber ich wies solche verständnislosen Vorschläge natürlich entrüstet zurück.

Meine Emsigkeit im Insektenfangen wurde allmählich Stadtgespräch und zog mir eines Tages das Wohlwollen des entomologischen Vereins zu, der damals aus einem s-beinigen Barbier, einem Pelzhändler, drei pensionierten Lokomotivführern und einem Präparator am naturwissenschaftlichen Museum bestand, der jedoch an den Sammelausflügen nicht mitmachen durfte, da seine Frau es nicht erlaubte. Es waren lauter gebrechliche alte Herren, die teils Käfer, teils Schmetterlinge sammelten und eine seidene Fahne verehrten, auf der die Worte eingestickt waren: Osiris, Verein für biologische Forschung.

Trotz meiner Jugend wurde ich als Mitglied aufgenommen. Noch heute besitze ich das Diplom, das mit den Worten schließt: 'Wir entbieten Ihnen unsern besten biologischen Gruß.'

Warum man auf meinen Eintritt in den Klub so versessen war, wurde mir bald klar. Sämtliche biologischen Greise waren nämlich entweder halb blind und infolgedessen außerstande, die in Baumritzen versteckten Nachtfalter zu erspähen, oder es machte sich ihnen das Vorhandensein von Krampfadern bei dem zur Käferjagd nicht zu missenden Dünensandwaten störend bemerkbar. Andere wieder wurden regelmäßig – wahrscheinlich infolge der Aufregung – beim Schwingen des Netzes nach dem hurtigen Pfauenauge im entscheidenden Augenblick von einem rasselnden Hustenausbruch befallen, der sie der erhofften Beute jedesmal verlustig gehen ließ.

Von all diesen Bresthaftigkeiten besaß ich keine einzige, und eine Raupe mehrere Kilometer weit auf einem Blatt zu entdecken, war mir eine Kleinigkeit; kein Wunder daher, daß die findigen Greise auf den Gedanken gekommen waren, sich meiner und noch eines Schulkameraden von mir als Spür- und Jagdhund zu bedienen.

Nur einer von ihnen, ebenjener Jan Swammerdam, der damals bestimmt schon fünfundsechzig Jahre zählte, übertraf mich weit, was das Auffinden von Insekten anbelangte. Er brauchte nur einen Stein umzudrehen, und schon lag eine Käferlarve oder sonst etwas Ersehnenswertes darunter.

Er stand im Geruch, die Gabe des Hellsehens auf diesem Gebiet als Folge eines mustergiltigen Lebenswandels in sich erweckt zu haben. – Sie wissen ja, Holland hält viel von Tugend!

Ich habe ihn nie anders gesehen als in einem schwarzen Gehrock, den kreisförmigen Abdruck eines unter die Weste geschobenen Schmetterlingsnetzes zwischen den Schulterblättern und unter den Schößen, ein kurzes Stück herausragend, den grünen Stiel davon.

Weshalb er nie einen Hemdkragen trug, sondern statt dessen um den Hals die zusammengefaltete Borte einer alten Leinwandkarte, erfuhr ich, als ich ihn einmal in seiner Dachkammer besuchte. Ich kann nicht hinein, erklärte er mir und deutete auf einen Schrank, der seine Wäsche enthielt. Hipocampa Milhauseri – das ist nämlich eine seltene Raupe – hat sich dicht neben dem Scharnier verpuppt und braucht drei Jahre, bis sie auskriecht.

Bei unsern Exkursionen benutzten wir alle die Eisenbahn; nur Swammerdam ging hin und her zu Fuß, denn er war zu arm, um die Kosten zu erschwingen, und damit er sich die Schuhsohlen nicht durchlief, bestrich er sie mit einer geheimnisvollen Kautschuklösung, die im Laufe der Zeit zu einer mehrere Finger dicken Lavaschicht erhärtete. Ich sehe sie heute noch vor mir.

Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch den Verkauf seltener Schmetterlingsbastarde, die zu züchten ihm bisweilen gelang, doch reichte der Erlös nicht, um zu verhindern, daß seine Gattin, die stets nur ein liebevolles Lächeln für seine Marotten hatte und geduldig die Armut mit ihm trug, eines Tages an Entkräftung starb. –

Seit jener Nacht vernachlässigte Swammerdam die finanzielle Seite des Daseins ganz und gar und lebte nur noch seinem Ideal, nämlich: einen gewissen grünen Mistkäfer zu finden, von dem die Wissenschaft behauptet, er kaprizierte sich darauf, genau siebenunddreißig Zentimeter unter der Erde vorzukommen, und auch da nur an Orten, deren Oberfläche mit Schafdünger bedeckt sei.

Mein Schulkamerad und ich bezweifelten dieses Gerücht aufs lebhafteste, waren aber in der Verworfenheit unserer jugendlichen Herzen ruchlos genug, von Zeit zu Zeit Schafmist, den wir zu diesem Behuf immer in der Tasche zu tragen pflegten, an besonders harten Stellen der Dorfstraßen, heimlich auszustreuen und uns indianerhaft zu freuen, wenn Swammerdam bei seinem Anblick wie ein irrsinnig gewordener Maulwurf sofort zu graben anfing.

Eines Morgens jedoch begab sich buchstäblich ein Wunder, das uns aufs tiefste erschütterte.

Wir machten einmal wieder einen Ausflug; voran trabten die Greise und meckerten das Vereinslied:

'Eu–prep–ia pudica
(das ist nämlich der lateinische Name
eines sehr schönen Bärenspinners)
sind leider keine da,
doch wären welche hier,
steckt' ich sie gleich zu mir'

und den Zug schloß, baumlang, hager, schwarz gekleidet wie immer, und den Handspaten gezückt: Jan Swammerdam. Auf seinem lieben, alten Gesicht lag der Ausdruck geradezu biblischer Verklärung, und als man ihn nach der Ursache fragte, sagte er nur geheimnistief, er hätte in der Nacht einen verheißungsvollen Traum gehabt.

Gleich darauf ließen wir unauffällig eine Prise Schafmist fallen.

Swammerdam erspähte sie, blieb stehen, entblößte sein Haupt, tat einen tiefen Atemzug und blickte, von Hoffnung und Glauben durchschauert, lange zur Sonne auf, bis seine Pupillen ganz klein wie Nadelköpfe waren; dann beugte er sich nieder und fing an zu scharren, daß die Steine nur so flogen.

Mein Schulkamerad und ich standen dabei, und in unsern Herzen frohlockte der Satan.

Plötzlich wurde Swammerdam totenblaß, ließ den Spaten fallen und starrte, die Hände verkrampft und an den Mund gedrückt, in das Loch, das er gewühlt hatte.

Gleich darauf holte er mit zitternden Fingern einen grünschillernden Mistkäfer aus der Tiefe hervor.

Er war so ergriffen, daß er lange kein Wort sprechen konnte, nur zwei dicke Tränen liefen an seinen Wangen herunter; endlich sagte er leise zu uns: heute nacht im Traum ist mir der Geist meiner Frau erschienen mit leuchtendem Angesicht wie eine Heilige, und sie hat mich getröstet und mir verheißen, daß ich den Käfer finden werde. –

Wir zwei Lausbuben schlichen uns stumm weg wie Verbrecher und konnten einander an diesem Tag vor Scham nicht mehr ins Gesicht sehen.

Mein Schulkamerad sagte mir später, er habe sich noch lange vor seiner eigenen Hand entsetzt, die in demselben Momente, als er mit dem alten Mann einen grausamen Scherz habe machen wollen, vielleicht das Werkzeug einer Heiligen gewesen sei."


Als es dunkel geworden war, begleitete Doktor Sephardi Fräulein van Druysen zum Zee Dyk, einer krummen, stockfinsteren Gasse, die sich im unheimlichen Viertel Amsterdams am Zuammenfluß zweier Grachten in unmittelbarer Nähe der düstern Nicolas Kerk hinzog.

Über den Häusergiebeln der benachbarten Warmoesstraat, in der die sommerliche Kirmes bereits in vollem Gange war, stieg der rötliche Schein der beleuchteten Schaubuden und Zelte zum Himmel empor und verdichtete die Luft, vermischt mit dem weißen Dunst der Stadt und dem grellen Glitzern des Vollmonds auf den Dächern, zu einem phantastisch schillernden Nebelhauch, in dem die Schlageschatten der Kirchtürme als lange spitzige Dreiecke aus schwarzem Schleier schwebten.

Wie das Pochen eines großen Herzens tönte das Schlapfen der Motore herüber, die die zahlreichen Karussells drehten.

Das stemlose Geklingel der Leierkasten, das Wirbeln der Trommeln und die schrillen Stimmen der Ausrufer, unterbrochen von dem Peitschenknallen aus den Schießbuden, vibrierten durch die dunklen Straßen und ließen ein von Fackelglanz beschienenes Bild ahnen, in dem eine wogende Volksmenge Bretterstände voll Pfefferkuchen, farbigem Zuckerwerk und zottig bebarteten Menschenfressergesichtern aus geschnitzten Kokosnüssen umdrängte; im Kreise umhersausende, buntbemalte Ringelspielpferde, auf- und niederjagende Schaukeln, nickende Mohrenköpfe mit weißen Gipspfeifen als Zielscheiben, ungehobelte Tische mit reihenweise eingesteckten Taschenmessern, um mit Ringen darnach zu werfen, fettglänzende Seehunde in hölzernen Basins voll schmutzigen Wassers, Zelte mit wehenden Wimpeln und wackelnden Spiegelfacetten, kreischende Kakadus in silbernen Reifen, Fratzen schneidende Affen und im Hintergrund, Schulter an Schulter: Reihen schmaler Häuser wie eine Schar stumm zuschauender schwärzlicher Riesen mit weißen, viereckig vergitterten Augen. – –

Die Wohnung Jan Swammerdams lag im vierten Stock abseits von dem Getriebe des lärmenden Volksfestes in einem schief nach vorne gesunkenen Gebäude, in dessen Keller sich die berüchtigte Matrosenschenke "Prins van Oranje" befand.

Ein mürber Staubgeruch nach Kräutern und getrockneten Pflanzen, dem kleinen Drogenmagazin neben dem Eingang entströmend, erfüllte das Innere des Hauses bis hinauf zum Dach, und ein Ladenschild mit der Lockschrift: "Hier verkoopt men starke drenken" verriet, daß außerdem noch ein gewisser Lazarus Eidotter tagsüber eine Schnapsbudike in den Gefilden des Zee Dyk betrieb.

Doktor Sephardi und Fräulein van Druysen kletterten die hühnersteigenartige Treppe hinauf und wurden sogleich von einer alten Dame mit schneeweißen Locken und kreisrunden Kinderaugen, der Tante Fräulein van Druysens, voll Herzlichkeit mit den Worten empfangen: "Willkommen, Eva, und willkommen auch du, König Balthasar, im neuen Jerusalem!" –

Eine Versammlung von sechs Leuten, die alle andächtig um einen Tisch herum gesessen hatten, erhob sich verlegen, als die beiden eintraten, und wurde von Fräulein de Bourignon vorgestellt:

"Hier Jan Swammerdam und seine Schwester", – ein altes verhutzeltes Weiblein mit holländischer Haube und "Krulltjes" an den Ohren knixte unaufhörlich, – "dann Herr Lazarus Eidotter, der zwar nicht zu unserm geistigen Kreis gehört, aber er ist 'Simon der Kreuzträger'", – ("und im selben Hoose wohn'n jach ooch, mit Verloob", ergänzte stolz der Angeredete, ein greisenhafter, russischer Jude im Talar), – "ferner Fräulein Mary Faatz von der Heilsarmee – sie hat den Gottesnamen Magdalena – und unser lieber Bruder Hesekiel" – sie wies auf einen jungen Menschen mit blatternarbigem, verschwommenem Gesicht, das aussah, als wäre es aus Brotteig geknetet, und wimpernlosen, entzündeten Augen, "er ist Angestellter unten in dem Drogengeschäft und trägt den Geistesnamen Hesekiel, weil er, wenn die Zeit erfüllt ist, die Geschlechter richten wird."

Doktor Sephardi warf einen ratlosen Blick auf Fräulein van Druysen.

Ihre Tante, die es bemerkte, erklärte: "Wir tragen alle Geistesnamen; zum Beispiel Jan Swammerdam ist der König Salomo, seine Schwester heißt Sulamith, und ich bin Gabriele, das ist die weibliche Form des Erzengels Gabriel, aber gewöhnlich nennt man mich die Hüterin der Schwelle, denn mir liegt es ob, die zerstreuten Seelen im Weltall zu sammeln und ins Paradies zurückzuführen. Doch das werden Sie später alles besser verstehen, Herr Doktor, denn Sie gehören zwar zu uns, aber ohne es zu wissen; Ihr Geistesname ist König Balthasar! Haben Sie noch nie Kreuzigungsschmerzen gehabt?"

Sephardi wurde immer verwirrter.

"Schwester Gabriele geht, fürchte ich, ein wenig zu stürmisch vor", nahm Jan Swammerdam lächelnd das Wort. "Vor vielen Jahren ist nämlich hier im Hause ein wahrer Prophet des Herrn erstanden, ein schlichter Schuhmacher namens Anselm Klinkherbogk. Sie werden ihn heute noch kennenlernen. Er wohnt über uns.

Wir sind keineswegs Spiritisten, wie Sie vielleicht annehmen, Mynheer; fast, möchte ich sagen, das Gegenteil, denn wir haben nichts zu tun mit dem Reiche der Toten. Unser Ziel ist das ewige Leben. – Jedem Namen liegt nun eine geheime Kraft inne, und wenn wir diesen Namen mit geschlossenen Lippen in unser Herz hineinsprechen, unablässig, bis er für Tag und Nacht beständig unser Wesen erfüllt, so ziehen wir die geistige Kraft in unser Blut hinein, das, in den Adern kreisend, mit der Zeit unseren Körper verändert.

Diese allmähliche Wandlung unseres Leibes, – denn nur er allein muß verändert werden, der Geist an sich ist bereits vollkommen seit Anbeginn, – gibt sich in allerlei Gefühlen kund, die die Vorboten des Zustandes sind, der 'geistige Wiedergeburt' heißt.

Ein solches Gefühl ist zum Beispiel die Empfindung eines gewissen bohrenden, nagenden Schmerzes, der zeitweilig kommt und geht, ohne daß wir erkennen können warum, anfangs nur im Fleische wühlt, dann aber die Knochen ergreift und uns ganz durchdringt, bis, als Zeichen der 'ersten Taufe', das ist die 'Taufe mit Wasser', die Kreuzigung des untern Grades erreicht ist, das heißt: Wundmale an den Händen auf unbegreifliche Weise sich öffnen und Wasser daraus hervortritt", – er und die übrigen, mit Ausnahme Lazarus Eidotters, hoben die Hände in die Höhe, und man sah tiefe, runde Narben darin wie von Nägelwunden.

"Aber das ist ja Hysterie!" rief Fräulein van Druysen entsetzt.

"Nennen Sie es ruhig Hysterie, Mejufrouw; die 'Hysterie', unter der wir stehen, ist nichts Krankhaftes. Zwischen Hysterie und Hysterie ist ein großer Unterschied. Nur diejenige Hysterie, die Hand in Hand geht mit Ekstase und Geistesverwirrung, ist einer Krankheit gleichzustellen und führt abwärts, die andere Art jedoch ist die Geistesentwirrung – das 'Kommen zur Klarheit', und ist der Weg nach aufwärts, der über das Erfassen der Erkenntnisse durch das Denken hinaus den Menschen zum Wissen durch direktes 'Schauen' führt.

In der Schrift heißt dieses Ziel das 'innere Wort', und, wie der Mensch der heutigen Zeit denkt, indem er, ohne sich dessen bewußt zu sein, Worte im Gehirn lispelt, so spricht im geistig wiedergeborenen Menschen eine andere geheimnisvolle Sprache mit neuen Worten, in denen es kein 'Mutmaßen' und keinen Irrtum mehr gibt. Dann ist das Denken ein neues Denken geworden – ist Magie und nicht mehr ein armseliges Verständigungsmittel, – ist ein Offenbarwerden der Wahrheit, in deren Licht der Irrtum verschwindet, weil die Zauberringe der Gedanken sodann ineinandergreifen und nicht mehr nebeneinander liegen."

"Und sind Sie soweit, Herr Swammerdam?"

"Wenn ich soweit wäre, säße ich nicht hier, Mejufrouw."

"Sie sagten, der gewöhnliche Mensch denke, indem er im Gehirn Worte bilde; wie ist es nun ", fragte Sephardi interessiert, "bei jemand, der taubstumm geboren ist und keine Sprache kennt?"

"Dann denkt er teils in Bildern, teils in der Ursprache."

"Lassen Se mir aach ämol reden, Swammerdamleben!" rief Lazarus Eidotter streitlustig dazwischen: "Gut, Sie haben Kabbala, ich hab' aber auch Kabbala. 'Im Anfang war das Wort' ist falsch übersetzt. 'Bereschith' heißt auf deitsch das 'Koppwesen', Ihnen gesagt, und nicht: 'im Anfang'. Auf was herauf: 'im Anfang'??"

"Das Kopfwesen!" murmelte Swammerdam und versank eine Weile in tiefes Grübeln; "ich weiß. Aber der Sinn bleibt derselbe."

Die andern hatten schweigend zugehört und sahen einander bedeutungsvoll an.

Eva van Druysen fühlte instinktiv, daß sie bei dem Wort "Kopfwesen" an das "olivgrüne Gesicht" gedacht hatten, und blickte fragend zu Doktor Sephardi hinüber, der ihr unmerklich zunickte.

"Auf welche Weise ist Ihrem Freunde Klinkherbogk die Gabe der Prophetie zuteil geworden, und wie äußert sie sich?" brach er endlich das Stillschweigen, da niemand Miene machte zu reden.

Jan Swammerdam fuhr wie aus dem Traum auf: "Klinkherbogk? Ja"; – er sammelte sich: – "Klinkherbogk hat sein Leben lang Gott gesucht, bis er sein ganzes Denken verzehrte und er vor beständiger Sehnsucht viele Jahre nicht mehr schlafen konnte. Eines Nachts saß er wie gewöhnlich vor seiner Schusterorgel, – Sie wissen, derartige Kugeln aus Glas verwenden die Schuhmacher und stellen sie vor brennende Kerzen, um bei der Arbeit besser sehen zu können, – da wuchs aus dem Lichtfunken in ihrem Innern eine Gestalt, trat zu ihm, und es wiederholte sich, was in der Apokalypse steht: der Engel gab ihm ein Buch zu verschlingen und sagte: 'Nimm hin und verschling's und es wird dich im Bauch grimmen, aber in deinem Munde wird's süß sein wie Honig.' Das Gesicht der Erscheinung war verhüllt, nur ihre Stirne war frei, und ein grünleuchtendes Kreuz glühte darauf."

Eva van Druysen fielen die Worte ihres Vaters über die Gespenster ein, die das Zeichen des Lebens offen trügen, und einen Augenblick faßte es sie an wie kalte Furcht.

"Seit jener Zeit hatte Klinkherbogk das 'innere Wort'", kam Swammerdam wieder auf seine Rede zurück, – "und es sagte ihm und durch seinen Mund auch mir – denn ich war damals sein einziger Schüler –, wie wir leben sollten, um von dem Holz des Lebens zu essen, das im Paradies Gottes ist. Es wurde uns die Verheißung: Nur noch ein kleines Weilchen, und aller Jammer des irdischen Daseins würde von uns weichen und wir sollten wie Hiob tausendfältig wiedererhalten, was das Leben uns nähme."

Doktor Sephardi wollte einwenden, wie gefährlich und trügerisch es sei, solchen Prophezeiungen aus dem Unterbewußtsein Glauben zu schenken, aber er erinnerte sich noch rechtzeitig an Baron Pfeills Erzählung von dem grünen Käfer. Überdies sah er ein, daß jede Warnung hier wohl zu spät käme.

Der alte Mann schien den Sinn seiner Gedanken halb und halb erraten zu haben, denn er fuhr fort: "Es sind jetzt schon fünfzig Jahre her, daß uns diese Verheißung gegeben wurde, aber man muß sich in Geduld fassen und, was auch kommen möge, an der Übung festhalten, die darin besteht, den Geisternamen ohne Unterlaß in unser Herz hineinzumurmeln, bis die Wiedergeburt vollendet ist." – Er sagte die Worte ruhig und scheinbar voll Zuversicht, aber in seiner Stimme klang ein leises Zittern, wie die Vorahnung einer kommenden, grauenvollen Verzweiflung, das verriet, wie sehr er sich zusammennahm, um die andern nicht in ihrem Glauben zu erschüttern.

"Fünfzig Jahre schon machen Sie diese Übung!? Es ist furchtbar!" fuhr es Doktor Sephardi unwillkürlich heraus.

"Ach, es ist ja so himmlisch schön, zu sehen, wie alles in Erfüllung geht", säuselte Fräulein de Bourignon verzückt, "und wie sie aus dem Weltenraum hier zusammenströmen, die hohen Geister, und sich um Abram scharen – das ist nämlich der Geistesname Anselm Klinkherbogks denn er ist der Erzvater – und hier im ärmlichen Zee Dyk von Amsterdam den Grundstein legen zum neuen Jerusalem. Mary Paatz (sie war früher eine Prostituierte und jetzt ist sie die fromme Schwester Magdalena)", flüsterte sie hinter der Hand ihrer Nichte zu, "ist gekommen und – und Lazarus ist vom Tode auferweckt worden – – aber, ja richtig, Eva, von dem Wunder habe ich dir in dem Brief, den ich dir kürzlich schrieb, um dich aufzufordern, zu uns in den Kreis zu kommen, doch noch gar nichts erwähnt. Denk nur: Lazarus ist durch Abram vom Tode auferweckt worden!" – Jan Swammerdam stand auf, trat ans Fenster und blickte stumm hinaus in die Finsternis. – "Ja, ja, leibhaftig vom Tode auferweckt worden! Er ist wie tot in seinem Laden gelegen, und da kam Abram und hat ihn wieder lebendig gemacht."

Aller Augen richteten sich auf Eidotter, der sich betreten abwandte und gestikulierend und achselzuckend Doktor Sephardi im Flüsterton erklärte, es sei allerdings etwas an der Sache, – "bewußtlos, freilich, bin ich gewest; vielleicht tot, warum soll ich nicht tot gewesen sein? Ich bitt' Sie, ä alter Mann wie ich!"

"Und darum beschwöre ich dich, Eva", richtete Fräulein de Bourignon ihre Rede mit größter Eindringlichkeit an ihre Nichte, "tritt ein in unseren Bund, denn das Reich ist nahe herbeigekommen, und die letzten werden die ersten sein."

Der Kommis aus dem Drogengeschäft, der bis dahin, ohne ein Wort gesprochen zu haben, neben Schwester Magdalena gesessen und ihre Hand in der seinen gehalten hatte, erhob sich plötzlich, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie, die entzündeten Augen weit aufgerissen, mit lallender Zunge:

"Jo, jo, jo – d–d–die Ersten w–w–werden die Lelelletz–ten sein, und eher geht ein Ka–Ka– – –"

"Er kommt in den Geist. Der Logos spricht aus ihm", rief die Hüterin der Schwelle. "Eva, bewahre jedes Wort in deinem Herzen!"

"– – Ka–Kamel durch ein N–N–N–N–"

Jan Swammerdam eilte zu dem Besessenen, auf dessen Gesicht sich der Ausdruck viehischer Bosheit malte, und beruhigte ihn durch magnetische Striche über Stirn und Mund.

"Es ist nur der 'Gegensatz', wie wir es nennen, Mejufrouw", redete Schwester Sulamith, die alte Holländerin, begütigend Fräulein van Druysen zu, die ängstlich zur Tür geflohen war. "Bruder Hesekiel leidet manchmal darunter, und dann gewinnt die niedere Natur die Oberhand über die höhere. Aber es geht schon vorüber"; – der Kommis hatte sich auf alle viere niedergelassen und bellte und knurrte wie ein Hund, während das Mädchen aus der Heilsarmee neben ihm kniete und ihm zärtlich die Haare streichelte – "denken Sie nicht schlecht von ihm; wir sind allzumal Sünder, und Bruder Hesekiel bringt sein Leben tagaus, tagein da unten in dem dunklen Magazin zu, da kommt es dann, wenn er einmal reiche Meute sieht – Sie verzeihen, daß ich es so offen sage, Mejufrouw – wie Erbitterung über ihn und umnachtet seinen Geist. Glauben Sie mir, Mejufrouw, Armut ist eine schwere Last; woher soll ein so junges Herz wie seines immer soviel Gottvertrauen nehmen, um sie zu tragen!"

Eva van Druysen tat zum erstenmal in ihrem Leben einen Blick in die Abgründe des Daseins, und was sie früher in Büchern gelesen, stand jetzt in furchtbarer Wirklichkeit vor ihr.

Und doch war es nur ein kurzer Blitzschein gewesen, der kaum hinreichte, die Finsternis einiger Schluchten zu zerreißen.

"Wieviel und weit Schrecklicheres", sagte sie sich, "muß erst in der Tiefe schlummern, in die so selten das Auge eines vom Schicksal Begünstigten zu schauen vermag."

Wie durch eine geistige Explosion von Hüllen mühsam anerzogener menschlicher Umgangsformen losgerissen, hatte sich ihr eine Seele in häßlicher Nacktheit gezeigt, zum wilden Tier erniedrigt im selben Augenblick, als die Worte dessen fielen, der um der Liebe willen am Kreuz sein Leben ließ.

Das Bewußtsein einer riesengroßen Mitschuld, begangen durch weiter nichts als durch bloße Zugehörigkeit zu einer bevorzugten Gesellschaftsklasse und dem so selbstverständlich scheinenden Mangel an Interesse gegenüber dem Leid des Nächsten – eine Unterlassungssünde, winzig wie ein Sandkorn in der Ursache und verheerend wie eine Lawine in der Wirkung – erfüllt Eva mit tiefem Schrecken; so wie ein Mensch sich entsetzen mag, der in Gedankenlosigkeit mit einem Seile zu spielen glaubt und plötzlich gewahrt, daß er eine Giftschlange in Händen hält.

Als Sulamith von der Armut des Kommis erzählte, hatte Eva in der ersten Aufwallung nach der Börse gegriffen, – es war die gewisse Reflexbewegung, mit der das Herz den Verstand überrumpeln zu können wähnt, – dann schien ihr die Gelegenheit, zu helfen, schlecht gewählt, und der feste Vorsatz, das Versäumte später besser und gründlicher nachzuholen, trat an die Stelle der Tat.

Die altbewährte Kriegslist des Vaters der Lüge, Zeit zu gewinnen, bis die Regungen des Mitleids verflogen sind, war Sieger geblieben.

Hesekiel hatte sich inzwischen von seinem Anfall erholt und weinte still vor sich hin.

Sephardi, der wie die vornehmen portugiesischen Juden Hollands unverrückbar an der Gewohnheit seiner Vorfahren, nie ein fremdes Haus zu betreten, ohne ein kleines Geschenk mitzubringen, festhielt, benützte die Gelegenheit, um die Aufmerksamkeit von dem Kranken abzulenken. Er wickelte ein silbernes Räucherfäßchen aus und überreichte es Swammerdam.

"Gold, Weihrauch und Myrrhen – die heiligen drei Könige aus dem Morgenland!" flüsterte die "Hüterin der Schwelle" mit vor Rührung erstickter Stimme, die Augen fromm zur Decke erhoben. "Als es gestern hieß, Sie kämen, Herr Doktor, Eva zu uns zu begleiten, gab Ihnen Abram den Geistesnamen Balthasar, und siehe: Sie sind gekommen und haben Weihrauch gebracht! König Melchior, – er heißt im Leben Baron Pfeill, ich weiß es von der kleinen Katje – ist heute auch schon geistig erschienen" – sie wandte sich geheimnisvoll zu den übrigen, die erstaunt aufhorchten, – "und hat das Geld geschickt. Oh, ich sehe es mit den Augen des Geistes: auch Kaspar, der König aus Mohrenland, ist nicht mehr ferne"; – sie zwinkerte Mary Faatz, die ihren Blick verständnisvoll erwiderte, selig zu: – "ja, mit Riesenschritten geht die Zeit ihrem Ende –"

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und die kleine Enkelin Katje des Schusters Klinkherbogk trat herein und meldete:

"Ihr sollt schnell alle hinaufkommen, der Großvater hat die zweite Geburt."


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