Gustav Meyrink
Der Golem
Gustav Meyrink

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Mond

»Waren Sie schon beim Verhör«, fragte ich nach einer Weile.

»Ich komme soeben von dort. – Hoffentlich werde ich Sie hier nicht lange inkommodieren müssen«, antwortete Herr Laponder liebenswürdig.

»Armer Teufel,« dachte ich mir, »er ahnt nicht, was einem Untersuchungsgefangenen bevorsteht.«

Ich wollte ihn langsam vorbereiten:

»Man gewöhnt sich allmählich an das Stillsitzen, wenn einmal die ersten, schlimmsten Tage vorüber sind.« – – –

Er machte ein verbindliches Gesicht.

Pause.

»Hat das Verhör lange gedauert, Herr Laponder?«

Er lächelte zerstreut:

»Nein. Ich wurde bloß gefragt, ob ich geständig sei, und mußte das Protokoll unterschreiben.«

»Sie haben unterschrieben, daß Sie geständig sind?« fuhr es mir heraus.

»Allerdings.«

Er sagte es, als ob es sich von selbst verstünde.

Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder etwas Ähnliches.

»Ich bin leider schon so lange hier, daß es mir wie ein Menschenleben vorkommt«; – ich seufzte unwillkürlich, und er machte sofort eine teilnehmende Miene. »Ich wünsche Ihnen, daß Sie das nicht mitzumachen brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf freiem Fuß sein.«

»Wie man's nimmt«, antwortete er ruhig, aber es klang wie ein versteckter Doppelsinn.

»Sie glauben nicht?«, fragte ich lächelnd. Er schüttelte den Kopf.

»Wie soll ich das verstehen? – Was haben Sie denn gar so Schreckliches begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, – lediglich Teilnahme, daß ich frage.«

Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken:

»Lustmord.«

Mir war, als hätte er mich mit einem Stock über den Kopf geschlagen.

Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.

Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft lächelnden Gesicht verriet, daß er über mein plötzlich verändertes Benehmen verletzt gewesen wäre.

Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. – – –

Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hängte sorgsam seine Kleider an den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen Atemzügen zu schließen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.

Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.

Das beständige Gefühl, ein solches Scheusal in meiner nächsten Nähe zu haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu müssen, war mir so gräßlich und aufregend, daß die Eindrücke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte Neue tief in den Hintergrund traten.

Ich hatte mich so gelegt, daß ich den Mörder beständig im Auge behielt, denn ich würde es nicht haben ertragen können, ihn hinter mir zu wissen.

Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdämmert, und ich konnte sehen, daß Laponder regungslos, fast starr, dalag.

Seine Züge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeöffnete Mund erhöhte diesen Eindruck.

Viele Stunden hindurch änderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.

Erst spät nach Mitternacht, als ein dünner Mondstrahl auf sein Gesicht fiel, kam eine leise Unruhe über ihn und er bewegte unaufhörlich die Lippen, wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, – ein zweisilbiger Satz vielleicht, – so wie:

»Laß mich. Laß mich, Laß mich.«

Die nächsten paar Tage vergingen, ohne daß ich Notiz von ihm genommen hätte, und auch er brach niemals das Schweigen.

Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswürdig. Sooft ich auf und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog höflich, wenn er auf der Pritsche saß, die Füße zurück, um mir nicht im Wege zu sein.

Ich fing an, mir Vorwürfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.

So sehr ich gehofft hatte, mich an seine Nähe gewöhnen zu können, – es ging nicht.

Selbst in den Nächten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde verbrachte ich im Schlaf.

Abend für Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie pedantisch in Falten, hängte sie auf, und so weiter und so weiter.

Eines Nachts – es mochte um die zweite Stunde sein – stand ich schlaftrunken vor Müdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes Öl auf dem kupfernen Gesicht der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.

Da hörte ich plötzlich leise ihre Stimme hinter mir.

Sofort war ich wach, überwach, – fuhr herum und horchte.

Eine Minute verging.

Schon glaubte ich, ich hätte mich getäuscht, da kam es wieder. Ich konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:

»Frag' mich. Frag' mich.«

Es war bestimmt Mirjams Stimme.

Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und trat an das Bett Laponders.

Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich unterscheiden, daß er die Lider offen hatte, doch nur das Weiße der Augäpfel war sichtbar.

An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daß er im Tiefschlaf lag.

Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allmählich verstand ich die Worte, die hinter seinen Zähnen hervordrangen:

»Frag' mich. Frag' mich.«

Die Stimme war der von Mirjam täuschend ähnlich.

»Mirjam? Mirjam?« rief ich unwillkürlich, dämpfte aber sofort den Ton, um den Schläfer nicht zu erwecken.

Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann wiederholte ich leise:

»Mirjam? Mirjam?«

Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:

»Ja.«

Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hörte ich Mirjams Stimme flüstern – so unverkennbar ihre Stimme, daß mir Kälteschauer über die Haut liefen.

Ich trank die Worte so gierig, daß ich nur den Sinn begriff. Sie sprach von Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glück, daß wir uns endlich gefunden hätten – und uns nie wieder trennen würden – hastig – ohne Pause, wie jemand, der fürchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausnützen will.

Dann wurde die Stimme stockend – erlosch zeitweilig ganz.

»Mirjam?« fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem, »Mirjam, bist du gestorben?«

Lange keine Antwort.

Dann fast unverständlich:

»Nein. – Ich lebe. – Ich schlafe.«

Nichts mehr.

Ich lauschte und lauschte.

Vergebens.

Nichts mehr.

Vor Ergriffenheit und Zittern mußte ich mich auf die Kante der Pritsche stützen, um nicht vornüber auf Laponder zu fallen.

Die Täuschung war so vollständig gewesen, daß ich Mirjam momentelang tatsächlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft zusammennehmen mußte, um nicht einen Kuß auf die Lippen des Mörders zu drücken.

»Henoch! Henoch!« – hörte ich ihn plötzlich lallen, dann immer klarer und artikulierter: »Henoch! Henoch!«

Sofort erkannte ich Hillel.

»Bist du es, Hillel?«

Keine Antwort.

Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daß man Schlafenden, um sie zum Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dürfe, sondern gegen das Nervengeflecht in der Magengrube richten müsse.

Ich tat es:

»Hillel?«

»Ja, ich höre dich!«

»Ist Mirjam gesund? Weißt du alles?« fragte ich schnell.

»Ja. Ich weiß alles. Wußte es längst. – Sei ohne Sorge, Henoch, und fürchte dich nicht!«

»Kannst du mir verzeihen, Hillel?«

»Ich sage dir doch: sei ohne Sorge.«

»Werden wir uns bald wiedersehen?« – Ich fürchtete, die Antwort nicht mehr verstehen zu können; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht worden.

»Ich hoffe es. Ich will warten – auf dich – wenn ich kann – dann muß ich – Land –«

»Wohin? In welches Land?« – ich fiel beinahe auf Laponder – »In welches Land? In welches Land?«

»– Land – Gad – südlich – Palästina –«

Die Stimme erstarb.

Hundert Fragen schössen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina, Charousek.

»Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen«, kam es plötzlich wieder laut und deutlich von den Lippen des Mörders. Diesmal in Charouseks Tonfall, aber ähnlich so, als hätte ich selbst es gesagt.

Ich erinnerte mich: es war wörtlich der Schlußsatz aus Charouseks Brief. –

Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde mußte es aus der Zelle verschwunden sein.

Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:

Der Mörder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider geschlossen.

Ich machte mir die heftigsten Vorwürfe, alle die Tage über in Laponder nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. –

Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler – ein Geschöpf, das unter dem Einfluß des Vollmonds stand.

Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art Dämmerzustand begangen. Bestimmt sogar. –

Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen Zügen gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.

So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem Gewissen hat, sagte ich mir.

Ich konnte den Moment, wo er aufwachen würde, kaum erwarten.

Ob er wohl wüßte, was geschehen war?

Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur Seite.

Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: »Verzeihen Sie mir, Herr Laponder, daß ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das Ungewohnte, das –«

»Seien Sie überzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen,« unterbrach er mich lebhaft, »daß es ein scheußliches Gefühl sein muß, mit einem Lustmörder beisammen zu sein.«

»Reden Sie nicht mehr davon«, bat ich. »Es ist mir heute nacht so mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los, Sie könnten vielleicht – – –« ich suchte nach Worten.

»Sie halten mich für krank«, half er mir heraus.

Ich bejahte: »Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schließen zu dürfen. Ich – ich – darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?«

»Ich bitte darum.«

»Es klingt etwas merkwürdig, – aber – würden Sie mir sagen, was Sie heute geträumt haben?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf: »Ich träume nie.«

»Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen.«

Er blickte überrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er bestimmt:

»Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben.« – Ich gab es zu. »Denn wie gesagt, ich träume nie. Ich – ich wandere«, setzte er nach einer Pause halblaut hinzu.

»Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?«

Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt es für angezeigt, ihm die Gründe zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn zu dringen, und erzählte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.

»Sie können sich fest darauf verlassen,« sagte er ernst, als ich zu Ende war, »daß alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen habe. Wenn ich vorhin bemerkte, daß ich nicht träume, sondern ›wandere‹, so meine ich damit, daß mein Traumleben anders beschaffen ist als das – sagen wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus dem Körper. – – So war ich z. B. heute nacht in einem höchst sonderbaren Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Falltür führte.«

»Wie sah es aus?« fragte ich rasch. »War es unbewohnt? Leer?«

»Nein; es standen Möbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem ein junges Mädchen schlief – oder wie scheintot lag, – und ein Mann saß neben ihr und hielt seine Hand über ihre Stirn.« – Laponder schilderte die Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.

Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.

»Bitte, erzählen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?«

»Sonst noch jemand? Warten Sie – – – nein: sonst war niemand mehr im Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. – Dann ging ich eine Wendeltreppe hinunter.«

»Sie war zerbrochen?« fiel ich ein.

»Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte seitlich eine Kammer ab, darin saß ein Mann mit silbernen Schnallen an den Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrägstehenden Augen; – er war vornüber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag vielleicht.«

»Ein Buch – ein altes großes Buch haben Sie nirgends gesehen?«, forschte ich.

Er rieb sich die Stirn:

»Ein Buch sagen Sie? – Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem großen, goldenen ›A‹ fing die Seite an.«

»Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?«

»Nein, mit einem ›A‹.«

»Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?«

»Nein, es war bestimmt ein ›A‹.«

Ich schüttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den unterirdischen Gang.

»Haben Sie die Gabe zu ›wandern‹, wie Sie es nennen, schon lang?«, fragte ich.

»Seit meinem 21. Jahr – – –«, er stockte, schien nicht gern davon zu reden; da nahm seine Miene plötzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sähe.

Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und bat – fast flehentlich:

»Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag, den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhören – –.«

Ich unterbräche ihn entsetzt:

»Dann müssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwören, daß Sie krank sind. – Sie sind mondsüchtig. Es darf nicht sein, daß man Sie hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie doch Vernunft an!«

Er wehrte nervös ab: »Das ist doch so nebensächlich, – bitte, sagen Sie mir alles!«

»Aber was soll ich Ihnen denn sagen? – Reden wir doch lieber von Ihnen und – –«

»Sie müssen, ich weiß das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben, die mich nah angehen, – näher als Sie ahnen können; – – ich bitte Sie, sagen Sie mir alles!«, flehte er.

Ich konnte es nicht fassen, daß ihn mein Leben mehr interessierte als seine eigenen, doch wahrhaftig genügend dringenden Angelegenheiten; um ihn aber zu beruhigen, erzählte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem geschehen war.

Bei jedem größeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine Sache bis zum Grund durchschaut.

Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir gestanden und mir die schwarzroten Körner hingehalten hatte, konnte er es kaum erwarten, den Schluß zu erfahren.

»Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm«, murmelte er sinnend. »Ich hätte nie gedacht, daß es einen dritten ›Weg‹ geben könnte.

»Es war das kein dritter Weg«, sagte ich, »es war derselbe, wie wenn ich die Körner abgelehnt hätte.«

Er lächelte.

»Glauben Sie nicht, Herr Laponder?«

»Wenn Sie sie abgelehnt hätten, wären Sie wohl auch den ›Weg des Lebens‹ gegangen, aber die Körner, die magische Kräfte bedeuten, wären nicht zurückgeblieben. – So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das heißt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange gehütet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Kräfte, die in Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden.«

Ich verstand nicht: »Von meinen Vorfahren werden die Körner behütet?«

»Sie müssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben«, erklärte Laponder. »Der Kreis der bläulich strahlenden Menschen, der Sie umstand, war die Kette der ererbten ›Iche‹, die jeder von einer Mutter Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts ›Einzelnes‹, – sie soll es erst werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹; Ihre Seele ist noch zusammengesetzt aus vielen ›Ichen‹ – so, wie ein Ameisenstaat aus vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in sich: – die Häupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie könnte denn ein Huhn, das aus einem Ei künstlich erbrütet wurde, sich sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von Jahrmillionen in ihm stäke? – Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verrät die Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. – Aber, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

Ich erzählte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam über den »Hermaphroditen« gesagt hatte.

Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, daß Laponder weiß geworden war wie der Kalk an der Wand und Tränen über seine Wangen liefen.

Rasch stand ich auf, tat, als sähe ich es nicht, und ging in der Zelle auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben würde.

Dann setzte ich mich ihm gegenüber und bot meine ganze Beredsamkeit auf, ihn zu überzeugen, wie dringend nötig es wäre, den Richtern gegenüber auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.

»Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hätten!«, schloß ich.

»Aber ich mußte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt«, sagte er naiv.

»Halten Sie denn eine Lüge für schlimmer als – als einen Lustmord?«, fragte ich verblüfft.

»Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiß. – Sehen Sie: als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestünde, hatte ich die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu lügen oder nicht zu lügen. – Als ich den Lustmord beging – – bitte, ersparen Sie mir die Details: es war so gräßlich, daß ich die Erinnerung nicht wieder aufleben lassen möchte – – als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem Bewußtsein handelte, so hatte ich dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt hatte, wachte auf und war stärker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl gehabt haben würde, ich hätte gemordet? – Nie habe ich getötet – nicht einmal das kleinste Tier, – und jetzt wäre ich es schon gar nicht mehr imstande.

Nehmen Sie an, es wäre Menschengesetz: zu morden, und auf die Unterlassung stünde der Tod – ähnlich, wie es im Krieg der Fall ist, – augenblicklich hätte ich mir den Tod verdient. – Weil mir keine Wahl bliebe. Ich könnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging, lag die Sache umgekehrt.«

»Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fühlen, müssen Sie alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!«, wandte ich ein.

Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: »Sie irren! Die Richter haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder übermorgen wieder das Unheil losbricht?«

»Nein; aber in einer Heilanstalt für Geisteskranke sollte man Sie internieren. Das ist es doch, was ich sage!«

»Wenn ich irrsinnig wäre, hätten Sie recht«, erwiderte Laponder gleichmütig. »Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, – etwas, was dem Irrsinn sehr ähnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist. Bitte, hören Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. – – – Was Sie mir vorhin von dem Phantom ohne Kopf – ein Symbol natürlich: dieses Phantom; den Schlüssel können Sie leicht finden, wenn Sie darüber nachdenken – erzählten, ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Körner angenommen. Ich gehe also den ›Weg des Todes‹! – Für mich ist das Heiligste, das ich denken kann: meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll, wohin der Weg auch führen mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezögert, wenn die Wahl in meine Hand gelegt war.

Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.

Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:

»Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,

und was der Herr von dir fordert,«?

Würde ich gelogen haben, hätte ich eine Ursache geschaffen, weil ich die Wahl hatte; – – als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur die Wirkung einer in mir schlummernden, längst gelegten Ursache, über die ich keine Gewalt mehr besaß, wurde frei.

Also sind meine Hände rein.

Dadurch, daß das Geistige in mir mich zum Mörder werden ließ, hat es eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, daß mich die Menschen an den Galgen knüpfen, wird mein Schicksal losgelöst von dem ihrigen: – ich komme zur Freiheit.«

Er ist ein Heiliger, fühlte ich, und das Haar sträubte sich mir vor Schauder über meine eigene Kleinheit.

»Sie haben mir erzählt, daß Sie durch den hypnotischen Eingriff eines Arztes in Ihr Bewußtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen hatten«, fuhr er fort. »Es ist das das Kennzeichen – das Stigma – aller derer, die von der ›Schlange des geistigen Reiches‹ gebissen sind. Es scheint fast, als müßten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen kann; – was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch Erlöschen der Erinnerung – manchmal nur durch eine plötzliche innere Umkehr.

Bei mir war es so, daß ich scheinbar ohne äußere Ursache in meinem 21. Jahr eines Morgens wie verändert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen, erschien mir mit einemmal gleichgültig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die Träume wurden zu Gewißheit – zu apodiktischer, beweiskräftiger Gewißheit, verstehen Sie wohl: zu beweiskräftiger, realer Gewißheit, und das Leben des Tages wurde zum Traum.

Alle Menschen könnten das, wenn sie den Schlüssel hätten. Und der Schlüssel liegt einzig und allein darin, daß man sich seiner ›Ichgestalt‹, sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewußt wird, – die schmale Ritze findet, durch die sich das Bewußtsein zwängt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.

Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich träume‹.

Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen die uns innewohnenden Klänge und Gespenster; und das Warten auf das Königwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.

Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der ›Hauch der Knochen‹ der Kabbala, das war der König. Wenn er gekrönt sein wird, dann – reißt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die äußeren Sinne und den Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.

Wieso es kommen konnte, daß ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben über Nacht zum Lustmörder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die eine. Ist die Kugel rot, heißt der Mensch: ›schlecht‹. Ist sie gelb, dann ist der Mensch: ›gut‹. Laufen zwei hintereinander – eine rote und eine gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange Gebissenen‹, machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind – – dann sind wir Propheten, – sind die Spiegel Gottes geworden.«

Laponder schwieg.

Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast betäubt.

»Weshalb fragten Sie mich vorhin so ängstlich nach meinen Erlebnissen, wo Sie doch so viel, viel höher stehen als ich?«, fing ich endlich wieder an.

»Sie irren,« sagte Laponder, »ich stehe weit unter Ihnen. – Ich fragte Sie, weil ich fühlte, daß Sie den Schlüssel besitzen, der mir noch fehlte.«

»Ich? Einen Schlüssel. O Gott!«

»Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. – Ich glaube nicht, daß es einen glücklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin.«

Draußen entstand ein Geräusch; die Riegel wurden zurückgeschoben, – Laponder achtete kaum darauf:

»Das mit dem Hermaphroditen war der Schlüssel. Jetzt habe ich die Gewißheit. Schon deshalb bin ich froh, daß man mich holen kommt, denn bald bin ich am Ziel.«

Vor Tränen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich hörte nur das Lächeln in seiner Stimme.

»Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das Schönste eröffnet, – das Letzte, was ich noch nicht wußte. Jetzt geht's zur Hochzeit – – –,« er stand auf und folgte dem Gefangenwärter – »es hängt mit dem Lustmord eng zusammen«, waren die letzten Worte, die ich hörte und nur dunkel begriff.

Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes liegen zu sehen.

In den nächsten Tagen, nachdem er weggeführt worden war, hatte ich ein Hämmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdröhnen hören, das manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.

Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu vor Verzweiflung.

Monat um Monat verfloß. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden des kümmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den Mauern drang.

Wenn mein Blick bei den Rundgängen auf den sterbenden Baum fiel und das eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillkürlich jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich eingegraben hatte. Beständig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwährenden Lächeln.

Ein einziges Mal noch – im September – hatte mich der Untersuchungsrichter holen lassen und mißtrauisch gefragt, wie ich es begründen könne, daß ich bei dem Bankschalter gesagt, ich müsse dringend verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig gewesen wäre und meine sämtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hätte.

Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch höhnisch gemeckert. –

Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fühlte, längst tot sein mußte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhängen.

Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, – »Waisenkinder«, wie der schwarze Vóssatka sie genannt haben würde, – und verpesteten mir die Luft und die Stimmung.

Eines Tages gab einer von ihnen voll Entrüstung zum besten, daß vor geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum Glück hätte man den Täter sogleich erwischt und kurzen Prozeß mit ihm gemacht.

»Laponder hat er geheißen, der Schuft, der gottserbärmliche«, schrie ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen Kindsmißhandlung zu – 14 Tagen Gefängnis verurteilt worden war, dazwischen. »Auf frischer Tat habn's'n g'faßt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is ausbrennt. Die Leich' von dem Mädel is dabei so verkohlt, daß mer bis zum heutigen Tage noch nöt hat rausbringen können, wer sie eigentlich war. Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dös is alls, was mer weiß. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'rückt mit ihrem Namen. – Wann's nach mir gangen wär, i hätt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf g'streut. – Dös san halt die feinen Herren! Mörder san's, alle z'samm. – – – – Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a Mädel los sein wüll«, setzte er mit zynischem Lächeln hinzu.

Die Wut kochte in mir, und am liebsten hätte ich den Halunken zu Boden geschlagen.

Nacht für Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen. Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.

Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.

Fast beständig, hauptsächlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der grausige Verdacht, Mirjam könnte das Opfer Laponders gewesen sein.

Je mehr ich dagegen ankämpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.

Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann lebendig machen, und das tiefe Gefühl für ihn verscheuchte mir die Qual, – aber nur zu oft kamen die gräßlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand verlieren zu müssen.

Die schwachen Anhaltspunkte, die ich für meinen Verdacht hatte, verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, – zu einem Gemälde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.

Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen Höhepunkt erreicht, daß ich mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiß wie ein verdurstendes Tier, öffnete plötzlich der Gefangenwärter die Zelle und forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich fühlte mich so schwach, daß ich mehr taumelte als ging.

Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dürfen, war längst in mir gestorben.

Ich machte mich darauf gefaßt, wieder eine kalte Frage gestellt zu bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hören und dann zurück in die Finsternis zu müssen.

Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.

Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen würde.

Es fiel mir auf, daß der Gefangenwärter mit hereingekommen war und mir gutmütig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daß ich mir über die Bedeutung alles dessen hätte klarwerden können.

»Die Untersuchung hat ergeben«, fing der Schreiber an, meckerte, stieg auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem Bücherbord nach Schriftstücken, ehe er fortfuhr: »hat ergeben, daß der in Frage kommende Karl Zottmann vor seinem Tode anläßlich einer heimlichen Zusammenkunft mit der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger Zeit den Spitznamen ›die rote Rosina‹ führte, dann später von einem taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden Silhubettenschneider namens Jaromir Kwáßnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹ losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem Fürsten Ferri Athenstädt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes Kellergewölbe des Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch römisch III, der Hahnpaßgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren überlassen wurde. – – Der obenerwähnte Zottmann nämlich«, erklärte der Schreiber mit einem Blick über die Brille hinweg und blätterte ein paarmal um.

»Die Untersuchung hat weiters ergeben, daß der obenerwähnte Karl Zottmann allem Anscheine nach – nach eingetretenem Ableben – seiner sämtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub faszikel römisch P gebrochen durch ›Bäh‹ beigeschlossenen doppelmanteligen Taschenuhr« – der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Höhe – »beraubt wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir Kwáßnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen Hostienbäckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen flüchtig gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenhändler und mehrfachen, inzwischen aus dem Leben geschiedenen Realitätenbesitzer Aaron Wassertrum gegen Inempfangnahme von Geldeswert veräußert zu haben, konnte mangels Glaubwürdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.

Die Untersuchung hat weiters ergeben, daß die Leiche des erwähnten Karl Zottmann in der rückwärtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des Täters durch die k. k. Behörden erleichternde Eintragungen vorgenommen hatte.

Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend verdächtig gewordenen Loisa Kwáßnitschka, zurzeit flüchtig, gelenkt und unter einem verfügt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath, Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren gegen ihn einzustellen.

Prag im Juli

gezeichnet

Dr. Freiherr von Leisetreter.«

Der Boden schwankte unter meinen Füßen, und ich verlor eine Minute das Bewußtsein.

Als ich erwachte, saß ich auf einem Stuhl, und der Gefangenwärter klopfte mir freundlich auf die Schulter.

Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich und sagte zu mir:

»Die Verlesung der Verfügung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr Name mit einem ›Päh‹ beginnt und naturgemäß im Alphabet erst gegen Schluß vorkommen kann.« – Dann las er weiter:

»Überdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu setzen, daß ihm laut testamentarischer Verfügung des im Mai mit Tod abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des Protokolls hiermit anzuhalten.«

Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing an zu schmieren.

Ich erwartete gewohnheitsmäßig, daß er meckern würde, aber er meckerte nicht.

»Innocenz Charousek«, murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.

Der Gefangenwärter beugte sich über mich und flüsterte mir ins Ohr:

»Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat sich nach Ihnen erkundigt. Er läßt Sie viel–vielmals grüßen, hat er g'sagt. Ich hab's natürlich damals nicht ausrichten dürfen. Es ist streng verboten. Ein schreckliches Ende hat er übrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem Grabhügel des Aaron Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. – Er hat zwei tiefe Löcher in die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern aufgeschnitten und dann die Arme in die Löcher gesteckt. So ist er verblutet. Er ist wahrscheinlich wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char – – –«

Der Schreiber schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und reichte mir die Feder zum Unterschreiben.

Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines freiherrlichen Vorgesetzten:

»Gefangenwärter, führen Sie den Mann hinaus.«

Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit Säbel und Unterhosen im Torzimmer seine Kaffeemühle vom Schoß genommen; nur daß er mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das Portemonnaie mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles übrige zurückgab. – – –

Dann stand ich auf der Straße.

»Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!« – Ich unterdrückte einen Schrei wildesten Entzückens.

Es mußte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.

Das Pflaster war mit einer zähen Schicht von Schmutz bedeckt.

Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten fast den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte – auf empfindungslosen Sohlen wie ein Rückenmarkskranker. – –

»Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie können, in die Hahnpaßgasse 7! – Haben Sie mich verstanden?: – Hahnpaßgasse 7.«


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