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Wir hatten das Fenster geöffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen Zimmer strömen zu lassen.
Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen Mäntel, die an der Türe hingen, daß sie leise hin und her schwankten.
»Prokops würdige Haupteszierde möchte am liebsten davonfliegen«, sagte Zwakh und deutete auf des Musikers großen Schlapphut, der die breite Krempe bewegte wie schwarze Flügel.
Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
»Er will,« sagte er, »er will wahrscheinlich – – –«
»Er will zum ›Loisitschek‹ zur Tanzmusik«, nahm ihm Vrieslander das Wort vorweg.
Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den Klängen, die die dünne Winterluft her über die Dächer trug.
Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
»An Bein-del von Ei-sen
recht alt
»An Stran-zen net gar
a so kalt
»Messinung, a' Räucherl
und Rohn
»und immerrr nurr putz-en – – –
»Wie großartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!« und Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
»Und stok-en sich Aufzug
und Pfiff
»Und schmallern an eisernes
G'süff.
»Juch, –
»Und Handschuhkren, Harom net san – –
»Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim ›Loisitschek‹ der meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem grünen Augenschirm, und ein geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grölt den Text dazu«, erklärte mir Zwakh. »Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen, Meister Pernath. Später vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu Ende sind, – was meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?«
»Ja, ja, kommen Sie nachher mit uns«, sagte Prokop und klinkte das Fenster zu, – »man muß so etwas gesehen haben.«
Dann tranken wir den heißen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
»Sie haben uns förmlich von der Außenwelt abgeschnitten, Josua,« unterbrach Zwakh die Stille, »seit Sie das Fenster geschlossen haben, hat niemand mehr ein Wort gesprochen.«
»Ich dachte nur darüber nach, als vorhin die Mäntel so flogen, wie seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt,« antwortete Prokop schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: »Es sieht gar so wunderlich aus, wenn Gegenstände plötzlich zu flattern anheben, die sonst immer tot daliegen. Nicht? – Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz zu, wie große Papierfetzen, – ohne daß ich vom Winde etwas spürte, denn ich stand durch ein Haus gedeckt, – in toller Wut im Kreise herumjagten und einander verfolgten, als hätten sie sich den Tod geschworen. Einen Augenblick später schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plötzlich kam wieder eine wahnwitzige Erbitterung über sie, und in sinnlosem Grimm rasten sie umher, drängten sich in einen Winkel zusammen, um von neuem besessen auseinander zu stieben und schließlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem Pflaster liegen und klappte haßerfüllt auf und zu, als sei ihr der Atem ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären wie solche Papierfetzen? – Ob nicht vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher »Wind« auch uns hin und her treibt und unsre Handlungen bestimmt, während wir in unserer Einfalt glauben unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wäre als ein rätselhafter Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: Weißt du, von wannen er kommt und wohin er geht? – – – Träumen wir nicht auch zuweilen, wir griffen in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist geschehen, als daß ein kalter Luftzug unsere Hände traf?«
»Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?« sagte Zwakh und sah den Musiker mißtrauisch an.
»Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzählt wurde, – schade, daß Sie so spät kamen und sie nicht mit anhörten, – hat ihn so nachdenklich gestimmt«, meinte Vrieslander.
»Eine Geschichte von einem Buche?«
»Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam aussah. – Pernath weiß nicht, wie er heißt, wo er wohnt, was er wollte, und obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich doch nicht recht schildern.«
Zwakh horchte auf.
*»Das ist sehr merkwürdig,« sagte er nach einer Pause, »war der Fremde vielleicht bartlos, und hatte er schrägstehende Augen?«
»Ich glaube,« antwortete ich, »das heißt, ich – ich – weiß es ganz bestimmt. Kennen Sie ihn denn?«
Der Marionettenspieler schüttelte den Kopf. »Er erinnerte mich nur an den ›Golem‹.«
Der Maler Vrieslander ließ sein Schnitzmesser sinken:
»Golem? – Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen Sie etwas über den Golem, Zwakh?«
»Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse?«, antwortete Zwakh und zuckte die Achseln. »Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich an der eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurück, sagt man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen – den sogenannten Golem – verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge läuten, und allerhand grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen Kräfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem Munde des Golem zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von ihm übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in der Altneusynagoge gezeigt wird.«
»Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht haben,« warf Prokop ein, »moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu einer Laterna magica bedient.«
»Jawohl, keine Erklärung ist abgeschmackt genug, daß sie bei den Heutigen nicht Beifall fände,« fuhr Zwakh unbeirrt fort. – »Eine Laterna magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick hätte durchschauen müssen!
Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurückführen läßt, daß aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel sein Wesen treibt und damit zusammenhängt, dessen bin ich sicher. Von Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische Auftauchen des Golem zurückblicken als gerade ich!«
Zwakh hatte plötzlich aufgehört zu reden, und man fühlte mit ihm, wie seine Gedanken in vergangene Zeiten zurückwanderten.
Wie er, den Kopf aufgestützt, dort am Tische saß und beim Scheine der Lampe seine roten, jugendlichen Bäckchen fremdartig von dem weißen Haar abstachen, verglich ich unwillkürlich im Geiste seine Züge mit den maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
Seltsam, wie ähnlich ihnen der alte Mann doch sah!
Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
Manche Dinge der Erde können nicht loskommen voneinander, fühlte ich, und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorüberziehen ließ, da schien es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, daß ein Mensch wie er, obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und Schauspieler hätte werden sollen, plötzlich wieder zu dem schäbigen Marionettenkasten zurückkehren konnte, um nun abermals auf die Jahrmärkte zu ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner Vorväter kümmerliches Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und schläfrigen Erlebnisse vorführen zu lassen.
Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hält er sie jetzt so liebevoll und kleidet sie stolz in Flitter.
»Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzählen?« forderte Prokop den Alten auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen Wunsches seien.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll,« meinte der Alte zögernd, »die Geschichte mit dem Golem läßt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch könne er ihn nicht schildern. Ungefähr alle dreiunddreißig Jahre wiederholt sich ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich trägt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, für das weder eine Erklärung noch eine Rechtfertigung ausreicht:
Immer wieder begibt es sich nämlich, daß ein vollkommen fremder Mensch, bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider gehüllt, gleichmäßigen und eigentümlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden Augenblick vornüber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plötzlich – unsichtbar wird.
Gewöhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
Ein andermal heißt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben und sei zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten Hause in der Nähe der Synagoge.
Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hätten ihn um eine Ecke auf sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und – schließlich ganz verschwunden.
Vor Sechsundsechzig Jahren nun muß der Eindruck, den er hervorgebracht, besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich – ich war noch ein ganz kleiner Junge –, daß man das Gebäude in der Altschulgasse damals von oben bis unten durchsuchte.
Es wurde auch festgestellt, daß wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
Aus allen Fenstern hatte man Wäsche gehängt, um von der Gasse aus einen Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur gekommen.
Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die Nähe des Fensters gelangt, da riß das Seil, und der Unglückliche zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schädel. Und als später der Versuch nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten über die Lage des Fensters derart auseinander, daß man davon abstand.
Ich selber begegnete dem ›Golem‹ das erste Mal in meinem Leben vor ungefähr dreiunddreißig Jahren.
Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten fast aneinander.
Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein muß. Man trägt doch um Gottes willen nicht immerwährend, tagaus tagein die Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
In jenem Augenblick aber, bestimmt – ganz bestimmt, noch ehe ich seiner ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und im selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor, und jener Unbekannte ging an mir vorüber. Eine Sekunde später drang eine Flut bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen bestürmten, ob ich ihn gesehen hätte.
Und als ich antwortete, da fühlte ich, daß sich meine Zunge wie aus einem Krampfe löste, von dem ich vorher nichts gespürt hatte.
Ich war förmlich überrascht, daß ich mich bewegen konnte, und deutlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines Herzschlags lang – in einer Art Starrkrampf befunden haben mußte.
Über all das habe ich oft und lange nachgedacht, und mich dünkt, ich komme der Wahrheit am nächsten, wenn ich sage: Immer einmal in der Zeit eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die Judenstadt, befällt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns verhüllt bleibt, und läßt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vorjahrhunderten hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung dürstet.
Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde für Stunde, und wir nehmen es nicht wahr. Hören wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel nicht, bevor sie das Holz berührt und es mitschwingen macht.
Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne innewohnendes Bewußtsein, – ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswächst.
Wer weiß das?
Wie in schwülen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur Unerträglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, könnte es da nicht sein, daß auch auf die stetige Anhäufung jener niemals wechselnden Gedanken, die hier im Getto die Luft vergiften, eine plötzliche, ruckweise Entladung folgen muß? – eine seelische Explosion, die unser Traumbewußtsein ans Tageslicht peitscht, um – dort den Blitz der Natur – hier ein Gespenst zu schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der Massenseele unfehlbar offenbaren müßte, wenn man die geheime Sprache der Formen nur richtig zu deuten verstünde?
Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankünden, so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abblätternde Bewurf einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich Züge starrer Gesichter. Der Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und drängt dem argwöhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die sich lichtscheu verborgen hält, werfe ihn herab und übe sich in heimlichen Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. – Ruht das Auge auf eintönigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, bemächtigt sich unser die unerfreuliche Gabe, überall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in unsern Träumen ins Riesengroße auswachsen. Und immer zieht sich durch solche schemenhaften Versuche der angesammelten Gedankenherden, die Wälle der Alltäglichkeit zu durchnagen, für uns wie ein roter Faden die qualvolle Gewißheit, daß unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden könne.
Wie ich nun vorhin Pernath bestätigen hörte, daß ihm ein Mensch begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der »Golem« vor mir, wie ich ihn damals gesehen.
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas Unerklärliches nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon einmal in meinen Kinderjahren verspürt, als die ersten spukhaften Äußerungen des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knüpft sich an einen Abend, an dem der Bräutigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und in der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
Es wurde damals Blei gegossen – zum Scherz – und ich stand mit offenem Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, – in meiner wirren, kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem ich meinen Großvater oft hatte erzählen hören, und bildete mir ein, jeden Augenblick müsse die Tür aufgehen und der Unbekannte eintreten.
Meine Schwester leerte dann den Löffel mit dem flüssigen Metall in das Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
Mit welken, zitternden Händen holte mein Großvater den blitzenden Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich hinzudrängen, aber man wehrte mich ab.
Später, als ich älter geworden, erzählte mir mein Vater, es wäre damals das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt gewesen, – glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von unheimlicher Ähnlichkeit mit den Zügen des »Golem«, daß sich alle entsetzt hätten.
Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus Kaiser Rudolfs Zeiten, darüber. Er hat sich mit Kabbala befaßt und meint, jener Erdklumpen mit den menschlichen Gliedmaßen sei vielleicht nichts anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, müsse das Phantasie- oder Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in regelmäßigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden – wiederkehre, vom Triebe nach stofflichem Leben gequält.
Auch Hillels verstorbene Frau hatte den »Golem« von Angesicht zu Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefühlt, daß man sich im Starrkrampf befindet, solange das rätselhafte Wesen in der Nähe weilt.
Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur ihre eigene Seele habe sein können, die – aus dem Körper getreten – ihr einen Augenblick gegenübergestanden und mit den Zügen eines fremden Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte.
Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemächtigt, habe sie doch keine Sekunde die Gewißheit verlassen, daß jener andere nur ein Stück ihres eignen Innern sein konnte.« –
»Es ist unglaublich«, murmelte Prokop in Gedanken verloren.
Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grübeln versunken.
Da klopfte es an die Türe und das alte Weib, das mir des Abends Wasser bringt und was ich sonst noch nötig habe, trat ein, stellte den tönernen Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Als sei ein neuer Einfluß mit der Alten zur Tür hereingeschlüpft, an den man sich erst gewöhnen mußte.
»Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht«, sagte plötzlich Zwakh ganz unvermittelt. »Dieses erstarrte, grinsende Lächeln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die Großmutter, dann die Mutter! – Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe Name Rosina; – es ist immer eine die Auferstehung der andern.«
»Ist Rosina nicht die Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum?« fragte ich.
»Man spricht so«, meinte Zwakh, – – »Aaron Wassertrum aber hat manchen Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiß. Auch bei Rosinas Mutter wußte man nicht, wer ihr Vater gewesen, – auch nicht, was aus ihr geworden ist. – Mit fünfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbwüchsigen Jungen im Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, – ich sehe ihn öfter, – doch sein Name ist mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie alle frühzeitig under die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit überhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein Gedächtnis treiben. So hat es damals einen halbblödsinnigen Menschen gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den Gästen gegen ein paar Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken machte, geriet er in eine unsägliche Traurigkeit, und unter Tränen und Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhören, immer das gleiche scharfe Mädchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte er – fast ein Kind noch – eine gewisse Rosina, wohl die Großmutter der heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber verlor.
Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die Großmutter der jetzigen Rosina gewesen sein.« – – –
Zwakh schwieg und lehnte sich zurück.
Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer wieder zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn, und ein häßliches Bild, das ich einmal mit angesehen – eine Katze mit verletzter Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd – trat vor mein Auge.
»Jetzt kommt der Kopf«, hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander mit heller Stimme sagen.
Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu schnitzen.
Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und ich rückte meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop füllte wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster; – manchmal verstummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.
Ob ich denn nicht anstoßen wolle, fragte mich nach einer Weile der Musiker.
Ich aber gab keine Antwort, – so vollkommen war mir der Wille, mich zu bewegen, abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu öffnen, verfiel.
Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vrieslanders funkelndes Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Späne biß, – um die Gewißheit zu erlangen, daß ich wach sei.
In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder allerlei wunderliche Geschichten über Marionetten und krause Märchen, die er für seine Puppenspiele erdacht.
Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu Besuch komme.
Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische, triumphierende Miene. –
Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte, überlegte ich, – dann hielt ich es nicht der Mühe für wert und für belanglos. Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte ich jetzt den Versuch machen zu sprechen.
Plötzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herüber, und Prokop sagte ganz laut: »Er ist eingeschlafen«, – so laut, daß es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte.
Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daß sie von mir sprachen.
Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf, das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte mir in den Augen.
Es fiel ein Wort wie: »irr sein«, und ich horchte auf die Rede, die in der Runde ging.
»Gebiete, wie das vom ›Golem‹ sollte man vor Pernath nie berühren,« sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, »als er vorhin von dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt.«
Zwakh nickte: »Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken.«
»War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst vierzig sein«, sagte Vrieslander.
»Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten beunruhigen würde, aussuchen.« – Wieder sah Zwakh bewegt zu mir herüber. – »Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegründet. Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen könnten, – wie oft hat mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, möchte ich's nennen, – so wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft.« – – –
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen Händen das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, – ein Ahnen, als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.
Jetzt lag des Rätsels Lösung offen vor mir und brannte mich unerträglich wie eine bloßgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse nachzuhängen, – dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugänglicher Gemächer gesperrt, – das beängstigende Versagen meines Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, – alles das fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte das – »Zimmer« verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern, vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, – nie würde ich sie erkennen können: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene »Zimmer« zu erzwingen, müßte ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt, in die Hände fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzählte, zog mir durch den Sinn, und plötzlich erkannte ich einen riesengroßen, geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle »würde der Strick reißen«, wollte ich versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.
Ich fühlte: es sind da Dinge – unfaßbare – zusammengeschmiedet und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg führt, nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden kann, – ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! – – –
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es denn nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen lange auf mir, befriedigt, daß sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte unverwandt auf das hölzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plötzlich gewannen die Züge des Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen aufhörte und ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir – wie damals – des Gesichtes bewußt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoß und spähte umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte meinen Schädel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hörte seine Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:
»Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar mißlungen.« Und er wand sich los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewußtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis, die von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich, wie es mir schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hörte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen. – – –
»Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie schüttelten,« – sagte Josua Prokop zu mir, »der Punsch ist aus, und Sie haben alles versäumt.«
Der heiße Schmerz über das, was ich vorhin mitangehört, übermannte mich wieder, und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt habe, als ich ihnen von dem Buche Ibbur erzählte – und es aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen könne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
»Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre Lebensgeister erfrischen.«