Gustav Meyrink
Der Engel vom westlichen Fenster
Gustav Meyrink

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Von zuckenden Schmerzen geweckt, fahre ich empor: ich sitze verkrümmt in meinem Schreibtischstuhl, vor mir in erstorbenen Fingern immer noch krampfhaft den Kohlekristall John Dees haltend. Zerschnitten hat auch mich das Opfermesser! Zerschnitten in zweiundsiebzig Teile! – Und die Schmerzen, die unsinnigen Schmerzen werfen ihre Wellen, messerscharfen Lichtbändern gleich, durch unendliche Räume, unendliche Zeiten, treffen auch mich, gehen durch mich hindurch ... Lichtjahre lang, von Sternenferne zu Sternenferne, so will es mir scheinen. – – –

Weiß der Kuckuck, ob die Schmerzen in meinen Gliedern von der unbequemen Haltung kamen, in der ich mich beim Erwachen aus dem magischen Halbschlaf vorfand, oder ob Lipotins verdammtes Räuchergift schuld war, das ich eingeatmet hatte: einerlei, mir war recht elend zumute, als ich mich taumelnd aus meinem Sessel erhob. Allzu lebhaft klang auch das seltsame Begebnis nach, das ich in meiner Versunkenheit – oder wie ich dies Hineingehen in den merkwürdigen Kohlekristall, dies Betreten der Vergangenheit durch das schwarzglänzende Tor des " Lapis praecipuus manifestationis" nennen soll – halb wie ein Zuschauer, halb aber auch wie der Täter aller jener Handlungen durchgemacht hatte. – –

Ich brauche Zeit, um mich in die Gegenwart zurückzufinden. Die schneidenden Schmerzen glühen noch immer durch mein Fleisch. Es bleibt mir gar kein Zweifel: das, was ich da im "Traum" (lächerliches Wort!) – was ich da in magischer Rückschau erlebt habe, das ist von mir erlebt worden damals, als ich ... John Dee war mit Haut und Knochen und mit Seele und Wissen meiner selbst. –

Ich mag mich jetzt nicht mehr aufhalten mit Grübeleien, obschon sie mich unaufhörlich, selbst bis in den Schlaf hinein, überfallen. – Es genüge für heute, daß ich mir notiere, was ich für die wichtigste Einsicht dieser Stunde halte:

Wer wir sind, wir Menschen, wissen wir nicht. Wir sind uns nur selber gegenwärtig und Gegenstand unserer Erfahrung in der gewissen "Verpackung", die uns aus einem Spiegel entgegenschaut und die wir unsere Person zu nennen belieben. Oh, wie beruhigt sind wir, wenn wir nur das Paket kennen mit der Aufschrift darauf: Absender: die Eltern; Empfänger: das Grab; Paketsendung aus "Unbekannt" nach "Unbekannt", mit verschiedenem Postvermerk, als "Wertsendung" deklariert, oder als ... "Muster ohne Wert", je nachdem – je nach der Meinung unserer Eitelkeit.

Kurz: was wissen wir Pakete von dem Inhalt der Sendung? Mir scheint, als transfiguriere sich der Inhalt nach dem Belieben der Kraftquelle, von der seine fluide Substanz ausgeht. – Ganz andere Wesen sind das, die durch uns hindurchscheinen! ... Die Fürstin Chotokalungin zum Beispiel?! – O gewiß ist sie das nicht, was ich den letzten Taten manchmal in der tollen Überreiztheit meines Gehirns von ihr gedacht habe; ganz gewiß ist sie ... kein Gespenst! Ganz gewiß ist sie eine Frau von Fleisch und Blut; wie ich ein Mann bin von Fleisch und Blut und ein Kind meiner Eltern, wie nur einer unter den Lebenden. – – – Aber die schwarze Isaïs sendet ihre Strahlen aus dem jenseitigen Kosmos durch diese Mittlerin und verwandelt sie in das, was sie von Anbeginn ihres Wesens an war. Ein jeder Sterbliche hat seinen Gott und seinen Dämon: und in ihm leben und weben und sind wir, nach dem Worte des Apostels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. – – In mir lebendig ist: John Dee; was verschlägts, wer John Dee ist? Wer bin ich? – Es ist da Einer, der den Baphomet gesehen hat und das doppelte Gesicht erwerben soll, oder zugrunde gehen!

Jane fiel mir plötzlich ein – – das heißt: Johanna Fromm. – Daß das Spiel des Schicksals sich bis auf Namen erstreckt! – – Aber auch dies geschieht nur nach dem Gesetz; sind unsere Namen doch eingetragen in das Buch des Lebens!

Ich fand Jane – so will ich sie hinfort nennen, statt Johanna – nicht mehr schlafend. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und lächelte sonderbar vor sich hin, derart in sich versunken, daß sie mein Eintreten gar nicht wahrnahm.

Schön saß sie in ihren Kissen; mir hob sich das Herz; und um so wunderbarer mischte sich in mir gegenwärtige Zuneigung und uralt herüberwehende Melodie zweiter verschlungener Tonreihen, als ich fast mit Schrecken erkannte, wie ähnlich die gegenwärtige Johanna Fromm der soeben in Prag – – in dem Prag Kaiser Rudolfs – verlassenen Jane ist!

Ich saß dann bei ihr auf der Kante ihres Bettes und küßte sie. Mir kam gar kein anderer Gedanke zu Sinn, als daß ich alter Junggeselle, der ich doch bin, der selbstverständliche, durch untrennbar alte Bande der schicksalsgeheiligten Ehe mit meiner Frau verbundene Gatte Johannas sei.

Auch Jane nahm meine Gegenwart hin mit der Vertraulichkeit des in sicherer Gewohnheit ruhenden Weibes.

Und dennoch nicht so, wie ich wollte. Sie wehrte mit sanfter Hand meiner näher zudringenden Zärtlichkeit. Ihr Gesicht blieb freundlich, aber zugleich entfernte ein sonderbarer Ernst ihr Gefühl spürbar immer mehr dem meinen. Ich bestürmte sie mit Fragen, ich suchte vorsichtiger und immer behutsamer den Weg zu ihrer Seele, zu den Quellkammern ihrer Leidenschaft. – – Umsonst.

"Jane", rief ich, "auch ich bin betäubt von dem Wunder dieses ... dieses Wiederfindens" – ein Schauer lief mir leise über den Rücken – "aber nun öffne dich endlich der lebendigen Gegenwart! Nimm mich, wie du mich zu finden bestimmt warst! Laß uns leben! Vergessen! – Und uns ... erinnern!"

"Ich erinnere mich!" – ihre Lippen lächelten leise.

"So vergiß!"

"Auch dies, Liebster. – Ich ... vergesse – – –"

Eine würgende Angst quoll mir in der Kehle, als entrinne mir eine sterbende Seele:

"Johanna! – Jane!! – Welche Wege der Vorsehung, die uns wieder vereinigen!" Sie schüttelte langsam den Kopf.

"Nicht Wege der Vereinigung. – Wege des Opfers, Liebster!"

Kalt prickelte mir die Kopfhaut. War Janes Seele mit auf der Reise meines Geistes in die Vergangenheit gewesen? Ich stammelte: "Das ist der Betrug des Grünen Engels!"

"Oh, nein, Liebster, das ist die Weisheit des hohen Rabbi Löw." – Und dabei lächelte sie mir so tief und nah in die Augen, daß mir Tränen, Ströme von Tränen den Blick verdunkelten.

Ich weiß nicht, wie lange ich an ihrer still atmendem Brust lag und mich ausweinte und meine zum Reißen gespannten Nerven an ihrer tiefen Ruhe erquickte wie ein Kind an der Brust der Mutter ...

Endlich verstand ich ihr flüsterndes Zureden, indessen ihre Hand unablässig über mein Haupt strich:

"Es ist nicht leicht, sich auszurotten, Liebster! Wurzeln bluten; es tut weh. Es ist aber doch nur das Vergängliche. Drüben ist alles anders. Ich glaube es wenigstens, Liebster. Ich habe dich zu sehr geliebt ... einmal; ... es ist ja so unwesentlich, wann; ... die Liebe weiß ja auch nichts von der Zeit. Auch sie ist Bestimmung, nicht wahr? – Nun ja, ich habe dich verraten ... ich habe dich damals verraten, o Gott ..." – ihren Körper erschütterte ein kurzer, fürchterlich in gebändigtem Schmerz aufzuckender Krampf, aber sie fuhr mit unbegreiflich tapferer Beherrschung fort:

"... es war wohl meine Bestimmung. Denn mein Wille, Liebster, mein Wille war es nicht. Es war, wie wir Jetzigen sagen können: es war wie die Weichenzunge an der Schiene. Ein so unansehnliches Ding, und doch treibt es mit seiner unscheinbaren Existenz und Macht den Schnellzug aus einer Richtung und entführt ihn unaufhaltsam, unabwendbar in die abgegabelte Ferne, dort hinaus, wo kein Rückweg mehr ist in die Heimat. – Siehe, Liebster: damals war mein Verrat an dir die Weichenzunge. Dein rasender Schicksalsflug ging rechts – der meine links; was soll die einmal abgezweigten Bahnen wieder vereinen? – Dein Weg führt zur – 'Anderen'. Mein Weg führt ..."

"Zur 'Anderen' führt mein Weg?" – ich raste auf; ich lachte; ich entrüstete mich; jetzt war ich Sieger! – "Johanna, wie kannst du das von mir glauben! Eifersüchtige, kleine Jane! Und du glaubst, die Fürstin könnte dir gefährlich werden?!"

Johanna fuhr jäh aus den Kissen und starrte mich verständnislos an.

"Fürstin? Welche Fürstin meinst du? – Ach so, die Russin! Ich habe vergessen gehabt, daß sie ... daß sie noch lebt." – Dann wurde ihr Blick nachdenklich, fast entzückt, und sie sagte plötzlich laut vor sich hin:

"Um Gottes willen, an sie habe ich noch nicht gedacht!" – und sie klammerte sich mit solcher Heftigkeit des Entsetzens an meine beiden Arme, daß ich in dem Schraubstock ihrer Angst erschrocken keiner Bewegung fähig war. Ich verstand nicht, was sie meinte und wovor sie sich fürchtete. Ich sah fragend in ihr Gesicht.

"Warum diese Furcht, Johanna, liebe kleine Törin ...?"

"Auch das ist also noch zu bestehen!" flüsterte sie vor sich hin – "oh, ich weiß jetzt, was geschehen muß!"

"Weniger als gar nichts weißt du!" rief ich und fühlte scheu, daß ich ins Leere hinaus lachte. Sie sagte:

"Liebster, dein Weg zur Königin ist noch nicht frei. Ich ... werde ihn dir frei machen!"

Ein ungewisser Schreck – ich hätte nicht sagen können, wovor – ging durch mich hindurch wie ein minutenlang flammender Blitz. Ich wollte reden; ich konnte nicht. Still sah ich auf Jane. Sie lächelte traurig auf mich nieder. Ich glaubte sie mit einemmal dunkel zu verstehen und war wie gelähmt.

Ich habe Jane allein gelassen. Es war ihr Wunsch gewesen.

Nun sitze ich wieder an meinem Schreibtisch und suche mir Rechenschaft zu geben, indem ich meine Aufzeichnungen fortsetze:

War das Eifersucht? Weibliches Spiel der Vorsicht gegenüber gefühlter, eingebildeter Gefahr?

Ich könnte mir einreden: Janes ausgesprochener Wille, auf mich zugunsten eines Phantoms, einer romantischen Einbildung zu verzichten, sei ein Wille mit heimlichem Vorbehalt. Denn wo ist diese "Andere", diese Königin?! Wer holt mir dir Vision des Baphomet herüber aus der Welt der Träume in die Gegenwart dieses gesegneten Jahres? Mag alles das eine Mission sein, ein geistiges Ziel, ein Symbol der Lebensvertiefung, das ich heute noch nicht ganz zu verstehen vermag, – gleichviel, und wie ich es auch ehre, was hat es zu tun mit der schönen Gegenwart einer geliebten Frau?! Denn ich liebe, liebe Jane, das ist nun entschieden; sie ist der reine gute Gewinn aus dem seltsamen Spiel des Schicksals, das mir die Erbschaft Vetter Rogers ins Haus geworfen hat wie Strandgut aus einem Schiffbruch.

Jane wird mich den Weg zur "Königin" entweder vergessen machen, oder sie wird mir diesen Weg ins Jenseits ebnen mit ihrer Güte und ihren seltsamen seelischen Fähigkeiten. – – – So bliebe also nur noch die Fürstin Chotokalungin? Wenn ich so spöttle, prüfe, Mannesüberlegenheit spüre, so taucht Johannas Gesicht immer wieder störend und ernst vor mir auf: dies geschlossene Gesicht, das ein Ziel zu sehen scheint, ein Ziel, das ich nicht einmal ahnen kann. Mir ist, als habe diese Frau einen bestimmten festen Plan, als wisse sie etwas, was ich nicht weiß ... als sei sie die Mutter und ich nicht viel mehr als ... als ihr Kind. – –

Ich hätte vieles nachzutragen. Ich muß es zusammendrängen, denn die Zeit am Schreibtisch gilt mir fast wie verloren in diesen Wirbeln des Lebens ...

Vorgestern unterbrach mich der Kuß Janes in meiner Schreiberei – ein Kuß der auf einmal unhörbar hinter mich getretenen, liebsten Frau.

Sie plauderte wie eine wohlberatene, umsichtig nach langer Abwesenheit die Herrschaft des Hauses wieder an sich nehmende verständige Gattin. Ich neckte sie darum ein wenig, und sie lachte harmlos und vertraulich. Meine Arme zuckten beständig nach ihr und ihrer mütterlichen Liebkosung. Plötzlich, zusammenhanglos, befestigte sich ihr klares Gesicht wieder zu dem seltsamen Ernst, den ich an ihr vorhin nach ihrem Erwachen wahrgenommen hatte, und sie sagte ruhig:

"Liebster, es ist nötig, daß du die Fürstin aufsuchst."

"Was ist das, Jane?" rief ich erstaunt. "Du schickst mich zu dieser Frau?"

"Auf die ich doch so eifersüchtig bin, Liebster, nicht wahr?!" – Über dem Lächeln ihres Mundes stand ein grübelnder Ernst.

Ich begriff nicht. Ich weigerte mich, einen solchen Besuch zu machen. Wozu auch? Wem zuliebe?

Jane – ich nenne sie nur noch "Jane", und es ist jedesmal ein tiefes Atemholen dabei, wie ein Kraftsaugen aus kühlen Brunnen der Vergangenheit –, Jane gab nicht nach. Sie häufte Gründe auf Gründe und Einfälle auf Einfälle, unsinnige Einfälle: ich sei der Fürstin Genugtuung schuldig; aber auch ihr, Jane, sei daran gelegen, daß meine Beziehungen zu der Fürstin aufrechterhalten würden, und zwar mehr, als sie sagen könne. Schließlich zieh sie mich sogar der Feigheit. Was bei mir den Ausschlag gab. Feigheit? Nur das nicht! Ist schon eine alte Rechnung John Dees zu begleichen oder meines Vetters Roger, so soll sie bezahlt werden auf Heller und Pfennig. Ich sprang auf und sagte es Jane. Da ... glitt sie zu meinen Füßen nieder, rang stumm die Hände und ... weinte.

Als ich auf dem Wege zur Fürstin Chotokalungin war, dachte ich darüber nach, wie sonderbar sich Jane immer wieder zu verwandeln pflegt. Wenn sie, von Dingen unserer Vergangenheit berührt, sich als Jane Fromont, John Dees einstige Gattin, fühlt, verändert sich ihr ganzes Wesen ins Unterwürfige, ins Dienende und ein wenig Larmoyante; spricht hingegen die Frau Johanna Fromm aus ihr, so geht eine unerklärliche Kraft von ihr aus, eine Bestimmtheit und eine mütterliche Festigkeit und Güte, die mich bezwingt.

Unter solchen Gedanken war ich, ehe ichs mich versah, bei der einsam gelegenen Villa draußen an den ersten Hängen des Gebirges angelangt, die von der Fürstin Chotokalungin bewohnt wird.

Eine leichte Beklemmung befiel mich, als ich die elektrische Klingel berührte, obschon ein rascher Blick auf Vorgarten und Haus mich darüber beruhigen mußte, daß mich hier schwerlich etwas Unerwartetes überraschen würde. Das Haus war eines der gewöhnlichsten seiner Art, vor etwa dreißig Jahren gebaut und sicherlich durch viele Spekulantenhände gegangen. Die Fürstin soll es nur gemietet haben, weil es eben jederzeit für Geld zur Verfügung stand: Eine Allerweltsvilla in einem kleinen Allerweltsgarten am Rand der Großstadt.

Der Türdrücker knackte. Ich trat ein und wurde unter dem vorspringenden Milchglasdach der Eingangstür bereits erwartet.

Das Licht muß wohl irgendwie von oben durch das weißliche Glas fallen und mit widerlichem Reflex Gesicht und Hände des Dieners so fahl bläulich färben, sagte ich mir und schob einen Schreck damit beiseite, den mir der Anblick eines Menschen in dunkler Tscherkessentracht einjagen wollte. Es war ein Mann von unverkennbar mongolischem Typus. Unter fast geschlossenen Lidern kaum ein Auge zu erkennen! Auf meine Anrede, ob die Fürstin zu sprechen sei, keine Antwort, nur ein kurzes zuckendes Nicken, ein Niederklappen des Oberkörpers, ein orientalisches Kreuzen der Arme über der Brust, alles so, als ob ich jemand hinter dieser leblosen Puppe unsichtbar stünde und sie an den Fäden zupfte.

Dann verschwand dieser leichenbläuliche Türhüter hinter mir, und ich sah mich in dämmrigem Flur von zwei anderen, lautlos gegenwärtigen Gesellen empfangen, die mir Mantel und Hut abnahmen und mich wie ein Postpaket abfertigten, geschäftig, sorgsam, stumm und automatenhaft. "Postpaket" – jawohl: Postpaket! Ich kam mir vor wie der lebendig gewordene Vergleich, den ich selber noch vor kurzem in meiner Niederschrift als Symbol des irdischen Menschens gebraucht hatte.

Inzwischen riß einer der beiden kurdischen Teufel die Flügeltüre auf und nötigte mich mit einer überaus kuriosen Handbewegung ein.

"Ist das wahrhaftig ein Mensch?" – kam mir ein toller Gedanke zu Sinn, als ich an dem Diener vorüberschritt, vielleicht ist dieser ausgezogegne, erdfahle, mumienhaft mit Grabgeruch behaftete Bursche ein ... Lemure! – Ich verwies mir den verrückten Einfall sofort: selbstverständlich hat die Fürstin als Asiatin altes, mongolisches Personal, vorzüglich dressierte östliche Automaten, es ist doch selbstverständlich! Man muß nicht alles mit romantischen Augen sehen und Abenteuer sich zurechtphantasieren, wo keine sind.

Vorwärts genötigt und mit meinen Gedanken beschäftigt, schritt ich durch mehrere Gemächer, an deren Aussehen ich mich wegen ihrer farblosen Gleichgültigkeit nicht mehr erinnern kann.

Dann aber sah ich mich plötzlich in einem Raum allein gelassen, der wohl orientalisches Gepräge trug, denn er wies die verschwenderische Fülle mehr oder weniger kostbarer Asienteppiche, mehrerer Ottomanen und jeden Schritt verschluckender Felle und Pelze, so daß er mehr einem Zelt als dem Zimmer einer deutschen Dutzendvilla glich, aber das Eigentümliche des Raumes wäre damit noch keineswegs bezeichnet gewesen.

Waren es die schwarzfleckigen Waffen, die allenthalben aus den Raffungen der Gewebe hervorstarrten? Waffen, denen man sofort ansah, daß sie kein Tapezierer da hingesteckt hatte, um zu "dekorieren", sondern an denen sichtbar und spürbar der Blutrost und der bitterliche Geruch des furchtbaren Gebrauchs haftete, – Waffen, von denen der fernsummende Lärm nächtlichen Verrates, unbarmherzigen Schlachtens, grausamen Marterns der Opfer ausging?

Oder war es die befremdende Sachlichkeit eines mächtigen, die eine Wand fast völlig füllenden Büchergestells, das mit Bänden in uraltem Leder und Pergament vollgestopft, zuoberst ein paar schwarze Bronzen trug: spätantike, halbbarbarische Götterköpfe, aus deren obsidianschwarz patinierten Gesichtern onyx- und mondsteinfarben eingelegte Edelsteinaugen mit dämonisch packendem Glanz wie lauernd niederfunkelten?

Oder war es? ...

In der Ecke, gerade mir im Rücken, als bewache er die Tür, durch die ich eingetreten war: ein altarartiger Aufbau, marmorschwarz und von mattem Goldlack schimmernd. Darüber das nicht viel über einen Meter hohe Steinbild einer nackten Göttin aus schwarzem Syenit; soviel ich sehen konnte: eine möglicherweise ägyptisierte, übrigens gräkopontische Darstellung der löwenhäuptigen Sechmet – der Isis. Das bös lächelnde Katzengesicht von unheimlich lebendigem Ausdruck; der Realismus des überaus fein und kunstreich durchbehandelten Frauenkörpers bis zum Obszönen deutlich. Als Attribut in der linken Hand der Katzengöttin: ein ägyptischer Frauenspiegel. – Die rechte Hand, zum Griff gekrümmt, war leer. Sie umschloß einstmal offenbar ein zweites, verlorengegangenes Attribut.

Das für seinen barbarisch-thrakischen Ursprung selten schöne und künstlerisch vollendete Werk genauer zu betrachten wurde mir unmöglich gemacht, denn die Fürstin stand plötzlich neben mir; – sie war geräuschlos, wie einer ihrer kurdischen Lemuren, aufgetaucht aus irgendeinem der Teppichvorhänge, die die Wände ringsum bedeckten.

"Schon wieder der Kenner bei der Kritik?" gurrte ihre Stimme in meinem Ohr.

Ich fuhr herum.

Assja Chotokalungin versteht sich anzuziehen! Sie trug ein kurz geschnittenes Kleid nach der letzten Mode, aber es wäre mir nicht möglich gewesen zu bestimmen, welche Stoffart diese Wirkung von schwärzlich glänzender Bronze auch nur annähernd hätte hervorbringen können; für Seide zu stumpf, für Tuch zu metallisch. Einerlei: sie sah aus die die Katzengöttin da vor uns, in durchscheinende Metallhäute gekleidet, bei jeder ihrer Bewegungen die prachtvollen Formen der steinernen Göttin heimlich ausdeutend und in unausdenkbar ahnungsvolles Leben übersetzend.

"Ein Lieblingsstück meines verstorbenen Vaters", gurrte sie. – "Der Ausgang vieler seiner Studien – und auch der meinigen. Ich bin eine dankbare Schülerin des Fürsten geworden."

Ich brachte einiges Lobende, einiges Nichtsagend-Bewundernde vor über die Statue, über die gelehrten Kenntnisse ihrer Besitzerin, über die eigenartig faszinierende Stimmung, die von dem Kunstwerk ausginge, – und dabei sah ich immer das lächelnde Gesicht der Fürstin vor mir und empfand: außerdem noch etwas Unbestimmtes, eine quälende, dumpfe, halbe Erinnerung, die ich unterm Sprechen in klares Bewußtsein zu zwingen mich abmühte und die mir schattenhaft und ungreifbar immer wieder an den Augen vorbeihuschte wie grauer Rauch ... Ich fühlte nur: dieser Wunsch nach Erinnerung hing mit der fatalen Statue zusammen. Zerstreut heftete sich mein Blick mit hartnäckigem Saugen immer wieder darauf; was alles ich inzwischen aber der unverwandt lächelnden Fürstin ins Gesicht stammelte, das weiß ich nicht mehr.

Sie jedenfalls nahm mich sofort auf das allerliebenswürdigste beim Arm und überschüttete mich mit halb spöttischem, halb freundlichen Vorwürfen wegen meines so ungebührlich verspäteten Besuches. Keine Spur dabei von einem nachträgerischen Gemahnen an jene unerquickliche Szene, die sich einstmals zwischen uns abgespielt hatte. Es schien für sie vergessen, oder so, als habe sie das nie für Ernst genommen – nie für etwas anderes genommen als für scherzhaftes Geplänkel. Sie schnitt mir schließlich auch jeden Versuch, mich wegen meines damaligen Benehmens zu entschuldigen, mit rascher, anmutiger Gebärde ab:

"Nun sind Sie also endlich hier. Endlich sind Sie, mein spröder Gönner, doch ein wenig mein Gast. Und ich hoffe, Sie werden dieses Haus nicht eher verlassen, als bis Sie sich von den bescheidenen Eigenschaften meiner Person ein hinlängliches Bild gemacht haben. – Natürlich haben Sie mir auch mitgebracht, worum ich Sie bat. Oder?" – und sie lachte über ihren Scherz.

Wahnsinn! Sie ist also doch wahnsinnig! zuckte es mir durch den Sinn: schon wieder diese Anspielung auf die verdammte Lanzenspitze! – – "Lanzenspitze?" – mein Kopf fuhr mir wie gerissen herum, und ich starrte auf die rechte, zum Griff gekrümmte, leere Hand der schwarzen Statue auf dem Altar hinter mir. Die Katzengöttin! Sie ist die Herrin des Symbols, das mir so hartnäckig abverlangt wird! – Ahnungen, wirre Versuche, zu kombinieren, blitzschnell vorüberhuschende Einfälle und Sachverhalte miteinander zu verknüpfen, wirbelten in mir auf. Ich stammelte: "Was hat die Statue einst in der Hand gehalten? Sie wissen es; natürlich wissen Sie es, – und in der Tat, es brennt mich geradezu, es von Ihnen zu erfahren ..."

"Aber natürlich weiß ich es!" war die lachend gegebene Antwort. "Interessierte es Sie so sehr? Es wird mir eine Freude sein, Ihnen mit meinen geringen archäologischen Kenntnissen dienen zu dürfen. Wenn Sie also gestatten, werde ich Ihnen sofort ein kleines Privatkolleg lesen. Wie ... ein deutscher Professor ...!" – die Fürstin lachte ihre perlende Tonleiter und klatschte dann nach orientalischer Art kaum hörbar in die Hände. Sofort stand ein kalmückischer Diener stumm wie ein Automat in der Türöffnung. Ein Wink, und der gelbe Geist war von seinem Platz wieder verschwunden, wie aufgeschluckt von der warmen Dämmerung, die überall von den Teppichen hing.

Diese seltsam leuchtende Dämmerung! Jetzt erst fiel mir auf, daß das Zeltzimmer ohne Fenster, somit ohne irgendeine wahrzunehmende Lichtquelle war. ich fand die Zeit nicht, mich zu vergewissern, woher diese sanfte, wie von abendlicher Sonne rötlich vergoldete Beleuchtung in den Raum kommen mochte. Flüchtig dachte ich, es sei da irgendwo eine starke blaue elektrische Tageslichtlampe versteckt, wie Photographen sie haben; und es müsse sich mit ihrem Licht irgendwie der Schein von schwächeren Rot- und Gelblichtönen mischen, wodurch dieser Eindruck von warmem Abenddämmer hervorgebracht wurde. Und dabei bemerkte ich, wie sich ganz allmählich ein fortdauernder Wechsel in dieser Beleuchtung vollzog und das rötliche Licht einem tieferen grünlichen Schimmer wich; bisweilen wars mir, als passe er sich geradezu der Stimmung an, die sich ebenso unmerklich zwischen der Fürstin und mir, langsam wechselnd, entfaltete. – – – Es mag das wohl Einbildung gewesen sein.

Der dunkellivrierte Diener in seinen tadellosen hohen Lackschaftstiefeln, in denen die bauschigen Hosen staken, kehrte geräuschlos wieder. Er trug ein silbernes Tablett mit silbernen Schalen, schwarz tauschiert; "Persische Arbeit", stellte ich fest. Darin lag allerlei Konfekt.

Im nächsten Augenblick war der Mongole wieder wie fortgewischt; zwischen mir und der Fürstin standen die Schalen auf niedrigem Taburett, und ich sah mich genötigt, zuzugreifen.

Nun bin ich kein besonderer Freund von Süßigkeiten; eine Zigarette wäre mir lieber gewesen, wenn schon die Bewirtungsszene unumgänglich war. Ich griff also ein wenig widerstrebend nach dem klebrigen orientalischen Zeug und kaute eine solche überkandierte Sache hinunter, indessen die Fürstin ohne Umschweife begann:

"Ich soll also wirklich allen Ernstes dozieren, verehrter Freund? Soll Ihnen von der pontischen Isaïs erzählen? – Man nennt die Göttin nämlich in jenen Landstrichen Isaïs, müssen Sie wissen, nicht Isis! ... Das setzt Sie in Erstaunen?"

"Isaïs?" – entfuhr es mir; ich glaube vielmehr, ich habe das Wort geschrien; ich war aufgesprungen und starrte die Fürstin an. Sie legte aber sachte die Hand auf meine Hüfte und zog mich auf meinen Sitz zurück.

"Nun, das ist nichts weiter als eine vilgärgriechische Abwandlung des Namens Isis und hat mit gelehrten Entdeckungen durchaus nichts zu tun, wie Sie anscheinend denken. Die Göttin hat ja mit ihren wechselnden Kultorten und Verehrern auch mannigfache Namensänderungen mitmachen müssen, nicht wahr? Die schwarze Isaïs zum Beispiel, die Sie dort sehen ..." – die Fürstin deutete auf die Statue. Ich nickte nur. Ich konnte nur murmeln: "Ausgezeichnet!" Wahrscheinlich bezog die Fürstin meinen Ausruf auf die Belehrungen, ich meinte aber die soeben genossene Süßigkeit; Bittermandelmischung wohl; dem Gaumen eines Mannes jedenfalls angenehmer als das gewöhnliche fade Geschleck. Ich griff unaufgefordert in die Schale vor mir und führte ein zweites Stück zum Munde.

Indessen sprach die Fürstin weiter:

"Die schwarze Isaïs hat allerdings andere – sagen wir: andere kultische Bedeutung als die Isis der Ägypter. Die Isis ist im Mittelmeergebiet zur Venus, zur Muttergöttin, zur Beschützerin aller kinderliebenden, zeugungsfrohen Weltbürger geworden, wie ja allgemein bekannt. Unsere pontische Isaïs dagegen ist mit ihren Freunden erschienen ..." Hier blendete mich die Helle des Wiedererinnerns dermaßen, daß ich kaum die Worte finden konnte, um auszurufen:

"Sie ist mir erschienen im Kellergewölbe des Doktors Hajek in Prag, als ich mit Kelley und Jane den Grünen Engel beschwor! Sie war es, die über dem Brunnen der unermeßlichen Tiefe schwebte als ein prophetisches Bild meiner kommenden Leiden, als die bittere Botin der Liebe zu meinem Haß gegen Kelley, zu meinem Haß gegen alles, was mir je teuer war!!"

Die Fürstin neigte sich vor: "Wie interessant! Sie ist Ihnen also wirklich schon einmal erschienen, die Göttin der schwarzen Liebe? – Nun, dann verstehen Sie gewiß desto leichter, was ich Ihnen von der schwarzen Isaïs zu berichten hätte; vor allem nämlich, daß die Göttin im Reiche des anderen Eros herrscht, dessen Größe und Gewalt keiner ahnt, der die Weihen des Hasses nicht in sich erfahren hat."

Gierig fuhr meine Hand in die silberne Schale; ich spürte einen unbezwinglichen Heißhunger nach diesem bittersüßen Konfekt unwiderstehlich Macht über mich gewinnen. Und dann – schiens mir nur so, oder war es Wirklichkeit: das Licht im Raum war plötzlich seltsam grün. Mir war, als säße ich plötzlich unter Wasser, tief auf Meeresgrund oder in einem unterirdischen See, in einem urlange versunkenen Schiff oder einer Insel auf dem Grunde des Ozeans. – Und in diesem Augenblick wußte ich wieder: mag das alles zusammenhängen, wie es will, mag es ein Durchscheinen der schwarzen Isaïs durch den Leib einer irdischen Frau, einer noch so leibhaftigen kaukasischen Fürstentochter, sein: diese Frau da vor mir ist die schwarze Isaïs, die Feindin John Dees, die Erzfeindin meines Geschlechtes, die Zerstörerin der Bahn, die emporführt ins Übermenschentum. – – Und ein eiskaltes Haßgefühl stieg mir durch die Wirbelsäule zum Hinterhaupt hinauf. Ich dachte an Jane, blickte die Fürstin an, und ein wütender Abscheu befiel mich.

Die Fürstin mußte wohl fühlen, was sich in meinem Innern begab, denn sie sah mir fest ins Auge und sagte halblaut:

"Ich glaube, Sie sind ein gelehriger Schüler, mein Freund; Sie begreifen rasch; es ist ein Vergnügen, Sie zu unterrichten."

"Ja, ich habe begriffen und wünsche zu gehen!" sagte ich kalt.

"Wie schade! Gerade jetzt könnte ich Ihnen so manchen Aufschluß geben, verehrter Freund!" ...

"Es ist mir alles aufgeschlossen. Es genügt mir. Ich ... hasse Sie!!" unterbrach ich mich.

Die Fürstin sprang auf.

"Endlich! Das ist das Wort eines Mannes! Jetzt wird der Sieg vollkommen sein!" ...

Eine unbegreifliche Erregung, die ich kaum zu bemeistern vermochte, machte mir das Sprechen schwer. Ich hörte mich selbst und meine Stimme klang heiser vor Haß:

"Mein Sieg ist: Sie trotz allem durchschaut zu haben. Sehen Sie dorthin!" – ich deutete auf die steinerne Katzengöttin – "das sind Sie selbst! Das ist Ihr Gesicht, wie es in Wahrheit ist! Das ist Ihre Schönheit und das ganze Geheimnis! Und der Spiegel und die fehlende Lanze in diesen Händen, das sind die Zeichen Ihrer höchst primitiven Macht: Eitelkeit und Verlockung, das tausendmal und bis zum Überdruß getändelte Spiel mit den vergifteten Geschossen des Kupido!"

Während ich dies und vieles andere der Art in verwirrtem Zorn hervorstieß, war die Fürstin mit dem Ausdruck größter Aufmerksamkeit und mit allen Zeichen sachlicheifrigen Bejahens meiner Behauptungen neben die schwarze Statue der Katzengöttin getreten und nahm, als wolle sie zu genauestem Vergleich auffordern, mit rascher geschmeidiger Anmut ebendieselbe Haltung an wie das Steinbild. Lächelnd gurrte sie:

"Sie sind nicht der erste, mein Freund, der mir die Schmeichelei sagt, es bestehe eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesem ehrwürdigen Kunstwerk und mir – –"

Ich ließ die letzten Zügel der Rücksicht fallen:

"Ja, in der Tat! Bis in die schamlosen Einzelheiten dieses Katzenkörpers habe stimmt die Ähnlichkeit, Gnädigste!"

Ein spöttisches Lächeln, ein Biegen, ein schlangenförmiger Ruck des Leibes, und die Fürstin stand nackt neben der Steinstatue. Ihr Gewand schien vom Teppich schimmernd emporzuschäumen wie die uralte Meermuschel der Aphrodite.

"Nun, mein Schüler, haben Sie recht? Bestätigt sich Ihre Mutmaßung? Darf ich mir schmeicheln, Ihren Erwartungen – ich darf vielleicht sagen: Ihren Hoffnungen – zu entsprechen? Sehen Sie: In diese linke Hand nehme ich nun den Spiegel –" sie griff mit rascher Bewegung nach einem ovalen Gegenstand, der auf dem Schrein gelegen haben mußte, und hielt mir für einen Augenblick einen bronzegrünen antiken Metallspiegel entgegen –: "den Spiegel, dessen Bedeutung Sie übrigens recht oberflächlich zu kennzeichnen beliebten. Der Spiegel in der Hand der Göttin ist durchaus nicht ein Zeichen der weiblichen Eitelkeit, sondern, wenn Sie das verstehen können, ein Zeichen für die Richtigkeit aller menschlichen Vervielfältigung im Seelischen sowohl wie im Körperlichen. Er ist ein Symbol des Irrtums, der jedem Zeugungstrieb zugrunde liegt. – Und nun, sehen Sie, fehlt auch mir, auf daß die Ähnlichkeit mit dem Bilde der Gottheit vollkommen sei, nur noch die Lanzenspitze in der rechten Hand. Die Lanze, um die ich Sie so oft schon bat! ... Sie würden beträchtlich irren, wenn Sie meinen sollten, sie sei das Attribut des kleinbürgerlichen Amors. Eine solche Geschmacklosigkeit dürften Sie mir übrigens nicht zumuten. Was die unsichtbare Lanze ist, das, hoffe ich, werden Sie heute noch, verehrter Freund, an sich erfahren dürfen – –." Mit vollendeter Sicherheit schritt die Fürstin aus dem Ring ihres am Boden rundum gebauschten Gewandes. Ihr wundervoll ebenmäßiger, hellbronzefarbener Körper, den kaum ein Zeichen schon erfahrener Liebkosung einer jungfräulichen Straffheit beraubt zu haben schien, behauptete sich mit Recht als das schönere Kunstwerk neben der steinernen Isaïs. Ein wilder Duft, so schien es mir, stieg aus den Gewändern am Boden; das Parfüm, das ich kannte und das nun anfing, meine sowieso schon überreizten Sinne vollends zu betäuben. Ich brauchte kein weiteres Zeugnis mehr, daß hier der Kampf um die Probe meiner Kraft, die Entscheidung über die Echtheit meines Berufenseins und über mein ganzes Schicksal auf mich zutrat.

Leicht an die dunkle Kante des hohen Bücherschranks gelehnt, stand jetzt die Fürstin mit der völlig freien, unnachahmlichen Grazie unschuldig tierhafter Bewegtheit und fuhr fort, mit ruhiger, wundervoll weicher Stimme zu erzählen von dem alten Kult der pontischen Isaïs, wie er sich bei einer geheimen Sekte der Mithraspriesterschaft entwickelt hatte.

"Jane! Jane!" rief ich stumm in mich hinein und versuchte, meine Ohren dem dunklen Wohllaut der in sachlichem Vortrag sich ergehenden Stimme neben mir zu verschließen. Das Bild Janes schien mir in einem grünlichen Lichtschein zu schweben; es nickte mir mit traurigem Lächeln zu; es verschwamm und verzitterte in ziehendem, grünem Wasser. – Sie ist wieder "drüben", wie jetzt auch ich, auf dem grünen Grund ... schoß mirs durch den Sinn; aber ich verlor die Vision vor meinen Augen, und Assja Chotokalungins wunderbar vollkommene körperliche Nähe, ihre klar und gemessen fortfließende Rede nahmen mich wieder gefangen.

Sie sprach jetzt von den Mysterien des pontischen Geheimkultes, der dieser schwarzen Isaïs gewidmet war und die Priester zwang, nach unausdenklichen Orgien der geistigen Introversion, sich in Frauenkleider zu hüllen, der Göttin von links mit der weiblichen Natur ihres Leibes zu nahen und ihr das Bewußtsein ihrer männlichen Natur zu opfern. Nur entartete Schwächlinge, denen darum auch jede weitere Einweihung, jede fernere Entwicklung auf dem Wege der Jüngerschaft versagt blieb, opferten ihr männliches Prinzip im Rauschtaumel des Ritus an ihrem Körper selbst. Diese Verstümmelten blieben für immer im Vorhof des Tempels, und manche, die später, ernüchtert und von den Ahnungen der höheren Wahrheit heimgesucht, den Fehler ihrer voreiligen Raserei mit Entsetzen erkannten, endeten im Selbstmord, und ihre Larven, ihre Gespenster, bildeten die dienende Lemurengefolgschaft – den Sklavenstaat der Herrin drüben in Ewigkeit.

"Jane! Jane!!" fing ich wieder an, um Hilfe in mich hineinzubeten, denn ich fühlte, wie mir ein innerer Halt hinschwand, als brenne ein Rebpfahl mit senkrecht aufstechender Flamme, um dein ein traubenschwer reifender Weinstock gerankt ist ...

Vergebens die Anrufung. Ich fühlte deutlich: Jane war weit, unendlich weit von mir; vielleicht lag sie im Tiefschlaf, selbst hilflos und entrückt und abgeschnitten von jeder irdischen Verbindung mit mir.

In diesem Augenblick faßte mich ein wütender Zorn auf mich selbst an. "Schwächling! Feigling!! Kastrat wohl gar schon? Wert, wie ein thrazischer Korybant zu enden?! Raff dich auf! Selber stelle dich auf deine eigene Kraft und dein eigenes Bewußtsein. Selbstbewußtsein ist das Prinzip, um das es in diesem satanischen Kampf geht! Selbstbewußtsein soll dir geraubt werden! Selbstbewußtsein nur kann dich retten und kein Gebet zur Mutter – zum Weib in anderer Offenbarung ihres Wesens, sonst wirft sie dir Weiberkleider über, und Priester der Katzengöttin bleibst du so oder so!" – –

Ich hörte Assja Chotokalungin ruhig weitersprechen:

"Ich hoffe, es ist mir gelungen, deutlich zu machen, daß es im Kulte der pontische Isaïs vor allem darauf ankam, die Priesterneophyten unbarmherzig auf die Stärke ihres unerschütterlichen Selbstbewußtseins zu prüfen, nicht wahr? Liegt doch diesem Myteriumsbekenntnis der große Gedanke zugrunde, daß nicht die selbstverräterische Preisgabe des tierisch fortzeugenden Eros, sondern allein der Haß der Geschlechter gegeneinander, der das Geschlechtsmysterium selber ist, die Erlösung der Welt, die Vernichtung des Demiurgen bewirken kann. – Die Anziehung, der jeder gemeine Mensch von seinem Geschlechtspol her zu unterliegen bereit ist und die er in verächtlich beschönigender Lüge mit dem Wort 'Liebe' bezeichnet, ist das widerwärtige Mittel des Demiurgen, durch das er den ewigen Pöbel der Natur am Leben erhält, so lehrt die geheime Weisheit des Isaïskults. Darum ist 'Liebe' pöbelhaft: denn 'Liebe' raubt dem Manne wie dem Weibe das heilige Prinzip ihrer Selbstheit und stürzt sie beide in die Ohnmacht einer Vereinigung, aus der es für die Kreatur kein anderes Erwachen mehr gibt als das Wiedergeborenwerden in die niedrige Welt, aus der sie gekommen ist und immer wiederkommt. Liebe ist gemein; edel allein ist der Haß!" – – die Augen der Fürstin brannten mir entgegen und zündeten in meinem Herzen wie der elektrische Funken im Dynamit.

Haß! – Haß durchfuhr mich mit der Weißglut der Stichflamme gegen Assja Chotokalungin. Sie stand nackt, gereckt wie eine Riesenkatze zum Sprung, ein sachtes, undeutbares Lächeln um den Mund, vor mir und schien zu lauschen.

Mühsam bezwang ich das Toben in meiner Brust und gewann die Herrschaft über meine Zunge wieder. Ich konnte nur flüstern: "Haß! Das ist die Wahrheit, Weib! Könnte ich nur sagen, wie ich dich hasse!"

"Haß!" flüstert sie lüstern. "Haß! Das ist schön. – Endlich, mein Freund, auf dem rechten Weg! Hasse mich! Aber ich spüre nur lauwarme Ströme ..." – ein rasend machendes Lächeln der Geringschätzung lief über ihr Gesicht.

"Her zu mir!" schrie ich; meine Kehle gehorchte kaum.

Ein wollüstiges Zucken überlief das Fell, das glatte süchtige Fell der Weibskatze vor mir:

"Was willst du mir tun, mein Freund?"

"Würgen! Erwürgen will ich dich, Mörderin, Blutkatze, Teufelsgöttin!" – mein Atem ging keuchend; Ringe, Klammern legten sich mir schließlich beengend um Brust und Hals; ich fühlte: wenn ich jetzt nicht sofort das Geschöpf vor mir da vertilge, so kam Vernichtung über mich.

"Du fängst an, mich zu genießen, mein Freund; ich beginne es zu spüren", hörte ich Worte aus ihrem Munde hauchen.

Ich wollte auf sie zuspringen; ich merkte, es war mir nicht möglich; meine Füße wuchsen in den Boden hinein; also: Zeit gewinnen, meine Nerven beruhigen, Kraft sammeln! Da trat die Fürstin mit weichem Ruck einen Schritt auf mich zu.

"Jetzt noch nicht, mein Freund ..."

"Warum nicht?" tobte und brüllte aus mir eine kaum hörbare Stimme, die heiser war vor sinnloser Wut und ... Begier.

"Du hassest mich noch nicht genug, mein Freund!" gurrte die Fürstin.

Da schlug mein Paroxysmus des Abscheus und des Hasses ganz plötzlich um in eine tief aus meinem Innern aufkriechende elende, jämmerliche Angst, und ich schrie mit ebenso plötzlich befreiter Kehle:

"Was willst du von mir, Isaïs?"

Ruhig antwortete das nackte Weib, wie mit sanfter Überredung ihrer Stimme dämpfend:

"Dich auslöschen aus dem Buche des Lebens, mein Freund!"

Da überschlug sich die Angst in mir zu neu aufloderndem Hohn und Übermut; es übertäubte dieses Gefühl der Sicherheit in mir die drohende Kälte der Lähmung; ich höhnte, auflachend:

"Mich?! Ich werde dich ausrotten, du – du Weib aus dem Blute der geschlachteten Katzen! Nicht mehr ruhen werde ich; nicht mehr abspringen werde ich, nicht mehr loslossen deine Schweißspur, die du ziehst, du vom Jäger schon angeschossene Pantherin! Und Haß und Verfolgung und Herzschuß dir, Raubtier, wo ich doch aufstöbere, wo immer ich dich treffe!"

Langsam saugenden Blickes nickte mir die Fürstin zu.

Ich verlor für die unennbar kurze Dauer einer Ewigkeit das Bewußtsein. – – –

Als ich mich mit unbeschreiblicher Kraftanstrengung aus diesem Zustand lähmender Lethargie wieder emporriß, stand die Fürstin nicht mehr wie zuvor nackt zwischen Altaraufbau und Bücherschrank, sondern sie lag vielmehr angekleidet, leicht aufgestützten Armes, auf dem Diwan und machte soeben eine lässige bestätigende Bewegung in der Richtung gegen die Türe hinter mir.

Unwillkürlich fuhr ich herum.

Zweierlei erfaßte ich mit ein und demselben Blick:

Im Türrahmen stand, gekleidet in die Livree der Fürstin, totenbleich und stumm, wie alle diese Lakaien hier, mit erloschenem Blick unter fast geschlossenen Augen: – mein Vetter John Roger ...

Das lodernde Entsetzen muß mir wie Elmsfeuer über dem Kopf aufgeflackert sein. Ich hörte einen halben, gewürgten Schrei aus mir herausbrechen; suchte einen Halt für meine vom Schwindel gepackten Füße; sah nochmals mit aufgerissenen Augen zur Türe: ich muß wohl einer Täuschung meiner überreizten Sinne zum Opfer gefallen sein: der Diener, der immer noch dort stand, war zwar in der Tat ein blonder, großer Mensch – ein Europäer jedenfalls, ein deutscher Diener offenbar unter diesem unheimlichen Gesindel von Asiaten hier, – aber mein Vetter John Roger, von einer geringfügigen Ähnlichkeit abgesehen, – – war das – doch wohl – nicht.

Und dann sah ich noch etwas; zuerst, weil mich der Schreck über den Diener noch allzu sehr im Banne hielt, mit einer Art bloß dumpfen Feststellen: die schwarze Statue der gräkopontischen Isaïs hielt in ihrer rechten zugekrümmten Steinhand das Bruchstück einer schwarztauschierten Lanze ...

Ich machte ein paar Schritte auf den Altar zu und sah deutlich, daß der kurz abgebrochene Schaft der Lanzenspitze, wie diese selbst, aus schwarzem Syenit gearbeitet war, – nicht anders als die Statue selber. Stein war mit Stein verwachsen und alles aus einem Stück Stein gehauen, als ob das Attribut niemals in der Hand der Göttin gefehlt hätte ... Erst als mir gewiß war, daß ich mich nicht täuschen könnte, kam es mir mit dem Nackendruck einer von hinten zupackenden Faust wieder zum Bewußtsein: die Statue hatte zuvor nichts in ihrer griffbereiten Hand gehalten! Wie kam jetzt die Lanzenspitze in diese schwarze Steinfaust?!

Es blieb mir aber keine Zeit zu fernerem Besinnen.

Die Meldung des Dieners, von der Fürstin zustimmend entgegengenommen, betraf einen Besuch, der draußen warte. An mein Ohr drang die weiche Stimme Assjas:

"Was hat Sie nur so schweigsam gemacht, verehrter Freund? Seit Minuten starren Sie vor sich hin und schenken meinen unendlich sorgfältigen Ausführungen über thrazische Lokalkulte nicht die geringste Beachtung mehr? Ich spreche immer weiter in der eitlen Anmaßung, interessant zu dozieren wie ein deutscher Professor, und Sie schlafen mitten im Kolleg ein?! Hören Sie, mein Freund, ist das artig?"

"Ich ... habe ich? ..."

"Jawohl! Richtig geschlafen, wie mir scheint, haben Sie, mein Bester; ich will versuchen –" die Fürstin ließ ihre Lachperlen wieder über mich hinwegrollen – "ich will versuchen, meiner Empfindlichkeit ein Schnippchen zu schlagen und die Schuld nicht auf meinen Vortrag, sondern auf Ihr nur geheucheltes Interesse für gräkopontische Kunst und Kultur zu schieben. Da ist freilich alle gelehrte Mühe vergebens verschwendet ..."

"Ich weiß in der Tat nicht, Fürstin", stotterte ich, "ich bin verwirrt ... ich bitte, zu verzeihen ... aber ich kann mich doch nicht so unbegreiflich getäuscht haben: ... die Statue der löwenhäuptigen Isis dort zum Beispiel ..." – Schweiß perlte mir über die Stirn herab. Ich mußte mein Taschentuch zu Hilfe nehmen.

"Natürlich, es ist viel zu warm hier", rief die Fürstin lebhaft, "verzeihen Sie, lieber Freund! Ich liebe die Wärme eben zu sehr! Aber es wird Ihnen darum genehm sein, unserm Gast, der mir soeben gemeldet wurde, einige Schritte entgegenzugehen?"

Eine überraschte Frage, die ich gerade noch unterdrückte, um nicht gänzlich dem Verdachte, geschlafen zu haben, zu verfallen, schien von meiner liebenswürdigen Wirtin dennoch verstanden.

"Lipotin erwartet uns im Vorzimmer. Ich hoffe, Sie sind nicht ungehalten, daß ich nicht ablehnte, ihn zu empfangen, da er ja ein gemeinsamer Bekannter ist?"

Lipotin! – – Ich hatte das Gefühl, jetzt erst wieder ganz zu mir und in den Besitz meiner seelischen Kräfte zu kommen.

Ich kann es nicht anders und nicht besser bezeichnen: ich hatte das Gefühl, als tauchte ich empor aus ... wo war das grünliche Licht, das soeben noch den Raum erfüllt hatte? – Hinter dem Haupte der ruhenden Fürstin war ein schwerer Kelim halb gerafft aufgezogen; sie selbst sprang auf und öffnete einen verborgenen Fensterflügel. Warme Nachmittagssonne machte ein goldenes Staubband im Raume tanzen.

Mit aller Gewalt schlug ich das in mir aufwirbelnde Heer von Zweifeln, Fragen und Selbstbeschuldigungen nieder, so gut es eben gehen wollte, und begleitete die Fürstin ins Vorzimmer, wo Lipotin bereits wartete und uns beiden alsbald mit lebhaftem Gruß entgegentrat.

"Es tut mir unendlich leid", begann er, "schon die erste Begegnung meiner verehrten Gönnerin mit einem so oft vergeblich erwarteten Gast in ihrem Hause zu stören! Aber ich bin überzeugt, wer einmal diese sehenswürdigen Räume besucht hat, der wird keine Gelegenheit mehr vorübergehen lassen, die es ihm gestatten, sie wieder zu betreten. Ich beglückwünsche Sie, mein werter Freund!" Noch immer mißtrauisch, suchte ich vergebens aus irgendeinem Blick oder einer Bewegung ein geheimes Einverständnis zwischen den beiden zu erspähen. Aber in dem nüchternen Licht und der trivialen Umgebung dieses Vorzimmers war die Fürstin ganz Dame und die liebenswürdig einen alten Vertrauten begrüßende Frau des Hauses; selbst ihr auffallend gut geschnittenes Kleid erschien mir jetzt bei aller Eleganz durchaus nicht mehr so ungewöhnlich wie zuvor, und es blieb mir nur übrig, festzustellen, daß es aus einem allerdings selten kostbaren Seidenbrokat gearbeitet war. –

Mit raschem Lächeln nahm die Fürstin Lipotins Worte auf:

"Lipotin, ich fürchte, unser gemeinsamer Freund hat im Gegenteil einen ziemlich ungünstigen Eindruck von mir als Hausfrau und Wirtin davongetragen. Denken Sie nur: Ich habe mich nicht entblödet, ihm eine Vorlesung zu halten. Natürlich ist er darüber eingeschlafen!"

Gelächter, Neckerei nach allen Seiten hin machten das Gespräch lebhaft. Die Fürstin blieb dabei, sie hätte ihre vornehmsten Pflichten weiblicher Gastlichkeit versäumt, – sie hätte vergessen, ja wahrhaftig: vergessen, Mokka bringen zu lassen; und dies nur deshalb, weil sie es nicht hätte erwarten können, einem Kenner von dem seltenen Range ihres Gastes mit ihrem eigenen, doch bloß angelernten Wissen etwas vorzuprunken. Man sollte eben niemals Vorträge halten, ohne vorher seine Opfer und Zuhörer mit einer Herzstärkung zu laben, und was dergleichen Scherzreden mehr waren. Mir stieg dabei die Schamröte ins Gesicht, wie ich so bedachte, mit was für Traumphantasien ich während der Zeit, in der mich die Frau des Hauses eingeschlafen glaubte, beschäftigt gewesen war!

Zu allem hin traf mich in diesem Moment ein schräger Blick Lipotins, der mir zu besagen schien, daß er als instinktfester alter Antiquar mit mehr oder weniger eindringender Hellfühligkeit in meinen Gedanken zu lesen verstehe, – und meine Verwirrung nahm zu. Glücklicherweise schien die Fürstin nichts zu ahnen und deutete meine Befangenheit als Nachwirkung meiner durch heiße Zimmerluft entstandenen Schlaftrunkenheit.

Ein verschmitztes Lächeln unterdrückend, half mir Lipotin aus der fatalen Situation, indem er die Fürstin fragte, ob mich vielleicht die Besichtigung ihrer einzigartigen Waffensammlung zuvor so sehr erschöpft hätte, was er angesichts einer solchen Menge sinnverwirrender Schätze wohl begreifen könnte, aber wieder verneinte die Fürstin mit komischer Verzweiflung und klagte und lachte, was er sich wohl dächte, und daß sie dazu überhaupt noch keine Zeit gefunden hätte und auch gar nicht wage ...

Damit war die Gelegenheit für mich gekommen, endlich mein schwer beschädigtes Ansehen wiederherzustellen, und ich flehte, von Lipotin unterstützt, um die Gunst, die Sammlung, von der ich schon so Märchenhaftes gehört hatte, sehen zu dürfen; ich erbot mich im Scherz zu den härtesten Proben der Aufmerksamkeit, auch gegenüber noch so entlegenen Belehrungen auf einem Gebiete, von dem ich leider nur ganz laienhafte Begriffe besäße.

Die Fürstin ließ sich bewegen, und so schritten wir aufs neue den innern Gemächern zu und erreichten unter fortgesetzten Scherzreden einen Raum, der, offenbar in einem andern Flügel der Villa gelegen, sich plötzlich lang hinstreckte wie eine Galerie.

Zwischen gläsernen Schaukästen strahlten die Wände förmlich wider von dem matten Stahlglanz zahlloser Rüstungen. Wie die entseelten Hüllen von Insektenmenschen standen sie da in langer Reihe nebeneinander, als warteten sie hoffnungslos auf einen plötzlichen Befehl, der sie wieder ins Leben zurückrufen möchte. Zwischen und über ihnen: Topf- und Stechhelme, eingelegte Brünnen, tauschierte Harnische und künstlich genietete Kettenhemden, – meist, soweit ein erster Blick mich belehrte, von asiatischer und osteuropäischer Herkunft. Es war die reichste Rüstkammer, die ich je gesehen, reich vor allem an überaus kostbar eingelegten, mit Gold und Edelsteinen gezierten Waffen, vom merowingischen Skramax herab bis zu den Sarazenenschilden und -dolchen der besten arabischen, sassanidischen und pontischen Schwertschmiedekunst. Seltsam berührte mich der phantastische, eigentümlich starr lebendige Eindruck, der von dieser fast drohend funkelnden Sammlung ausging, als seien es scheintote Wesen, die hier umherstanden oder von den Wänden herabglänzten, – aber viel seltsamer, fremdartiger noch erschien es mir, die Sammlerin all dieser männermordenden Geräte mit leichtem Schritt und in ziemlich extravagantem modischen Gewand hier als Kennerin und belehrende Führerin vor mir herschreiten zu sehen. Ein Weib, eine kapriziöse Dame als leidenschaftliche Verwalterin einer Kammer voll von Folter- und Mordwerkzeugen! – Es blieb mir wenig Muße, diesen Gefühlen nachzuhängen. Die Fürstin sprach eifrig, fließend und gewandt von den Sammlerneigungen ihres verstorbenen Vaters und von ihrer eigenen. Mit geschickter Wahl wußte sie immer auf neue kostbare Seltenheiten aufmerksam zu machen, wovon ich aber naturgemäß nur das wenigste im Gedächtnis behalten habe. Nur so viel war mir aufgefallen, daß diese Sammlung keineswegs nach den üblichen Gesichtspunkten zusammengestellt zu sein schien. Der alte Fürst hatte offenbar nach Sonderlingsart ein ganz besonderes Interesse an solchen Stücken gehabt, die durch Herkunft oder Schicksal irgendwie ausgezeichnet waren. Mehr ein historisch-kuriositätenmäßiges Interesse, ja zum Teil ein schon aufs Legendenhaft-Antiquarische gerichteter Trieb mußte ihn befallen haben; waren da doch Rolands Schild und Kaiser Karls Handaxt zu sehen; auf altrotem Sammetkissen lag die Lanze des Hauptmanns Longinus von Golgatha; da fand sich Kaiser Sun Tiang Sengs Zauberdolch, mit dem er zuerst jenen Graben hatte anreißen lassen, den hernach kein Westmongole mehr zu überschreiten wagte, so daß spätere Kaiser nur zu ihrem eigenen Ruhm und Gedächtnis noch die große chinesische Mauer darüberbauen ließen, deren es angesichts jener magischen Grenzlinie gar nicht mehr bedurft hätte ... Da funkelte grauenvoll Abu Bekrs Damaszenerstahl, mit dem er eigenhändig die siebenhundert Juden von Kuraiza enthauptet hatte, ohne auch nur die Länge eines Atemzugs in seinem blutigen Werk zu rasten. Und so ins Endlose fort wies die Fürstin mir die Waffen der größten Helden dreier Kontinente, oder Stücke, an denen Blut und Grausen der ausschweifendsten Legenden klebten.

Wiederum begann ich rasch zu ermüden; ich fühlte mich wie gewürgt von dem gespenstischen Einfluß, der von diesen stummen und doch so beredten Dingen ausging. Lipotin schien es zu bemerken; er wandte sich zur Fürstin und scherzte:

"Wollen Gnädigste nun nicht nach dem Paraderitt durch so viele Wunderdinge Ihren geduldigen Gast auch noch mit dem geheimen Kummer und dem unauslöschlichen Schmerzenspunkt Ihrer herrlichen Sammlung vertraut machen? – Ich glaube, wir beide hättens um Sie verdient, Fürstin!"

Ich verstand nicht, was Lipotin meinte, und noch weniger, was daraufhin noch Eiliges zwischen ihm und der Fürstin in russischer Sprache halblaut hin und her gezischt und geknurrt wurde. Gleich darauf wandte sich die Dame lächelnd zu mir:

"Verzeihen Sie! Lipotin bedrängt mich wegen der Lanze ... der Lanze, in deren Besitz ich Sie vermute – damals, wie Sie wissen! ... Ich bin Ihnen endlich Aufklärung schuldig, nicht wahr? Natürlich, ich begreife wohl, daß es so ist. Ich hoffe, wenn ich Sie, wie Lipotin sagt, mit dem ... dem Kummer der Chotokalungins vertraut mache, daß Sie vielleicht ... vielleicht doch noch ..."

Das widerwärtige Gefühl saß mir plötzlich wieder in der Kehle, die Mystifikation mit der rätselhaften Lanzenspitze solle wiederum beginnen und mit ihr könnten die zweideutigen Vorkommnisse dieses Nachmittags von neuem aufleben. Ich nahm mich jedoch zusammen und sagte so kurz und trocken wie möglich, daß ich gern bereit sei, mich aufklären zu lassen.

Die Fürstin führte mich an eine der hohen Glasvitrinen und wies auf ein leeres, sammetbezogenes Etui von einer Größe, die ausreichen mochte, etwa einen Dolch von fünfunddreißig Zentimeter Länge aufzunehmen. Sie gurrte:

"Sie haben bereits bemerkt, daß jedem meiner Sammlungsobjekte ein Zettel in russischer Sprache beigefügt ist, – von meinem Vater sorgfältig verfaßt, der Herkunft und Schicksal des betreffenden Gegenstandes behandelt. Da Sie nicht Russisch verstehen, so genügt zu sagen: die Zettel enthalten die sogenannte Legende der einzelnen Stücke. Waffen haben oft viel interessantere Erlebnisse als die interessantesten Menschen. Vor allem leben sie länger, und schon deshalb sind sie reicher an Geschehenem. Meinen Vater haben vor allem diese Schicksale und das Wissen um sie in Bann geschlagen, und ich muß bekennen: diese ... diese brennende Anteilnahme an der Legende dieser Dinge – wenn man sie schon 'Dinge' nennen will – habe ich von ihm geerbt. Sie bemerken hier einen leeren Platz. Das Stück, das ihn ausfüllen sollte, ist ..."

"Ah!" – ich erschrak fast, daß ich so plötzlich erriet – "es ist Ihnen gestohlen worden."

"N–nein" – die Fürstin zögerte – "n–nein, mir nicht. Auch nicht gestohlen, um es wörtlich zu nehmen. Sagen wir: abhanden gekommen auf eine unaufgeklärte Weise. Ich rede nicht gern davon. Kurz: das Stück war für meinen Vater das wertvollste von allen und das unersetzlichste. Auch für mich ist es das immer noch. Es fehlt in der Sammlung, seit ich denken kann; der leere Plüsch hat schon meine frühesten Mädchenträume beschäftigt. Mein Vater hat mir, trotz meiner stürmischsten Bitten, niemals verraten, auf welche Weise diese Lanzenspitze abhanden kam. Er wurde mir jedesmal auf Tage hinaus traurig und verstimmt, wenn ich ihn danach fragte" – die Fürstin brach jäh ab und murmelte, halb geistesabwesend, auf russisch etwas vor sich hin, aus dem ich das Wort "Isaïs" herauszuhören glaubte, und fuhr dann laut fort: "Ein einziges Mal, es war kurz vor unserer Flucht aus der Krim und wenige Wochen vor seinem Tode, da sagte er eines Tages zu mir: es wird deine Aufgabe sein, mein Kind, das verlorene Kleinod wiederzubeschaffen, wenn nicht alle meine Bemühungen hier auf Erden umsonst gewesen sein sollen; ich habe dafür geopfert, mehr als einem sterblichen Menschen hätte zugemutet werden dürfen. Du, mein Kind, bist diesem Dolch mit der Lanzenspitze vermählt, und du wirst deine Hochzeit damit machen!"

Sie können sich denken, mein Herr, welchen Eindruck diese Worte meines Vaters auf mich gemacht haben. Lipotin, der alte Vertraute des Fürsten, wird Ihnen bestätigen, daß der Hinweis des Sterbenden auf gewisse Bemühungen, denen er sich ein Leben lang unterzogen hat, um wieder in den Besitz der hier fehlenden Waffe zu gelangen, tief erschüttert war."

Lipotin nickte mehrmals bestätigend wie eine Pagode mit dem Kopf. Es schien mir, als sei ihm die Erinnerung keineswegs angenehm.

Inzwischen hatte die Fürstin ein winziges, blaustählernes Schlüsselbund hervorgeholt und öffnete damit den Glasschrein. Sie hob die auf altes, schon stark vergilbtes und versportes Papier gedruckte Legende heraus und begann mir vorzulesen:

"Sammlungsnummer 793 b: Speerspitze aus nicht genau zu bestimmender Metallegierung (Manganerze mit Meteoreisen und Goldbeimischung?). In späterer Zeit zur Klinge eines Dolches verarbeitet in nicht ganz entsprechender Weise und umgearbeitet. Dolchheft: spätkarolingische, vermutlich aber spanisch-maurische Arbeit, nicht nach Mitte des 10. Jahrhunderts. Reich besetzt mit orientalischen Alexandriten, Kalaiten, Beryllen und drei persischen Saphiren. Erworben von Piotr Chotokalungin – nämlich meinem Großvater – als Geschenk Kaiserin Katharinas. Aus einer Sammlung westeuropäischer Seltenheiten stammend, die Seine Majestät Zar Iwan der Schreckliche angeblich aus dem Raritätenkabinett des damaligen Königs von England erhalten hat. – Der Dolch befand sich darin, wie es heißt, schon zu Zeiten der großen Elisabeth, Königin von England. Folgendes ist davon überliefert:

Dieses köstliche Erz zierte vor Zeiten den unbesieglichen Speer des alten Helden und Fürsten von Wales: Hoël, – 'Dhat' genannt, was soviel heißt wie: 'Der Gute'. – Es soll aber besagter Hoël Dhat diese Waffe auf ganz besondere Weise erlangt haben, nämlich mit Hilfe und Zauber der Weiß-Alben, die die Diener einer unsichtbaren, die Geschicke der Menschheit leitenden Brüderschaft, genannt 'Die Gärtner', sind. Diesen Weiß-Alben, die in Wales als mächtiges Geistervolk gelten, soll einst der Fürst Hoël Dhat eine großen Dienst erwiesen haben, weshalb ihn der König der Weiß-Alben unterwies, wie er aus einem sonders erfundenen Stein, so zuerst zu Mehl zerrieben wurde, unter Beimengung eigenen Blutes solle eine Lanze formen mit Aufsagung geheimer Segensworte und Weihungen, daraus die neue Waffe alsbald mit der Farbe des Blutsteins erstarrte und nun härter als jegliches Erz, ja selbst als der härteste Diamant, seinen Besitzer unbesieglich und gefeit auf alle Zeiten und würdig zum höchsten Königtum machte. Und nicht nur das, sondern auch unüberwindlich gegen den saugenden Tod, so vom Weibe kommt. Die Kunde davon ist in der Familie der Hoël Dhats durch viele Jahrhunderte lebendig geblieben, der Speer sorgsam bewahrt, die Hoffnung genährt und der stolze Emporstieg der Roderichenkel immer neu bestätigt worden. Einer von den Dhats – oder Dees, wie sie später genannt waren – hat aber den köstlichen Dolch verloren auf schmähliche Art, des Segens der Weiß-Alben uneingedenk und auf bösem Pfade beflissen, die Krone des irdischen England auf teuflischem Buhlbett zu erlisten; und ist ihm dabei mit dem Dolch auch die Kraft und das Erbe und der Segen des Blutes abhanden gekommen und ein Fluch auf den Speer gefallen, davon ihn kaum noch der Letzte aus dem verlorenen Geschlechte der Hoël Dhats freimachen und den Dolch zurückbringen wird in die Gewalt der alten Hoffnung. Denn ehe nicht Hoël Dhats Speer von dem Blut reingespült ist, das Hoël Dhats Speer von dem Blut reingespült ist, das Hoël Dhats Speer einst befleckte, ist keine Hoffnung auf Hoël Dhats Erlösung aus der Kette, die im schwarzen Untergang endet."

Hier unterbrach Lipotin die Fürstin und sagte schnell, zu mir gewendet: "Außerdem lautet eine Sage, daß, wenn ein Russe in den Besitz der Lanzenspitze käme, Rußland einst der Herr der Welt würde; käme ein Engländer in den Besitz, so würde England das russische Reich überwinden. Doch das greift in Politik ein, und wer von uns" – schloß er mit anscheinend gleichgültiger Miene – "interessiert sich für so entlegene Themen!"

Die Fürstin hatte offenbar seine Worte überhört; sie legte die verblichene Legende wieder an ihren Platz zurück. Sie hob einen müden, geistesabwesenden Blick zu mir auf, und es war mir, als knirschten ihre Zähne leise gegeneinander, ehe sie fortfuhr:

"Nun, mein Freund, werden Sie vielleicht begreifen, wie sehr ich jeder Spur nachjage, die mir verspricht, den Speer des Hoël Dhat, wie ihn die Märchenurkunde meiner Ahnen nennt, wieder zurückzugewinnen, denn was ist für den Enthusiasmus eines Sammlers aufreizender, spannender und befriedigender, als eine Sache in seiner wohlbehüteten Vitrine für immer eingesperrt zu halten, die für einen andern da draußen in der Welt alles Glück, Leben und ewige Seligkeit bedeuten würde, wenn er erlangen könnte, was – – ich in Obhut genommen habe und – besitze!"

Im ersten Augenblick war ich kaum imstande, den wild mit Sturm und Gegensturm in mir sich bekämpfenden Widerstreit der Gedanken und Gefühle vor den beiden Anwesenden zu verbergen; und daß dies unter allen Umständen das nächst Nötige war, begriff ich auf der Stelle. Mir zerrissen, so schien es mir, alle Schleier, die sich noch vor das Schicksalsgeheimnis meines Ahnen, John Dee, meines Vetters Roger und vor mein eigenes zu ziehen suchten. Eine wilde Freude und Ungeduld, ein zielloses, darum gefährliches und schwatzhaftes Heraussprudeln aller meiner Gedanken, Mutmaßungen und Absichten drängte sich mir auf die Zunge, und nur mit Mühe konnte ich die Miene des höflich interessierten Gastes bewahren, der Gefallen heuchelt an verblaßten Märchen früherer abergläubischer Jahrhunderte.

Zugleich erschreckte mich aber auch der geradezu satanisch höhnende Ausdruck im Gesichte der Fürstin, wie sie von den sadistischen Genüssen der Sammlerin sprach, die ihre höchste Wohllust darin zu finden vorgab, ein Ding in Unfruchtbarkeit und Hoffnungslosigkeit zu verschließen, das irgendwo sonst in der Welt Schicksale entscheiden, Leben retten, Seelen erlösen könnte, wenn es seiner Bestimmung gehorchen dürfte; ja noch abscheulicher: daß erst das Wissen um solche Möglichkeiten der Sammlerfreude die rechte Würze geben solle und daß recht eigentlich das Kastrieren von zeugenden Schicksalsmächten, das Fruchtabtreiben von zukunftsschwangeren Lebensverheißungen, das für immer Sterilmachen des magisch noch fruchtbar, dämonisch Fortzeugenden die Lust und die Wonne einer Sammlergesinnung ist, wie sie soeben die Fürstin zynisch als die ihrige verraten hatte.

Es war, als hätte Assja Chotokalungin den begangenen Fehler selbst gefühlt. Sie brach plötzlich verstimmt ab, schloß die Vitrine und drängte mit ein paar nichtssagenden Worten zum Verlassen des Sammlungssaals. Kaum daß sie noch die halbernst hingeworfenen Worte Lipotins mit abgewandtem Gesicht entgegennahm, der ihr auf einmal zurief:

"Unser verehrter Freund, was soll er nun von mir halten? Daß ich Ihnen, teure Fürstin, einmal nur so andeutungsweise berichtete, einen gewissermaßen Erbberechtigten an den Hinterlassenschaften der höchst respektabeln Familie der Hoël Dhats, entdeckt zu haben, wird er mir nun dahin deuten, ich hätte geplant, ihn eines mutmaßlichen Familienerbstücks zu berauben, das zu ihm zurückgekehrt sein müßte nach Art des Heckgroschens im Märchen! – Ich bin aber daran völlig unschuldig, mein verehrter Gönner, obschon mich die fürstliche Familie der Chotokalungins seit nun bald vierzig Jahren mit dem ehrenvollen Auftrag bedrängt, das abhanden gekommene Erbsammelstück auf der ganzen bewohnten Erde zu suchen und wieder herbeizuschaffen, koste es, was es wolle. Ganz abgesehen davon, daß schon meine Vorfahren bereits in den Zeiten Iwans des Schrecklichen in ähnlicher Weise für die Ahnen der Frau des Hauses dienstbar gewesen sind! – – Aber alles das hat natürlich mit meiner hohen Schätzung Ihrer Person, achtbarster Gönner, nicht das geringste zu tun. Übrigens: damit ich mich nicht verplaudere, wo ich doch sehe, daß unsere gütige Wirtin ein wenig angegriffen ist durch das Zeigen der Sammlung, so möchte ich Ihnen, Fürstin, nur kurz bemerken, daß meine Nase mich alten Antiquar, was instinktives Wittern anbelangt, noch nie betrogen hat. Als ich vorhin das Etui, das einst den Dolch enthielt, wieder nach Jahren zu Gesicht bekam, da sagte mir ein so deutliches Vorgefühl, wir würden in der allernächsten Zeit die Waffe wieder aufstöbern, daß ich Ihnen beinahe ins Wort gefallen wäre" – er wandte sich an mich: – "Sie müssen nämlich wissen, Verehrtester, es ist eine Schrulle von mir, ein Aberglaube, den mein Beruf mit sich bringt, es ist eins der Geheimnisse der Vererbung durch eine kaum abzusehende Kette meiner Ahnen und Urahnen hindurch, – alle damit beschäftigt gewesen, Kuriositäten, Altertümer, Überbleibsel alter Segnungen und Flüche aufzustöbern, – die mich befähigt, wie ein Trüffelhund zu wittern, wenn etwas von mir Gesuchtes in der Nähe ist, sei es nun räumlich nahe, sei es zeitlich in die Nähe gerückt. Ob nun ich in die Nähe des gesuchten Dinges komme, oder ob die Dinge, von mir angezogen durch Wunsch, oder wie Sie es nennen wollen, mir zureisen? – Mir ists gleich: ich spüre, ich rieche, wenn sie und ich zusammentreffen werden. Und ich, teuerste Fürstin, ich – möge mich doch Mascee, der Magister des Zaren, bei lebendigem Leibe strafen! – ich – rieche den Dolch, die Lanzenspitze Ihrer Väter ... Ihrer beiderseitigen Väter, meine Herrschaften, wenn ich so zu sagen mir erlauben darf ... ich rieche ... ich wittere in der Nähe ..."

Mit diesem Geschwätz Lipotins, dessen ironische und auch, wie mir schien, ein wenig plumpe zweideutige Anspielung für mich etwas Peinliches, Beklemmendes hatte, waren mir aus dem Saal und wieder im Vorzimmer des Hauses angelangt, und dort machte es sehr den Eindruck, als wünschte die Fürstin, uns zu entlassen.

Das entsprach durchaus meinen Wünschen; ich wollte soeben mit meinen Danksagungen zugleich auch meine Absicht, zu gehen, aussprechen, da begann die Fürstin lebhafter, als nach dem unverhofft raschen Abbruch im Sammlungssaal zu erwarten gewesen war, sich zu entschuldigen wegen ihres launischen Betragens; nur sei sie selbst jetzt von unbegreiflicher Müdigkeit befallen worden und eine unpassende Schläfrigkeit strafe sie für begangene Neckerei. Sie erklärte sich ihren Zustand als Folge der dumpfen Kampferluft, die in selten gelüfteten Museen unvermeidlich ist; sie wies den naheliegenden Rat, sich zur Ruhe zurückzuziehen, jedoch fast unwillig zurück und rief:

"Was ich brauche, ist frische Luft! Ich glaube, es geht Ihnen nicht viel anders als mir? Was macht Ihr Kopfweh, mein Freund? – Wenn ich nur wüßte, wohin ich Sie bitten dürfte; mein Auto steht jeden Augenblick bereit ..."

Da unterbrach sie Lipotin, klatschte in die Hände und jubelte:

"Warum fahren denn die Herrschaften nicht hinauf zu den Geisern, wenn Sie schon einen Lincoln haben?"

"Geiser? Was für Geiser? Hier bei uns? Leben wir denn in Island?" fragte ich verblüfft. Lipotin lachte:

"Sie haben noch nicht gehört, daß vor einigen Tagen draußen am Fuße des Gebirges plötzlich heiße Quellen aus der Erde hervorgebrochen sind? Ganz in der Nähe der Ruine Elsbethstein. – Die Bevölkerung bekreuzigt sich, denn eine alte Prophezeiung soll damit in Erfüllung gegangen sein. Wie sie lautet, weiß ich nicht. Merkwürdig jedenfalls, daß diese heißen Springbrunnen mitten im Burghof von Schloß Elsbethstein emporrauschen, wo einst die sogenannte englische Elsbeth, die Herrin der Burg, wie es heißt, vom Wasser des Lebens getrunken hat. Eine gute Vorbedeutung übrigens für die Heilbäder, die dort natürlich bald entstehen werden."

Lipotins nur so obenhin gescherzte Worte erregten in mir ein wirres Echo von halb verwischten Einfällen; ich wollte ihn fragen, was er denn von einer "englischen Elsbeth" wisse, da mir, einem Hiergeborenen, durchaus nichts bekannt sei von einer so oder ähnlich klingenden Sage, die mit Ruine Elsbethstein sich verknüpfe, – aber es ging alles viel zu schnell, und zudem spürte ich immer noch eine unverkennbare Müdigkeit und Denkträgheit, wie sie eine überstandene Ohnmacht, ich möchte beinahe sagen: "Vergiftung" mit sich zu bringen pflegt. Das rasche Hin und Her der Rede ging über mich hinweg, und erst die lebhafte Bitte der Fürstin, ob ich nicht Lust hätte, in ihrem Wagen eine Nachmittagsfahrt hinaus nach Ruine Elsbethstein mitzumachen, bei welcher Gelegenheit am besten ein dumpfer Kopf ausgelüftet würde, riß mich wieder ins Gespräch.

Das einzige, was mich zögern ließ, war der Gedanke an Jane, da ich ihr meine Rückkehr zu ungefähr ebenderselben Stunde versprochen hatte. Der Gedanke an sie überfiel mich in dieser Minute überhaupt mit ganz eigentümlicher Gewalt, und jählings schien mir Zeit und Notwendigkeit gekommen, zum erstenmal offenkundig auszusprechen, was eigentlich doch das natürliche Ergebnis meiner jüngsten Erlebnisse und neu gewonnenen Überzeugungen war. Ich überlegte daher kaum, sondern sagte unvermittelt:

"Diese Einladung zu einer Fahrt ins Freie, Gnädigste, kommt mir in der Tat wie gerufen, denn sie wird meinen beschämend ungehorsamen Nerven gewiß ungemein wohl tun; dennoch muß sich meine Unbescheidenheit Ihrer Nachsicht anvertrauen, Fürstin, wenn ich Sie bitte, mich entweder zu entschuldigen, oder zu dieser Fahrt auch meine ... Braut mitzunehmen, die mich zu dieser Stunde erwartet."

Ich ließ das leichte Staunen der Fürstin und Lipotins nicht erst zu Worte kommen und fuhr rasch fort:

"Sie beide kennen übrigens meine Braut schon: es ist Frau Doktor Fromm, die Dame, die ..."

"Ah, Ihre Hausdame!?" rief Lipotin, aufrichtig verwundert.

"Ja, meine Haushälterin, wenn Sie so wollen", bekräftigte ich mit einer gewissen Erleichterung. Heimlich beobachtete ich dabei die Fürstin. Assja Chotokalungin reichte mir die Hand, rasch und leise auflachend, wie einem alten Kameraden und sagte mit einem Anflug von Spott:

"Wie mich das freut, wertester Freund! – Also doch nur ein Komma?! Und beileibe nicht so was wie ein Schlußpunkt!"

Ich verstand nicht sogleich den Sinn dieser sonderbaren Bemerkung; ich vermutete einen Scherz und antwortete mit einem Lachen. Sogleich empfand ich dieses Lachen als falsch und wie einen feigen Verrat an Jane, aber wieder ging das rasche Rad der Worte und Entschlüsse über mich hinweg, und schnell fuhr die Fürstin fort:

"Nichts schöner, als das Glück der Glücklichen auf einige Stunden teilen zu dürfen! Ich danke Ihnen, mein Freund, für diesen Vorschlag. Wir werden einen entzückenden Nachmittag haben."

Mit fast unbegreiflicher Schnelligkeit rollte sich die nächste Stunde ab. – Wir bestiegen den schon vor der Gartentür leise surrenden Wagen.

Ein elektrischer Schlag durchfuhr mich beim Einsteigen: der Chauffeur vorn am Steuer war ... John Roger. – Natürlich nicht John Roger. Unsinn! Ich meine: derselbe Diener der Fürstin, der mir wegen seiner Größe und seines westeuropäischen Typus unter der asiatischen Kanaille so ganz besonders aufgefallen war. selbstverständlich, daß sich die Fürstin keinen Kalmücken als Chauffeur wählte!

Im Nu hielten wir vor meiner Haustür. Jane schien mich erwartet zu haben. Zu meiner heimlichen Überraschung zeigte sie gar keine Veränderung oder Bedenken, als ich sie von der Absicht der unten wartenden Gäste verständigte, uns gemeinsam an die entfernten Ufer des Stromes hinauszufahren. Sie war sogar sehr angeregt von dem Vorschlag und erstaunlich rasch angezogen und bereit.

Sodann begann jene denkwürdige Fahrt nach Elsbethstein.

Schon die Begegnung der beiden Frauen drunten auf der Straße, als Jane das Automobil bestieg, war anders, als ich irgend hätte erwarten können. Die Fürstin lebhaft, liebenswürdig, mit einem leisen Unterton von Spott in der Stimme wie immer; aber Jane durchaus nicht, wie ich vielleicht ein wenig befürchtet hatte, befangen, oder der sonderbar plötzlichen Situation irgendwie nicht ganz gewachsen ... im Gegenteil. Sie begrüßte die Fürstin mit gemessener und recht wortkarger Höflichkeit, wobei ihre Augen merkwürdig froh leuchteten. Ihr Dank an die Herrin des Wagens klang fast wie die gelassene Annahme einer Herausforderung.

Das erste, was mir auffiel, als wir uns in dem breiten und bequemen Luxusauto zurechtrückten, war ein gewisser nervöser Klang in dem Lachen der Fürstin, den ich bisher noch nicht bei ihr vernommen hatte. Wie sie so ihren Schal um die Schultern zog, sah es fast aus, als fröstelte sie leicht.

Gleich darauf lenkte sich meine Aufmerksamkeit auf den Chauffeur und das Tempo, das er sofort anschlug, kaum daß wir die belebteren Vorstadtstraßen hinter uns hatten. Es schien bald kein Fahren mehr zu sein, sondern eine Art von Gleitflug, sanft, geräuschlos und so gut wie völlig frei von Achsenstößen über die auffallend holprige Landstraße hin. Ein Blick auf den immer weiterstrebenden Geschwindigkeitsmesser ergab hundertvierzig Kilometer. Die Fürstin schien das nicht zu bemerken; jedenfalls traf sie keine Anstalten, den wie leblos am Steuer sitzenden Chauffeur zu mahnen. Ich sah auf Jane; sie schaute kühlen Blickes ins Land hinaus. Ihre Hand lag unbewegt und lässig in der meinen; auch sie wunderte sich offenbar nicht im geringsten über die wahnsinnige Geschwindigkeit der Fahrt.

Bald stieg der Zeiger auf hundertfünfzig und schwankte zum nächsten Zählstrich hinüber. Dann überkam auch mich eine tiefe Gleichgültigkeit gegen die äußerlichen Sinneseindrücke dieser Fahrt: das messerklingenscharfe Vorüberpfeifen der Alleebäume, der schwindelerregende Vorbeitanz vereinzelter Fußgänger, Fuhrwerke und mit fliehenden Hupenschrei überholter Kraftwagen.

Allmählich versank ich schweigsam in die Rückerinnerung der Erlebnisse der verflossenen Stunden. Ich sah die hochmütig mit ihren Blicken der rasenden Fahrt vorausschauende Fürstin an. Sie saß wie ein bronzefarbenes Götterbild; ihr Gesicht hatte den Ausdruck einer Pantherkatze, die geduldig über ihrer heranspielenden Beute hängt. Geschmeidig, mit glattem Fell ... nackt. – Ich mußte die Augen zudrücken; mußte Schleier um Schleier mir vom Gesicht wischen: vergebens; immer wieder sah ich die nackte Predigerin des wollüstigen Geheimkults der Isaïspriester vor mir, die Verkünderin des Liebesgenusses, den der unergründliche, der weißglühende Haß gewährt ... Wieder verspürte ich das Verlangen, mit meinen Händen den Hals dieser dämonischen Halbkatze zu umkrallen und Orgien von Haß, Haß, Haß und Wut in den mordenden Muskeln meiner Fäuste zu genießen; wieder glomm und kroch die Angst durch meine Adern, und ich sandte Stoßgebet um Stoßgebet zu ... zu Jane hinüber, als säße sie nicht Hand in Hand mit mir, dicht neben mir in einem sausenden Wagen, sondern hoch und fern entrückt wie eine Göttin über den Sternen, – wie eine Mutter im unerreichbaren Himmel.

In diesem Augenblick ein elementarer, das ganze Körpergewicht im Flug ergreifender Schreckensruck: Langholzfuhrwerk vor uns! Zwei Automobile vor ins! In entgegengesetzter Fahrt sich begegnend und wir mit hundertsechzig Kilometern Geschwindigkeit auf sie zu sausend! Kein Bremsen mehr möglich: viel zu schmal die Straße!! Daneben, am Wegesrand, rechts und links Abgrunde!

Unbeweglich sitzt der Chauffeur am Rad. Ist er wahnsinnig geworden? Er steigert die Geschwindigkeit auf hundertachtzig Kilometer. Links überholen? Unmöglich: der Knäuel der drei Wagen besetzt die ganze Straße. Da biegt der Chauffeur in leiser Kurve nach – rechts. "Er fährt in den Abgrund, er ist irrsinnig geworden", sage ich mir. Noch eine Sekunde, dann sind wir gepfählt von dem Baumholz des Fuhrwerks: lieber im Abgrund zerschellen! Da!: die rechte Hälfte unseres Autos schwebt frei über der gähnenden Tiefe, in der schäumend der Strom rauscht zwischen Felsen dahin. Kaum einen Meter breit das Wegstück neben dem Holzfuhrwerk, an dem wir vorüberhuschen auf den beiden linken Rädern nur: die furchtbare Geschwindigkeit hält das Auto aufrecht und bewahrt es vor dem Sturz.

Ein schneller Blick nach rückwärts: der Wagenknäuel weit, weit hinter uns, fast nicht mehr sichtbar, in dichten weißen Staub gehüllt. Regungslos sitzt "John Roger" am Rad, als sei alles ein Kinderspiel gewesen. "So kann nur der Teufel fahren", sage ich mir, "oder ein lebendiger Leichnam." Und wieder surren wir an sichelnden meterdicken Ahornbäumen vorbei. – – –

Lipotin lacht:

"Tüchtige Fahrt, was? Wenn die brave Zentrifugalkraft nicht wieder mal geschlafen hätte, dann ..."

Langsam, mit tausend Nadelstichen, kehrt das Blut in meine schreckensgelähmten Glieder zurück. Ich muß wohl mit ein wenig verzerrtem Gesicht geantwortet haben:

"Fast ein bißchen süchtig tüchtig für gewöhnliches Knochenmaterial wie das meinige."

Ein fatales Mißtrauen gegen meine Fahrgenossen bohrt wieder hartnäckig in mir trotz dem deutlichen Augenschein, daß diese Fahrt durch eine mir wohlvertraute Gegend nur allzu wirklich ist. Das Mißtrauen macht, so sehr ichs mir ausrede, selbst vor Jane nicht halt: sind das wirklich Lebende, neben denen ich sitze? Sind es nicht vielleicht Tote? Schemen aus einer Welt, die längst nicht mehr gegenwärtig ist? – –

Das Gesicht der Fürstin ist spöttisch verzogen:

"Fürchten Sie sich?"

Ich suche nach Worten. Es ist mir nicht entgangen, daß Assja Chotokalungin seit Beginn der Fahrt mehrmals mit einem Ausdruck von sonderbarer Besorgnis, ja, fast von Angst um die ihr zur Seite sitzende Jane beobachtet hat. Dieser Zug an ihr ist mir neu. Es reizt mich, in der Richtung zu tasten, und ich antworte darum, gleichfalls lächelnd:

"Nicht, daß ich eigentlich wüßte! Es müßte denn ein solches Gefühl unter Freunden ansteckend sein. Soviel ich sehen kann, geben Sie sich selbst ein wenig Mühe, ein Unbehagen zu verbergen."

Die Fürstin zuckt merklich zusammen. Vorbeidonnernder Lärm einer Unterführung enthebt sie einer Antwort. Statt ihrer ruft Lipotin gegen den Wind:

"Hättte nicht gedacht, daß die Herrschaften sich um den Vorrang in der Todesfurcht streiten würden, anstatt sich im Flug dieser Minuten gesund zu baden! – Übrigens: keine Besorgnis, wo ich mitfahre! In meiner Familie ist das undramatische Verschwinden und Erscheinen auf der Lebensbühne erblich!"

Nach einer Weile sagt Jane ganz still:

"Wer seinem Weg gehorcht, wie kann der erschrecken? Angst fühlen kann doch nur einer, der sich seinem Schicksal entgegenstemmt."

Die Fürstin schweigt. Über ihr lächelndes Gesicht laufen blitzschnelle Schatten, nur mir erkennbar als der Widerschein inneren Gewitters. Dann tippt sie leicht den Chauffeur auf die Schulter.

"Warum fahren Sie so träge, Roger?"

Es gibt mir einen Stich: Roger heißt der Chauffeur!? Welch ein unheimlicher Zufall!

Der Mann vorm Rad nickt. Ein singender Ton dringt aus der Maschine. Der Geschwindigkeitszeiger springt wieder auf hundertachtzig, schlägt ein paarmal wild hin und her, bis er irgendwo festklebt. – Ich blicke Jane an und wünsche in ihrem Arm zu sterben.

Wie wir nach Ablauf weniger Minuten dennoch heil den steilen, über alle Begriffe holprigen Steig hinaufgekommen sind zur Ruine Elsbethstein, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Es gibt kaum eine andere Erklärung als: wir sind hinauf geflogen. Der ungeheure Schwung und die über jede Vorstellung gediegene Konstruktion des Wagens machte das Wunder möglich. – Da droben hat jedenfalls vor uns noch nie ein Automobil gestanden.

Arbeiter staunten uns an wie ein Wunder, die triefend von der Nässe der aus dem Boden quellenden heißen Wasserdämpfe und umwallt vom weißen Dunst, Wesen der Unterwelt gleich, auf Spaten und Kreuzhauen gestützt, umherstanden vor einem zitternden Hintergrund himmelhoch aufsprudelnder Geysirs. Wir wanderten stumm durch die schön umlaubten Gemäuer der Burg, und es fiel mir auf, wieviel Plan und fast gärtnerisch gedachte Verteilung in dem Wuchs der Gebüsche war, zwischen denen immer neue Ausblicke in die Taltiefe sich mit bezaubernder Grazie öffnete. Ein seltsamer, fast romantischer Kontrast: diese überallhin verstreuten halb verwilderten Blumenbeete mitten unter zerfallenem ragendem Gemäuer! Man glaubte durch einen verzauberten Park zu irren, in dem Steinstatuen ohne Kopf oder Arme, moosbewachsen, plötzlich vor einem auftauchten, als hätte eine Fee sie unversehens, um zu erschrecken oder zu necken, hingestellt. Dann wieder ein Spalt wie ein Riß durchs Gestein, und von tief unten herauf glitzerte der silbergleißende schäumende Strom.

Irgend jemand von uns fragte:

"Wer hat wohl all diese sinnverwirrend schöne Unordnung so instand hält?"

Niemand wußte Antwort.

"Haben Sie nicht von einer Sage erzählt, Lipotin, die auf Burg Elsbethstein Bezug hat? Von einer Burgherrin mit Namen Elsbeth, die hier das Lebenswasser trank, oder so?"

"Irgendwer hat mir einmal etwas Verworrenes davon erzählt, ja", sagte Lipotin wegwerfend; "ich könnte das nicht mehr zusammenhängend wiedergeben. Heute nachmittag kam es mir eben nur spaßhaft auf die Zunge."

"Man kann ja einen der Arbeiter im Burghof fragen!" meinte die Fürstin lässig.

"Ein Gedanke!"

So kamen wir langsam in den Schloßhof zurück.

Lipotin zog seine elfenbeinerne Zigarettendose hervor und reichte sie geöffnet einem der Erdarbeiter hin.

"Wem gehört die Ruine eigentlich?"

"Niemand."

"Aber irgendwem muß sie doch gehören!"

"Niemand. Fragen S' halt den alten Gärtner drin!" brummte einer aus der Schar und putzte mit einer Holzspachtel seine Schaufel so sorgfältig, als sei sie ein chirurgisches Experiment. Die anderen lachte und warfen sich bedeutsame Blicke zu.

Ein junger Bursche spähte begierig auf die Zigarettendose, und als sie Lipotin ihm bereitwillig hinhielt, entschloß er sich zu einer Auskunft:

"Er ist nicht recht im Kopf, der Alte. Er spielt den Kastellan hier heroben, aber niemand zahlt ihn dafür. Er ist halt net recht im Kopf. Ich glaub, er is ein Gärtner, oder so. Immerfort grabt er im Boden. Ein Fremder ist er oder so. Hundert Jahr vielleicht is er. Uralt. Schon mein Großvater hat ihn kennt. Niemand weiß, wo er her ist. Fragen S' ihn halt selber." – Der Redefluß des Arbeiters versiegte jäh; die Kreuzpickel sausten wieder hernieder; Schaufeln warfen die Erdschollen aus den Wasserlaufgräben. Kein Wort mehr war aus den Leuten herauszubringen.

Wir schritten dem Bergfried zu; Lipotin machte den Führer. Eine halb vermorschte, mit rostigen alten schmiedeeisernen Bändern versehene Tür wies auf den Eingang hin. Sie schrie kreischend auf, als wir sie öffneten, wie ein aus tiefem Schlaf aufgeschrecktes Tier. Eine verfallene modrige, einst anscheinend mit reichen Schnitzereien verziert gewesene Eichentreppe führte empor in Dunkelheit, die durch schräg hereinfallendes Licht streifenweise durchbrochen wurde.

Durch einen offenen bogenförmigen Einlaß, in dem eine dicke Bohlentüre halb in den Angeln hing, zwängte sich Lipotin voraus in eine Art von Küche. Wir ihm nach.

Ich fuhr zurück:

Dort, in einem Gerippe aus Holzteilen, die einst einen Lehnstuhl gebildet haben mochten, wie aus herabhängenden Lederfetzen zu schließen war, lag halb, saß halb die Leiche eines weißhaarigen Greises. Auf dem verfallenen Herd daneben stand ein tönerner Scherben, in dem ein Rest von Milch zu schwimmen schien. Eine schimmlige Brotrinde dabei.

Plötzlich schlug der Alte, den ich für tot gehalten, die Augen auf und starrte uns an.

Im ersten Augenblick glaubte ich, es sei eine Sinnestäuschung gewesen, denn der Greis war in Lumpen gehüllt, die, mit Wappenknöpfen versehen, einer Livree oder einer mit Resten von Goldfäden durchzogenen Uniform vergangener Jahrhunderte anzugehören schienen, dazu das mumienhafte gelbe Gesicht: alles hatte in mir den Eindruck erweckt, ein Toter säße hier, seit langer Zeit vergessen und vermodert.

"Ist es erlaubt, Herr Kastellan, auf diesen Turm hinaufzusteigen und die Aussicht von droben ein wenig zu genießen?" fragte Lipotin kaltblütig.

Die Antwort, die er endlich auf seine höflich nochmals wiederholte Frage erhielt, war merkwürdig genug:

"Es ist heute nicht mehr nötig. Es ist schon alles besorgt."

Dabei schüttelte der Alte immerzu mit dem Kopf. Man konnte im Zweifel sein, ob aus Schwäche oder um seine Verneinung zu bekräftigen.

"Was ist nicht mehr nötig?" schrie ihm Lipotin ins Ohr.

"Daß Ihr hinauf geht und Ausschau haltet. Sie kommt heute nicht mehr."

Wir verstanden: der Greis erwartete irgend jemand. Er dachte wahrscheinlich im Dämmer seines Begreifens, wir wollten ihm helfen, den Gast zu erspähen, der ihm im Sinn lag. Vermutlich ein Bote, der ihm die kümmerliche Nahrung heraufzutragen pflegte.

Die Fürstin zog ihre Börse, reichte hastig Lipotin ein Goldstück hin:

"Geben Sie das einem armen Teufel. Er ist geisteskrank offenbar. Wollen wir doch gehen!"

Auf einmal schaute der Greis uns der Reihe nach mit weit offenen Augen an, aber nicht ins Gesicht, eher über unsere Köpfe hin. – "Es ist schon recht", murmelte er, "es ist schon recht. Geht nur hinauf. Vielleicht ist die Herrin doch unterwegs."

"Welche Herrin?" – Lipotin reichte dem Alten das Geschenk der Fürstin hin, der aber wies das Geld mit hastiger Bewegung zurück:

"Der Garten ist besorgt; es braucht keinen Lohn. Die Herrin wird zufrieden sein. Wenn sie nur nicht solange ausbliebe! – Wenn der Winter kommt, kann ich die Blumen nicht mehr begießen. Ich warte seit ... seit ..."

"Nun, wie lange wartet Ihr schon, alter Mann?"

"Alter – Mann? Ich bin doch gar nicht alt! Nein, nein, ich bin gar nicht alt. Das Warten erhält mich jung. Ich bin jung, das seht Ihr doch."

Die Worte hatten fast komisch geklungen, aber sie verschlugen uns das Lachen.

"Und wie lang seid Ihr schon hier, guter Mann?" fragte Lipotin unbeirrt fort.

"Wie ... lang ... ich schon hier bin? Wie soll ich das wissen?" – der Greis schüttelte den Kopf.

"Nun, einmal müßt Ihr doch hierherauf gekommen sein! Denkt nach! Oder seid Ihr vielleicht hier oben geboren?"

"Ja, heraufgekommen bin ich. Das ist schon wahr. Heraufgekommen bin ich, Gott sei Dank. Und wann? Man kann doch die Zeit nicht zählen."

"Könnt Ihr euch nicht erinnern, wo Ihr früher gewesen seid?"

"Früher? Früher war ich doch nirgends."

"Mann! Wo seid Ihr denn geboren, wenn nicht hier oben?"

"Geboren? Ich bin nicht geboren; ich bin ertrunken."

Je zusammenhangsloser die Antworten des irrsinnigen Alten zu werden begannen, desto unheimlicher klangen sie mir, und immer hartnäckiger und quälender empfand ich die Neugier, das vielleicht recht triviale Geheimnis dieses verschollenen Lebens enthüllt zu sehen. – Die Worte des Arbeiters: "Er gräbt immerwährend in der Erde", fielen mir wieder ein. Suchte der Greis vielleicht seit jeher nach einem Schatz in der Ruine und war er darüber möglicherweise wahnsinnig geworden?"

Von ähnlicher Neugier schienen auch Jane und Lipotin ergriffen zu sein. Nur die Fürstin stand beiseite mit einer hochmütigen Ablehnung, die mir neu und fremd an ihr war, und machte mehrere vergebliche Versuche, uns zum Gehen zu bestimmen.

Lipotin, der sich aus der letzten Antwort des Irren offenbar auch keinen Reim machen konnte, zog wichtig die Augenbrauen hoch und schickte sich soeben zu einer neuen, klug vorwärtstastenden Frage an, da fing der Greis von selber an zu reden, hastig, unvermittelt, wie angetrieben und fast automatenhaft; unversehens mußte da ein Erinnerungsrädchen in seinem Hirn berührt worden sein, das jetzt von selbst losschnurrte:

"Ja, ja; dann bin ich aus dem grünen Wasser wieder aufgetaucht. Ja, ja; senkrecht aufgetaucht. Ich bin gewandert, gewandert, gewandert, bis ich von der Königin auf dem Elsbethstein gehört hab. Ja, ja; hierher bin ich gekommen, Gott sei Dank. Ich bin doch Gärtner, ja, ja. Da hab ich dann gegraben ... bis ich ... Gott sei Dank. Und jetzt halt ich den Garten wieder in Ordnung für die Königin, wie's mir gesagt worden ist. Damit sie sich freut, wenn sie kommt, versteht Ihr? Das ist doch leicht zu verstehen, nicht wahr? Da braucht sich doch niemand zu wundern, nicht wahr?"

Ein unerklärlicher Schauder überlief mich bei diesen Worten des Alten. Unwillkürlich ergriff ich Janes Hand, als könnte ihr Gegendruck mich in Abwehr oder Bestätigung unterstützen. Lipotins spöttische Mienen verzerrten sich, so schien es mir wenigstens, zu einem fanatischen Ausdruck von blinder Lust, wie man sie den Tierquälern und Inquisitoren nachsagt. Er drängte:

"Und wollt Ihr uns nicht endlich sagen, wer Eure Herrin ist? Vielleicht könne wir Euch Nachricht von ihr bringen."

Der alte Mann schüttelte heftig den Kopf, doch wackelte der weißbesträhnte Schädel ihm dermaßen haltlos nach allen Seiten, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, ob sein heftiges Nicken Verneinung oder eifrige Zustimmung ausdrücken wollte. Sein heiseres Krächzen konnte ebensogut Ablehnung bedeuten, wie der Ausbruch eines wilden Gelächters sein.

"Meine Herrin? Wer kennt meine Herrin?! Ich meine, Ihr, lieber Herr", – er wandte sich zu mir und dann zu Jane –, "Ihr kennt sie, und Ihr, junge Frau, kennt sie gewiß ganz gut, das seh ich Euch an. Ja, das kann ich Euch ansehen. Ihr, junge Frau, Ihr ..."

Er verlor sich in ein unverständliches Gebrummel, indessen sein Blick sich mit dem Ausdruck eines Menschen, der krampfhaft bemüht ist, eine Erinnerung wachzurufen, mit ganz eigentümlicher Schärfe in Janes Augen einzubohren versuchte.

Sie trat unwillkürlich rasch einen Schritt auf den irrsinnigen alten Gärtner zu, oder was er sonst sein mochte, und sofort haschte dieser mit unsicherer Hand nach ihrem Kleid, bekam aber nur den lose umgehängten Mantel zu fassen. Er hielt ihn mit Inbrunst fest, und es schien einen Augenblick, als wolle Klarheit in sein Inneres dringen, derart hellten sich seine Mienen auf. Doch sofort erlosch der lichte Moment, und der Ausdruck unbeschreiblicher Leere breitete sich wieder über sein Gesicht.

Ich sah Jane an, daß sie mich innerlich mit aller Macht anstrengte, irgendeine Erinnerung, die in ihr schlafen mochte, zu erwecken, aber anscheinend gelang es auch ihr nicht. Ich glaube, sie fragte nur aus Verlegenheit, denn ihre Stimme klang unsicher:

"Wen meinen Sie mit Ihrer Herrin, lieber Freund? Sie irren, wenn Sie glauben, ich kenne sie. Auch Sie habe ich heute bestimmt das erstemal gesehen."

Der Greis stammelte unter beständigem Kopfschütteln vor sich hin:

"Nein, nein, nein, das wäre! Ich irre mich nicht. Nein, nein, ich weiß es besser, Ihr wißt doch, junge Frau ..." – seine Stimme wurde rasch und geheimnisvoll eindringlich, und sein Blick schaute in die leere Luft, als sähe er dort und nicht vor sich das Gesicht Janes –, "Ihr wißt doch: Königin Elsbeth ist auf Brautschau geritten, als sie alle glaubten, sie sei gestorben. Königin Elsbeth hat doch hier vom Brunnen des Lebens getrunken! Ich warte hier auf sie, wie ... man mir gesagt hat, seit ... Ich habe sie fortreiten sehen von Westen, wo das Wasser grün ist, um den Bräutigam einzuholen. Eines Tages wird sie aus der Erde auftauchen, wenn die Wasser rauschen. Aus dem grünen Wasser wird sie auftauchen, wie ich, wie Ihr, junge Frau, wie ... ja, ja, wie wir alle – –. Ihr wißt so gut wie ich: es ist doch die Feindin der Herrin da! Ja, ja, das ist mir wohl zu Ohren gekommen! Wir Gärtner finden so manches, hi, hi, wenn wir graben. Ja, ja, ich weiß, die Feindin will der Königin Elisabeth die Hochzeit verstellen. Und davon kommt es auch, daß ich solange warten muß, bis ich den Brautkranz flechten darf. Aber das macht nichts: ich kann warten; ich bin doch noch jung. Ihr seid auch noch jung, Frau, und Ihr kennt unsere Feindin; Ihr ja! Oder ich müßt mich sehr täuschen. Nein, nein, ich ... ich täusch mich nicht. Ich nicht, junge Frau!"

Das traurige Abenteuer mit dem irrsinnigen greisen Gärtner auf Ruine Elsbethstein fing an, unbehaglich zu werden. Wohl klang aus dem verworrenen Unsinn des Alten, wenigstens für meine unbefangenen Ohren, ein zerbrochener Sinn hervor, den ich in dieser phantastischen Situation geneigt war, auf meine eigenen Erlebnisse und Geheimnisse zu beziehen; aber was sieht man nicht alles, was hört man nicht alles da und dort wie geraunte Enthüllung der sprachbegabten und schaffenskundigen Natur, wenn das Herz voll ist und begierig lauscht! – Was lag näher, als daß der arme Irre Erlebnisse, die er gehabt haben mochte und die vielleicht einst sein Hirn verbrannt hatten, mit den Sagen, die Elsbethstein umgaben im Volksmund, verflocht zu wirrem, halb totem, halb lebendigem Gestrüpp.

Plötzlich griff der alte Mann aus irgendeinem der dunkeln Winkel seines Herdes einen im letzten Licht der Sonne feurig auffunkelnden Gegenstand und hielt ihn Jane hin. – Lipotins Kopf fuhr vor wie der eines Geiers. Auch mich durchzuckte es heiß:

In seinen krallenartigen Fingern hielt der Alte einen Dolch mit langem Heft; eine überaus edel gearbeitete Waffe mit kurzer und breiter, offenbar gefährlich scharfer Klinge, die, seltsam bläulichweiß – ein mir unbekanntes Metall –, die ungefähre Form einer Speerspitze hatte. Der Griff schien mit persischen Kalaiten besetzt zu sein, doch konnte ich es nicht genau unterscheiden, denn der alte fuchtelte unruhig mit dem Dolch in der Luft herum, und das Tageslicht in der Turmküche war schon halb in Dämmerung übergegangen.

In diesem Augenblick – sie konnte die Waffe noch gar nicht gesehen haben – drehte sich die Fürstin, wie von Instinkt erfaßt, jäh um und wandte sich uns zu. Sie hatte bis dahin halb abseits gestanden und gelangweilt und nervös mit der Spitze ihres Schirmes Runen in den mulmigen Backsteinestrich gegraben. Fast rücksichtslos durchbrach sie unsern Kreis und griff mit rasch zufahrender Hand nach der Waffe. Ihre Sammelgier schreckte in diesem Moment selbst vor Taktlosigkeit nicht zurück.

Blitzschnell jedoch zog der Wahnsinnige seinen Arm an sich.

Aus dem Munde der Fürstin kam ein sonderbarer Laut. Wenn ich Ähnliches überhaupt je gehört habe, oder mit Gehörtem vergleichen soll, so kann ich es nur mit dem Fauchen einer Katze bezeichnen, die sich zum Kampfe stellt. Alles ging so schnell vor sich, daß es wie Unwirklichkeit an mir vorüberhuschte. Dann hörte ich den Alten meckern:

"Nein, nein; nicht für Euch, alte ... alte Frau! – Da, nehmt Ihr, junge Frau! Für Euch ist der Dolch. Hab ihn lang genug aufgehoben für Euch. Hab doch gewußt, daß Ihr kommen werdet!"

Die Fürstin überhörte offenbar die Beleidigung, die für sie in dem Wort "alte" Frau liegen mußte, zumal sie kaum älter sein konnte als Jane. Vielleicht überhörte sie das Wort absichtlich; jedenfalls streckte sie abermals die Hand aus und bot zugleich in rascher, rücksichtslos sich steigernder Art Summe um Summe für die Waffe, so daß mich diese blinde Erwerbswut und Besessenheit von Sammlergier geradezu amüsierte. Ich zweifelte keine Sekunde, daß der alte Armenhäusler, trotzdem er nicht bei Sinnen war, sofort auf den Handel eingehen würde, zumal eine derartige Menge Geld für ihn einen geradezu märchenhaften Reichtum bedeuten mußte. – Aber das Unerwartete geschah. Was es auch sein mochte, das hier zutage trat, ich kann es nicht enträtseln! War es ein anderer fremder unheimlicher Geist, der die Herrschaft über eine durch Verwirrung des Verstandes getrübte Seele an sich riß, oder wußte der alte Irrsinnige überhaupt nicht mehr, was Reichtum bedeutet, jedenfalls: er hob auf einmal seinen Blick zu der Fürstin auf, und ein grauenhafter Ausdruck wahnwitzigen Hasses überflackerte seine Züge. Dann schrie er sie mit gebrochener schriller Stimme an:

"Euch nicht, alte ... Frau! Euch nicht, um keinen Katzendreck! Um keinen Katzendreck der Welt. Da, nehmt, junge Frau! Rasch! Die alte Feindin ist da! Seht wie sie faucht, wie sie miaut, wie sie gähnt. Rasch zugreifen! ... Da ... da ... da ... nehmt den Dolch. Verwahrt ihn gut. Wenn ihn die Feindin kriegt, ists aus mit der Herrin, ists aus mit der Hochzeit, ists aus mit mir armem weltverbanntem Gärtner. Ich hab ihn verwahrt bis heut. Ich hab die Herrin nie verraten. Hab nie gesagt, wo ich ihn her hab. – Geht jetzt, ihr Leut, geht jetzt!"

Jane, wie im Bann der sonderbaren Worte, hatte den Dolch ergriffen und mit jäher Wendung dem habichtsstoßraschen Zugriff der Fürstin unzugänglich gemacht und im nächsten Augenblick in ihrem Kleid verborgen. Dabei traf ein matter, flintsteinartiger Glanz, der von der speerspitzenförmigen Klinge des Dolches ausging, mein Auge. Blitzartig schoß mir der Gedanke durch den Kopf: der Blutstein des Hoël Dhat! Der Dolch des John Dee! – – Aber ich fand nicht die Zeit, es auszusprechen. Ich sah die Fürstin an; sie hatte ihre Selbstbeherrschung bereits wiedergefunden. Kein Zeichen verriet, was in ihr vorgehen mußte! Ich fühlte: wie Tigerkatzen, die Käfigstäbe zerreißen wollen, tobten Leidenschaften wild in ihr.

Überaus sonderbar hatte mich während dieser Vorgänge Lipotin benommen. Zuerst nur neugierig, war er beim Anblick des Dolches plötzlich wie verrückt geworden. "Es ist ein Irrtum, den Sie da begehen", hatte er den alten Gärtner angeschrieen, "ein ganz blödsinniger Irrtum, ihn nicht der Fürstin zu überlassen! Es ist doch gar kein Dolch! Es ist eine ..." – Der Greis würdigte ihn nicht einmal eines Blickes.

Jane selbst benahm sich in einer mir völlig unverständlichen Weise. Ich hatte vermutet, sie würde in ihren somnambulen Zustand verfallen, aber keine Spur davon zeigte sich in ihren Augen. Sie lächelte vielmehr der Fürstin mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit ins Gesicht, reichte ihr dann sogar die Hand und sagte:

"Wir werden uns wegen dieser Kleinigkeit nur um so lieber haben, nicht wahr, Assja Chotokalungin?!"

Welche Anrede an die Fürstin! Was führte Jane im Sinn? – Zu meinem noch größeren Erstaunen aber erwiderte die sonst so hochmütige Russin diese ziemlich unvermittelte Zutraulichkeit Janes mit der liebenswürdigsten Miene, umarmte sie und – – küßte sie. – In mir zuckte, ohne daß ich im entferntesten hätte sagen können, warum, der stimmlose Warnungsruf auf: Jane, gib acht auf den Dolch! Ich hatte gehofft, sie würde fühlen, was ich in mir dachte, fast zu meinem Schrecken sagte sie zu der Fürstin: "Sie werden natürlich den Dolch von mir bekommen, wenn ... sich die richtige festliche Gelegenheit dazu ergibt."

Der Greis in seinem gerippeartigen Lehnstuhl war zu keinem Wort mehr zu bewegen. Er tat, als sei er mit sich und seinem Stück trockenen Brotes ganz allein, und begann, mühsam mit zahnlosem Kiefer daran zu nagen. Er schien gar nicht mehr zu wissen, daß wie noch zugegen waren. Ein erschütternder Narr!

Wir verließen den Turm im letzten Schein der untergehenden Sonne, deren Strahlen sich in Regenbogenglanz vielfarbig in den Dampfsäulen der kochenden Geister widerspiegelten, ziemlich einsilbig.

Auf der dunklen Holztreppe ergriff ich Janes Hand und flüstertet ihr zu:

"Willst du den Dolch wirklich der Fürstin schenken?"

Zögernd entgegnete sie – und in ihrer Stimme lag etwas, was mich fremdartig berührte:

"Warum nicht, Liebster? Wenn sie so sehr danach verlangt!" – – – –


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