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Wir sitzen in einer winzigen, unsagbar erbärmlichen Stube um einen Tisch herum: der Drechslermeister Mutschelknaus, eine kleine, bucklige Nähterin, von der es in der Stadt heißt, sie sei eine Hexe, ein fettes, altes Weib, ein Mann mit langen Haaren, die ich beide noch nie gesehen habe, und ich.
Auf einem Schrank brennt in rotem Glas ein Nachtlicht; darüber hängt ein grellfarbiges Papierbild, die Mutter Gottes darstellend, das Herz von sieben Schwertern durchbohrt.
"Laßt uns beten", sagt der Mann mit den langen Haaren, schlägt sich an die Brust und plappert das Vaterunser.
Seine Hände sind abgezehrt und von fahlem Weiß, wie arme, blutleere Schullehrer sie haben; seine nackten Füße stecken in Sandalen.
Das fette Weib seufzt und schluckt, als wolle es jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
"Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit Amen, bilden wir die Kette und singen wir, denn die Geister lieben die Musik", sagte der Mann mit den langen Haaren in einem einzigen Satz.
Wir reichen einander die Hände auf der Tischplatte, und der Mann und das Weib stimmen leisen einen Choral an.
Sie singen beide falsch, aber eine so echte Demut und Ergriffenheit klingt aus den Tönen, daß es mich unwillkürlich ergreift.
Mutschelknaus sitzt regungslos; ich höre ihre röchelnden Atemzüge. Sie hat den Kopf zwischen die Arme auf den Tisch gelegt.
Eine Uhr tickt an der Wand; alles andere bleibt totenstill.
"Es ist nicht genug Kraft da", sagt der Mann und blickt mich vorwurfsvoll von der Seite an, als sei ich schuld daran.
Da knistert es im Schrank, wie wenn Holz risse.
"Sie kommt!" flüsterte der Alte erregt.
"Nein, es ist Pythagoras", belehrt uns der Mann mit den langen Haaren.
Das fette Weib schluckt.
Diesmal knistert und knackt es im Tisch, die Hände der Nähterin fangen an rhythmisch zu zucken wie unter dem Taktschlag ihres Pulses.
Einen Augenblick hebt sie den Kopf – die Iris ist nach oben gedreht unter das Lid, man sieht nur das Weiße –, dann läßt sie ihn wieder sinken.
Ich habe einmal einen kleinen Hund sterben sehen; es war genauso; sie ist über die Schwelle des Todes hinübergeglitten, fühle ich. Das rhythmische Zucken ihrer Hände überträgt sich auf den Tisch. Es ist, als ginge ihr Leben in ihn ein.
Unter meinen Fingern fühle ich ein leises Pochen im Holz, wie wenn Blasen aufsteigen und bersten. Eine eisige Kälte kommt aus ihnen, wie sie platzen, verbreitet sich und bleibt über der Platte schweben.
"Es ist Pythagoras!" sagt der Mann mit den langen Haaren im Brustton der Überzeugung.
Die kalte Luftschicht über dem Tisch wird lebendig und beginnt zu kreisen; ich muß an den "ertötenden Nordwind" denken, von dem mein Vater damals um Mitternacht zu dem Kaplan sprach.
Plötzlich erschüttert ein lauter Schlag das Zimmer: der Stuhl, auf dem die Nähterin saß, ist weggerissen worden; sie selbst liegt langausgestreckt auf dem Boden.
Das Weib und der Mann heben sie auf eine Bank, die beim Ofen steht; sie schütteln den Kopf, als ich sie frage: "Hat sie sich nicht verletzt?", und setzen sich wieder an den Tisch.
Ich kann von meinem Platz aus nur den Körper der Nähterin erkennen; das Gesicht ist durch den Schatten des Schränkchens verdeckt.
Unten vor dem Hause fährt ein Lastwagen vorbei, die Hände zittern; das Rollen der Räder ist längst verklungen, aber das Beben in den Mauern bleibt seltsamerweise bestehen.
Oder täusche ich mich? Sind vielleicht nur meine Sinne schärfer geworden und können wahrnehmen, was ihnen sonst entgangen wäre: das feine Nachvibrieren der Dinge, das viel später erlischt, als man gemeinhin glaubt?
Zuweilen muß ich die Augen schließen, so erregend wirkt der rote Schein des Nachtlichtes; wohin er fällt, quellen die Formen der Gegenstände auf und die Umrisse verschwimmen ineinander; der Körper der Nähterin gleicht einer lockeren Masse; sie ist von der Bank auf den Boden geglitten.
Ich habe mir fest vorgenommen, nicht eher aufzublicken, bis etwas Entscheidendes eintritt; ich will Herr über meine Sinne bleiben.
Ich fühle die innere Warnung: sei auf deiner Hut! Ein tiefes Mißtrauen, als sei etwas teuflisch Bösartiges, ein grauenhaftes Wesen wie aus Gift geronnen im Zimmer.
Die Worte aus Ophelias Brief: "Ich werde bei Dir sein und Dich vor jeglicher Gefahr behüten" fallen mir ein, so deutlich, daß ich sie fast höre.
Da rufen die drei plötzlich wie aus einem Munde: "Ophelia!"
Ich schaue auf und sehe: über dem Körper der Nähterin schwebt ein bläulicher Dunstkegel aus kreisendem Nebel, die Spitze aufwärts gekehrt, ein zweiter ähnlicher senkt sich, die Spitze nach unten, von der Decke herab und tastet nach ihm, bis sie sich verbunden haben zur Gestalt einer menschlichen Sanduhr.
Dann ist die Form mit einemmal, – wie das Bild einer Laterna magica, das jemand mit einem Ruck scharf einstellt, – klar umrissen und – Ophelia steht da, leibhaftig und wirklich.
So deutlich und körperhaft, daß ich laut aufschreie und auf sie zueilen will.
Ein Angstruf in mir – in der eigenen Brust –, ein doppelter Angstschrei aus zwei Stimmen reißt mich im letzten Augenblick zurück:
"Halte dein Herz fest! Christopher!"
"Halte dein Herz fest!" gellt es in mir, als riefen der Urahn und Ophelia zu gleicher Zeit durcheinander.
Der Spuk schreitet mit verklärtem Gesicht auf mich zu. Jede Falte des Gewandes ist genau wie sie im Leben war. Dasselbe Mienenspiel, dieselben schönen, träumerischen Augen, die schwarzen, langen Wimpern, die feingezeichneten Brauen, die schmalen, weißen Hände, – sogar die Lippen sind rot und lebensfrisch. – Nur das Haar ist von einem Schleier verhüllt. Sie neigt sich zärtlich über mich, ich fühle ihr Herz klopfen; sie küßt mich auf die Stirn und schlingt die Arme um meinen Hals. – Die Wärme ihres Körpers dringt in mich ein. – "Sie ist zum Leben erwacht!" – sage ich mir, – "es kann kein Zweifel sein!"
Mein Blut will heiß werden, und das Mißtrauen beginnt einem süßen Glücksgefühl zu weichen, aber immer angstvoller schreit in mir Ophelias Stimme; es ist wie ein ohnmächtig verzweifeltes Händeringen:
"Verlaß mich nicht! Hilf mir! – – – Er trägt nur meine Maske!" – glaube ich endlich in Worten zu verstehen, dann erstickt die Stimme wie hinter Tüchern.
"Verlaß mich nicht!?" das war ein Hilferuf. Er hat mich bis ins Innerste getroffen!
Nein, meine Ophelia, die du in mir wohnst, ich verlasse dich nicht!
Ich beiße die Zähne zusammen und werde kalt, – kalt vor Mißtrauen.
"Wer ist dieser 'Er', der Ophelias Maske tragen soll?" frage ich im Geiste und starre forschend der Spukgestalt ins Gesicht: da huscht über das Antlitz des Phantoms ein statuenhafter Ausdruck steinerner Leblosigkeit, die Pupillen ziehen sich zusammen, als habe sie ein Lichtstrahl getroffen.
Es war wie das blitzschnelle Ausweichen eines Wesens, das sich fürchtet, erkannt zu werden; aber so rasch geschah es, einen Herzschlag lang bin ich in den Augen des Gespenstes statt meiner selbst das winzige Bildnis eines fremden Kopfes gesehen.
Im nächsten Moment hat sich die Spukgestalt von mir gelöst und schwebt mit ausgebreiteten Armen auf den Drechslermeister zu, der sie, laut weinend vor Liebe und Glück, umfängt und ihre Wangen mit Küssen bedeckt.
Ein unbeschreibliches Grauen erfaßt mich. Ich fühle wie sich mir die Haare sträuben vor Entsetzen. Die Luft, die ich atme, lähmt mir die Lungen wie ein eisiger Hauch.
Das Bild eines fremden Kopfes, winzig wie eine Nadelspitze und dennoch klarer und schärfer als alles, was ein Auge sehen kann, schwebt mir vor.
Ich schließe die Lider und halte es im Geiste fest. Das Antlitz beständig mir zugekehrt, will es entrinnen; es irrt umher wie ein Funken in einem Spiegel, dann zwinge ich es, stillzustehen, und wir starren uns an.
Es ist das Gesicht eines Wesens, mädchenhaft und zugleich das eines Jünglings, von einer unbegreiflichen fremdartigen Schönheit.
Die Augen haben keine Iris, sind leer wie die eines Marmorbildes und glitzern wie Opal.
Ein leiser, kaum sichtbarer, aber durch seine Verstecktheit um so furchtbarer Ausdruck einer allzerstörenden Erbarmungslosigkeit liegt um die schmalen blutleeren, an den Mundwinkeln mit feinen Linien in die Höhe gezogenen Lippen. – Die weißen Zähne schimmern durch die seidendünne Haut; ein grausiges Lächeln der Knochen.
Der optische Punkt zwischen zwei Welten ist dieses Antlitz, ahne ich; die Strahlen eines haßerfüllten Reiches der Vernichtung sind gesammelt darin wie in einer Brennlinse: der Abgrund aller Auflösung, dessen schwächstes Sinnbild der Todesengel ist, lauert hinter ihm. –
"Was ist diese Gestalt, die da Ophelias Züge vortäuscht?" fragte ich mich angstvoll. "Woher kam sie, welche Kraft des Universums hat ihr Konterfei lebendig gemacht? Es wandelt, bewegt sich voll Liebreiz und Güte, und dennoch ist es die Maske einer satanischen Kraft; – wird der Dämon in ihm plötzlich die Hülle abwerfen und uns in höllischer Scheußlichkeit angrinsen, bloß um ein paar armselige Menschen in Verzweiflung und Enttäuschung zurückzulassen?"
"Nein", begriff ich; "um solcher nichtiger Zwecke willen offenbart sich der Teufel nicht"; ob das Uralte in mir es flüsterte, ob es die lebendige Stimme Ophelias in meinem Herzen war, die da sprach, oder die wortlose Erkenntnisquelle meines eigenen Wesens, – ich weiß es nicht mehr, aber ich verstand: "Die unpersönliche Kraft alles Bösen ist es, die nach stummen Naturgesetzen handelnd, wunderbare Dinge hervorzaubert, in Wirklichkeit nur ein höllisches Gaukelspiel im Sinne des Gegensatzes treibt. – Was da die Maske Ophelias trägt, ist kein raumerfüllendes Wesen, – es ist das magische Erinnerungsbild in dem Drechslermeister, das unter metaphysischen Bedingungen, deren Ablauf und Grundlage wir nicht kennen, sich sichtbar und greifbar gemacht hat – vielleicht zu dem teuflischen Zweck, die Kluft, die das Reich der Toten von dem der Lebenden trennt, noch zu erweitern. – Die noch nicht zu reiner kristallisierter Persönlichkeitsform gestaltete Seele der armen hysterischen Nähterin hat, aus dem Körper des Mediums gequollen wie eine plastisch knetbare magnetische Masse, die Hülle geborgt, aus der die Sehnsucht des alten Drechslermeisters jenes Phantom schuf. – Das Medusenhaupt, das Symbol der versteinernden Macht des Abwärtsfangens, ist hier am Werke im kleinen, kommt segnend wie Christus zu den Armen, schleicht sich ein wie ein Dieb in der Nacht in die Hütten der Menschen."
Ich blicke auf: der Spuk ist verschwunden, die Nähterin röchelt, meine Hände liegen noch auf dem Tisch; die andern haben sie gefaltet. – Mutschelknaus beugt sich zu mir und flüstert: "Sag nicht, daß es meine Tochter Ophelia war, es soll niemand erfahren, daß sie tot ist; sie wissen nur, es war eine Erscheinung eines Wesens aus dem Paradies, das mich lieb hat."
Wie ein Kommentar zu meinen Erwägungen beginnt da feierlich die Stimme des Mannes mit den langen Haaren; – streng wie ein Oberlehrer richtet er das Wort an mich:
"Danken Sie Pythagoras auf den Knien, junger Mann! Auf Herrn Mutschelknaus' Bitte habe ich mich an ihn durch das Medium gewendet, damit er Sie zu unserer Sitzung zulasse, auf daß Sie von ihren Zweifeln genesen! – – Der geistige Stern Fixtus hat sich im Weltall gelöst und fliegt auf unsere Erde zu. – Die Auferstehung aller Toten ist nahe. – Schon sind die ersten Vorboten auf dem Wege. Sie werden unter uns wandeln die Geister der Abgeschiedenen wie unseresgleichen, und die wilden Tiere werden wieder Gras fressen wie einstens im Garten Eden. – Ist es nicht so? Hat Pythagoras das nicht gesagt?"
Das fette Weib gluckste bejahend.
"Junger Mann, lassen Sie die Eitelkeit der Welt fahren! Ich bin durch ganz Europa gewandert (er deutete auf seine Sandalen) und sage Ihnen: es gibt nicht eine Straße, selbst nicht im kleinsten Dorf, in der heute keine Spiritisten wären. Bald wird sich die Bewegung wie eine Springflut über die ganze Welt ergießen. Die Macht der katholischen Kirche ist gebrochen, denn der Heiland kommt in eigener Gestalt."
Mutschelknaus und das fette Weib nicken entzückt, – sie haben aus den Worten eine frohe Botschaft herausgehört, die ihrer Sehnsucht Erfüllung verheißt; – mir aber werden sie zur Prophezeiung einer kommenden furchtbaren Zeit.
So wie ich vorhin das Haupt der Meduse in den Augen des Spuks sah, so höre ich jetzt aus dem Munde des Mannes mit den langen Haaren ihre Stimme; das eine wie das andere in die Maske der Erhabenheit gekleidet. Die gespaltene Zunge einer Viper der Finsternis ist es, die da spricht. Sie redet vom Heiland und meint den Satan. Sie sagt: die wilden Tiere werden wieder Gras fressen! – Mit dem Gras meint sie die Arglosen – die große Menge – und mit den wilden Tieren: die Dämonen der Verzweiflung.
Das Furchtbare an der Verzweiflung ist – ich fühle es: daß sie in Erfüllung gehen wird! – Das Furchtbarste: daß sie gemischt ist aus Wahrheit und infernalischer Tücke! Die leeren Masken der Toten werden auferstehen, aber nicht die Heißersehnten, die Hingegangenen, nach denen die Irdischen weinen! Sie werden tanzen kommen zu den Lebenden, aber es wird nicht der Anbruch des tausendjährigen Reiches sein: – ein Ballfest der Hölle soll es werden, ein satanisch frohlockendes Erwarten des Hahnschreis eines nimmerendenden, grausigen, kosmischen Aschermittwochs!
"Soll heute schon die Zeit der Verzweiflung für den alten Mann und die andern, die hier sitzen, anbrechen? Wünschst du es?" – höre ich es wie stumm fragenden Hohn aus der Stimme der Meduse klingen, "ich will dich nicht hindern, Christopher! Sprich! – Sag ihnen, der du dich meiner Gewalt entronnen glaubst, – sag ihnen, daß du mich gesehen hast in den Pupillen des Phantoms, das ich aus den krebsigen Keimen des verwesenden Seelenkleides jener Nähterin baute und wandeln hieß! – – Sag ihnen doch alles, was du weißt! Ich will dir beistehen, damit sie dir glauben!
Mir kann es recht sein, wenn du besorgen willst, was Pflicht meiner Diener ist. – Sei doch ein Vorbote des großen weißen Dominikaners, der die Wahrheit bringen soll, wie dein braver Ahnherr hofft! – – Sei nur ein Dichter der herrlichen Wahrheit, zur Kreuzigung will ich dir gerne verhelfen! – Sag diesen da mutig die Wahrheit; ich freue mich schon zu sehen, wie 'erlöst' sie sich fühlen werden!"
Die drei Spiritisten schauen mich an, erwartungsvoll, daß ich dem Mann mit den langen Haaren eine Antwort gebe. Ich gedenke der Stelle an Ophelias Brief, in der sie mich bat, ihrem Ziehvater hilfreich beizustehen, ich zögere: soll ich sagen, was ich weiß? Ein Blick in die vor Seligkeit glänzenden Augen des Alten raubt mir den Mut. Ich verbleibe stumm. Was ich bis dahin nur mit flachem Verstande gewußt, so wie Menschenkinder "wissen", das wühlt jetzt meine ganze Seele auf: die brennende Erkenntnis: der furchtbare Riß, der durch die ganze Natur geht, ist nicht nur auf die Erde beschränkt, – der Kampf zwischen Liebe und Haß, der Zwiespalt zwischen Himmel und Hölle reicht bis in die Welt der Abgeschiedenen hinein, weit über das Grab hinaus.
Nur in den Herzen der Lebendiggewordenen im Geiste haben die Toten wahrhaft Ruhe, fühle ich; dort allein ist Rast und Zuflucht für sie; schlafen die Herzen der Menschen, so schlafen auch die Toten darin; wachen die Herzen geistig auf, so werden auch die Toten lebendig und nehmen Teil an der Welt der Erscheinung, ohne der Qual, die dem irdischen Dasein anhaftet, unterworfen zu sein.
Das Bewußtsein der Ohnmacht und gänzlichen Hilflosigkeit ergreift mich, wie ich mir überlege: was soll ich tun, jetzt wo es in meine Hand gegeben ist zu schweigen oder zu reden? – was soll ich später tun als reifer Mann, vielleicht als ein Vollendeter, als ein magisch Vollkommengewordener? Die Zeit steht vor der Tür, wo die Lehre des Mediumismus einer Pestwelle gleich die Menschheit überfluten wird, das fühle ich als Gewißheit. Ich male mir aus: "der Abgrund der Verzweiflung muß die Menschen verschlingen, wenn sie dereinst nach kurzem Taumel des Glücks sehen werden: die Toten, die da den Gräbern entsteigen, lügen, lügen, lügen, ärger als je ein Geschöpf der Erde lügen könnte, – sind dämonische Scheinwesen, sind Embryos, einer infernalischen Begattung entsprossen!
Welcher Prophet wird dann stark und groß genug sein, ein solches geistiges Ende der Welt aufzuhalten?!" – – –
Mit einemmal, mitten in mein stummes Selbstgespräch hinein, überkommt mich eine seltsame Empfindung: es ist, als würden meine beiden Hände, die immer noch, untätig, auf der Tischplatte ruhen, von Wesen ergriffen, die ich nicht sehen kann; eine neue magnetische Kette hat sich gebildet, ahne ich, – ähnlich wie bei Beginn der Sitzung, nur bin ich jetzt der einzige lebende Teilnehmer.
Die Nähterin auf dem Boden richtet sich auf und kommt zum Tisch; ihre Miene ist ruhig, als sei sie vollkommen bei Bewußtsein.
"Es ist Pytha – es ist Pythagoras!" sagt der Mann mit den langen Haaren stockend, aber aus dem wankenden Tonfall seiner Stimme klingt der Zweifel; das normale nüchterne Aussehen des Mediums scheint ihn zu verblüffen.
Die Nähterin sieht mich an und sagt mit einer tiefen Stimme, wie ein Mann, zu mir:
"Du weißt, daß ich nicht Pythagoras bin!"
Ein schneller Blick in die Runde belehrt mich, daß die andern nicht hören, was sie spricht; der Ausdruck ihrer Gesichter ist leer. Die Nähterin nickt bestätigend: "Ich rede nur zu dir, die Ohren der andern sind taub! Das Reichen der Hände ist ein magischer Prozeß; verbinden sich Hände, die noch nicht geistig lebendig sind, so taucht das Reich des Medusenhauptes aus dem Abgrund der Vergangenheit auf, und die Tiefe speit die Larven der Toten aus; die Kette der lebendigen Hände jedoch ist der Schutzwall, der den Hort des obersten Lichtes beschirmt; die Diener des Medusenhauptes sind unsere Werkzeuge, aber sie wissen es nicht; sie glauben, sie zerstören, aber in Wahrheit schaffen sie Raum und Zukunft; wie Würmer, die das Aas verzehren, zernagen sie den Leichnam der materialistischen Weltanschauung, dessen Fäulnisgeruch die Erde verwesen ließe, wenn sie nicht wären; sie hoffen, ihr Tag bricht an, wenn sie die Gespenster der Toten unter die Menschen schicken! Wir lassen sie freudig gewähren. Sie wollen einen leeren Raum schaffen, der Irrsinn und äußerste Verzweiflung heißt und alles Leben verschlingen soll; aber sie kennen das Gesetz der 'Erfüllung' nicht! Sie wissen nicht, daß aus dem Reich des Geistes nur die Quelle der Hilfe springt, wenn die Not da ist.
Und diese Not schaffen sie selber.
Sie tun mehr als wir: sie rufen den neuen Propheten herab. Sie stürzen die alte Kirche und ahnen nicht, daß sie die neue rufen. Sie wollen das Lebendige fressen und fressen nur das Verwesende. Sie wollen die Hoffnung der Menschen auf das Jenseits vertilgen und vertilgen nur das, was fallen soll. Die alte Kirche ist schwarz geworden und lichtlos, aber der Schatten, den sie in die Zukunft wirft, ist weiß; die vergessene Lehre der 'Lösung mit Leichnam und Schwert' wird die Grundlage der neuen Religion sein und das Rüstzeug des geistigen Papstes.
Sorge dich nicht um diesen da" – die Nähterin richtete ihren Blick auf den teilnahmslos vor sich hinschauenden Drechsler – "und auch nicht um seinesgleichen; keiner, der es redlich meint, wandert dem Abgrund zu."
Den Rest der Nacht habe ich auf der Bank im Garten zugebracht, bis die Sonne kam, froh war ich im Wissen: hier zu meinen Füßen schläft nur die Form meiner Geliebten, sie selber ist wach wie mein Herz, ist untrennbar mit mir verbunden.
Das Morgenrot stieg aus dem Horizont, Nachtwolken hingen wie schwere, schwarze Vorhänge vom Himmel bis zur Erde herab, orangegelbe und violette Flecken formten ein riesenhaftes Gesicht, dessen starre Züge mich an das Medusenhaupt erinnerten; als wolle es die Sonne verschlingen, schwebte es regungslos lauernd. Das ganze Bild: ein Schweißtuch der Hölle mit dem Antlitz des Satans darin.
Ich habe, ehe die Sonne kam, ihr wie zum Gruß den Zweig eines Holunderstrauches abgebrochen und, damit er wachsend und gedeihend selber ein Baum würde, ihn in die Erde gesteckt; mir war, als bereicherte ich dadurch die Welt des Lebens.
Noch ehe das große Licht erschien, hatten die ersten Boten seines Glanzes das Medusenhaupt vertilgt; in eine unabsehbare Schar weißer Lämmer verwandelt, trieben die vorher so drohend dunkeln Wolken über den strahlenden Himmel.