Gustav Meyrink
Der weiße Dominikaner
Gustav Meyrink

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Die Familie Mutschelknaus

Mit unserem Hause beginnt die Straße, die mein Gedächtnis die Bäckerzeile nennt. – Es ist das erste und steht allein.

Drei Seiten blicken ins Land hinein, von der vierten aus kann ich die Mauer des Nachbarhauses berühren, wenn ich unser Stiegenfenster öffne und mich hinausbeuge, so schmal ist die Gasse, die die beiden Gebäude trennt.

Die Gasse dazwischen hat keinen Namen, denn sie ist nur ein steilansteigender Durchlaß – ein Durchlaß, wie es wohl keinen zweiten mehr auf der Welt gibt –, ein Durchlaß, der die beiden linken Ufer des Flusses miteinander verbindet; er durchquert hier die Landzunge jenes Wasserkreises, auf der wir wohnen.

Frühmorgens, wenn ich fortgehe, um die Laternen auszulöschen, öffnet sich eine Türe unten im Nachbarhause, und eine besenbewaffnete Hand kehrt Hobelspäne in den heranströmenden Fluß, der sie um die ganze Stadt herum eine Reise machen läßt, um sie eine halbe Stunde später kaum fünfzig Schritte entfernt über das Wehr zu spülen, wo er brausend Abschied nimmt.

Dieses Ende des Durchlasses mündet in die Bäckerzeile; an der Ecke über dem Laden im Nachbarhaus hängt ein Schild, darauf steht:

Fabrik für letzte Ruhestätten
ausgeübt von

Früher hatte darauf gestanden:

Drechslermeister und Sargtischler;

man kann es noch deutlich lesen, wenn das Schild vom Regen naß wird; dann leuchtet die alte Schrift wieder durch.

Jeden Sonntag gehen Herr Mutschelknaus, seine Gattin Aglaja und seine Tochter Ophelia in die Kirche, wo sie in der ersten Reihe sitzen. Das heißt: Frau und Fräulein Mutschelknaus sitzen in der ersten Reihe. Herr Mutschelknaus sitzt in der dritten Reihe, am Eck. Unter der Holzfigur des Propheten Jonas, wo es ganz finster ist.

Wie mir das alles jetzt nach den vielen Jahren so überaus lächerlich vorkommt und – doch so unsagbar traurig!

Frau Mutschelknaus ist stets in schwarze knisternde Seide gehüllt, aus der das amaranthrote, samtene Gebetbuch aufschrillt wie ein Halleluja in Farben. In matten, spitzen Prünellstiefelchen mit Gummizug umtrippelt sie, dezent die Röcke hebend, sorgsam jede Pfütze; auf ihren Wangen verrät ein dichtes Netz feiner rotblauer, unter der rosa geschminkten Haut geplatzer Äderchen das nahende Matronenalter; die sonst so beredsamen Augen, sorgfältig an den Wimpern getuscht, sind züchtig niedergeschlagen, denn es ziemt sich nicht, wenn die Glocken die Menschen vor Gott rufen, sündigen Frauenreiz zu strahlen.

Ophelia trägt ein wallendes griechisches Gewand und einen Goldstreifen um das feine, aschblonde Lockenhaar, das ihr bis auf die Schultern fällt, und immer, so oft ich sie sah, von einem Myrtenkranz gekrönt war.

Sie hat den schönen, ruhigen, gelassenen Gang einer Königin.

Immer klopft mir das Herz, wenn ich an sie denke.

Sie ist auf dem Kirchgang dicht verschleiert – erst viel später habe ich ihr Gesicht gesehen, darin die dunkeln, großen, weltverloren blickenden Augen so seltsam abstechen von dem blonden Haar.

Herr Mutschelknaus, im langen, schwarzen schlottrigen Sonntagsrock, geht meistens ein wenig hinter den beiden Damen; wenn er sich vergißt und mit ihnen auf die gleiche Höhe kommt, flüstert ihm Frau Aglaja jedesmal zu:

"Adonis, einen Schritt zurück!"

Er hat ein schmales, trübselig langes, eingefallenes Gesicht mit rötlichem, schütterem Bart und eine weit vorspringende Vogelnase unter der Stirn, die, nach innen gebaucht, in einem kahlen Spitzschädel ausläuft, der aussieht mit seinem mottenfleckigen Haargürtel, als habe sein Herr damit ein räudiges Fell durchstoßen und die ringsum hängengebliebenen Reste abzuwischen vergessen.

Der Rand des Zylinderhutes, den Herr Mutschelknaus bei jeder feierlichen Gelegenheit trägt, muß immer an der Stirnseite mit einem fingerdicken Watteknödel gefüttert sein, damit er nicht wackle.

An Wochentagen wird Herr Mutschelknaus nie sichtbar. Er ißt und schläft unten in seiner Werkstatt. Seine Damen wohnen in mehreren Zimmern im dritten Stock.

Es mögen wohl drei bis vier Jahre, seit mich der Baron aufgenommen hatte, vergangen sein, ehe ich erfuhr, daß Frau Aglaja und Tochter und Herr Mutschelknaus zusammengehörten.

Der schmale Durchlaß zwischen den beiden Häusern ist vom ersten Morgengrauen an bis nach Mitternacht erfüllt von einem gleichmäßigen brummenden Geräusch, als könne ein Schwarm riesiger Hummeln irgendwo tief in der Erde nicht zur Ruhe kommen; es dringt leise und betäubend bis herauf zu uns, wenn die Luft still ist. – Anfangs erregte es mich und ich mußte immer hinhören, wenn ich tagsüber lernen sollte, ohne daß es mir jedoch nur ein einzigesmal eingefallen wäre zu fragen, woher es wohl stammen möchte. Man forscht nicht nach der Ursache von Begebnissen, die sich ununterbrochen wiederholten; sie erscheinen einem selbstverständlich, man findet sich mit ihnen ab, so ungewöhnlich sie im Grunde auch sein mögen. Erst wenn die Sinne erschrecken, wird der Mensch wißbegierig – oder läuft davon.

Allmählich gewöhnte ich mich an das Geräusch, als wäre es Ohrensausen, so sehr, daß ich nachts, wenn es plötzlich verstummte, jäh aus dem Schlummer fuhr und glaubte, jemand habe mir einen Schlag versetzt.

Als eines Tages Frau Aglaja, die Hände an die Ohren gedrückt, eilig um die Ecke bog und mir dabei einen Korb mit Eiern aus der Hand schlug, entschuldigte sie sich mit den Worten: "Ach Gott, mein liebes Kind, das kommt von dem scheußlichen Gedrechsels des – des Ernährers. Und – und – und seiner Gesellen", ergänzte sie, als habe sie sich verschnappt.

"Also die Drehbank des Herrn Mutschelknaus ist es, die so brummt!" erriet ich. Daß er überhaupt keine Gesellen hatte, und daß die Fabrik nur aus ihm allein bestand, erfuhr ich später von ihm selbst.

Es war ein schneeloser, finsterer Winterabend; ich wollte eben mit meiner Stange die Klappe der Laterne an der Ecke unten aufstoßen, um anzuzünden, da rief mich eine Flüsterstimme an: "Pst, pst, Herr Taubenschlag!", und ich erkannte den Drechslermeister Mutschelknaus, wie er mit grüner Schürze und Pantoffeln, darauf je ein Löwenkopf aus bunten Perlen gestickt war, angetan, mich heranwinkend im Durchlaß stand.

"Herr Taubenschlag, wenn's möglich is, bitte, lassen's heut nacht hier finster, gelt?" – "Wissen Sie" – fuhr er fort, da er mir anmerkte, wie betroffen ich war, obwohl ich mich nicht getraute, nach dem Grunde zu fragen, "wissen Sie, – nicht daß ich Sie verführen möchte, Ihre werte Pflicht zu verletzen, aber die Ehre meiner Frau Gemahlin steht auf dem Spiel, wenn's herauskommt, was ich übernommen hab'. Und mit der Zukunft meiner Fräulein Tochter als Künstlerin wär's für immer dahin. – Kein menschliches Auge darf sehen, was heut nacht hier geschieht!" – Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück, so entsetzte mich der Tonfall in der Rede des alten Mannes, wie er mit angstverzerrtem Mienenspiel auf mich einsprach, – "nein, nein, bitte, nicht davonlaufen, Herr Taubenschlag! – Es ist ja kein Verbrechen nicht! – Freilich, wenn's herauskommt, muß ich ins Wasser gehen! – Wissen Sie, ich habe nämlich einen höchst – einen höchst anrüchigen Auftrag von einem Kunden in der Hauptstadt bekommen, und der wird heute nacht, wenn alles schläft, heimlich auf einen Wagen geladen und fortgeschafft; der Auftrag nämlich. Tja. Hm."

Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Wenn ich auch nicht ahnen konnte, worum es sich handelte, so erriet ich doch, daß es nur etwas Harmloses sein konnte.

"Soll ich Ihnen beim Aufladen helfen, Herr Mutschelknaus?" bot ich mich an.

Der Drechsler fiel mir beinahe um den Hals vor Entzücken: – "Aber wird es auch der Herr Freiherr nicht erfahren?" fragte er im selben Atem und schon wieder sorgenvoll. "Und dürfen Sie so spät noch herunter? – Sie sind ja noch so jung!"

"Mein Pflegevater wird nichts merken", beruhigte ich ihn.

Um Mitternacht hörte ich unten leise meinen Namen rufen.

Ich schlich mich die Treppe hinab und sah schattenhaft in der Dunkelheit einen Leiterwagen stehen.

Den Pferden waren die Hufe mit Lappen umwickelt, damit man sie nicht trappen hören sollte. – Neben der Deichsel stand ein Fuhrknecht und grinste jedesmal, so oft Herr Mutschelknaus aus seinem Laden einen Korb voll runder, großer, braun gestrichener Holzdeckel, mit je einem Knopf in der Mitte zum Anfassen, geschleppt brachte.

Ich sprang sofort auf und half aufladen. In einer halben Stunde war der Wagen gefüllt bis oben und schwankte über die Palisadenbrücke, sich bald in der Finsternis verlierend.

Hochaufatmend zog mich der Alte trotz meines Widerstrebens in seine Werkstätte.

Ein runder, weißgehobelter Tisch mit einem Krug Dünnbier darauf und zwei Gläsern, von denen das eine – ein schöngeschliffenes Stück – offenbar für mich bestimmt war, fing wie eine helle Scheibe das ganze spärliche Licht auf der darüber hängenden kleinen Petroleumlampe auf; der übrige langgestreckte Raum lag fast in Dunkelheit. Nur nach und nach, wie sich meine Augen gewöhnten, konnte ich die Dinge unterscheiden.

Eine stählerne Achse, tagsüber von draußen angetrieben durch ein Wasserrad im Fluß, lief von Wand zu Wand. – Jetzt schliefen etliche Hühner darauf.

Lederne Treibriemen hingen wie Galgenschlingen auf die Drehbank herab. – Eine Holzstatue des heiligen Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, ragte aus der Ecke. Auf jedem Pfeil schlief ebenfalls ein Huhn.

Ein offener Sarg, darin ein paar Stallhasen im Traum von Zeit zu Zeit rumorten, stand am Kopfende einer jämmerlichen Pritsche, die dem Drechsler als Bett dienen mochte.

Eine Zeichnung unter Glas, mit goldenem Rahmen und von einem Lorbeerkranz umgeben, war der einzige Zimmerschmuck; sie stellte eine junge Frau in theatralischer Pose mit geschlossenen Augen und halb offenem Munde dar, die Gestalt nackt, nur mit Feigenblatt, aber schneeweiß, als habe sie, mit Gipswasser bestrichen, Modell gestanden.

Herr Mutschelknaus errötete ein wenig, als er bemerkte, daß ich vor dem Bilde stehengeblieben war, und sagte rasch: "Es ist meine Frau Gemahlin, als sie mir die Hand zum ewigen Bunde reichte. – Sie war nämlich" – setzte er, sich räuspernd, als Erklärung hinzu "– Marmornymphe. – – Ja ja, Aloisia, – das heißt Aglaja, natürlich: Aglaja – meine Frau Gemahlin, hatte nämlich das Unglück, von ihren seligen Herren Eltern verständnisloserweise als kleines Kind mit dem beschämenden Namen Aloisia aus der heiligen Taufe gehoben worden zu sein. – Aber nicht wahr, Herr Taubenschlag, Sie sagen's nicht weiter! Der künstlerische Ruf meiner Fräulein Tochter litte sonst darunter. Hm. Tja." – Er führte mich an den Tisch, bot mir mit einer Verbeugung einen Sessel an und schenkte mir von dem Dünnbier ein.

Er schien ganz vergessen zu haben, daß ich ein halbwüchsiger Junge war – noch nicht fünfzehn Jahre alt –, denn er sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen, wie zu einem Herrn, der an Rang und Bildung weit über ihm stünde.

Anfangs glaubte ich, er wolle mich nur unterhalten, indem er mir erzählte, doch bald erriet ich an der Art, wie sein Tonfall gepreßt und furchtsam wurde, so oft ich zu dem Hasen hinüberschaute, daß er meine Aufmerksamkeit von der ärmlichen Umgebung abzulenken wünschte.

So bemühte ich mich denn, ruhig zu sitzen und meine Augen nicht mehr wandern zu lassen.

Bald hatte er sich in eine tiefe Erregung hineingeredet. Seine eingefallenen Wangen bekamen kreisrunde, hektische Flecken.

Immer deutlicher klang es aus seinen Worten wie ein krampfhaftes Bemühen, sich mir gegenüber – zu rechtfertigen!

Ich fühlte mich damals noch so sehr als Kind – und das meiste, was er erzählte, ging überdies weit über mein Fassungsvermögen hinaus –, daß mich unter dem Eindruck der seltsamen Dissonanzen, den seine Rede in mir erweckte, allmählich ein leises, unerklärliches Grauen beschlich.

Ein Grauen, das sich tief in mich einfraß und von Jahr zu Jahr, als ich längst ein Mann geworden, jedesmal intensiver erwachte, so oft das Bild durch Zufall in meiner Erinnerung auferstand.

Mit meiner wachsenden Erkenntnis der Scheußlichkeiten, die das Dasein über den Menschen verhängt, wuchs auch jedes Wort, das der Drechsler damals gesprochen, an greller Nacktheit und Perspektive in meinem Gedächtnis und konnte bisweilen zum Albdruck werden, wenn ich mir die Zusammenhänge vergegenwärtigte und im Geiste das jammervolle Schicksal des alten Drechslers durchwanderte, das tiefe Dunkel, das seine Seele umfing, wie in der eigenen Brust empfand und den grausigen Mißklang zwischen der gespenstischen Komik, die ihm anhaftete, und seinem verstiegenen und zugleich tief ergreifenden Opfermut für ein falsches Ideal, das ihm der Satan selbst nicht hämischer als Irrlicht hätte ins Leben stellen können.

Damals, als Kind, empfand ich seine Erzählung, ich möchte sagen: wie die Beichte eines Irrsinnigen, die für andere Ohren als die meinen bestimmt war, der ich aber zuhören mußte, ob ich wollte oder nicht, festgehalten von einer unsichtbaren Hand, die Gift in mein Blut träufeln wollte.

Es waren die Augenblicke, wo ich mich sekundenlang verfallen und morsch wie ein Greis fühlte, so lebhaft übertrug sich auf mich der Wahn des Drechslers, ich sei ihm gleichaltrig oder überlegen und nicht ein kleiner Junge.

"Ja, ja, sie war eine große, berühmte Künstlerin", so ungefähr begann er; "Aglaja! Niemand in diesem erbärmlichen Nest ahnt es. Sie will es nicht, daß man es erfährt! Wissen Sie, Herr Taubenschlag, ich kann's nicht so sagen, wie ich möchte. Ich kann ja kaum schreiben. Aber das ist ein Geheimnis zwischen uns, nicht wahr? So wie das vorhin mit den, mit den, na ja mit den Deckeln. Ich kann nämlich nur ein Wort schreiben" – er nahm ein Stück Kreide aus der Tasche und malte auf den Tisch –, "nämlich das da: Ophelia."

"Und lesen kann ich freilich überhaupt nicht. Ich bin nämlich" – er beugte sich vor und flüsterte mir geheimnisvoll ins Ohr – "verzeihen Sie den Ausdruck: ein Tepp. Wissen Sie: mein Vater, der war nämlich sehr streng, und weil ich als kleiner Bub einmal hab' den Leim anbrennen lassen, hat er mich in einen Metallsarg, der grad fertig war, auf vierundzwanzig Stunden eing'sperrt und hat g'sagt, ich würd' lebendig begraben. Das hab' ich natürlich geglaubt und in die Zeit drin war mir so furchtbar wie eine lange, lange Ewigkeit in der Hölle, die nie mehr ein End' nimmt, denn ich hab' mich ja nicht rühren können und auch fast nicht schnaufen. Ich hab' mir die vordern Unterzähn' ausgebissen vor Todesangst. Aber", setzte er ganz leise hinzu, "warum hab' ich auch den Leim anbrennen lassen! Wie sie mich aus dem Sarg herausgenommen haben, hab' ich den Verstand verloren gehabt und die Sprache. Erst zehn Jahre später hab' ich wieder langsam angefangt reden zu lernen. Aber nicht wahr, Herr Taubenschlag, das ist ein Geheimnis zwischen uns! Wenn die Leut' von meiner Schand' erfahren, ist's mit dem künstlerischen Ruhm meiner Fräulein Tochter dahin! Tja. Hm. – Wie dann mein Vater selig eines Tages für immer ins Paradies eingegangen ist – er ist begraben worden in demselbigen Metallsarg – und mir das Geschäft und auch Geld hinterlassen hat – er war Witwer –, da hat mir die himmlische Vorsehung zum Trost – denn ich hab' gemeint, ich müßt' mich tot weinen vor Gram um den Verlust meines Vaters – wie einen Engel den Herrn Oberregißjeh Herrn Paris ins Haus geschickt. Sie kennen den Herrn Künstler Paris nicht? Er kommt jeden zweiten Tag, mein Fräulein Tochter im Theaterspielen unterrichten! Er hat den gleichen Namen wie der alte griechische Gott Paris; es ist eine Vorsehung von Kindesbeinen an. Tja. Hm. – Meine jetzige Frau Gemahlin war damaliger Zeit noch Jungfrau. Tja. Hm. – Das heißt, ich mein', sie war halt noch ein Mädchen. Tja. Hm. – Und der Herr Paris hat ihre künstlerische Laufbahn gezügelt. Sie war Marmornymphe in einem geheimen Theater in der Hauptstadt. Tja. Hm."

An der abgerissenen Art, wie er die Sätze hervorstieß und nach unfreiwilligen kleinen Pausen sich immer wieder zum Weitersprechen aufriß, merkte ich, das sein Gedächtnis zwischendurch erlosch, um dann von neuem, wie der Atem kam oder ging, aufzuflackern. Es war wie Ebbe und Flut in seinem Bewußtsein. "Er hat sich noch immer nicht erholt von jener entsetzlichen Folter in dem Metallsarg", fühlte ich instinktiv; "er ist heute noch ein Lebendigbegrabener."

"No, und wie ich damals das Geschäft geerbt hab', ist der Herr Paris in mein Haus gekommen und hat gesagt, die berühmte Marmornymphe Aglaja hätt' mich zufällig beim Begräbnis gesehen, als sie ungekannt durch unsere Stadt gekommen ist. Hm. Tja. – Und wie sie mich am Grab meines Vaters so hätt' weinen sehen, da hätt' sie gesagt (Herr Mutschelknaus sprang plötzlich auf und deklamierte mit Pathos in die Luft hinein, die kleinen, wasserblauen Augen starr, als sähe er die Worte in Feuerschrift), da hat sie gesagt: "diesem schlichten Manne will ich eine Stütze fürs Leben sein und ein Licht in der Finsternis, das ihm nimmermehr erlöschen möge. Ich will ihm ein Kind gebären, dessen Leben nur der Kunst geweiht sein soll. Seinem Geiste will ich das Auge öffnen für das Erhabene, und sollte selbst in der Öde des grauen Alltags darob mein Herze brechen. Ade, Kunst! Ade, Ruhm! Ade, ihr Stätten des Lorbeers! Aglaja geht und nimmer kehrt sie wieder. Tja. Hm." – Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, setzte sich, als habe die Erinnerung ihn plötzlich verlassen, langsam wieder auf seinen Stuhl.

Tja. Hm. Der Herr Oberregißjeh hat laut geweint und sich das Haar gerauft. Damals, wie wir zu dritt beim Hochzeitsmahl gesessen sind. Und in einemfort hat er geschrien. 'Mein Theater ist ruiniert, wenn ich Aglaja verliere. Ich bin ein toter Mann.' – Tja. Hm. Die tausend Gulden Münz, die ich ihm aufgedrängt hab', damit er wenigstens nicht alles verliert, haben natürlich nicht lang gereicht. Tja. Hm.

Seitdem ist er schwermütig. Erst jetzt, wo er das große traumaturgische Talent von meiner Fräulein Tochter entdeckt hat, hat er sich wieder ein bissel derfangt. Tja. Hm.

Sie muß das von ihrer Frau Mutter geerbt haben. Tja, manches Menschenkind fängt die Muse schon in der Wiege. Ophelia! Ophelia!" Eine wilde Begeisterung erfaßte ihn jäh; er packte meinen Arm und schüttelte mich heftig. "Wissen Sie auch, Herr Taubenschlag, daß Ophelia, mein Kind, ein Kind von Gottesgnaden ist? Der Herr Paris sagt immer, wenn er sich seinen Gehalt bei mir in der Werkstatt holt: 'Der Gott Vestalus selbst muß, als sie Sie gezeugt haben, Meister Mutschelknaus, mit dabei gewesen sein!' – Ophelia ist" – seine Stimme sank wieder zum Flüsterton herab –, "aber das ist ein Geheimnis, so wie vorhin das mit den, mit den – na ja, das mit den Deckeln. Hm. Tja. – Ophelia ist schon nach sechs Monaten auf die Welt gekommen. Hm. Tja. Andere Kinder brauchen neun Monate. Hm. Tja. – Aber es ist kein Wunder. Auch ihre Mutter ist unter einem königlichen Stern geboren. Hm. – Nur er hat geschwankt. Nämlich der Stern. Meine Frau Gemahlin will nicht, daß es jemand erfährt, aber Ihnen kann ich's ja sagen, Herr Taubenschlag: Wissen Sie, daß sie beinahe schon auf einem Thron gesessen hätt'?! Und wenn ich nicht wäre – oft treibt's mir die Tränen in die Augen, wenn ich daran denk' – könnt' sie heut in einer Equipage mit vier Schimmeln sitzen. Aber sie ist abgestiegen zu mir. Hm. Tja. – Und das mit dem Thron" – er hob die drei Schwurfinger –, "das war so – bei Ehr' und Seligkeit, daß ich nicht lüg' –: Der Herr Oberregißjeh Paris war nämlich in seiner Jugend, ich weiß es aus seinem eigenen Mund, Großfexier beim König von Arabien in Belgrad. Er hat dort für Seine Majestät den Allerhöchsten Harem einstudiert. Hm. Tja. Und meine jetzige Frau Gemahlin Aglaja war infolge ihrer Talente bereits zur ersten Ballastdame – man nennt das in Arabien 'Mai-Therese' – als Ersatzdame für die Allerhöchste linke Hand avanciert; da wurden Seine Majestät ermordet, und der Herr Paris und meine Frau Gemahlin sind in der Nacht über den Nil geflohen. Tja. Hm. – Sie ist dann, wie Sie schon wissen, Marmornymphe geworden. In einem geheimen Theater, das der Herr Paris seinerzeit ausgeübt hat. Bis sie auf den Lorbeer verzichtet hat. Auch der Herr Paris hat seinen Beruf aufgegeben und lebt nur noch wegen der Ausbildung Ophelias. Hm. Tja. – 'Wir alle müssen nur für sie leben', sagt er immer. 'Und Ihre hehre Aufgabe, Meister Mutschelknaus, ist es, alles aufzubieten, damit Ophelias Künsterlaufbahn nicht an Geldnot im Keim erstickt.' – Sehen Sie, Herr Taubenschlag, das ist auch der Grund, warum ich so anrüchige Aufträge – Sie wissen ja! – annehmen muß. Das Sargmachen zahlt sich ja nicht aus. Es sterben zu wenig Leute. Hm. Tja. – Die Ausbildung meiner Fräulein Tochter könnte ich ja noch erschwingen, aber der weltberühmte Dichter, der Herr Professor Hamlet in Amerika, verlangt soviel Geld. Ich hab' ihm einen Schuldschein ausstellen müssen, und den muß ich jetzt abarbeiten. Hm. Tja. – Der Herr Professor Hamlet ist nämlich der Milchbruder vom Herrn Paris, und wie er von dem großen Talent Ophelias gehört hat, hat er extra für sie ein Theaterstück gedichtet. Das hat den Titel: 'Der König von Dänemark.' Drin soll der Kronprinz mein Fräulein Tochter heiraten, aber Ihre Majestät, seine Frau Mama, erlaubt's nicht und drum geht meine Ophelia ins Wasser. Meine Ophelia ins Wasser!" – Der Alte schrie es nach einer Pause nur so heraus. "Wie ich das gehört hab', hat's mir fast das Herz zerrissen. Nein, nein, nein! Meine Ophelia, mein Augapfel, mein Alles, darf nicht ins Wasser gehen! Auch nicht in einem Theaterstück. Hm. Tja. – Und ich bin niedergekniet vor dem Herrn Paris und hab' ihn so lang gebeten, bis er dem Herrn Professor Hamlet geschrieben hat. Der Herr Professor hat versprochen, er will's so einrichten, daß meine Ophelia doch den Kronprinzen heiratet und sich nicht ertränkt, wenn ich ihm einen Schuldschein ausstelle. Der Herr Paris hat den Schuldschein geschrieben, und ich hab' drei Kreuzel drunter gemacht. Sie werden vielleicht lachen, Herr Taubenschlag, weil's ja nur ein Theaterstück ist und nicht Wirklichkeit! Aber schauen Sie, in dem Theaterstück wird meine Ophelia auch Ophelia heißen. Wissen Sie, Herr Taubenschlag, ich bin nur ein Tepp; was, wenn aber doch dann meine Ophelia sich ertränkt? Der Herr Paris sagt ja immer: die Kunst ist mehr als Wirklichkeit – was, wenn sie ins Wasser geht! Was wird dann aus mir?! Wär's dann nicht besser für mich gewesen, ich wär' damals gleich erstickt in dem Metallsarg?!"

Die Hasen polterten laut in ihrem Sarg. Der Drechsler zuckte erschreckt zusammen und murmelte: "Verfluchte Rammler!"

Eine lange Pause trat ein; der Alte hatte den Faden seiner Erzählung vollkommen verloren. Er schien meine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben, und seine Augen sahen mich nicht mehr.

Nach einer Weile stand er auf, ging zur Drehbank, legte die Transmissionsriemen um die Antriebsscheibe und setzte sie in Bewegung.

"Ophelia! Nein, meine Ophelia darf nicht sterben!" hörte ich ihn murmeln. "Ich muß arbeiten, arbeiten, sonst ändert er das Theaterstück nicht um, und –"

Das Surren der Maschine verschlang seine letzten Worte.

Ich schlich mich leise aus der Werkstatt und ging hinauf in mein Zimmer.

Im Bett faltete ich die Hände und flehte, ich weiß nicht warum, zu Gott, er möge Ophelia behüten.


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