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Als der Mann, welcher sie liebte, konnte Robert in Rhodas Augen immerhin auf den Vorzug eines höher gestellten Verbrechers Anspruch erheben, und dem entsprechend begnadigte sie ihn zu einer ausgesuchten Qual allerhöchsten Ranges. Ihr Glaube an ihre Schwester stand so fest, daß sie ihm das momentane Unrecht, das er Dahlia in ihres Vaters Urteil angetan hatte, halbwegs vergeben konnte, beurteilte sie ihn aber nach dem hohen Maßstab, den sie an einen, der ihr Gatte zu sein begehrte, legte, so vermochte sie ihm sein unmännliches Zaudern, seine ganze Art zu reden, nicht zu verzeihen. Die alte, tiefe Qual ihres Herzens darüber, wie die Männer über die Frauen dachten, und über die Härte der Männer, wurde durch die Erinnerung an seinen unsicheren Blick und daran, daß er nicht gewagt hatte, ritterlich für Dahlia einzutreten, mochte er auch immerhin Übles von ihr gedacht haben, immer aufs neue wachgerufen. Wie der Fall lag, galt es noch immer, irgendwelchem Unheil entgegenzuwirken. Ihr Vater hatte sich zwar bereitwillig durch einen Schlaftrunk einlullen lassen, aber sein Argwohn schlummerte nur, und ihre eigene Zuversicht, ihre eigene Hoffnungsfreudigkeit vermochte sie ihm nicht einzuflößen. Briefe von Dahlia trafen regelmäßig ein. Der erste, aus Lausanne, schmeichelte Rhodas Vorstellung von ihr als eines seligen Geistes, der auf seinem Fluge in Sphären der Verzückung hie und da auf himmlischen Ruheplätzen rastete. Dahlia konnte im Fluge einen Blick auf die Schneeberge tun, und wiederum vermochte sie in traumhafter Ruhe von ihrem Fenster aus das Spiegelbild der Schneegipfel in den klaren, blauen Wassern zu erblicken, was Rhoda ein Zustand wie im Himmel dünkte. Bei diesen Gelegenheiten, die sie weit über sich selbst hinaustrugen, spielte Robert in ihren Gedanken die Rolle eines bösartigen Reptils. Dann machte Dahlia mit ihrem Geliebten, ihrem teuren Gefährten, Ausflüge in die Gletscherfelder, wobei allerhand kleine Unfälle passierten, ein Ausgleiten, ein Hinfallen, kleine irdische Alltäglichkeiten, welche ihrem sonst wundergleichen Fluge einen entzückenden Beweis von Wirklichkeit gaben. Man überschritt die Alpen: Italien breitete sich vor den Blicken aus. Eine verschwenderische Fülle von »Os!« gab Dahlias Eindrücke von Italien wieder, und ihr »O, diese Hitze!« enthüllte ihre Sterblichkeit, allen erhabenen Ausrufen zum Trotz. Como nahm das glückselige Paar auf. Dahlia schrieb von Como aus:
»Sage Vater, Herren in den Verhältnissen meines Edward könnten nicht immer gleich ihre Vermählung der Welt anzeigen. Es gibt eben Gründe dafür. Ich hoffe, er ist ordentlich böse auf mich gewesen, um so schneller wird es dann vorübergehen, und wir werden – doch ich kann nicht zurückblicken. Ich will nicht zurückblicken, bis wir in Venedig sein werden. In Venedig hoffe ich, soll mir Euer aller Bild so klar erstehen, wie nur je, augenblicklich kann ich mir nicht einmal Deine Züge vorstellen, mein Liebling.«
Immer noch bildete ihr Taufname ihre einzige Unterschrift.
Das zarte blaue und rosa Papier und die ausländischen Postmarken, die Beweise dafür, daß Dahlias Reise nicht ein erträumtes Abenteuer sei, hatten für das einsame Mädchen auf dem Bauernhofe einen seltsam süßen Reiz. Zuweilen, wenn sie darin blätterte, schrak sie zusammen über den Rausch, den sie auf ihre Gefühle ausübten, denn dann drängte sich ihr wohl der wilde Gedanke auf, daß viele, viele, deren leidenschaftliche Herzen gleich dem ihren zu empfinden vermöchten, bereit seien, alle Grundsätze und alle Verpflichtungen einem Jenseits gegenüber für solch einen langen, köstlichen Trunk göttergleichen Lebens dahingeben würden. Mehr als einmal ertappte sich Rhoda auf dem Gedanken, daß es möglicherweise mit Dahlia sich also verhalten könne.
Ohne daß sie dessen recht gewahr wurde, kam solch eine seltsame Mattigkeit über sie, die alles, was an Schwäche in ihr war, aufstörte und ihre Augen für Gesetze und Pflichten der Erde schloß, bis sich ihr starkes Weibbewußtsein dagegen aufbäumte und sie in einem Krampf wilden Entsetzens aus dem traumhaften Zustand emporschreckte, ohne realisieren zu können, wie tief sie gefallen sei.
Nach solchen persönlichen, inneren Erlebnissen konnte sie eine qualvolle Sehnsucht danach ergreifen, mit ihrer Schwester zusammen zu sein, um aus der Berührung ihrer Hand, aus dem Blick ihrer Augen, dem Klang ihrer Stimme die Zuversicht zu gewinnen, daß Dahlia wohl geborgen sei.
Rhodas andächtige Stimmung in der Kirche wurde durch die Besucher des Patronatsstuhles vielfach zerstreut. Mrs. Lovell hatte die Gewohnheit, mit eigentümlicher Schärfe und Stetigkeit, mit einer gewissen, ausdruckslos sondierenden Prüfermiene zu ihr hinüberzusehen, die das Landmädchen verwirrte und verlegen machte. Auch Algernon widmete ihr eine unverkennbare Aufmerksamkeit. An dem Tage, da der junge Mann es gewagt hatte, sie in der Dorfstraße anzusprechen, hatte er ein paar seltsame Äußerungen hingeworfen, die eine leise Möglichkeit in ihr aufdämmern ließen, als kenne er Dahlias Mann oder habe von Dahlia selbst etwas gehört.
Es war Rhoda klar, daß Algernon eine weitere Unterredung mit ihr herbeizuführen suche. Samstags ließ er sich in der Nähe des Hofes sehen, und Sonntags war er in der Kirche, mitunter mit Mrs. Lovell und mitunter ohne jede Begleitung. Ihre rasch arbeitende Phantasie zeigte ihr eine Menge Möglichkeiten, welcher Art sein Benehmen sich ausnutzen lasse, doch blieben sie immer wieder an einem bestimmten Punkte haften, – es schien ihr nämlich, daß Roberts unwürdigem Benehmen mit Hilfe dieses Herrn eine Lehre erteilt werden könnte. Es gehörte zu der Strafe, die sie Robert angedeihen ließ, ihm zu zeigen, daß sie nicht unempfänglich für Algernons Bewunderung sei.
Der erste Brief aus Venedig bestand in einer Reihe von Ausrufen zum Preise der Poesie der Gondeln, unterbrochen von hingeworfenen Äußerungen über den häßlichen Geruch des Wassers zur Ebbezeit und die entsetzliche Hitze, und dann schrieb Dahlia ruhiger, –
»Tizian, der Maler, hat hier gelebt und Damen gemalt, welche ihm ohne das geringste Kleidungsstück gesessen haben; und wahrhaftig, mein Liebling, ich muß oft denken, daß es sicher weit angenehmer für das Modell war, als für den Maler. Selbst die Schamhaftigkeit scheint hier eine zu warme Hülle für menschliche Geschöpfe. Die Sonne erschlafft mich völlig. Von Teint ist überhaupt nicht mehr die Rede. Es tut mir wohl, zu wissen, daß Edward auch so noch stolz auf mich ist. Er hat Bekanntschaft mit einigen der hiesigen Offiziere angeknüpft und scheint sich über die Huldigungen zu freuen, die sie mir darbringen.
»Sie haben sehr angenehme Manieren und weiße Uniformen, die ihnen wie Glacehandschuh sitzen. Ich bin Edwards ›wunderbare Frau‹. Ein Oberst der hiesigen Regimenter lud ihn – auf Englisch – zu Tisch ein, ›mit Ihrer wunderbaren Frau‹. Edward hat mit Sprachschnitzern keinerlei Geduld und wollte nicht, daß ich hinginge. Man begreift nie, wie wunderlich die Männer sind. Denke nie an die Möglichkeit eines vollkommenen Glücks, wenn Du nicht immer blind sein kannst. Jetzt sehe ich Euch wieder alle vor mir – Mutter Kloß und alle – wie ich 's ja wußte, daß ich es in Venedig wieder können würde.
»Wenn Du doch nur Vater überzeugen könntest, daß alles gut wird. Einigen Menschen kann man doch wirklich Vertrauen schenken. Wenn Du ihm das doch klar machen könntest. Ich weiß, daß ich Edwards ganzes Leben bin. Er hat gelebt, wie die Männer zu leben pflegen, und er hat ein Urteil darüber, daß es nie ein Weib gegeben hat, die einem Manne ihr Herz so vollständig gegeben hat wie ich. Mitunter hat er Lust nachzudenken, oder er hat Lust zu rauchen und dann geht er fort; aber die Freude, wenn er wiederkommt, – er kann es kaum glauben, daß er mich hat, so groß ist sein Glück: wie ein fröhliches, dankbares Kind sieht er aus, er, der doch das allermännlichste Gesicht hat, das ich kenne. Meistens ist es sehr nachdenklich, man könnte sogar, wenn man es zu allererst sieht, denken, es wäre hart.
»Aber einige Männer verlangen, daß man schön sei. Du wirst darüber lachen – aber ich habe es mir wirklich angewöhnt, mit meinem Gesicht und mit meinem ganzen Ich im Spiegel zu sprechen. Rhoda würde mich für splienig halten. Und das ist sicher, ich bin nie so demütig gewesen, was mein hübsches Aussehen betrifft. Wie habt ihr mich zu Hause verwöhnt – Du und diese böse alte Mutter Kloß, und unsere eigene, liebe Mutter, Rhoda – o, Mutter! Mutter! ich wollte, ich hätte immer daran gedacht, daß Du auf mich herniederblickst! Ihr habt mich eitel gemacht, viel eitler, als ich's Euch gezeigt habe. Es hat Zeiten gegeben, wo ich mich ganz wahrhaftig für eine Prinzessin hielt. Ich sehe jetzt nicht weniger gut aus, aber ich glaube, ich möchte jetzt so schön sein, daß ich überhaupt durch nichts zufrieden zu stellen wäre.
»Wenn ich eine kleine Stelle an meinem Hals entdecke, gerate ich ganz außer mir. Wenn ich mir viel Haar auskämme, kriege ich Herzklopfen, und es ist mein täglicher Kummer, daß meine Hände größer sind, als sie sein sollten, da sie zu Edwards »wunderbarer Frau« gehören. Ich danke dem Himmel dafür, daß Du und ich immer einsahen, wie notwendig es sei, seine Fingernägel gut zu pflegen. Meine Füße sind nicht so besonders groß, obschon es keine französischen Füße sind, wie Edward sagt. Nein, tanzen werd' ich nie lernen. Er schickte mich in London zu einem Tanzmeister, aber es war zu spät. Aber über meinen Gang hat man mir Komplimente gesagt, und das scheint Edward zu freuen. Er tanzt selbst nicht oder macht sich doch nichts daraus, nur mag er nicht, daß es irgendeine Vollkommenheit gibt, die ich nicht besitze. Das kommt, weil er mich so liebt. O! wenn ich vielleicht irgend etwas gesagt haben könnte, woraus Du schlössest, er liebte mich nicht mehr gerade so wie früher, so glaub' das ja nicht! Er ist der allerzärtlichste und treueste Mann. Addio. Ich bin eine signora , und Du bist eine signorina .
»Sie haben so hübsche Formen hier den Frauen gegenüber. Edward sagt, sie dächten hier geringer von uns, aber ich glaube, eher höher! Und doch fühle ich immer, daß er recht haben muß. O Du meine liebe, kühle, gutherzige, unschuldige Schwester, breite Deine Arme nach mir aus. Ich werde es fühlen, wie sie sich um mich schlingen, und ich küsse Dich, ich küsse Dich immer und immer!«
Weiter, von einer Stadt zur anderen, setzte Dahlia ihre Reise fort, wie eine Flut von Licht erschienen ihre Erlebnisse dem alten Farmhause, das so arm an Licht war; und dann ganz jäh, ohne irgendwelche Vorbereitung, nach einem letzten Wort, das berichtete, daß sie sich Rom näherten, hörten die Briefe auf. In Rhodas Herzen zersprang eine Saite. Solange sie allwöchentlich von ihrer Schwester hörte, wiegte sich ihr Vertrauen wohlig, wie auf sommerlichen Fluten. Bei ihrem Verstummen wich es einer bangen Furcht. In ihrer Seele fand sich keine Antwort auf die unausgesprochene Mißstimmung ihres Vaters, und sie hatte Mühe, die quälende Todesangst zu verbergen. Zwei Monate vergingen ohne Nachricht, ein ödes Brachland, über dem die Furcht lagerte wie ein tonlos summender Wind vor Ausbruch eines Sturmes, unerträglicher, als der Sturm selbst für jedes menschliche Wesen.
Rhoda ahnte nicht, daß Robert, der sie nur selten ansah, niemals ein Wort mit ihr zu wechseln suchte, wenn sie einander zufällig begegneten und miteinander allein waren, jeden Wechsel in ihren Mienen studierte und jedes besondere Anzeichen las. Er mußte ihnen seine eigene Deutung geben, aber die Zeichen selbst kannte er genau. Er wußte, daß ihr Stolz herabgestürzt war, und daß ihr Herz sich trostlos einsam fühlte. Er glaubte, daß sie das Elend ihrer Schwester entdeckt habe.
Eines Tages kam ein Brief an, der sie nicht freudig erröten ließ, obschon er ihre Wangen höher färbte. Sie öffnete ihn, augenscheinlich ohne die Handschrift zu kennen, ihre Augen überflogen eilig die Zeilen. Nach einer Weile ging sie hinauf, um ihren Hut zu holen.
An dem Hecktor, das die Landstraße abschloß, auf der Robert sie früher gesehen hatte, versperrte er ihr den Weg.
»Nicht weiter!« war alles, was er sagte, und er war gar wohl imstande, auch Männern ein Weiterschreiten zu untersagen.
»Warum lassen Sie mich nicht vorbei?« sagte Rhoda, mit der scheinbaren Unterwürfigkeit eines Weibes.
Robert verschränkte die Arme. »Sie werden nicht weiter gehen, Fräulein Rhoda, es sei denn, daß Sie mich mitnehmen.«
»Das werde ich nicht tun, Herr Robert.«
»Dann wird es geratener für Sie sein, wieder nach Hause zu gehen.«
»Darf ich Sie bitten, mir die Gründe zu sagen, weswegen Sie in dieser Weise gegen mich vorgehen?«
»Die werden Sie nach und nach erfahren,« sagte Robert, »einstweilen werden Sie dem Stärkeren nachgeben.«
Er war immer so sanft und freundlich und harmlos gewesen, daß ihr Spott leichtes Spiel mit ihm gehabt und sich niemals zum Ärger gesteigert hatte. Aber jetzt schäumte ihre Empörung ihm gegenüber hoch auf, und sie rief: »Wagen Sie es, mich anzurühren!« Dabei versuchte sie sich an ihm vorüberzudrängen.
Robert ergriff sie leicht am Handgelenk. Zugleich loderte in seinen Augen eine so unbezwingliche Willensstärke auf, daß die ihre darunter erlosch.
»Gehen Sie zurück,« sagte er, und sie wandte sich um, damit er die Tränen der Entrüstung und Scham nicht sehen sollte. Er behandelte sie wie ein Kind, aber sie hatte kein Wort der Verteidigung, als in ihrem eignen Innern. Sie wunderte sich, daß ihr Gewissen ihr nicht recht gab, wenn sie über eine direkte Anklage gegen ihn nachsann.
»Gibt es für eine Frau keine Freiheit in dieser Welt?« Die bittere Frage kam über Rhodas Lippen.
Rhoda ging zurück, wie sie gekommen war. Algernon Blancove tat das Gleiche. Zwischen beiden stand Robert und dachte: »Nun hab' ich auf zeitlebens dieses Mädchens Haß auf mich geladen.«
Im November langte ein aus London datierter Brief auf dem Bauernhofe an, der Rhoda das Blut noch einmal schneller durch die Adern trieb. »Ich bin am Leben,« sagte Dahlia darin, und was sie sonst noch sagte, war bitter wenig, abgesehen davon, daß sie sich sehr danach sehnte, ihre Schwester zu sehen und sie dringend bat, allein zu ihr nach London zu kommen. Ihr Vater hatte nichts dagegen einzuwenden. Doch beschloß er, nach einer Unterredung mit Robert, sie zu begleiten.
»Sie kann nichts dagegen haben, mich auch zu sehen,« sagte der Bauer, und Rhoda antwortete: »Nein.« Aber ihr Gesicht beim Abschied dünkte Robert wie ein Bronzebildnis.