Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band II
Johann Richard zur Megede

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Achtzehntes Kapitel

Das Sanatorium hat meinen kritischen Geist doch wieder sehr angeregt. Die Fülle der geistvollsten Gedanken strömt mir zu. Das ist nicht wunderbar. Mir hat darum auch noch nie etwas imponiert, mich selbst ausgenommen. Und im Grunde ist ja auch alles lächerlich, mich selbst ausgenommen.

Neulich das alldienstagliche Gesundheitsvergnügen der Sanatoriumsjünger. Es ist auch danach! . . . Erst das vegetarische Abendbrot, dann ein neuer Deklamator. Der betreffende Sprachmeister, ein Herr mit verstümmelten Beinen und noch verstümmelterem Talent, ließ wieder einmal den braven Geßler sterben. Obgleich ich draußen vor dem Fenster saß, wurde mir himmelangst. Der Deklamator schrie und tobte und machte dem armen Tell den Meuchelmord furchtbar schwer. Der Monolog hallte auf Meilen, und der Landvogt, ein mißtrauischer Tyrann, dürfte doch nicht einschließlich seines ganzen Gefolges taub gewesen sein. Ich hatte das Gefühl, als endlich der Unhold niedergeschossen war, daß der tote Schiller nun seinerseits aus dem Grabe aufstehen, den Deklamator beim Ohr nehmen und abführen müßte. Aber die Menschen drinnen im Konversationssaal dachten entschieden milder. Sie klatschten Beifall, der Sprachmeister schrie von neuem, nur daß diesmal ein verliebter Fant bei Nacht den weichen Zopf seiner Geliebten hinterrücks erwischt zu haben glaubte, und wie Gott den Schaden besah, den harten Schwanz einer Kuh zärtlich streichelte. Rückkehr zur Natur, sehr diplomatisch! . . . Ich begab mich gleichfalls zum Naturgenuß, das heißt in den Garten. Solche Kunst ist wirklich nur etwas für vegetarische Nerven.

Als der Tanz begann, kehrte ich zurück. Dieser Tanz, der gleichfalls im Konversationszimmer absolviert wird, zeichnete sich dadurch aus, daß die jungen Herren, die tanzen, aber nicht tanzen können, wenigstens ehrlich schwitzen, und daß die reiferen Schönheiten, die nicht tanzen, aber tanzen können, wenigstens gern schwitzen möchten. Die dänische Sängerin flog wie ein graziöser Gummiball von einem Arm in den andern, vollführte ganz absonderliche Weisen, und ich hoffte sicher, daß ein offenherziger Cancan sich ganz von selbst daraus entwickeln würde. Aber leider sind auch hier die Menschen Komödianten und geben sich niemals ganz so, wie's ihnen ums Herz ist. Dann tanzten die beiden Gräfinnen (hm, hm!) einen sittigen Klosterfrauenreigen, den sie vermutlich in einem Berliner Ballokal vor vier Wochen etwas freier getanzt haben . . . Aber Adel verpflichtet! Der Herr Graf wird nämlich täglich erwartet, kommt aber nicht. Wird wahrscheinlich nie kommen, oder höchstens bis Dresden, wo man's mit der Gräflichkeit seiner hochgeborenen Gemahlin nicht so genau nimmt. Es tanzten aber doch viele gute Leute, und wenn die Säulen des Saales nicht umgetanzt wurden, so lag dies nicht an den Tänzern, sondern an den Säulen. Auf der Estrade saß oder stand dichtgedrängt alles, was seine Beine für zu gut oder zu steif für Gesundheitsvergnügungen hielt. Ich konnte von draußen nichts hören als ein wüstes Summen. Doch sah ich mit Vergnügen, daß Zitronenlimonade lustig macht und Klatschen rosig anhaucht. Im Konversationssaal wurde furchtbar geklatscht, das gehört gewissermaßen zur Kur. Und wenn die distinguierte Witwe in Schwarz vielsagend lächelte, so sagte ihre schlanke Freundin sogar viel, und wenn die hübschen Serviermädchen mit weißen Häubchen durch die Garderobe äugten und sich gleich darauf hinter den Mänteln der Damen totkichern wollten, so gehört das ganz genau so zu einem Sanatoriumstanz wie der Sekt zum Chambre séparée.

Meine beiden wirklich gräflichen Gönnerinnen saßen auch im Hintergrund, schwarz, nicht tanzend, aber durchaus höflich. Es gibt eine gewisse exklusive Höflichkeit, die besser abschließt als die größte Grobheit. Die guten Damen, die so gar nicht der Mittelpunkt des Interesses zu sein wünschen, sind es aber in der Tat. Man kennt sie jetzt, weiß, daß die Vornehmheit kein Flitter, der Reichtum gediegen, die Schönheit echt ist. Und so haben sich auch sofort zwei Partien gebildet: eine, die anbetet, kurknickst, der alten Gräfin am liebsten jedes Zeitungsblatt andächtig umwenden möchte, und der jungen Baronin den Platz auf der Massagebank sofort herzklopfend räumt; und eine andre, die opponiert, verachtet, in Türen wie festgenagelt steht, wo die beiden Gräfinnen gern durchmöchten, und beständig Dummheit und Stolz bei vornehmen Leuten zusammenwirft, wie das Sprichwort ja auch. Dummheit ist angeboren, Stolz aber erworben. Und je leutseliger ein hoher Herr ist äußerlich, desto hochmütiger pflegt er zu sein innerlich. Napoleon, wenn er einen Grenadier freundschaftlich ins Ohr kniff, würde höchst unangenehm geworden sein, wenn der Grenadier wieder gekniffen hätte. Es ist eben alles Schauspielerei! Die beiden Gräfinnen (hm, hm!) sind leutselig zu jedermann, und die Herren noch leutseliger zu ihnen – das ist nur natürlich und verletzt niemand. Diese Damen stehen auch an der Spitze der feindlichen Partei; sie verachten, sie verleumden, aber trotzdem sind sie von der heillosesten Neugierde besessen, Herrn von Lasowitz einmal zu schauen. Er ist berühmter Reiter und sehr eleganter Mann, das interessiert. Die Funktionen der Beine und des Schneiders stehen dem Durchschnitt nun einmal höher als die Großtaten des Kopfes oder des Herzens. Das ist nur menschlich. Und das Herz der blasiertesten Ballschönheit klopft hörbar, wenn sich der schönste Leutnant vor ihr verneigt, ihr Geist regt sich aber nur mäßig an, wenn sie den alten Moltke ohne Perücke erblickt. Wird Herr von Lasowitz kommen? Die Gräfinnen (hm, hm!) sagen: ›Nie!‹ Dabei flackern die Puppenaugen der Blonden nur so. Die guten Kinder wären bereit, jedes unnatürlichen Todes zu sterben, wenn ihr Graf nur ein einziges Mal hier als Graf erschiene und sie als Gräfin. Aber er kann wirklich nicht, Kinder! Denn deine Ehe, mein Blondes, ward in einem Himmel geschlossen, von dem die Erde nichts wissen darf. Die Dunkle, die gerade nach der Brosche mit dem Namenszug tastet, vergißt vollkommen, daß ihre Liebe zwar tief und heilig, aber dem Standesamt völlig unbekannt ist. Ueber die Lasowitzfrage, meine Damen, beruhigen Sie sich! Freiherr von Lasowitz, falls er kommt, kommt hierher, selbst wenn er seine Gemahlin noch so bitter haßte; euer Graf, Kinder, falls er kommt, bleibt in Dresden, wenn er euch auch noch so liebt!

Um zehn erstarb der Tanz. Aber ein Geist der Schlemmerei war über die Gesellschaft gekommen. Sie wallten in Gruppen nach dem nahen Hotel, was sie übrigens häufiger tun. Ein Assistenzarzt ging mit zur Ueberwachung. Ich glaubte immer, die Restaurants hier oben machten schlechte Geschäfte bei einem Sanatorium, wo der Alkohol verboten ist, ich mußte aber leider konstatieren, daß sie gerade darum gute Geschäfte machen.

Ich ging streng hygienisch nach Haus. Meine Favoritin war wegen einer kleinen Indisposition überhaupt zu Hause geblieben. Bei Portiers ist nämlich Geburtstag, und sie hat so viel Familiensinn! Außerdem zieht sie Solodiners vor, wenn es Bückingsköpfe gibt. Ich lächelte innerlich, als sie mich so selbstlos zu dem Tanzvergnügen schickte und das Haus aufs beste zu hüten versprach, – ich liebe nämlich Bückingsköpfe nicht.

Ich habe der »Kleinen«, die ihr Souper beendigt hatte, alles erzählen müssen. Als echte Frau interessierten sie vor allem die Aeußerlichkeiten, und es schien ihr eine große Freude zu sein, daß bei den Menschen erst recht geklatscht wird. Meine Erzählungen vom Tanz begeisterten sie, aber meine Ideen über Kunst überhaupt, die ich daran schloß, ließen sie kalt.

Eigentlich hat sie recht. Was ist überhaupt Kunst? – Die Menschen, die sich mit allem Raffinement so anziehen, daß sie aussehen, wie sie nicht aussehen, haben auch über Schönheit ihre bekleideten Begriffe. Ein Mann mit langer Hose und einer Plättfalte drin ist ihnen ein ästhetischer Genuß. Und wenn der spinnenbeinige Bengel wie sich's gehört noch gar einen Giraffenhals hat und himmelhohe Stehkragen, in denen er sich ungefähr so frei bewegen kann wie ein Porzellanchinese in einem Teeladen – dazu leeres Gesicht und noch leererer Kopf –, so würden alle Götter des Olympos höchstselbst ganz vergeblich konkurrieren. Denn ein Gott darf beileibe kein Gott sein, sonst ist er kein Gott! . . . Der Gedanke, daß der Mensch auch noch etwas andres sein könnte als Kleider, ist der wohlangezogenen Menschheit fürchterlich. Ich glaube, daß ein schicker Stiefel ganz andre Herzensverheerungen anrichtet als ein schöner Fuß, und die Kritik der Frauenschönheit macht immer dezent Halt vor dem schönen Korsett selbst. Sie sind selbst oberflächlich, die wohlangezogenen Menschen, darum lieben sie auch bei andern die Oberfläche. Die Menschheit ist überhaupt sehr anständig! Das hindert sie aber nicht, zuzeiten das Gegenteil zu sein . . .

Ich freue mich immer, wie die Leute zum Beispiel Bildergalerien betrachten. Eine Statue, die für schön gilt – alle Augen flammen in Begeisterung! Eine Statue, die schön ist – und alle fragen erst den Katalog! Darum lieben sie auch in der Historie am meisten das Kostüm. Da weiß man doch wenigstens, wie man sich zu verhalten hat! . . . Daß August der Starke in römischer Imperatorentracht, den Lorbeerkranz auf dem Kopfe, Mann und Pferd über und über vergoldet, durch Dresden dahinsprengt – wie sinnig! Man kennt den trunkfesten Herrn zu Dresden nicht anders kostümiert, und der sächsische Adel erinnert sich in diesem Anblick gern, wie viel königliches Blut auf Umwegen in seine Adern geflossen ist. – Den alten Fritz erkennt man am Krückstock, Mozart am Zopf, und Napoleon ohne Dreispitz ist doch eigentlich nicht mehr Napoleon! Luther hat einen dicken Bauch und muß ihn haben, obgleich er in seinen besten Zeiten mager war . . . Daß Beethoven ohne Kleider auch noch Beethoven ist – das will darum wohlanständigen Leuten schwer in den Kopf. – Die Moral urteilt nach Aeußerlichkeiten – und bei der Kunst ist das erst recht Pflicht. Denn die Menge bleibt nun einmal Menge: das sagte schon dieser Rin. – Der alte Fritz hat zwar seine Schlachten ohne Krückstock gewonnen – des starken August einzige Großtat war, daß er zuweilen Hufeisen zerbrach – und das brauchte doch nicht vergoldet zu werden; Mozart komponierte wirklich nicht mit dem Zopf; Luthers Bauch war nicht seine Stärke . . . Aber es gehört schon eine wahre Riesenumwälzung dazu, wenn sich die Menschheit auch nur von der äußerlichsten Aeußerlichkeit, dem Kostüm, zu emanzipieren versucht – weil eben ihr Kunstgefühl mit dem Neu-Ruppiner Bilderbogen zu eng liiert ist . . . Daran ändert auch gar nichts, daß gerade die Allerbekleidetsten dem Unbekleideten Hosianna schreien, – innerlich kreuzigen sie ja doch . . . Und wenn die Kunst erzieherisch auf die Menschheit wirkte, so liefe die doch nicht feierlicher als je in dem grauenhaften Frack herum. Zuweilen ändert sich das freilich. Die Erde ist auch hier rund. Und wenn morgen der Frack verpönt würde, würde er sich doch wahrscheinlich übermorgen wieder einfinden. Denn auch im Kostüm gibt es nicht Fortschritt, sondern nur Wandel. Zeit ist Mode. Die Erde dreht sich . . .

Und die Kunst dreht sich auch. Heute alles rein symbolisch – sämtliche Schweine grunzen grün und im vollsten Sonnenlicht. Morgen alles allegorisch – der Mond muß ausschauen wie ein Bengel mit einem Wasserkopf. Uebermorgen alles historisch – und wenn der Gamaschenknopf nicht stimmt, stimmt der ganze Kerl nicht . . . Montags: sämtliche Himmel blau – Dienstags: sämtliche Bengels schmutzig – Mittwochs: werden grundsätzlich nur Dirnen – Donnerstags: grundsätzlich nur Komtessen gemalt. Freitags: zieht man in den Wald und schwelgt in Windbruch und Gewitterwolken. Sonnabends in der Feierabendstimmung findet man seine Seelenruhe wieder bei einer Wiese und einer Kuh bei Sonnenuntergang. Und Montag erinnert man sich endlich, daß die Erde rund und die Schweine grün sind.

Das sind so nach meinen Katerideen die Kunstepochen. Und wenn nun die tollsten Impressionisten darauf sagen: »Wir sind wirklich neu, originell – wir malen jede Katze naturgetreu rosenrot, eben weil es keine rosenroten Katzen gibt,« so erwidere ich: »Alte Geschichte! Waren die gotischen Leuen vielleicht Leuen? Sind nicht alle japanischen Pflanzen stilisiert? Und hat der kleine Moritz in seinem Malbuch nicht schon viel schlechter Akt gezeichnet als ihr?«

Da ich ein Ueberkater bin, kann ich auch »überurteilen«. Eure Kunst ist Bandendiebstahl, meine Verehrten! – Wenn ich von euch Architekten zum Beispiel eine Kirche, eine Prunkstraße entstehen sehe, so freut mich nur, daß ihr schlimmer betrügt als Bankdirektoren. Von jeder sogenannten Stilepoche nehmt ihr ein Stück, flickt's zusammen, übertüncht's. Es ist ein Ragoutstil – und ihr seid Schnapphähne! Was ihr dreist gestohlen, verkauft ihr noch dreister als eignes Fabrikat. – Aber man kennt sich aus! Die fremden Stücke schmecken, sind verdaulich – nur was ihr selbst dazugegeben, ist wie die Zugabe beim Fleischer eine zähe, unangenehme Zugabe . . . Dies alles ganz nebenbei.

Ich bin ein etwas negierender Geist – je älter, je mehr. Zurzeit interessieren mich bei Maskenbällen nur die Demaskierungen. Und sollte mich die ganze bekleidete Moral auch steinigen, weil ich aus Kaprice einmal für das Nackte schwärme – mir recht! Es gibt nämlich nur eine Nacktheit, wie es nur eine Wahrheit gibt! Und wenn vor Kammerdienern sich die Helden regelmäßig demaskieren, so sind's eben keine Helden, sondern Komödianten. Und wenn eine Schönheit nur in Toilette schön ist, so ist sie eben keine Schönheit. Wenn ihr der Unmoral Hosen anzieht, so ist sie noch lange keine Moral . . . Da ihr ja der Ansicht seid, daß es würdiger ist, kostümiert zu hinken mit einem häßlichen Körper, als nackt zu gehen mit einem schönen Körper – so vergeßt, bitte, nicht, daß jedem Maskenball die Demaskierung folgt . . . Ich halte die Nacktheit doch für sehr wichtig. Euer Himmel predigt sie täglich, aber vergebens. – Ihr tragt ja auch nur das Glaubenskostüm und haltet es im Herzen viel lieber mit dem Teufel, der natürlich erst recht kostümiert ist . . . Denn wenn Mephisto ohne Vermummung als ehrlicher Teufel mit Pferdefuß und Schwefelgeruch einherginge – er würde viel weniger Seelen fangen, vielleicht nicht mal die euern.

Sonst habe ich für den Teufel viel übrig. Er ist so amüsant! – Und vielleicht bin ich selbst dieser Teufel, der euch an der Nase herumführt.


Wir haben jetzt wunderschöne Herbsttage. Das Elbtal in einem lichten Morgennebel, aus dem tauglitzernd Dresden ganz allmählich emportaucht: die grauen Kirchen, das Schloß, rechts und links von dem freundlichen Stromspiegel das rußige, einförmige Häusermeer, des vergoldenden Sonnenlichtes so sehr bedürftig. Auch die Dresdner Heide lacht und leuchtet. Und wären nicht die buntwirbelnden Blätter, die linde Melancholie des Herbstes, der rieselnde Verwesungshauch, der diesen weichen Sonnenabschied so wehmütig umspinnt – man könnte wähnen, es gäbe in der ganzen Natur nur Sonne und Glück.

Ich finde, daß Josefa die Kur bekommt, sie hat mehr Appetit, ist gesprächiger. Als sie mich am Sonntag, der kurfrei ist, zu einem längeren Spaziergang durch den Wald aufforderte, ahnte mein gutes Kind wohl nicht, wie kindisch ich mich über dieses Erwachen auch in ihrem Inneren freute. Ich bin doch nun einmal Mutter, nur Mutter!

Auch den Leuten im Sanatorium werden wir jetzt gerecht. Es gibt wahrscheinlich viel nette Menschen da. Und daß alles so einfach ist und sich so einfach gibt, das entspricht doch auch eigentlich am besten einer Anstalt, die die Pflege der Natur als ihr erstes Gesundheitsgesetz predigt. Ich füge mich gern den Verhältnissen, sobald ich ihre Berechtigung erkannt habe. Ich weiß nicht, ob sich Josefa gern fügt, sie läßt noch immer nicht in sich hineinsehen. Aber als wir an dem besagten letzten Sonntag durch die Schluchten der Heide bummelten, genau so harmlose Sonntagsspaziergänger wie die Tausende von aufgeputzten, fröhlichen Dresdnern auch, da mied sie nicht etwa die Wege der andern, obgleich's doch alles kleine Leute sind, die sich von dem Werktagsruß in der reinigenden Waldluft erholen möchten. Sie streichelte sogar ein Kind, das, ich weiß nicht aus welchem Grunde, ihr einen kleinen Heidestrauß ungelenk überreichte. Sie nickte freundlich den Eltern zu, die von ferne standen. Sie hat so viel Charme, wenn sie lächelt, weichen Charme, wie ich ihn auch hatte, und dabei bleibt sie immer die Königin, die sich nur ganz leicht zu neigen braucht, und die andern grüßen ganz tief! Wir begegneten keinem Bekannten, ausgenommen diesem Herrn Rin, der aber nach seiner Art auf einem Seitenwege ging. Josefa sah ihn nicht, und auch er machte keine Anstalten, uns zu sehen. Ich habe jetzt gar nichts mehr gegen den Mann, der nicht den Eindruck eines Kranken macht, es aber vielleicht doch ist . . . Dabei muß ich noch etwas beichten. Ich habe unter einem freundlichen Vorwande, weil seine Frau, neben der ich zuweilen in der Kirche sitze, mich immer höflich grüßt, den Chefarzt des andern Sanatoriums nach Herrn Rin interviewt. Herr Rin ist bürgerlich, stammt aus der französischen Schweiz, in seinem Leben gibt es nicht die geringste Unklarheit oder Romantik. Das wußte ich ja längst selbst. Aber als der Arzt, dem man doch immer mehr preisgibt, das alles Wort für Wort bestätigte, fühlte ich mich ganz erleichtert. Man soll sich gewöhnen, keine Gespenster zu sehen!

Und jetzt, da ich eine kindische Sorge los bin, sorge ich mich wieder kindisch um mein Kind. Was quält sie eigentlich? Denn um nichts und wieder nichts gibt's doch nicht so merkwürdige Aussprachen zwischen Mutter und Tochter wie vor vierzehn Tagen. Sind's nur Nerven? Das Gesellschaftsleben, das sie sonst führt, muß ja nervös machen! Der Assistenzarzt, der sehr gewandt und verständig ist, was ihm den Spottnamen des Damenäskulaps eingetragen hat, versicherte mir, daß es Nerven wären, nur Nerven. »Frau Gräfin, sorgen Sie sich nicht! Es fehlt der Dame nichts als eine gewisse Ueberreiztheit, die mit der Kur schwindet. Und das Herz?« Er lächelte dabei weltmännisch. »Die Frau Baronin wird jedenfalls schon ganz andre und ungleich mehr Herzkranke gemacht haben, als sie selbst eine ist. Jedenfalls ist es nun eine minimale, unbedingt heilbare Abweichung. Für das Herz speziell garantiere ich!« Ich war so dankbar für den Bescheid, und er stimmt ja auch völlig zu Josefas Aeußerungen, daß sie in ein Sanatorium eigentlich gar nicht gehöre.

Also kann das Leiden nur seelisch sein. Weil ich aber nicht gern im Dunkeln tappen möchte, habe ich heimlich an Peter geschrieben. Er soll ein paar Tage herkommen. Da wird sich's schon zeigen. Peter hat sofort und sehr höflich zugesagt. Diesmal werde ich Josefa doch überraschen! Wenn die Ehe stimmt, – und das werde ich auf den ersten Blick sehen, – dann sind es eben nur Grillen, und Grillen können ausgetrieben werden.

Neulich bei Quedenbergs zum Gegenbesuch. Er nahm uns an, sie war nicht bei Wege. Da hörte ich auch was Nagelneues. Jeanette fühlt sich Mutter! Er teilte mir das aus der Freude seines Herzens geheimnisvoll mit, und daß ich mit niemand darüber sprechen dürfe, auch mit Josefa nicht. Seine Frau sei glücklich und er noch mehr. »Aber kein Wort, gnädigste Gräfin, kein Wort! Sie liebt's nun einmal nicht. Die reizende Gesellschaft bei Ihnen neulich ist ihr entsetzlich bekommen, sie schlief die ganze Nacht nicht.« Ich versprach natürlich alles. Selbst wenn ich's nicht versprochen hätte, ich würde unbedingt geschwiegen haben. Warum mein Kind quälen? Die beiden haben nun, was sie wollen, sind glücklich, dabei lieben sie sich nicht, haben sich wahrscheinlich nie geliebt. Das ist mir so schmerzlich, daß meine Kinder, die sich doch aus reiner Liebe geheiratet haben, dies Glück nicht finden sollen. Ich war froh, als wir wegfuhren. Denn vor den höchsten Wünschen, die andern gewährt, uns aber versagt werden, macht unser Neid leider Gottes nicht Halt. Ich war gegen Josefa so liebevoll, verschloß alles in mir, bloß um ihr nicht wehe zu tun. Aber sie wußte doch Bescheid. Kaum saßen wir im Wagen, da sagte sie leichthin: »Quedenbergs erwarten Familie?« – »Wer sagt dir das?« – »Nun, ich weiß es.« – »Aber Josefa, du irrst dich vielleicht.« – »Nein Mama, ich irre mich nicht! Es gibt gewisse Fensternischengespräche zwischen jüngeren Herren und älteren Damen, indes die Frau sich unpäßlich fühlt.« – »Aber Josefa!« – »Aber Mama! Und tue mir doch den Gefallen, verschleiere nicht immer unnötig. Es nutzt nichts, es nutzt nie etwas im Leben.« – »Josefa, du verschleierst doch auch!« Da wurde sie wieder eiskalt und hochmütig. »Mama, wenn ich dir etwas zu sagen hätte, ich sagte es dir. Aber ich habe dir nichts zu sagen. Dir nichts . . .« Darauf blieb sie verschlossen, trotz aller guten Gründe und liebevollen Vorwürfe. Nur ein eigentümliches Lächeln zuckte zuweilen um ihre Lippen. Erst beim Aussteigen sagte sie: »Ich gebe dir mein Wort, Mama, ich beneide Jeanette Quedenberg weder um ihr Glück noch um ihr Kind. Mir würde grauen vor diesem Kinde!«

Und da bin ich wieder am Ende. Mein Kind wird körperlich immer wohler, fast blühend, der Arzt ist mit den Fortschritten außerordentlich zufrieden, und ich, die Mutter stehe stumpf vor einem Rätsel.


Peter gekommen. Die Ueberraschung wenigstens gelang vollkommen. Wir saßen beide bei mir zu Haus, beim Nachmittagskakao, als er, ohne zu klopfen, eintrat. Er war in Uniform. Als Kürassier gefiel er mir eigentlich besser. Ich mag Ulanen nicht mehr. So ändert man seine Ansichten. Er bleibt nur zwei Tage, weil der Dienst und die Rennengagements nicht mehr erlauben.

Ich will getreulich erzählen, wie's war. Er trat rasch ins Zimmer, sie erhob sich verwundert langsam. Er küßte ihr erst galant die Hand, dann herzlich den Mund. Sie küßte wieder und sagte: »Ist was passiert?« – »Mama befahl.« Er zeigte auf mich. Er sieht gut aus, mein Schwiegersohn – hübscher, eleganter Mensch. Wir tranken den Kaffee zusammen. Die hiesigen Bekannten wurden durchgenommen. Später kamen die Pferde an die Reihe. Da wurden beide sehr lebhaft, die Rennausdrücke flogen. Ich freute mich, wie diese Passion bei beiden noch vorhält. Gegen Abend gingen wir in das Sanatorium. Die beiden Arm in Arm vorne, ich hinterher. Sie gingen leicht untergefaßt, ohne Bräutigamsairs, wie sich's für Verheiratete schickt. Es war gerade der allwöchentliche Tanzabend. Peter blieb darum zu Tisch, und die Uniform machte ein gewisses Aufsehen. Wir waren sehr gesprächig alle drei in unsern eignen Angelegenheiten, und kümmerten uns natürlich um die Visavis nicht. Zu diesem Tanzabend geht man eigentlich nur zum Mokieren. Mit unsern wenigen Bekannten wurde wieder die aristokratische, exklusive Insel gebildet, zu der sich in letzter Zeit noch zwei polnische Grafen gefunden haben, vornehme, weltgewandte Leute. Peter wollte tanzen, aber Josefa dankte. Gerade heute ist auch die Kur besonders anstrengend gewesen. Er absolvierte die beiden ersten Pflichttänze mit unsern Damen, nachdem er sich scherzend erst vor mir verbeugt und gesagt hatte: »Mama, du bist noch immer eine Ballschönheit, und kein Mensch würde sich wundern . . .« Meine Tochter, die nicht eifersüchtig zu sein scheint, nickte ihm zu, während er die spärlichen Schönheiten Revue passieren ließ: »Tanz nur ruhig, Peter, du tanzt ja so gern!« – »Werd' ich auch! . . . Aber Kinder, ein paar erstklassige Pferde hättet ihr wenigstens an den Start schicken können. Das sind ja fast alles outsider!« Und er suchte mit den Augen, bis er endlich gefunden zu haben schien. »Halt! Die Blonde da ist wohl in ihren Mußestunden Balletteuse?« Er meinte natürlich die dänische Sängerin. »Und die Kleine mit dem Porzellanköpfchen, die neben dem dicken Herrn mit der goldenen Brille, der sich so in das Ecksofa lümmelt – auch nicht übel! – wenn sie nicht von der gräßlichen, schwarzen Duena auf der andern coté flankiert wäre. Tragen übrigens beide Namenszüge von Gardekavallerieregimentern als Broschen!« Wir erzählten lachend die Gräfinnengeschichten der beiden. Darauf klemmt er das Monokel ein, durch das ein Leutnant nun einmal Damen am schärfsten sieht, und sagte nach einer Pause: »Den Puppenkopf kenne ich, wenigstens par distance. Nicht gerade Gräfin, aber dichte bei.« Wir waren natürlich sehr neugierig auf die Lösung dieses Rätsels. Peter lachte aber nur: »Weiß wirklich nicht! Rennen oder so wo . . .« Er sprach auch später mit den beiden Damen, aber die Verbeugung war derart, daß sie mich bedenklich machte. Josefa sah kaum hin. Peter kam auch gleich wieder zurück und widmete sich nur uns.

Solch Fest ist Punkt zehn beendet.

Als wir hinausgingen im dichten Gedränge, hörte ich verschiedentlich wispern: »Ach, das ist der berühmte Lasowitz!« – »Schöne Frau.« – »Ueberhaupt distinguiertes Paar! . . .« Die Empfindung hatte ich übrigens auch, daß sie sich bei aller Vornehmheit herzlich und unbefangen gaben. Erst jetzt fiel mir ein, daß wir Peter ja noch gar nicht untergebracht hatten. Ich sagte darauf zu Josefa: »Du kannst doch noch die Jungfer für die zwei Tage ausquartieren?« – »Nein, Mama, das Zimmer kann ich niemand zumuten, und sonst ist die Villa besetzt.« Peter bemerkte dazu, als wäre das selbstverständlich: »Ich habe meinen Taxameter gleich oben behalten. Ich wohne natürlich in Dresden im Europe. Morgen komme ich dann zu euch mit der Elektrischen.« Das war das einzige, was mir an diesem Abend nicht gefiel. Junge Eheleute – und das sind sie doch noch – nehmen mehr vorlieb und weniger Rücksicht. Sie sind über drei Wochen voneinander getrennt, und haben sich doch wahrscheinlich manches zu sagen, wobei ich wirklich nicht vonnöten bin.

Daß es die Liebesehe nicht ist, das weiß ich jetzt, – daß es aber doch wenigstens eine Liebesehe ist, das hoffe ich noch. Ich kenne mich eben unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr aus. Hält man für plump jetzt, was einst natürlich war?

Sonst habe ich nicht die Spur eines Mißklanges bemerkt.


Montag waren wir dann in Dresden unten, nachdem wir noch einen zweiten Tag ganz en famille und ohne Kur verlebt hatten; selbst Fräulein von Ingen wurde nicht angenommen.

Ich muß es immer wieder betonen, wie reizend dieser Tag war, und wie sehr mir Peters ungemachte Ritterlichkeit und Josefas gleichmäßige Liebenswürdigkeit gefielen. Ich hatte die Empfindung, daß es die harmonische Gesellschaftsehe unsrer Kreise sei, vielleicht die glücklichste und dauerndste aller Ehen.

Also Dienstag nachmittag fuhr mein Schwiegersohn. Wir dinierten unten gemeinsam in der Stadt, brachten ihn zu Fuß zur Bahn. Es war ein so herrlicher Nachmittag, das rußige Dresden zeigte sein gemütlich sächsisches Gesicht auf das allerfreundlichste. Schließlich ist's und bleibt's ja doch eine große kleine Stadt, deren Internationalität nur scheinbar. Auf dem Wege nach dem Bahnhof sagte Peter unvermittelt: »Du, die Stute muß ausrangiert werden!« – Darauf Josefa: »Fusijama?« – »Nein, die Josefa.« – »Es ist aber doch eigentlich mein Pferd, Peter?« – »Darum sag' ich's ja eben.« – »Und sie ist noch immer ein gutes Pferd . . . Wer wird sie kaufen?« – »Gott, irgendeiner. Es ist ja auch noch nicht perfekt . . . Jedenfalls jemand, der sie mir sehr anständig bezahlen will, und der merkwürdigerweise genau so über ihren Wert denkt wie du. Aber der Kerl ist mir unsympathisch, und wahrscheinlich bekommt er sie doch nicht! . . . Es wäre höchstens, weil wir beide dann zugleich in dem großen Jagdrennen mittun würden: ich auf Bormio, er auf der alten Stute. Er wird als letzter einkommen, der gute Mann, und das gönne ich ihm eigentlich von Herzen!« – Darauf sagt Josefa kühl: »Du kannst die Stute nicht reiten, Peter.« – »Das hast du immer behauptet, lieber Schatz. Bewiesen hast du mir's bis jetzt noch nicht. Aber da du's sagst, wird's ja wohl so sein.«

»Wer will sie nun kaufen, Peter?« warf ich dazwischen. Er zuckte die Achseln. »Irgendein mauvais sujet, Mama.«

Obgleich diese Unterhaltung in aller Höflichkeit, ja fast zu höflich geführt wurde zwischen den beiden, so hatte ich doch meine Gedanken. Man wechselt nicht so plötzlich den Ton für nichts und wieder nichts unter wohlerzogenen Leuten. Auch als sie sich auf dem Perron verabschiedeten, es war doch eigentlich ein kalter Kuß und ein kalter Gruß, mit dem es auseinanderging!

Beim Zurückgehen fragte ich natürlich Josefa, die sehr einsilbig war, vielleicht doch wegen des Abschieds, wie ich damals noch glaubte. Sie gab auch sofort Bescheid. Peter wisse, daß sie gerade dieses Pferd sehr liebe, es immer hochgehalten habe als ihr Pferd. »Denn es ist mein Pferd, Mama! Peter hat es mir am Hochzeitstage Scherzes halber geschenkt. Es sollte weiter unter seinem Namen gehen, aber die etwaigen Gewinne sollten mein Nadelgeld sein. Es war wie gesagt ein Scherz. Denn sein Nadelgeld brauche ich wirklich nicht! Und wenn er's jetzt verkaufen will, vielleicht hat er auch recht. Ueberhaupt eine Lappalie, über die gar kein Wort zu verlieren ist. Und er verkauft's ja ganz sicher nicht, Mama!«

Ich hoffte das auch, fand aber gar nicht, daß es so sehr Lappalie sei. Ich erbot mich sogar, an Peter zu schreiben dieserhalb. Josefa lehnte ab, und zwar in einem Ton, der kein Paktieren gestattete. Sie war auch scheinbar sehr schnell darüber hinweggekommen, zwang mich scherzend zu einer Droschkenfahrt durch den »Großen Garten« in der Dämmerung. Als wir ausstiegen, es war zufällig an einer Litfaßsäule, sagte sie lustig: »Mama, wir wollen mal leichtsinnig sein heute! Ich habe ein Grauen vor dem alten Sanatorium. Und es soll gerade gut bekommen, wenn man die Kur einmal völlig unterbricht.« Sie studierte noch im Sprechen den Anschlagzettel, und ich fürchtete nach dem Ton das eben eröffnete, prachtvolle Spezialitätentheater, was aber wie alle Lokale dieser Art mit den ausgesungenen Chanteusen und dem schlüpfrigen Humor mir schon in Berlin äußerst widerwärtig war. Aber sie wählte etwas ganz andres: »Sieh mal Mutter, das trifft sich recht gut! Die Sorma ist hier als Gast und spielt die Nora von Ibsen. Ich kenne das Stück nicht, aber ich möchte es kennen. Schon der Titel: ›Nora oder ein Puppenheim‹, lockt der dich nicht auch, Mama?«

Ich tat ihr natürlich den Gefallen, telephonierte meinem Kutscher wegen des Abholens. Wir bekamen noch einen guten Proszeniumsplatz, und ich freute mich auch auf die große Künstlerin, obgleich mir Ibsen immer Gruseln macht. Er sieht überall Gespenster in der Gesellschaft, und seine Gestalten machen bei aller Natürlichkeit den Eindruck von Menschen, die man der anmutigen Körperformen beraubt hat, nur um das Skelett besser studieren zu können.

Es ist ein sehr einfaches Theater, das sonst keine überschwenglichen Hoffnungen weckt. In der Garderobe trat ein kleiner, eleganter Herr auf uns zu, sehr häßlich, aber offenbar sehr amüsant. Er sagte mit einer chevaleresken Verbeugung: »Baronin kennen mich wahrscheinlich nicht mehr? – Graf Bloome.« – Und meine so übersichere und kühle Josefa starrte ihn einen Moment an wie eine Erscheinung – und lächelte wahrhaftig verlegen. »Natürlich, lieber Graf!« erwiderte sie endlich. »Mama, Graf Bloome . . .« Er fing auch gleich an sehr ungeniert und sehr lebhaft zu erzählen. Er habe wieder einmal eine Tante beerbt, diesmal aber einen wirklichen Geizdrachen. Und eine wie merkwürdige Laune des Schicksals es doch eigentlich sei, daß Josefa und er sich immer ausgerechnet dann treffen müßten, wenn er eine Tante beerbt habe. Hier gefiel er mir durchaus. Er hat eine so lebhafte, ironische Art, die mitreißt. Als Schwiegersohn würde mir dieser offenbare Leichtfuß nicht gerade angenehm sein. Bei solcher Wippnase dürfte ihm die Liebe auch nicht ganz leicht werden. Er erzählte tausend Dinge aus Afrika, und welch tolle Reiterin Josefa immer gewesen sei. »Ich versichere Ihnen, gnädigste Gräfin, die Baronin kann reiten! Ich würde mich schön bedanken, mit ihr jemals konkurrieren zu wollen!« Darauf zu meiner Tochter: »Uebrigens, Frau von Lasowitz, damit Sie die größte Neuigkeit des Jahrhunderts wissen: Ich bin auf meine alten Tage wieder unter die Rennreiter gegangen. Ich will den Kerls mal beweisen, daß auch andre Leute reiten können! Denn die Kerls mit ihren Rennbahnairs . . .« Er unterbrach sich: »Ich vergesse ganz, Gnädigste, daß Ihr Gatte ja selbst von der Zunft ist. Grüßen Sie, bitte, meinen braven Peter, und er möchte einem alten Kameraden gegenüber etwas kulanter sein. Er weiß schon. Irre ich mich – bon! Irrt er sich – noch boner.«

Aber Josefa war nicht aus einer gewissen Reserve zu bringen. Und sie kennen sich doch offenbar lange und gut. Es klingelte. Sie gab ihm zögernd die Hand und duldete nicht, daß er sie küßte.

Als wir in der Loge waren, sagte sie ungefragt: »Dieser Bloome ist ein guter, anständiger Mensch. Er kennt mich aus der Zeit, wo ich schwerkrank war. Und hat sich auch sonst feinfühlig und vornehm benommen.«

Das Stück wurde gut gespielt, namentlich die Sorma war entzückend natürlich. Nur der Schluß will mir nicht . . . Da der Autor es nun einmal liebt, das Häßliche, Kleine der menschlichen Natur aufzudecken, was ja gewiß da ist, aber ohne ihm das Schöne, Große gegenüberzustellen, was doch auch da sein muß: so klingt mir eigentlich dieses ganze Drama unnatürlich und kläglich aus. Warum zuletzt bei der Heldin die Pose der Konsequenz, die doch immer die Inkonsequenz in Person war? – Vor dem letzten Akt zur Abwechslung noch Feuerlärm mit einer Aufregung im Gefolge, die ich noch jetzt spüre. Das Parkett und die Galerien schrien Feuer. Es entstand ein häßlicher Tumult, in dem die einen rücksichtslos nach dem Ausgang drängten, die andern wie erstarrt sitzen blieben. Es roch versengt. Der eiserne Vorhang rasselte nieder. Es ist nicht der Tod, es ist die häßliche Vorstellung, einmal halbverkohlt unter den Trümmern hervorgezogen zu werden, die unsereiner fürchtet. Josefa blieb; in einer statuenhaften Ruhe und Unbeweglichkeit saß sie da, die Augen gingen ohne Erregung über dieses Parkett voll Todesangst. Ich glaube sogar, daß sie lächelte. Dennoch ging ich nach der Garderobe, und zwar um unsre Mäntel zu holen. Wenn ich's mir jetzt überlege: Kindisch! Aber der Gedanke, daß mein Kind bei einer Flucht hinaus in die Herbstnacht nicht frieren dürfe, das ist wohl ein kleinlicher, aber echter Mutterinstinkt. In der Garderobe fand ich den Grafen Bloome, der aufgeregt mir entgegenkam. »Wo ist Frau von Lasowitz? Sie darf nicht zurückbleiben!«

Damals erschien es mir nur eine schöne, menschliche Fürsorge. Heute denke ich in dem Punkte etwas skeptisch.

Zu guter Letzt erwies sich denn alles als unnützer Alarm. Ein Feuerwehrmann in voller Uniform mit Lederhelm und Picke trat an die Lampen auf der Bühne und versicherte, daß der brennende Kulissenfetzen längst gelöscht sei. Da lächelten natürlich die Verständigen alle, und zwar über sich selbst. Die Sorma spielte weiter, und spielte wunderbar. Ich freute mich von Herzen für mein Geschlecht über diese Geistesgegenwart. Komisch! Uns erschlafft die fortgesetzte Komödie des Lebens die Nerven, den Komödianten von Beruf werden die Nerven nur stärker dadurch.

Wir empfahlen uns nachher rasch. Ich hatte mich auf ein Austauschen der Meinungen gefreut.

»Wie hat dir's gefallen, Josefa?«

»Puppenheim,« antwortete sie. Zu mehr war sie nicht zu bringen.


Bis hierher könnte jemand sagen: ›Warum alle diese Kleinigkeiten, deren Zusammenhang man nicht begreift, so lang und breit erzählt eigentlich?‹ Ich schreibe ja auch dies Tagebuch nur für mich.

Aber von hier sind's keine Kleinigkeiten mehr. Von hier beginnt das Schicksal. Und wenn es wahr ist, was ich manchmal fühlte, daß nicht das Starke, Böse in unsrer Natur sich rächt – weil's einem Zweck dient; sondern das Schwache, Gute rächt sich – weil's keinem Zwecke dient. Und so will ich alte Frau noch in der zwölften Stunde versuchen, zu der ganzen Gestalt emporzuwachsen, die ich niemals war.

Ich bin Mutter, und mein Kind darf nicht zugrunde gehen!

Auch das Jetzt hört sich wie eine Nichtigkeit an. Wir beabsichtigten so wie so in der Stadt zu soupieren. Da Josefa von Europe nichts wissen wollte, ließ ich den Kutscher aufs Geratewohl bei dem ersten, besten Weinrestaurant halten. Es schien auch ein anständiges, sogar elegantes Lokal zu sein mit blitzenden Gläsern und unaufdringlichen Bratengerüchen. Wir wählten, um nicht etwa neugierig begafft zu werden, eine der sogenannten Nischen im Mittelzimmer. Man zieht den Friesvorhang zu und ist dann wirklich allein. Der Kellner sah uns etwas verwundert an, und präsentierte zuerst die Weinkarte. Wir aber wünschten nur eine Kleinigkeit zu essen, und Tee zu trinken wie zu Hause. Der Kellner verbeugte sich, doch mußten wir sehr lange warten. In der Zwischenzeit hörten wir viele Menschen vorüberkommen, namentlich junge Herren mit kichernden Dämchen. Offenbar mehr ein Lokal für elegante Lebewelt, wo man Champagner trinkt bis zum Morgen. Ich würde nicht zum zweitenmal hingehen! Aber in der Nische waren wir ja sicher.

Als eben das kalte Rebhuhn serviert war, kamen zwei Herren, die hier sehr wohl gelitten sein mußten.

»Ist das Zimmer reserviert?«

»Jawohl, Herr Graf.«

Ich habe ein gutes Gedächtnis für Organe und erkannte sofort den Grafen Bloome wieder aus dem Theater. Er verhandelte kurz und wegwerfend wegen des Menüs, wie das Lebemannes Art auch zu meiner Zeit. Ich hoffte schon, der Kelch würde schnell an uns vorübergehen, als dieser Bloome ärgerlich sagte: »Weiber sind natürlich immer unpünktlich . . . Kommen Sie, Rin, wir wollen hier in einer von den Liebesnischen die erste Pulle Pommery allein trinken!« Da wußte ich, wer der andre Herr war.

Sie traten in die Nische nebenan, – ich wagte kaum zu atmen, – und die Herren mochten sich wohl für gänzlich unbelauscht halten. Die Sektgläser klangen.

»Willkommen in Deutschland, Rin!«

»Danke.«

Der eigentümlich starke Duft von Zigaretten zog herüber. Der Graf fuhr sans gêne fort: »Ich konnte nicht mehr redressieren, Rin. Weiß, machen sich wenig aus solchen Mädels. Mache mir auch wenig draus. Gehört aber so zum Handwerk! . . . Es sind ihrer zwei, damit Sie orientiert sind. Meine – natürlich die Hübsche – ganz netter Balg mit Neigung zum Größenwahn. Wohnt zurzeit auf dem weißen Hirsch im Sanatorium. Was ihr fehlt, weiß ich nicht, sie übrigens auch nicht, aber jedenfalls kostet es mein Geld. Heißt sehr sinnig Frida Blume und ist auch eine. In ihren Mußestunden bildet sie sich, glaube ich, ein, sie heißt Bloome und ist meine angetraute Gemahlin. Ich fürchte nämlich, sie treibt manchmal mit meinem gräflichen Namen sträflichen Mißbrauch. Ein bißchen Hochstaplerin, das liegt bei den Weibern so drin . . . Die andre ist einfach ein Schauerbock, eine von denen, die man nicht los wird, das heißt nicht ich, sondern ein alter Kamerad von den zweiten Gardekürassieren wird sie nicht los. Müssen sich mal nach der Namenszugbrosche erkundigen, und sie wird Ihnen lächelnd erwidern: ›die ist von meinem Bräutigam bei der Garde . . .‹ Habe sie aus Gutmütigkeit für heute mit übernommen. Und wenn Sie mal fünf gerade sein lassen wollen, lieber Rin, so nennen Sie den alten Engel nach der zweiten Pomery ›Frau Gräfin‹, und sie schenkt Ihnen gänzlich ungebeten ihr Herz und alles, was dazu gehört. Wie gesagt, Heilige sind's nicht, Rin! Und wenn's Ihnen nicht paßt, schicke ich die Weiber auch sofort wieder in ihr Sanatorium zurück. Weltsanatorium, hätten auch hingehen sollen!«

Nach einer Pause antwortete dieser Rin, dessen Schweigsamkeit mich sehr an unsre erste Bekanntschaft erinnerte: »Aber liebster, bester Bloome, warum sollte ich eigentlich mit diesen Damen nicht soupieren wollen? Puppenheim hier, Puppenheim da. Heilige erwarte ich nirgends mehr auf dieser Welt. Und wer sogenannte heilige Gefühle gibt, der betrügt nur sich selbst und wird hinterdrein noch ausgelacht. Ich bin auch ausgelacht worden, mein Lieber, und zwar mit Recht, denn ich war nur dumm . . . Kommen die Mädels bald?«

Mir war das unfreiwillige Horchen schrecklich. Dieser Bloome nimmt zwar gar kein Blatt vor den Mund, aber der Herr Rin ist mir weit unangenehmer. So eisig höhnisch alles, was er sagt!

Ich sah von Zeit zu Zeit Josefa an, die mit halbgeschlossenen Augen wie gelangweilt in ihrer Ecke saß. Uns widerstrebt beiden solche Indiskretion in der Seele; aber es ist merkwürdig, erwachsene Menschen sind doch genau wie die Kinder, die am ehesten Verwünschungen und häßliche Ausdrücke lernen. Und so bewahrt mein Gedächtnis getreulich Wort für Wort gerade dieser widerlichen Konversation . .. Wir wären natürlich am liebsten gegangen beim ersten Wort, wenn wir hätten davonfliegen können. So war's eine Unmöglichkeit. Die beiden hätten uns gewiß neugierig nachgesehen, und die Blamage wäre nur auf unsrer Seite gewesen. Glücklicherweise kamen bald die beiden Damen, deren Inkognito ich wohl nicht mehr zu lüften brauche. Sie kamen tänzelnd und geziert. Das seelenlose Kichern dieses blonden Puppenkopfes werde ich wohl bei uns im Sanatorium nur noch schwer ertragen können. Josefa, die die beiden Geschöpfe nie gegrüßt, hatte den mitleidsloseren, aber richtigeren Instinkt. Als alle vier endlich in ihrem reservierten Zimmer verschwunden waren, wollte ich sofort aufbrechen. Meine Tochter wünschte das nicht. Sie sei müde, und was die Leute nebenan redeten, kümmere sie nicht. Sie war sogar durstig geworden und trank hastig einige Gläser eiskalten Champagner. Die Speisen berührte sie nicht. Als ich sie bat, wenigstens den Versuch des Essens zu machen, sagte sie nur: »Ach, Mama, laß doch! Ich habe mich überhungert, und da kann man erst recht nichts genießen.« Sie wurde von dem ungewohnten Wein munter, fast übermütig.

Wir gingen gegen Mitternacht, und auf Josefas Wunsch eine Strecke zu Fuß. Der Wagen fuhr nebenher. Ein ganzes Stück des nächtlichen Dresdens zog an uns vorüber, das in der herbstlichen Kühle, in dem mürrischen Grau gar nichts liebenswürdig Gemütliches mehr hat, sondern nur etwas unsagbar Nüchternes, Alltägliches. Warum hat eigentlich das Leben überall diese zwei Gesichter? Meinem Gefühl nach brauchte es nur das freundliche Gesicht zu geben, wie ich ja auch selbst so gern nur das freundliche Gesicht meiner Umgebung zeige. Selbst der Strom, von oben und in der Sonne gesehen, wie blinkend, wie froh! Und hier unten in der Nacht, wie kühl, wie trübe! Mich fröstelte durch den Mantel, als ich ihn auftauchen sah. Josefa sprach wenig. Man fühlt ja auch besser stumm auf solchen Nachtwanderungen. Von der Elbe wollte sie sich gar nicht trennen. Sie stand und stand, beugte sich über das Kaigeländer, wo doch nichts Tröstliches zu sehen war, als nur die laschen, grauen Wellen in dem frostigen Laternenschimmer. Menschen, denen das Leben nicht mehr lieb, starren nächtlich so unverwandt in die brodelnde, tückische Wassertiefe, aus der es kalt, wie der Tod zum Leben hinaufrieselt. Aber als ich sie endlich wegzog, weil ich wirklich fror, lächelte sie freundlich und streichelte mir das Gesicht.

Daß sie aber nichts verrät, was ihr Tiefinnerstes bewegt, wurde mir erst klar beim Einsteigen in den Wagen. Ein Kind kam näher und bettelte, ein armes, elendes Kind mit graublassem Gesicht und müden Augen. Ich wollte natürlich geben, viel geben, ich hätte es am liebsten mitgenommen in dem warmen Coupé in das warme Zuhause. Die Nacht war so schneidend kalt! Aber Josefa duldete es nicht. Sie rief mit einem harten, bösen Aufblitzen ihrer einst so warmen Augen: »Geh, Mädchen, geh! Du solltest dich schämen . . .« Und zu mir, die kopfschüttelnd dabeistand: »Ach, laß es doch verkommen und sterben! Man soll keine Bettler erziehen: Mutter, hörst du? Man soll keine Bettler erziehen!«

Wir fuhren ab. Sie sah nicht nach dem Kinde zurück. Mir war ganz wunderlich zumute während der ganzen Fahrt. Ich sah die Gegend, die ich so genau kenne, an mir vorüberziehen, wie ein fremdes Land in dem eigentümlich grauen, toten Schimmer der Herbstnacht. So wenig Licht, so wenig Hoffnung draußen, so wenig Licht, so wenig Hoffnung drinnen.

Diese Nacht ist sie bei mir geblieben. Sie wollte es, weil sie sehr müde war. Mir war's lieb, mein Kind unter meinem Dache zu haben, weil ich dann über ihm wachen kann. Die Jungfer machte ihr schnell das Bett zurecht neben dem Loggiazimmer, was ja alles schon früher für sie bestimmt war. Josefa erlaubte nicht, daß ich mit hinaufging. Ich hörte nur, wie sie sich sofort einschloß. Ich dachte, sie müsse gut schlafen, von guten Engeln beschützt. Ist es doch die schöne, reine Kindheit, die sie da oben wiederfindet! Ich ging selbst früh zu Bett. Doch schon nach einer Stunde traumlosen Schlafs fuhr ich auf mit einem so unaussprechlichen Angstgefühl, daß ich mich sofort notdürftig anzog. Alles stumm. Nur Josefa noch wach. Durch das Schlüsselloch fiel ein winziger Lichtstreif. Ich stieg lautlos hinauf, horchte. Ein Laut, als wenn jemand leise in die Kissen schluchzt. Durch das Loggiazimmer, das sie zu schließen vergessen, trat ich hinein.

Da lag sie auf ihrem Bett, halb ausgezogen, die Kissen zerwühlt. Dumpfige Herbstluft rieselte. Es war ein kalter, öder Raum auf einmal auch mir in dem bläulichen Lichte der einzigen elektrischen Flamme über dem Waschtisch. Ich trat leise zu ihr. Sie hörte es nicht. Kein Laut, nur das stumme Schluchzen, das den ganzen jungen Körper durchzuckte. Ich beugte mich über sie. Sie merkte es nicht, obgleich ich die Spitzen ihres Hemdes streifte. Die langen, braunen Strähnen hingen ihr über den weißen Nacken. Darunter schimmerte es silberig. Sie hat schon so viel graues Haar, mein armes, junges Kind! Am Tage verbirgt sie's. Ich sah's zum erstenmal. Ich streiche ihr sanft über das Haar und sage: »Josefa, Kind . . .«

Sie hebt den Kopf aus den Kissen, sieht mich an mit verständnislosen Augen. »Wer bist du? Was willst du?«

»Ich bin's, Josefa, deine Mutter.«

Da richtet sie sich langsam auf und streicht die Strähnen zurück. »Ich rief dich nicht. Warum kommst du?«

»Weil ich deine Mutter bin, und weil ich weiß, daß du leidest.«

Da lächelt sie seltsam, und sieht mich seltsam an. »Du willst mir helfen?«

»Ja, mein Kind, das will ich. Eine Mutter kann immer helfen, immer.«

Und sie wiederholt mit dem gleichen Lächeln, mit dem gleichen Ton: »Du willst mir helfen? Du? Du könntest es ja gar nicht, selbst wenn du wolltest, – du nicht!«

»Ich kann, Kind!« ,

»Nein, du kannst nicht . . . Du hast mich zur Lüge erzogen – ich bin dein williges Kind gewesen – und verlangst jetzt die Wahrheit von mir? Ich könnte sie dir sagen – aber ich sage sie dir nicht. Du verstehst keine Wahrheit. Du verstehst nur dich selbst, und ich verstehe dich nicht. – Geh, laß mich! – Ich habe mir allein bis hierher geholfen, ich werde mir auch allein weiterhelfen – Ich habe dich lieb, Mutter, aber geh! Ich bitte dich.«

Ich bin nicht gegangen, ich habe sie nicht gelassen, ich habe sie in die Kissen wieder zurückgedrückt, und beide Hände um ihren Hals geschlungen, ihr die Geschichte meines Lebens erzählt. Die Mutter beichtet der Tochter! Es mag selten genug vorkommen. Von mir hätte ich's nie geglaubt. Doch ich fühlte, daß ich ihr alles geben müßte, damit sie auch mir alles gäbe. Und ich habe ihr alles gegeben, nichts verhüllt, nichts geglättet. Wie ich ohne rechte Liebe geheiratet, wie so viele, weil ich keinen andern liebte. Wie ich treu gewesen sei gegen jede Versuchung, und wie dann auch in meinem Leben der Mann erschienen, den ich liebte, oder wenigstens zu lieben wähnte. Es war eine so schöne Zeit, und ihr Nachgeschmack doch nur qualvoll und bitter! Und wie mich dieser Mann, der mich im Anfang geradezu abstieß, langsam zur Liebe gezwungen habe, und wie der gleiche Mann, der vor mir gekniet, mich angebetet, sein Heiligstes genannt, dennoch mit einem Fluch von mir geschieden sei, als ich ihm das nicht geben konnte, noch durfte, was er von mir wollte. Er war eine leidenschaftliche Natur, die leicht alles wegwarf. Und diese leidenschaftliche Natur war ich eben nicht! Das wußte er und quälte mich dennoch. Beim Erzählen, wo alles wieder mir vor Augen stand, seine Weichheit und seine Härte, der Riesenreiz einer leidenschaftlichen Persönlichkeit, die alles gab und alles verlangte, die aber gar kein Gefühl dafür besaß, daß in der Ehe gerade dann die Pflicht anfängt, sobald die Liebe aufhört . . . Ich war die erste nicht, die diesem Reiz unterlag! Da begann sich auch in mir die Empörung zu regen gegen diesen Egoismus der Liebe, der nur Unglückliche macht. Dieser Mann, der vielleicht noch lebt, hat kein Zeichen, keinen Gruß mehr für mich gehabt von dem Tage an, wo ich zu meiner Pflicht zurückkehrte! Meine Reue, meine Gewissensbisse hat er verlacht, hat hohnlächelnd den einzigen Sohn, den Gott ihm vielleicht geschenkt, der Rache geloben wollen an mir. Es ist eigentlich so scheußlich, so gemein! . . . Weil ich seinen Sinnesrausch nicht befriedigte, weil ich treu blieb mir selbst, darum wurde ich ihm schlecht, verächtlich. Und ich habe trotzdem meine Tochter nach ihm getauft, der mir fluchte. Das einzige, was ich von ihm Persönliches noch besitze, das auf Elfenbein gemalte Wappen der Grafen Rhyn, halte ich heilig, es hängt über meinem Schreibtisch, wohin ich auch reise. Ich habe das Böse vergessen, aber das Gute in treuem Herzen bewahrt. Und der Mann verschwindet aus meinem Leben mit einem Fluch? – Wie wäre ich unglücklich geworden mit diesem Menschen, den ich liebte, und was bin ich glücklich geworden mit dem Manne, den ich nicht liebte!

Während ich das erzählte, mag ich vielleicht wider meine stets verzeihende Natur ungerecht und gehässig gewesen sein – ich liebe ihn nicht mehr, sein Gedächtnis ist mir tot! Und nun soll mein Kind vielleicht an dem gleichen Wahn zugrunde gehen, der Wahn bleibt, wie man ihn auch nenne? Aber als ich dann weitersprach, wieder milde wurde, warm, weil das Kind in mein Leben trat, das Kind, um dessentwillen allein doch Frauen wie ich den Mann lieben können, dem sie es verdanken, da sah sie erst recht kühl an mir vorbei, meine Tochter.

Und sie sagte: »Wenn du, Mutter, ein Gefühl nicht kanntest, das stärker ist als der Tod, wer gab dir das Recht, auch deine Tochter so zu erziehen, daß sie es nie kennen sollte? Erzähle mir Bände, es verhallt ja doch! Es gibt nur ein Gefühl, das die Menschheit adelt – und um dieses Gefühl hast du mich wissentlich betrogen.«

Es war so ruhig und so konsequent gesagt, so ohne jegliches Verstehen meines Schicksals, daß ich aufstand, zu gehen. Sie hielt mich nicht. Aber ich kehrte doch zurück. Was ich auch leide, mein Kind leidet mehr, und das darf nicht sein!

»Josefa, so können wir nicht auseinandergehen!« sagte ich. »Ich weiß, Kind, daß ich gehandelt habe, wie ich mußte nach meiner ganzen Natur – sag du mir nun, wie du gehandelt hättest nach deiner Natur!«

Sie saß auf dem Bettrand, und starrte vor sich hin. Endlich sagte sie: »Du hast den Mann nicht geliebt, Mama?«

»Ja, ich habe ihn geliebt! Sonst wäre ich doch eine Dirne.«

Sie sah mich von der Seite an. »Und du verließest ihn dennoch. Du rühmst dich sogar dessen?« Sie sah mir mitleidslos gerade ins Gesicht. »Wenn du ihn liebtest, dann mußtest du dem Mann, mit dem du gesündigt hast, folgen bis ans Ende der Welt, – nein, bis in die Hölle! – Herzlos warst du, nicht er. Wessen Kind bin ich nun?«

»Natürlich das Kind des Mannes, dessen Namen du trägst. Du bist kein Kind der Sünde! Du bist über zehn Jahre nach dem Tage geboren, wo ich ihn zum letztenmal sah.«

Da stand Josefa langsam auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Mutter, wir verstehen uns nicht! Eben gerade darum bin ich doch ein Kind der Sünde. Denn Kinder sollen geboren werden aus der Liebe, nicht aus der Pflicht. Das ist ein heiliges Gesetz. Du hast's gebrochen, ich hab's gebrochen. Ihr brecht's alle! Und ihr seht dann mit Verachtung auf alle die herab, die wenigstens noch fähig sind, unerträgliche Fesseln zu brechen. Die Frau, die einen ungeliebten Mann wegen eines geliebten verläßt, begeht eine Sünde gegen Gott, – Sünden gegen Gott, die werden auch nach der heiligen Schrift vergeben. Aber die Frau, die bei einem ungeliebten Manne bleibt, obgleich sie einem geliebten folgen könnte, die begeht eine Sünde gegen den heiligen Geist, – Sünden gegen den heiligen Geist, die werden auch nach der heiligen Schrift nicht vergeben . . . Du denkst wahrscheinlich, ich sei wahnsinnig. Ich bin's aber ganz gewiß nicht! Die Welt wird ärmer von Tag zu Tag durch eure Pflicht, und sie wäre bettelarm schon längst, wenn sie nicht immer wieder aus dem Reichtum der Sünde schöpfte. Sieh mich an, Mutter, und höre mich genau! Ein Kind von dem Manne, den man nicht liebt, ist eine Todsünde gegen den Mann, den man liebt. Jetzt wirst du vielleicht verstehen, warum ich nie ein Kind haben werde. Ich bin dabei nicht etwa sündhafter gewesen, als du nach deiner Moral. Ich hatte allerdings einen Geliebten, einen einzigen, damit du mich nicht falsch verstehst, – ich werde nie einen zweiten haben! Und wenn ich alles zusammenrechne, mögen vielleicht vierundzwanzig Stunden herauskommen, wo er mir gehört hat, mit dem Händedruck, mit dem Kuß. Mit nichts anderm: verlaß dich drauf! Ich habe diesen Geliebten längst nicht mehr. Das ist auch wahrlich nicht mein Kummer! Aber daß er mich wegstoßen durfte, und zwar mit Recht, das frißt mir am Herzen.«

Ich war mitten im Zimmer stehen geblieben, während sie mit einer Sicherheit sprach, gegen die es keinen Appell gibt. Und sind nun Frauen wirklich unfähig der Logik, oder gibt es eine doppelte Moral; ich trat bei dem letzten Wort erregt auf Josefa zu und rief: »Und du bleibst noch bei deinem Manne?«

»Bliebst du vielleicht nicht?«

»Ja . . . allerdings . . . aber . . .«

Sie lächelte. Und dieses Lächeln tat mir so weh! »Rege dich nicht auf, Mutter! Es nutzt nichts. Ich habe trotzdem nicht deine Moral, und bleibe trotzdem bei meinem Manne, eben weil ich will! Ich büße anders wie du, aber ich büße schwerer. Und wenn's dich interessiert: ›wenn Peter stürbe, ich ginge ganz gewiß nicht zu dem andern Mann!‹ Als er mich fortstieß – nicht bildlich – er tat's mit seiner Hand, da hat er mich nach deinem Maße gemessen. Und so lieblos es klingt, er konnte mir keine tödlichere Beleidigung antun, als daß er mich nach deinem Maße maß! Denn ich habe ihn wirklich geliebt.«

Es war eine Nacht, – undenkbar, unmöglich, mit eherner Schrift in mein Gedächtnis geschrieben.

Ich ging, weil mir wirklich nichts mehr zu tun übrigblieb.

Als wir uns zum Abschied doch noch küßten – ein Kuß, der scheidet –, da erinnerte sich mein Kind noch einmal seines besseren Selbst. Josefa traten die Tränen in die Augen, und sie sagte leise: »Mutter, ich werde niemals aufhören, dich zu lieben. Ich verstehe dich nicht mehr. Aber bleibe doch, wie du bist, – du kannst nicht anders. Und laß mich, wie ich bin, – ich kann auch nicht anders. Versuche auch nie, aus Liebe irgend etwas zu ändern, weil nichts zu ändern ist. Und wenn du einmal für mich betest, so bete, worum ich in den letzten Jahren so oft Gott auf Knien gebeten habe, daß ich sei, was ich scheine: hart und kalt. Mir bleibt keine andre Wahl . . .« Und sie sah mich an mit einem so qualvoll unglücklichen Ausdruck. »Mach das tot, Mutter, das!« Sie zeigte auf ihr Herz.


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