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Es war um die Mittagszeit des nächsten Tages. Wir befanden uns zwischen dem Big Sandy Creek und dem Green River und wurden von der Fährte, welcher wir folgten, nach Nordwest in der Richtung nach dem New Fork geführt. Das erst ziemlich ebene Terrain war jetzt bergig geworden, aber man sah, daß Corner die Gegend kannte; er hatte sich überall das beste Fortkommen gesucht. Seine Spur war nicht schwer zu lesen; er schien in dieser Beziehung keine große Sorge zu haben und nur auf ein möglichst schnelles Fortkommen bedacht zu sein. Leider hatte er da mehr Erfolg, als wir wünschten; seine Pferde waren besser als die unsrigen, mein Hatatitla natürlich ausgenommen. Aber was nützte mir alle Vortrefflichkeit des Rappen, wenn ich nicht schneller reiten durfte als die andern!
Wir trabten eben über ein ausgedehntes, sehr spärlich begrastes Hochplateau, welches uns eine freie Fernsicht bot, als ich weit draußen, rechts von uns, einen Punkt bemerkte, welcher sich zu bewegen schien. Ich ließ halten, um ihn zu beobachten. Das war kein Wild; das mußten Menschen sein. Wir stiegen ab, um nicht so leicht gesehen zu werden. Nach einiger Zeit konnten wir zwei Reiter unterscheiden, welche sich uns näherten. Es waren Weiße. Um sie nicht durch den Anblick von Indianern mißtrauisch zu machen, stieg ich allein wieder auf und ritt ihnen langsam entgegen. Als sie mich kommen sahen, stutzten sie erst, dann aber ritten sie weiter, obgleich sie nun die Roten sahen. Noch waren sie mir nicht so nahe, daß ich ihre Gesichter deutlich erkennen konnte, da hörte ich den einen in freudigem Tone rufen:
»O joy! Wenn mich meine alten Augen nicht täuschen, so ist das Old Shatterhand! Drauf los, drauf los!«
Sie setzten ihre Pferde in Galopp, und nun erkannte ich das alte, liebe, bärtige Gesicht, welches hier zu sehen ich weniger als alles andere vermutet hätte.
»Sannel, Amos Sannel!« rief ich aus. »Ist es denn möglich, daß Ihr es seid?«
»Warum soll das so unmöglich sein?« fragte er lachend, indem er sein Pferd parierte und mir die Hand zum Gruße hinhielt. »Ihr wißt ja, daß hier mein Lieblingsgebiet beginnt. Oder habt Ihr mich vielleicht für tot gehalten?«
»Allerdings.«
»Was? Wirklich? Warum? Ich hoffe doch nicht, daß Ihr meinem Leichenzuge begegnet seid!«
»Das nicht, aber – hm! Zeigt doch einmal Euer Gewehr!«
»Diesen Schießprügel? An dem ist gar nichts zu sehen. Ja, wenn ich meinen alten Einläufer noch hätte! Ihr habt ihn ja gekannt. Ich bin seitdem nur noch ein halber Mann!«
»Wo ist das Gewehr denn hin?«
»Wohin? Gestohlen worden ist es mir.«
»Von wem?«
»Von zwei Halunken, deren Namen Nebensache ist, weil sie doch jedenfalls falsche genannt haben. Ich traf drüben am Belle Fourche River mit ihnen zusammen und ließ mich bethören, bei ihnen zu bleiben. In der zweiten Nacht machten sie sich unsichtbar und mein Gewehr mit. Ich habe bisher vergeblich nach ihnen gesucht; aber wehe ihnen, wenn ich auf ihre Spur gerate! Warum fragt Ihr nach dem Gewehre?«
»Weil – – doch, sagt erst, woher Ihr kommt und wohin Ihr wollt!«
»Ich komm dieses Mal von den Sand Hills herüber, wo ich diesen Gentleman getroffen habe, der grad dorthin will, wohin ich auch wollte, nämlich zu Avaht-Niah, dem Schoschonen. Wir denken, ihn und seinen Stamm jetzt in der Gegend der Wasatchberge zu finden.«
»Da irrt Ihr Euch. Er ist am Schwefel- und Hobacksfluß zu suchen.«
»Das ist ja gar nicht weit von hier! Wir wollen ihn nämlich warnen. Dieser Gentleman weiß, daß die Krähen die Schlangen überfallen wollen; darum reiten wir, was die Pferde nur laufen können, um Avaht-Niah zu warnen.«
»Das ist nicht nötig. Er weiß es schon. Winnetou ist bei ihm.«
»Unser herrlicher Apatsche? Wie kommt es, daß Ihr nicht beisammen seid, Mr. Shatterhand?«
»Weil ich jetzt hinauf nach dem Fremonts Peak muß, um Euer Gewehr zu holen,« antwortete ich.
»Mein – – mein – – welches denn?« fragte er erstaunt.
»Eure Rallingbüchse.«
»Alle Wetter! Ich begreife Euch nicht. Das ist doch Spaß?«
»Nein, es ist Ernst. Ich habe Euer Gewehr in der Hand gehabt; ich habe draus geschossen, und der, welcher es jetzt besitzt, der Dieb, reitet da vor uns her, und wir folgen ihm, weil wir eine Rechnung mit ihm haben. Kommt nur mit, Mr. Sannel! Wenn Ihr zu den Schoschonen wollt, ist Euer Weg ja doch der unserige.«
»Ist – – ist – – ist es möglich?« stieß er, vor Freude stockend, hervor. »Mein Gewehr soll in der Nähe sein?«
»Ja. Kommt nur! Ich habe nämlich keine Zeit zu verlieren und werde Euch unterwegs alles erzählen.«
»Schön, schön; gut, gut! Wenn es so ist, so sei der heutige Tag tausendmal gesegnet! Ich soll mein Gewehr wieder haben! Ah! Doch, erlaubt, Mr. Shatterhand, daß ich Euch diesen Gentleman vorstelle! Werdet Euch freuen. Er ist nämlich auch ein Deutscher wie Ihr, heißt Hiller, wird aber Nana-po genannt.«
Der alte Sannel sagte das so gleichmütig; er hatte keine Ahnung, wie wichtig mir diese Mitteilung war. Ich mußte förmlich an mich halten, nicht vor Freude laut aufzuschreien. Auch Rost stutzte. Ich winkte ihm, zu schweigen, und sagte in möglichst ruhigem Tone:
»Es freut mich, Mr. Hiller, Euch kennen zu lernen, denn ich habe den Namen Nana-po rühmlich nennen hören.«
Er antwortete nicht sogleich. Seine Augen waren finster auf die Upsaroka's gerichtet; dann sah er mich forschend an und fragte:
»Bemerkt Ihr nicht, Mr. Shatterhand, mit was für Blicken mich diese roten Halunken betrachten? Sie befinden sich bei Euch. Haltet Ihr es mit ihnen?«
»Ich halte es mit allen braven Menschen!«
»Well; diese aber sind Halunken! Ich sehe Euch heut zum erstenmal. Tausendmal habe ich gewünscht, doch einmal Euch und Winnetou zu begegnen, und nun dieser Wunsch endlich in Erfüllung geht, kann ich mich nicht darüber freuen, weil ich meine Todfeinde an Eurer Seite sehe.«
»Sie sind es nicht!«
»Oh doch! Ihr wißt ja gar nicht – –«
»Ich weiß es schon! Kommt nur jetzt mit! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir werden unterwegs erzählen, was zu erzählen ist.«
»Gut; Ihr werdet Euch aber wundern!«
»Ihr nicht weniger!«
Ich wollte weiter reiten, sah aber, daß die Upsaroka's halten blieben. Als ich sie nach dem Grunde fragte, antwortete einer von ihnen:
»Hier ist Nana-po, der unser Gefangener war. Er wurde zurückgelassen und hat die Flucht ergriffen, als wir fortgewesen sind. Wir dürfen nicht mit Old Shatterhand reiten, wenn Nana-po sich bei ihm befindet!«
Sie hatten von ihrem Standpunkte aus recht. Ich überlegte mir die Sache kurz. Wenn Hiller und der alte wackere Sannel bei uns waren, brauchten wir weiter keine Hilfe. Darum antwortete ich dem Roten:
»Wenn meine roten Brüder umkehren wollen, so mögen sie es thun. Das Packpferd aber müssen sie mir lassen. Yakonpi-Topa bekommt es wieder, wenn wir ihm die Pferde bringen, welche die Entflohenen mitgenommen haben.«
»Uff! Es mag geschehen, wie Old Shatterhand sagt!«
Ich bat Rost, das Packpferd am Zügel zu nehmen; er that es, und die Upsaroka's galoppierten zurück, ohne sich nur einmal umzusehen. Jetzt ritten wir weiter.
Zunächst nahm natürlich Hiller meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Seine Gestalt war hoch und kräftig, sein Haar aber grau und sein Gesicht von tiefen Furchen durchzogen. Man sah, daß nicht bloß das Alter die Schuld an diesen Falten hatte. Dieses Gesicht wäre mir sympathisch gewesen, wenn nicht soviel Verschlossenheit und Härte darauf gelegen hätte. Seine Frau hatte gesagt, daß er seinen Glauben verloren habe. Ich nahm mir vor, ihm nicht gleich alles mitzuteilen, sondern den Versuch zu machen, auf sein Herz zu wirken.
Da wir uns auf einer freien Ebene befanden, konnten wir nebeneinander reiten und also bequem miteinander sprechen. Amos Sannel dachte nur an sein Gewehr und erkundigte sich mit großem Eifer nach der Gelegenheit, bei welcher ich es in den Händen gehabt hatte. Ich erzählte ihm von dem damaligen Wettschießen, nannte aber den Namen des Ortes nicht. Sein Gesicht strahlte bis in die Bartspitzen hinein, als er hörte, welche Schüsse ich gethan hatte. Dann erzählte ich, ohne auf das Einzelne einzugehen, in kurzen Umrissen weiter, daß ich den gegenwärtigen Besitzer der Rallingbüchse am Lake Jone wieder getroffen hatte und was dann geschehen war.
»Und dieser Mensch ist also hier auf dieser Spur?« fragte er, als ich fertig war. »Ob er es von dem Diebe gekauft hat?«
»Ich möchte behaupten, daß er der Dieb selbst ist.«
»So! Wenn er es ist, erkenne ich ihn sofort. Jetzt gehen mich die Schoschonen nichts mehr an; sie mögen stecken, wo sie wollen. Ich muß mein Gewehr wieder haben und werde nicht eher von dieser Fährte lassen, als bis ich mit dem Schurken abrechnen kann. Welch ein Glück ist es, daß ich Euch getroffen habe, Mr. Shatterhand! Wie aber steht es mit Euch, Mr. Hiller? Ihr müßt zu den Schoschonen, bei denen Ihr noch eine Menge Felle liegen habt, und könnt Euch also nicht um mich und mein geliebtes Schießeisen bekümmern.«
»Warum nicht? Es handelt sich wohl nur um einen oder höchstens zwei Tage Zeitverlust, wenn ich mit Euch reite. Zu Avaht-Niah komme ich dann immer noch. Habe ich so lange bei den Krähen festgesteckt, so kann es jetzt auf einige Tage mehr oder weniger auch nicht ankommen.«
»Danke Euch! Wenn man es mit solchen Schurken zu thun hat, ist es immer besser, man hat einige Fäuste zu viel als zu wenig. Aber sagt, Mr. Shatterhand, welcher Ort war es denn, wo Ihr diese Hauptschüsse aus meiner Büchse gethan habt?«
Ich antwortete in gleichgültigem Tone, aber Hiller dabei in das Auge nehmend, ohne daß er es bemerkte:
»Ihr werdet die Stadt nicht kennen, Mr. Sannel. Es war in Weston, Missouri.«
»Was? Wo? Weston in Missouri?« fragte Hiller schnell. »Dort seid Ihr gewesen, dort, Mr. Shatterhand?«
»Ja.«
»Wann ist das gewesen?«
»Es kann stark in den zweiten Monat gehen.«
»Das ist mir interessant. Ich wohne nämlich dort!«
»In Weston? Wirklich? Ah, da fällt mir ein: Es wurde dort von einem Pelzjäger Hiller gesprochen, der sich im Westen sehr verspätet haben soll.«
»Der bin ich. Ich habe mich nicht verspätet, sondern ich war gefangen bei den Krähen.«
»Das weiß ich. Yakonpi-Topa sagte mir, daß Nana-po sein Gefangener sei. Aber daß dieser Nana-po und dieser Hiller eine und dieselbe Person sind, wer hätte das gedacht!«
»Das hättet Ihr in Weston bei meiner Frau erfahren können. Sie hat oft, wie oft gewünscht, Euch oder Winnetou einmal sehen zu können, und mein Sohn ebenso. Ich habe nämlich einen Sohn. Wie sie sich wohl befinden mögen? Sie werden in schwerer Sorge um mich sein!«
»Was das betrifft, so kann ich Euch Auskunft geben, denn ich habe beide gesehen.«
»Wirklich?« fragte er schnell. »Wann, wo?«
»Bei dem Schießen, von welchem ich vorhin erzählte. Sie standen dabei und sahen zu. Ich hörte, daß das Mrs. und der junge Mr. Hiller seien. Sie sahen ganz wohl aus.«
»Das ist eine gute Nachricht, Sir. Aber es wundert mich sehr, daß sie nicht den Versuch gemacht haben, mit Euch zu sprechen, da sie beide doch stets den Wunsch hatten, Euch einmal zu sehen!«
»Ich verschwieg, wer ich bin. Ich wollte mich nicht als Panoramabild betrachten lassen.«
»Dann ist freilich alles erklärt.«
»Aber,« fiel da Rost ein, um doch auch etwas zu sagen, »als dann Winnetou kam, wurde es doch offenbar, daß Ihr Old Shatterhand waret, Mylord.«
»Auch Winnetou war in Weston?«
»Ja,« fuhr Rost fort, ohne mich anzusehen und also meine Winke zu bemerken. »Beide, Winnetou und Mr. Shatterhand entdeckten dann, daß der Prayer-man der Nuggetdieb gewesen war.«
»Nuggetdieb? Prayer-man? Ich habe, als ich zum letztenmal daheim war, einen Prayer-man gesehen. Er kam zu uns. Meine Frau kaufte ihm einige Sachen ab, und er schrieb sich ein Gedicht auf, ein deutsches Weihnachtsgedicht, welches meine Frau mit aus dem alten Lande herübergebracht hat.«
»Ja, ja,« nickte Rost sehr eifrig. »Es beginnt mit der Strophe:
›Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ.‹
Wißt Ihr, wer dieses Lied gedichtet hat, Mr. Hiller?«
Der unvorsichtige frühere Oberkellner stand im Begriffe, Dinge zu verraten, welche jetzt noch Geheimnis bleiben mußten. Ich ließ mein Pferd einen Seitensprung machen, welcher den Schwätzer zwang, mich anzusehen, und warf ihm einen so drohenden Blick zu, daß er endlich einsah, daß er schweigen solle.
»Ja, ich weiß, wer es gedichtet hat,« antwortete Hiller harmlos; »ein unreifer Knabe, der noch voller Ammenmärchen steckte. Diese Redereien vom heiligen Christ, von Sünde und Vergebung, vom Heiland und sonstigen himmlischen Dingen sind doch nur geistige Jungenstreiche. Kein vernünftiger Mensch kann daran glauben!«
»Wirklich?« fragte ich. »Ich denke, daß ich so ziemlich vernünftig bin, glaube aber doch daran.«
»Ihr, Mr. Shatterhand?«
»Ja.«
»Das sagt Ihr doch nur im Scherze!«
»Oh nein; es ist mein heiligster Ernst. Ich kann den Menschen, dem der Glaube an Gott fehlt, nur tief bedauern!«
»An Gott? Hört, sprecht mir doch nicht von Eurem sogenannten Gott! Mag ich das schon aus jedem andern Munde nicht hören, so noch viel weniger aus dem Eurigen. Ein Mann wie Old Shatterhand, von dem man weiß, daß er sich selbst vor dem Teufel nicht fürchtet, sollte doch wahrhaftig vernünftiger reden!«
»Die höchste Vernunft ist Gott, und nur allein deshalb, weil ich Gott fürchte, habe ich den Teufel nicht zu fürchten!«
»Dann, bitte, wollen wir nicht mehr davon sprechen. Wenn Ihr das erfahren und durchgemacht hättet, was ich alles hinter mir habe, würdet Ihr ganz anders sprechen. Ich kann und mag das fromme Wimmern nicht hören. Es paßt sich das für Knaben und alte Weiber, aber nicht für erwachsene, verständige Männer!«
»Danke für die Zurechtweisung, Mr. Hiller! In dieser Beziehung bin ich Kind geblieben und will es ewig bleiben!«
»Bleibt es in Gottes Namen, oder vielmehr, in wessen Namen Ihr wollt, nur nicht in Gottes Namen, denn es giebt keinen Gott! Wenn ich da nicht recht habe, so mag mir der erste, beste Grizzlybär das Gehirn ausfressen! Ihr wißt doch, Sir, daß der Grizzly stets zuerst nach dem Gehirn zu kommen trachtet? Es ist ihm der Lieblingsbissen von jeder Beute, die er geschlagen hat.«
Diese lästerliche Vermessenheit klang so entsetzlich und empörte mich in der Weise, daß ich ganz rücksichtslos antwortete:
»Hört, Mr. Hiller, ich bin kein Bär, der sich um Euer Gehirn bekümmert; bekümmert Euch also auch nicht um das meinige und die Gedanken und Ansichten, welche es hegt! Ihr habt mich unvernünftig genannt, weil ich an Gott glaube. Es ist noch keine halbe Stunde her, seit wir uns zum erstenmal im Leben gesehen haben; da kann ich es nur, gelinde ausgedrückt, eine Voreiligkeit nennen, wenn Ihr schon in dieser Weise an mir herummeistern wollt. Mit Knaben und alten Weibern läßt sich Old Shatterhand nicht kommen. Ihr mögt erfahren und durchgemacht haben, was es sei, ich bin auch nicht auf Rosen gebettet gewesen. Ihr habt dabei verloren; ich habe gewonnen; ich lasse Euch Euern Verlust und muß also bitten, mir meinen Gewinn auch nicht anzutasten!«
»Well!« lachte er. »Vorhin waret Ihr es, jetzt nun bin ich es, der für die Zurechtweisung dankt! Wir sind also quitt! Doch, schaut da links hinüber! Das ist ein Reiter!«
Ja, es war ein einzelner Reiter, der wahrscheinlich erst eine andere Richtung gehabt, uns aber gesehen hatte und nun in schlankem Galopp grad auf uns zukam. Da wir ihn nicht von der Seite, sondern von vorn sahen, war er in so weiter Entfernung nicht zu erkennen, aber die fliegende Pferde- und Menschenmähne sagte mir dennoch, wer da kam.
»Winnetou!«
Als die andern den Namen hörten, hielten sie an. Ich ritt einige Schritte weiter und blieb dann auch halten; er sah also meine Gestalt allein, erkannte mich, richtete sich im Sattel hoch auf, warf den Arm empor und rief meinen Namen. Er kam wie ein Sturm dahergeflogen. Als er uns erreichte, gab es einen einzigen Ruck, da stand sein Pferd und er saß darauf, beide wie aus Erz gegossen.
»Scharlih!« sagte er, mich mit frohen Augen betrachtend, denn ich war ja frei.
»Winnetou, mein Bruder!« antwortete ich, ihm die Hand hinstreckend, welche er drückte.
Mein Blick suchte natürlich nach meinen beiden Gewehren. Er hatte den Bärentöter über der Schulter, den Henrystutzen und die Silberbüchse am Sattel hängen.
»Uff! Amos Sannel!« lächelte er. »Da ist von dem Wettschießen in Weston gesprochen worden. Wer ist das andre Bleichgesicht?«
»Nana-po,« antwortete ich.
»Uff!«
Sein Auge flog prüfend über Hillers Gestalt, doch sagte er nichts; dann wendete er sich wieder an mich:
»Mein Bruder befindet sich nicht mehr bei den Upsaroka's? Ich sehe hier eine Fährte, welcher er folgt. Carpio fehlt? Sind die gefangenen Bleichgesichter entflohen?«
»Ja, und Carpio fiel ihnen in die Hände; sie haben ihn mitgenommen.«
»So sind sie hinauf nach dem Finding-hole. Wie alt ist diese Spur?«
Er bog sich herab um sie zu betrachten, und fuhr dann fort:
»Wir brauchen noch Leute; ich werde welche holen. Avaht-Niah, der Häuptling der Schoschonen, ist selbst auch bei seinen Kriegern. Sie ziehen drüben am Marsh Creek herab. Meine Brüder mögen jetzt dieser Fährte weiterfolgen! Halten sie heut abend da an, wo der Silver Creek in den New Fork mündet, werde ich sie einholen. Mein Bruder Scharlih bekommt seine Gewehre wieder.«
Er gab sie mir, wendete sein Pferd und jagte wieder fort.
»Was für ein Mann!« rief Hiller bewundernd aus.
Da glaubt man nicht an Gott und hat doch sein herrlichstes Ebenbild vor Augen! So dachte ich, sagte aber nichts. Wir setzten unsern Ritt fort, doch blieben unsere Augen an dem Apatschen haften, bis er ganz draußen am Horizont verschwand.
Wie oft in meinem Leben habe ich jene große Potenz bewundern müssen, welche aus uns unbekannten Gründen und Ursachen Folgen und Ereignisse zieht, die uns überraschend kommen, weil wir eben nichts von der Veranlassung dazu wußten! Diese Macht wird von dem gewöhnlich denkenden Menschen Zufall genannt. Man macht es sich da leicht; man braucht keine geistige Anstrengung dazu; man hat keine Verantwortung; man riskiert nicht, wegen des »Ammenmärchens« von Gottes Weisheit ausgelacht zu werden; man sagt eben von jeder auf unerwartete und unerklärliche Weise eingetretenen Thatsache, daß sie dem Zufalle zu verdanken sei. Ich beneide die Anhänger der Zufallslehre nicht. Sie beugen ihre Häupter vor dem bloßen, aller Intelligenz baren Ohngefähr, vor einem seelen- und willenlosen Etwas, welches ihnen keinen Halt bieten kann, sondern ihnen denselben nur zu rauben vermag. Wieviel glücklicher ist da doch derjenige, welcher glaubt, daß Gottes Auge ihn bewacht und Gottes Vaterhand ihn durch das Leben leitet! Für ihn sinken die in sein Leben eingreifenden Ereignisse nicht zu unmotivierten Vorgängen herab, welche sich auch ganz anders hätten gestalten können, sondern alles, was geschieht, trägt einen zurückgreifenden Grund und eine weise, in die Zukunft blickende Absicht in sich, der man sich mit beruhigendem Vertrauen hingeben kann, obgleich man sie nicht zu begreifen vermag.
So fiel es mir auch gar nicht ein, meine Begegnung mit Hiller und dem alten Amos Sannel für Zufall zu halten; Gott hatte es gewollt, daß wir uns treffen sollten. Der Weg, welchen sie zurückgelegt hatten, wäre von keinem nur einigermaßen erfahrenen Westmanne eingeschlagen worden; er war so außerordentlich beschwerlich, daß es ein außer ihnen liegender Wille gewesen sein mußte, der sie veranlaßt hatte, vom Poison- und Agir-Creek so schnurgerade über das vollständig pfadlose Gebirge herüberzukommen. Die Verhältnisse lagen so, daß sie grad in diesem Augenblicke und grad auf diesem Wege hatten kommen müssen, um da zu sein, wo sie gebraucht wurden. Es war ja geradezu, als ob sie uns auf eine besondere Bestellung zugeschickt worden seien!
Da Hiller jetzt nicht gleich alles erfahren sollte, was ich ihm eigentlich zu sagen hatte, führte ich eine Gelegenheit herbei, mit Rost unbeobachtet sprechen zu können, um ihm zu sagen, wie er sich in dieser Beziehung zu verhalten habe. Er versprach mir, das von mir gewünschte Schweigen streng zu beobachten.
Ich hielt mich im weitern Verlaufe des Nachmittages meist zu Sannel, welcher mir erzählte, was er seit unserm letzten Beisammensein alles erlebt hatte. Darüber verging die Zeit sehr schnell, und es wollte abend werden, als wir die Höhen von Fremonts Butte rechts von uns auftauchen sahen und uns also in der Nähe unseres heutigen Zieles befanden. Wir erreichten den Zusammenfluß des Silver Creek mit dem New Fork grad beim letzten Tageslicht und hatten einen passenden Lagerplatz gefunden, als es vollständig finster geworden war.
Nirgends unterhält es sich wohl besser, als in der Einsamkeit der Wildnis, wenn einige Männer beisammensitzen, welche etwas erlebt haben. Solche Lagerplätze sind für den Westmann das, was für bewohnte Gegenden die Zeitungen sind, und er versäumt nur höchst ungern eine solche Gelegenheit, Unbekanntes zu erfahren und sich selbst auch gehörig auszusprechen. Heut aber ging es sehr still bei uns zu. Sannel hatte mir gesagt, was er mir zu sagen hatte, und Hiller zeigte sich außerordentlich zurückhaltend; er ließ nur dann ein Wort hören, wenn dies unumgänglich nötig war. Er hatte mir die Zurechtweisung übelgenommen, mit welcher ich geglaubt hatte, nicht zurückhalten zu dürfen. Er schien ein Charakter zu sein, dem man nicht widersprechen darf, weil er nicht leicht verzeihen kann. Vielleicht war diese Eigenschaft nicht ohne Einfluß auf die unglückliche Gestaltung seiner Vergangenheit gewesen. Wer sich nicht belehren läßt und sich gegen andere Meinungen gern nachtragend zeigt, dem entgeht die Elastizität, welche zum Parieren schwerer Schicksalsstöße nötig ist. Wenn es wirklich ein so großer Herzenswunsch von ihm gewesen war, Winnetou und mich einmal zu sehen, so hätte er sich jetzt, wo er ihm in Erfüllung gegangen war, versöhnlich zeigen sollen! Vielleicht hätte ich etwas weniger schroff mit ihm sprechen sollen; ich gebe das zu; aber ich lasse mir nun einmal gegen meinen Herrgott nichts sagen und hatte ihm gleich beim ersten Versuche klarmachen wollen, daß er damit bei mir an eine vollständig falsche Adresse kam. Ich hielt und halte das noch jetzt für meine Pflicht.
So saßen wir also ziemlich schweigsam beisammen und warteten auf die Ankunft des Apatschen. Wir hatten ein Feuer angebrannt, welches auf den Weg, den wir gekommen waren, zurückleuchtete. Das war von mir angeordnet worden, damit Winnetou nicht lange in der Finsternis nach uns zu suchen brauchte. Freilich hatte ich dabei vermieden, dieselbe Unvorsichtigkeit wie die Begleiter Lachners am Lake Jone zu begehen. Ich hatte erst die Umgebung des Platzes genau abgesucht und dann das Feuer nicht da anbrennen lassen, wo wir saßen, sondern ziemlich entfernt davon an einer Stelle, welche wir überblicken konnten. Es ging nur zuweilen einer von uns hin, um neues Holz nachzulesen. Auf diese Weise konnten wir nicht entdeckt werden, aber selbst jede Person sehen, welche sich etwa heranschleichen wollte.
Es mochten, seit wir hier angekommen waren, vielleicht zwei Stunden vergangen sein, als ich bemerkte, daß sich in dem Gebüsch, neben welchem das Feuer brannte, einige Zweige leise bewegten. Das konnte nicht eine Folge des Windes sein, weil sich da die benachbarten, ebenso leichten Zweige mitbewegt hätten. War das Winnetou oder eine Person, welche nicht zu uns gehörte? Wenn er es war, so bedurfte es nur jenes Plätscherns, durch welches er mich abends am Lager der Upsaroka's, als ich mit Yakonpi-Topa den Umgang machte, auf sich aufmerksam gemacht hatte. Ich flüsterte also meinen Gefährten zu, sich ganz ruhig zu verhalten, und kroch nach dem Wasser, welches sich nur einige Schritte hinter uns befand. Dort schöpfte ich den Hut voll, hielt ihn hoch und ließ den Inhalt laut in den still dahinfließenden Creek fallen. Es bedurfte nicht vieler Wiederholungen dieses Experimentes, denn schon beim zweitenmale erklang die Stimme des Apatschen:
»Winnetou hört das Zeichen seines Bruders Scharlih. Wo ist Old Shatterhand?«
»Hier. Wir kommen,« antwortete ich.
Wir gingen nach dem Feuer, an welchem zu gleicher Zeit Winnetou erschien. Er ließ einen lauten, scharfen Pfiff hören, worauf fünf Indianer kamen, welche den Iltschi des Apatschen und auch mehrere Packpferde an den Leitzügeln führten.
»Es ist niemand in der Nähe,« sagte er. »Wir können nun an einer bessern Stelle ein größeres Feuer machen und uns an demselben niedersetzen, um uns zu wärmen, denn es wird in dieser Nacht sehr kalt werden.«
Die Indsmen zerstreuten sich, um Holz zu suchen; sie brachten trotz der Dunkelheit eine solche Menge zusammen, daß sie für die ganze Nacht reichte. Es wurde an einer rundum von Büschen verdeckten Stelle ein neues Feuer angebrannt, um welches wir uns lagerten, nachdem die neu angekommenen Pferde gut versorgt worden waren. Dann warf mir Winnetou einen fragenden Blick zu. Ich verstand ihn und erzählte in kurzen Worten, was geschehen war, seit ich das Unglück gehabt hatte, mit Carpio und Rost am Fleischwasser in die Hände der Blutindianer zu geraten. Sie hörten mir alle mit Spannung zu, besonders auch Hiller, welcher, als ich geendet hatte, sein bisheriges Schweigen brach und mich fragte:
»Aber, Sir, da hat sich ja herausgestellt, daß wir ganz unschuldig an dem Tode der sechs Krähen gewesen sind?«
»Noch nicht ganz,« antwortete ich. »Winnetou hat es entdeckt, Yakonpi-Topa aber will sich erst überzeugen; darum hat er Boten nach der betreffenden Stelle geschickt.«
»Die werden ihm schon die Überzeugung bringen, daß die Blutindianer die Schuldigen gewesen sind. Hoffentlich ist man in St. Louis nicht so dumm, ihm die verlangten 365 Gewehre zu schicken!«
»Welche Gewehre?« erkundigte ich mich, indem ich mich unwissend stellte.
»Er hat einen Brief an meine Frau geschrieben, den ich unterzeichnen mußte. Er schrieb darin, daß er mich nur gegen die Zusendung von soviel Gewehren, wie das Jahr Tage hat, ausliefern werde.«
»Wird sie ihn lesen können?«
»Nein, und auch in St. Louis wird sich wohl niemand gefunden haben, der es konnte. Darum habe ich ihn unterschrieben. Er hätte die Gewehre genommen und mich doch am Marterpfahle sterben lassen wie die vier unschuldigen Schoschonen. Ich weigerte mich nur deshalb nicht, meine Unterschrift zu geben, weil ich dadurch die Wachsamkeit meiner Wächter einzuschläfern hoffte. Das ist mir auch gelungen. Ich bin glücklich entkommen und nicht etwa nach Hause geritten, sondern durch dick und dünn direkt über die Berge gegangen, um die Schoschonen zur Rache aufzufordern.«
»Rache? – Hm!«
»Das gefällt Euch wohl nicht?«
»Ich habe das Wort Rache nicht gern.«
»Weil es Euch noch nicht so ergangen ist wie mir!«
»Nicht? Ich glaube, ich bin öfter gefangen gewesen und habe mehr Unrecht erlitten als Ihr. Aber ich habe mich nie selbst gerächt, sondern die Bestrafung Gott überlassen.«
»Das fällt aber mir nicht ein! Wenn Raub und Mord und Totschlag ungeahndet bleiben sollen, so hört auf Erden alles auf, und wenn man die Bestrafung jemandem überlassen soll, den es gar nicht giebt, so mögen die roten und weißen Halunken nur immer drauflos sündigen, weil ihnen nichts geschehen wird. Wie verhält sich denn aber diese Eure christliche Barmherzigkeit damit, daß Ihr jetzt hinauf nach dem Fremonts Peak wollt, Mr. Shatterhand?«
»Ich will dort ein Verbrechen verhüten, weiter nichts.«
»Nicht auch es bestrafen?«
»Kann ich es bestrafen, wenn ich es verhütet habe und es also gar nicht geschehen ist?«
»Das sind Wortdrehereien, auf die ich nicht eingehe. Ich bin hierher gekommen, um den Schoschonen zu sagen, daß die Kikatsa vier Leute von ihnen am Marterpfahle ermordet haben; sie sollen sich dafür rächen., Dadurch wird diesen roten Schuften zugleich meine Gefangenschaft vergolten, und ich bekomme vielleicht die Felle wieder, die sie mir abgenommen haben.«
»Die bekommt Ihr auch ohne Blutvergießen wieder.«
»Wieso?«
»Yakonpi-Topa hat mir versprochen, Euch freizugeben und Euch die Felle auszuliefern; ich soll nur kommen und Euch holen, falls sich herausstellt, daß die Blutindianer die Schuldigen sind.«
»Und Ihr seid so dumm, an dieses Versprechen zu glauben?«
»Ja, ich bin so dumm!«
»Da thut Ihr mir leid. Ich habe Euch bisher für klüger gehalten. Ihr scheint zu derjenigen Art berühmter Leute zu gehören, welche verlieren, sobald man sie persönlich kennen lernt!«
»Möglich; ich weiß das natürlich nicht!«
»Ja; Eure fromme Denkungsart paßt ganz und gar nicht zu dem Bilde, welches man sich von Euch macht, wenn man Euch noch nicht gesehen hat. Dieses gefühlvolle – –«
Er wurde unterbrochen: Winnetou hatte eine Rute vom nächsten Strauch gerissen und schlug damit ins Feuer, daß die Funken hoch aufstoben.
»Uff!« sagte er. »Mein Bruder Scharlih ist ganz genau so, wie er sein muß, um Old Shatterhand zu sein. Howgh!«
Er warf Hiller die Rute ins Gesicht und wendete sich dann von ihm ab. Der in dieser Weise Zurechtgewiesene nahm das nicht etwa ruhig hin, sondern er fuhr den Häuptling der Apatschen an:
»Mit Ruten werfen ist Beleidigung! Ich werde Nana-po genannt; das ist wohl Beweis genug, daß ich eine eigene Meinung haben darf! Ich weiß nicht, was Old Shatterhand drüben in seinem Vaterlande gewesen ist, jedenfalls aber das nicht, was ich war! Und ich bin auch heut noch nicht gewöhnt, mir in Beziehung auf das, was ich zu thun oder nicht zu thun habe, Vorschriften machen zu lassen!«
Er sah sich auffordernd im Kreise um. Kein Mensch sagte ein Wort.
»Ich muß um Antwort bitten!« sagte er gebieterisch.
Alles schwieg.
»Nun, so kann ich ja gehen! Ich habe nicht Lust, bei Leuten zu sein, die nur ihren eigenen Willen kennen. Ich beabsichtige, die Schoschonen aufzusuchen. Wo sind sie jetzt?«
Er richtete diese Frage an die Roten, welche mit am Feuer saßen. Bei ihnen befand sich Teeh, der Kundschafter, den wir kurz vor dem Fleischwasser getroffen hatten. Als Hiller von ihnen keine Silbe zu hören bekam, stand er auf.
»Bleibt Ihr hier, oder reitet Ihr mit mir?« fragte er Amos Sannel, seinen bisherigen Gefährten.
»Ich bleibe,« antwortete dieser. »Bin froh genug, Old Shatterhand und Winnetou getroffen zu haben, und werde mich hüten, mir dieses Vergnügen verderben zu lassen!«
»So bleibt in Gottes – – – wollte sagen, in drei Teufels Namen! Werde mich auch ohne Euch zurechtzufinden wissen!«
Er ging zu den Pferden, und einige Augenblicke später hörten wir ihn fortreiten.
»Fürchterlicher Hartkopf!« meinte Sannel. »Habe mich verschieden über ihn zu ärgern gehabt und bin ganz zufrieden damit, daß er sich davongemacht hat!«
Das konnte er wohl sagen, aber wie stand es da mit mir? Ich hatte Aufträge an Hiller. Durfte ich es zugeben, daß er sich entfernte, ohne daß ich sie ausgerichtet hatte? Winnetou mochte ahnen, was für Gedanken ich hegte; er legte seine Hand einen Augenblick auf die meinige und sagte:
»Mein Bruder mag ihn reiten lassen! Wir wollten ihn befreien; er ist frei. Wir sind fertig mit ihm. Howgh!«
Ich mußte ihm recht geben, wenn ich daran dachte, daß ich beleidigt worden war; sah ich aber von dieser Beleidigung ab, so hätte ich ihn doch lieber zurückgerufen, denn es war doch wohl trotz allem meine Schuldigkeit, ihm mitzuteilen, was mir an ihn aufgetragen worden war. Wohin wollte er, jetzt mitten in der Nacht? Er hatte zwar heut nachmittag von Winnetou gehört, daß die Schoschonen am Marsh Creek herunterkämen, aber da waren sie doch jetzt nicht mehr! Er kam mir wie ein erwachsener Knabe vor, der seinen Kopf aufsetzt, mag er biegen oder brechen!
Wir saßen unter dem Eindrucke der unangenehmen Scene noch eine ganze Weile am Feuer, ohne etwas zu sagen; dann wurden die Wachen ausgelost. Als dies geschehen war, sagte Amos Sannel:
»Aber, Mesch'schurs, so können wir uns doch nicht schlafen legen! Ich wenigstens könnte kein Auge zuthun, ohne zu wissen, woran ich für morgen bin.«
»Wieso für morgen?« fragte ich.
»Ich reite natürlich mit euch. Wohin wollen wir? Warum sind diese fünf Schoschonen geholt worden, und aus welchem Grunde haben sie die beladenen Packpferde mitgebracht?«
Da antwortete Winnetou:
»Amos Sannel soll das alles kurz erfahren. Wir reiten nach dem Fremonts Peak und wissen nicht, wie lange wir da oben zu bleiben haben. Wenn uns der Schnee überfällt, können wir nicht herab. Darum hat Winnetou dafür gesorgt, daß wir für alles gerüstet sind. Die Packpferde sind mit Decken und Nahrung für uns beladen. Sobald wir oben sind, werden diese fünf Schoschonen zurückkehren und unsere Pferde in Sicherheit bringen, welche verhungern müßten, wenn die Decke des Schnees vom Himmel stürzt.«
»Schöne Aussicht! Aber sehr klug gehandelt! Gut nur, daß es nicht genau so zu kommen braucht! Wir können ja in viel kürzerer Zeit, als wir denken, oben fertig sein. Ich bin bereit, alles mitzuthun; lieber wäre es mir aber, wenn wir nicht gezwungen wären, einiger Schurken wegen uns da oben einschneien lassen zu müssen. Einen ganzen, langen Winter im Eise zuzubringen, das ist nur für einen Eisbären angenehm! Wollen es beschlafen. Gute Nacht, Mesch'schurs!«
Er wickelte sich in seine Decke und war nach einigen Minuten eingeschlafen; die andern außer mir und Rost folgten diesem löblichen Beispiele. Die erste Wache war auf mich gefallen; darum durfte ich nicht schlafen, und Rost blieb noch sitzen, weil er etwas auf dem Herzen hatte.
»Mylord, ist das wahr, was Winnetou sagte?« fragte er mich leise, um die Schläfer nicht aufzuwecken. »Müssen wir den ganzen Winter im Gebirge bleiben?«
»Möglich ist es, aber gewiß noch lange nicht,« antwortete ich. »Winnetou hat sich als vorsichtiger Mann für alles vorgesehen; damit ist aber nicht gesagt, daß grad nur die schlimmste Befürchtung einzutreffen hat.«
»Wäre es da nicht besser, wir kehrten um?«
»Umkehren? Wollen Sie Carpio im Stiche lassen?«
»Nein, nein! Daran dachte ich gar nicht. Den müssen wir natürlich auf alle Fälle wieder haben!«
»Schön! Und das Gold dazu!«
»Welches Gold?«
»Haben Sie vergessen, daß die Gesellschaft Corners ein Finding-hole ausnehmen will?«
»Ja, richtig! Aber wir wissen doch nicht, wo das liegt!«
»Die Spuren Corners werden uns draufführen.«
»Und dann gehört es uns?«
»Hm! Eigentlich nicht. Jedes Placer gehört dem Entdecker. Wir werden natürlich nur thun, was wir vor unserm Gewissen verantworten können; aber da diese Mörder das Gold auf keinen Fall bekommen dürfen, so wird sich wohl eine Art und Weise finden lassen, es in ehrliche Hände zu bringen, ohne dabei ein Unrecht zu begehen.«
»Hm! Wissen Sie, Mylord, was mir eine innere Stimme sagt?«
»Nun, was?«
»Daß mir ein Teil von diesem Gelde sehr willkommen wäre.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich bin ein so blutarmer Teufel gewesen und habe mich bis zum heutigen Tage immer vorwärtshungern und -kummern müssen. Und meine Verwandten sind gar noch ärmer als ich. Welch ein Glück und welch eine Wonne, wenn man da einmal eine Tasche hätte, in welche man nur zu greifen braucht, um all dieser Not ein Ende zu machen! Meinen Sie nicht, daß so etwas doch vielleicht möglich wäre?«
»Möglich wohl. Hm! Ich will Ihnen den Rat geben: Bilden Sie sich nichts ein! Wenn man nichts hat, so ist es besser, man behält nur dieses Nichts, als daß man sich noch eine Enttäuschung dazu holt. Legen Sie sich schlafen!«
»Das werde ich; aber ich will doch versuchen, ob ich es fertig bringe, von Gold zu träumen, wenn auch nur von einem ganz kleinen Bißchen. Dann hätte ich mich doch wenigstens einmal im Schlaf gefreut!«
Er legte sich um und war auch bald eingeschlafen. Ob und wovon er träumte, das konnte ich ihn leider nicht fragen, ohne ihn aufzuwecken. Als meine Zeit um war, weckte ich Teeh, der nach mir kam; dann warf ich mich auch in die weltbekannten Morpheusarme, welche mich erst losließen, als es Tag geworden war.
Als wir unser Morgenbrot verzehrt hatten, welches aber nicht aus Brot, sondern aus Trockenfleisch bestand, stiegen wir auf und suchten eine Furt im New-Fork, welche Winnetou kannte. Hiller schien sie auch zu kennen, denn seine Spur führte grad auf sie zu und dann hinüber. Der New-Fork machte einen großen Bogen nach Fremonts Butte und dem Bouldersee hin; wir schnitten ihn ab, indem wir jetzt an das andere Ufer gingen, um später wieder an das erste zurückzukehren.
Der Ritt ging über ein weites, sich stets aufwärts ziehendes Grasland, welches hie und da von einem Wäldchen unterbrochen wurde. Die Luft war kalt und trübe; das Gras hatte ein halberfrorenes Aussehen; die Höhen trugen Schnee. Wir ritten den halben Vormittag durch eine feuchte Spätherbstlichkeit und dann gar in Wintersanfang hinein.
Es war eine grandiose Natur um uns her. Wenn es nicht für manchen lächerlich klänge, würde ich von einer Shakespeare-Landschaft sprechen. Links drohten die finsterbewaldeten Vorberge der Salt River Range über den nordsüdlich fließenden Green River herüber; hinter uns schienen die dunklen Black- und Tabernacle-Bluffs die Last des schweren Himmels zu tragen; weit draußen, rechts, versammelten sich die Sweet-water-Giganten einer nach dem andern, der Atlantik-, Wind-river- und Temple-Peak, der Chauvenet, Hooker, Bonneville und Golkie, um sich dann in geschlossener Kolonne vom New-Fork-Peak aus über die stolze und unüberwindliche Wind River Range bis hinauf zum Union Paß zu ziehen. Sie blickten, Haupt an Haupt, mit schwerem Eis und Schnee bedeckt, bald tiefernst, bald vorwurfsvoll, bald hohnlächelnd auf uns nieder, daß wir lächerlichen Pygmäen es wagen wollten, in eine Welt einzudringen, wo nur das Große, Erhabene Platz zu finden, die alles Kleine, Gewöhnliche zu erdrücken, zu zermalmen schien.
Ich habe an anderer Stelle (Old Surehand, Bd.III) den Eindruck der Rocky-Mountains zu schildern versucht; das war, wenn man sie von weitem erblickt. Hier aber befanden wir uns nicht nur mitten drin, sondern hoch oben zwischen ihren höchsten Höhen. Da gab es nicht jenes hochinteressante Farbenspiel der Felswände, jene stimmungsvolle Abtönung der sich übereinander aufbauenden und hintereinander zurücktretenden Bergeskuppen, sondern da saßen oder lagen die finstern, drohenden Hünen des Gebirges lang ausgestreckt und weiß bedeckt von Butte zu Butte, von Paß zu Paß und hauchten ihre eisigen, erbarmungslosen Atemstöße durch die Thäler, daß sie sich in dichte Nebel ballten oder als glitzernder Reif den Hochwald und das starre, fühllose Gestein überzogen. Da gab es keine Spur von Freude und Scherz, von Frohsinn und Heiterkeit, auch keine Spur von Wehmut, der stillen, stummen Klage war zu entdecken; keine sanfte Höhe weinte ihre Thränen heimlich in das Thal. Nein, hier in dieser sprachtoten, stummen Einsamkeit hatte sich eine erschütternde, unheilvolle Tragödie abgespielt, deren Schauer noch nicht gewichen waren, sondern sich an die hingesunkenen Riesenleiber für immer festgeklammert zu haben schienen. Hier stiegen versteinerte und doch noch gellende Hilferufe aus den Zwischenklüften; hier lagen die zerschmetterten Intervalle niedergerungener Todesschreie rings umher; hier war das Ächzen und Stöhnen eines unendlichen, entsetzlichen Schmerzes zu Fels geworden; hier hatte das Fauchen und Zischen eines unsäglich grausamen Hasses eine unzerstörbare, granitne Gestalt angenommen, und selbst die Sonne, die überall so frohe, lebenswarme, schien hier vor Schreck zu erbleichen und zu erkalten, denn ihre farblosen Strahlen verloren hier ihre Kraft und berührten uns, ohne von uns empfunden zu werden. –
Wir hatten eine Doppelfährte vor uns, nämlich die von Corner und seiner Gesellschaft und sodann auch Hillers Spur, welche mit der ersteren zugleich nach Norden lief. Hiller wollte zu den Schoschonen. Da er von Winnetou gehört hatte, daß diese den Marsh Creek herabgekommen waren, welcher sich in den Green River ergießt, so erwarteten wir jeden Augenblick, daß die Stapfen seines Pferdes nach Westen abbiegen würden; er hatte ja im Norden, wohin wir wollten, nichts zu suchen. Aber sonderbarer Weise geschah das nicht; es geschah selbst dann nicht, als wir, um mich eines seemännischen Ausdruckes zu bedienen, den Zusammenfluß des Marsh Creek mit dem Green River doublierten. Entweder war er sich selbst nicht klar, oder er hatte einen neuen Entschluß gefaßt, der unsern Gedanken so fern lag, daß wir ihn nicht erraten konnten.
Indem wir also die Gründe seines unerklärlichen Verhaltens vergeblich zu entdecken suchten, bemerkten wir eine neue Fährte, welche von rechts herüberkam und dann der alten folgte, nachdem sie mit ihr zusammengetroffen war. Wir stiegen ab, um sie zu lesen. Sie deutete auf zwei Reiter, welche auch halten geblieben waren, um die vorherigen Spuren sehr genau zu betrachten. Hier galt es, uns über die Reihenfolge klar zu werden, also über die Zeit, in welcher sich die einzelnen Gruppen, deren drei waren, vor uns bewegt hatten. Wir sahen, daß erst Corner gekommen, dann Hiller gefolgt und dann das uns unbekannte Reiterpaar hinterhergeritten war. Corner hatte einen so großen Vorsprung, daß wir ihn heut nicht einholen konnten, zumal da er bessere Pferde besaß als wir; die andern Drei aber waren weniger gut beritten, und wir sahen, daß wir uns gar nicht anzustrengen brauchten, um noch vor Abend mit ihnen zusammenzutreffen. Die Fährte sagte uns nämlich nach einiger Zeit ganz deutlich, daß die zwei Unbekannten auf Hiller gestoßen waren. Sie hatten eine Weile mit ihm an der Stelle des Zusammentreffens gesprochen und dann mit ihm den Ritt fortgesetzt.
Die Sonne hatte eben ihren Scheitelpunkt verlassen, als wir den New-Fork wieder erreichten und hinüber nach seinem linken Ufer ritten. Hier trennten sich die Spuren. Hiller war mit den zwei Unbekannten an dem Flüßchen aufwärts geritten, welches aus dem Fremontsee kommt; Corner aber hatte den New-Fork als Wegweiser beibehalten. Natürlich folgten wir dem letzteren. Es war ja unsere ursprüngliche Aufgabe, Carpio zu retten; Hiller und seine zwei Begleiter gingen uns jetzt nichts an. Wir zerbrachen uns auch gar nicht die Köpfe darüber, wer sie waren und was sie oben am Fremontsee eigentlich wollten.
Zwischen dem Boulder Lake und dem Gros Ventre Peak, in dessen Nähe der Green River entspringt, ziehen sich am Fuße der Windriverberge viele höchst interessante Seebecken hin, von denen man sagen kann, daß sie und ihre Umgebung auf die Schönheiten und Eigentümlichkeiten des nördlich von ihnen liegenden Yellowstone-National-Park vorbereiten, der nirgends seinesgleichen findet. Die Becken dieser Seen sind teils vulkanischen Ursprunges, teils von den Wasserläufen ausgefressen; fast immer aber deutet ihre Umgegend an, daß unter der hier dünnen Erdrinde die vulkanischen Gewalten, welche einst die Bergmassen hier emportrieben, sich noch immer in Thätigkeit befinden. Schon hier giebt es kalte Wasserbecken, in denen stetig oder von Zeit zu Zeit heiße Quellen emporsteigen; man trifft auf Stellen, wo die Mächte der Unterwelt plötzlich den Boden gehoben und auseinander gesprengt haben, um einen glühenden Wasserstrahl oder eine heiße Schlammfontäne hoch emporzuwerfen. Es finden sich abgelegene Thalwinkel, die keinen Winter kennen, weil der stets erwärmte Boden den Schnee verzehrt und einer üppigen Vegetation das Leben giebt, die selbst dann nicht ruht und schläft, wenn rings herum alles Pflanzenleben im Frost erstarrt und erstorben ist.
Solche warme und von den Felswänden vor Wind und Wetter geschützte Stellen suchen die Indianer, besonders die dort hausenden Schoschonen, gern auf, um dort für den Winter die wenigen Gemüsearten mühelos zu ziehen, deren Behandlung sie von ihren Vätern überkommen haben. Sie legen dort sogar zuweilen Vorratskammern an, zu denen sie im Winter auf Schneeschuhen kommen, um ihnen ihre Bedürfnisse zu entnehmen.
Zu den größten dieser Seen gehört der schon genannte Fremont Lake und dann der Lake Amalia, welcher durch den Hauptarm des New-Fork gebildet wird. Es hatte den Anschein, als ob dieses letztere Wasserbecken das Ziel Corners sei, denn seine Fährte blieb dem New-Fork bis zum Spätnachmittag treu, wo sie sich aber plötzlich nach rechts wendete, um einem schmalen aber sehr lebhaften Wasserlaufe aufwärts zu folgen.
»Uff!« rief Winnetou überrascht aus, als er das bemerkte.
Er blieb halten, hob den Kopf und schloß die Augen halb, als ob er über etwas Unangenehmes nachzudenken habe. Wenn bei ihm, der sich doch wie kein anderer zu beherrschen verstand, ein solches Mienenspiel zu bemerken war, so konnte man überzeugt sein, daß es sich um etwas nicht Unwichtiges handele.
»Uff!« wiederholte er, und damit kein anderer ihn verstehen solle, fügte er in der Mundart der Mescalero-Apatschen hinzu: »Wenn ich recht vermute so kenne ich das Finding-hole dieser Bleichgesichter; es gehört nicht ihnen, sondern mir. Mein Vater hat es mir gezeigt, als ich fast noch ein Knabe war und von ihm zum erstenmale mit nach den Brüchen des heiligen Pfeifenthones genommen wurde. Er hat das Geheimnis von einem Krieger des Panackstammes erfahren, der ihm dankbar sein wollte, weil mein Vater ihm die Medizin gerettet hatte.«
»Könnte es nicht ein anderes Placer sein?« fragte ich.
»Möglich, denn da oben liegt an vielen Stellen Gold; aber« – – und dabei ging ein wunderliebes Lächeln über sein schönes Angesicht – – »mir sagt eine innere Stimme, daß es kein anderes als mein Finding-hole ist. Ich werde voran reiten, und mein Bruder Scharlih mag mit den andern meiner Spur folgen, bis dieses Wasser hier aus einer hohen Felsenspalte tritt und es den Anschein hat, als ob man ihm nicht weiterfolgen könne. Wer die Gegend nicht kennt, der reitet aufwärts weiter, wohl eine Stunde lang; dann kommt er an die Stelle, wo dieser Bach, vom hohen Berge kommend, sich jäh in eine tiefe Kluft hinunterstürzt, wohin man ihm nicht folgen kann. Dort hinauf werde ich reiten. Mein Bruder aber reitet bloß bis unten zu der Felsenspalte und in diese hinein. Es scheint, als ob dies unmöglich sei, aber er wird bald bemerken, daß dies geht. Später komme ich nach.«
Er gab seinem Hengst die Fersen und ritt im Galoppe fort, obgleich das jetzt bergansteigende Terrain dieser schnellen Gangart so ungünstig war, daß ein anderer sich wohl gehütet hätte, anders als im Schritte zu reiten. Wir folgten langsam hinter ihm her.
Wir hatten die Region des Hochwaldes hinter uns, waren aber bisher immer noch von einzelnen Bäumen begleitet worden; das hörte nun aber auf. Die Bäume verschwanden, und es traten niedrigere Formen auf; das ging so schnell, daß wir uns nach einer Stunde, allerdings immer steil ansteigend, schon oberhalb des Pflanzenwuchses befanden; gar nicht weit über uns lag Schnee, und es war so kalt, daß unser Atem dampfte. Das gab freilich kein gutes Prognostikon in Beziehung auf unser Nachtquartier.
Es war alles öde ringsumher. Man sah keinen Vogel, kein anderes Tier, keinen Käfer, keine Fliege. Außer dem Plätschern des Wassers war das Hufgestampf unserer Pferde das einzige Geräusch, welches wir hörten. Es wurde den Tieren schwer, vorwärts zu kommen, des schwierigen Terrains und auch der dünnen Luft wegen. Auf die einsam großartige Gebirgswelt konnten wir nicht achten; wir hatten unsere ganze Aufmerksamkeit auf den schlimmen Weg zu richten.
Da plötzlich hatte der Bach ein Ende, oder vielmehr sein Anfang fehlte; er kam aus einer schmalen Felsspalte hervor, wo er über die in seinem Bette liegenden Steine hoch aufschäumte. Ich stieg ab, um einen Blick hineinzuwerfen. Wie ich vermutet hatte, so war es: die Steine waren mit Absicht hineingeworfen worden, um den Anschein zu erwecken, daß das Passieren der Spalte ganz unmöglich sei. Wir stiegen in das Wasser und wälzten sie heraus; dann konnte die Passage probiert werden. Es war anfänglich grad genug Platz für einen Reiter vorhanden; darum mußten die Saumpferde anders gepackt werden; dann aber wurde die Spalte breiter und bequemer, bis sie sich zu unserer Überraschung zu einem großen, länglich runden Felsenkessel verbreiterte, durch den das Wasser ruhig und wie ein silberheller Faden floß; es kam hinten aus einem so niedrigen Spalt, daß kaum ein Mensch Platz zum Hineinkriechen hatte. Es schien hier ein ganzes System von Spalten, Klüften und Kesseln vorhanden zu sein.
Da kein scharfer Wind in diesen Raum treten konnte, herrschte in demselben trotz des Wassers eine ganz angenehme Temperatur. Es war sogar einiges Gesträuch vorhanden, und der Boden bestand aus einem ganz saftig grünen Rasen, mit dem sich unsere Pferde sofort zu beschäftigen begannen. Am willkommensten waren uns mehrere hohe Stöße Brennholz, denen man es ansah, daß sie vor Jahrzehnten hier aufgehäuft worden waren. Es mußte eine lange Zeit her sein, seit das letzte Feuer hier gebrannt hatte. Wir zündeten eins an und machten es uns rund um dasselbe auf unsern Decken so bequem wie möglich. Ich sagte natürlich nicht, was ich von Winnetou erfahren hatte, und war selbst sehr neugierig, zu erfahren, weshalb und wohin er seinen einsamen Ritt unternommen hatte.
Wir mochten uns vielleicht drei Stunden lang an unserm jetzigen Aufenthaltsorte befunden haben, als er durch die Spalte geritten kam. Schon daß er dies in der dort herrschenden Finsternis zuwege gebracht hatte, war eine große Leistung zu nennen; noch erstaunlicher aber war es, daß er in der jetzigen nächtlichen Dunkelheit die steilen, wilden und pfadlosen Höhen überwunden hatte, wo jeder unvorsichtige Schritt des Pferdes einen Unfall herbeiführen konnte.
Als er abgestiegen war, beeilten sich die Schoschonen, seinen Iltschi zu versorgen. Er kam zu mir, setzte sich nieder und verzehrte sein Abendbrot, ohne ein Wort zu sagen, obwohl er es den Anwesenden ansehen mußte, daß sie irgend eine Mitteilung von ihm mit Ungeduld erwarteten. Erst als er mit dem Essen fertig war, sah er sich lächelnd im Kreise um und sagte in seiner kurzen, freundlichen aber bestimmten Weise:
»Meine Brüder glauben, daß ich ihnen etwas zu erzählen habe; sie irren sich. Ich bitte sie, sich schlafen zu legen, denn morgen früh werden wir einen sehr anstrengenden Weg zu machen haben. Wir werden Corner und seine Bleichgesichter gefangennehmen. Wir können alle schlafen und brauchen keine Wachen auszustellen, denn es giebt außer uns hier keinen Menschen, welcher den Ort, an dem wir uns jetzt befinden, kennt.«
Diese Worte brachten eine Enttäuschung hervor, welche eine allgemeine Stille zur Folge hatte. Die Leute sagten einander kurz gute Nacht und wickelten sich in ihre Decken. Winnetou blieb noch sitzen. Ich war überzeugt, daß er wohl etwas hätte sagen können, wenn es nicht gegen seine Absicht gewesen wäre, zu sprechen. Daß er sich nicht auch niederlegte, war für mich das Zeichen, daß er mir etwas mitzuteilen habe; darum blieb auch ich sitzen. Er wartete, bis die andern alle zu schlafen schienen und sagte dann in der Mundart der Apatschen, um nicht verstanden zu werden, wenn ja noch einer wachen sollte:
»Es ist so, wie ich dachte: Corner kennt das Finding-hole des Panackindianers. Er oder einer seiner Begleiter kann es nur durch irgend einen unbeabsichtigten Umstand entdeckt haben. Als ihre Spur gestern nach hier ablenkte, wußte ich gleich, daß es sich nicht um ein Placer am Stihi-Creek handeln werde. Das, welches dort gelegen hat, ist von Watter und Welley ausgenommen worden.«
»Da es so steht,« antwortete ich, »Ist mir folgendes klar: Corner und Genossen haben erst hier diesen Fund gemacht, den sie nicht augenblicklich ausbeuten konnten, und sind fortgegangen, um dies später zu thun. Ihr Weg führte sie hinüber nach dem Stihi-Creek, wo sie auf Watter und Welley trafen und da bemerkten, daß diese Gold besaßen; sie folgten ihnen, um es ihnen abzunehmen; in welcher Weise sie dies thaten, das wissen wir. Sie waren der Ansicht, daß ihr neuer Fundort nur durch Tauchen ausgebeutet werden könne, und lockten den alten Lachner herauf, um ihn und seinen Neffen zu dieser Arbeit zu zwingen und zugleich dadurch, daß sie dem Alten seine Anweisung abnahmen, einen doppelten Fang zu machen.«
»Ja, so ist es. Mein Bruder hat es erraten. Ich beschloß vorhin, das Placer des Panackindianers aufzusuchen, und ritt soweit hinauf, wie es möglich war; dann hobbelte ich mein Pferd an und stieg zu Fuße weiter. Ich kam unbemerkt hinauf und sah sie neben dem Wasser sitzen, grad neben der Stelle, wo die Wellen über das verborgene Loch fließen; das gab mir die Überzeugung, daß sie den Fundort kennen.«
»Wissen der alte Lachner und Carpio schon, woran sie sind?«
»Nein, denn sie hatten ihre Waffen noch und waren nicht gefesselt. Sie müssen natürlich wehrlos gemacht werden, ehe sie erfahren dürfen, was man mit ihnen vorhat.«
»Der arme Carpio muß sehr schlimm ausgesehen haben?«
»Er ist krank, sehr krank. Wenn sie ihn in das kalte Wasser zwingen, wird er gleich beim ersten Male sterben.«
»Um Gott! Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen! Wir müssen morgen oben sein, ehe dies geschieht!«
»Mein Bruder mag sich nicht beunruhigen! So schnell geht es mit dem Zwange nicht, den sie ausüben wollen. Wir werden zur rechten Zeit bei ihm sein.«
»Ich vertraue dir. Ich hätte noch manches zu sagen und zu fragen, aber ich stelle alles dir anheim. Du weißt, was du thust.«
»Ich kenne deine Fragen, ohne daß du sie auszusprechen brauchst, und habe alles reiflich überlegt. Einen einzigen Punkt giebt es, in welchem ich unentschlossen bin; ich werde da meinen Bruder Scharlih um seinen Rat bitten.«
»Ich errate diesen Punkt.«
»Uff! Old Shatterhand und Winnetou können niemals einen Gedanken vor einander verbergen!«
»Nein. Wir sind zwar zwei Personen, aber ein Körper und eine Seele. Ich werde dir sagen, woran du jetzt gedacht hast, nämlich an die Bewahrung des Geheimnisses dieses Finding-hole des Panackindianers.«
»Uff; es ist richtig! Die fünf Bleichgesichter, welche sich jetzt dort befinden, kennen es; es könnte nur durch ihren Tod weiterbewahrt werden. Können wir Carpio und seinem Oheim das Leben nehmen? Nein! Dürfen wir Corner, Sheppard und Eggly töten?«
»Wir nicht!«
»Nein, wir nicht, denn uns haben sie nichts gethan, was nach den Gesetzen, nach denen wir beide zu handeln pflegen, mit dem Tode zu bestrafen wäre.«
»Hm! Wir könnten den Mord Welleys rächen; aber wie ist er ihnen zu beweisen? Wenn sich kein anderer Richter außer uns findet, so müssen wir sie laufen lassen: wir können sie für ihr Verhalten gegen uns in jeder andern Weise, doch nur nicht mit dem Tode bestrafen. Dann kommen sie aber wieder!«
»Uff! Dann kommen sie wieder, um sich das Gold noch nachträglich zu holen. Es liegt nicht mehr sicher in diesem Finding-hole!«
»Ist es viel?« wagte ich zu fragen.
Er wendete sich mir schnell zu und sah mich mit seinen großen, dunklen Augen an, als ob sein Blick mir bis in die tiefste Seele dringen solle. Dann glitt ein mildes Lächeln über sein Gesicht, und er antwortete:
»Ja, keiner von uns beiden kann seine Gedanken vor dem andern verbergen. Mein Bruder Scharlih möchte gern jemand glücklich machen!«
»Ja, so ist es.«
»Er selbst mag kein Gold!«
»Nein. Das habe ich dir einst versprochen, und ich halte mein Wort. Was ich zum Leben brauche, will ich keinem Finding-hole, sondern der geordneten Arbeit, welche Segen bringt, verdanken. Der Inhalt all der Placers, welche entdeckt worden sind, ist für die eigentlichen Finder doch meist nichts als nur »deadly dust« gewesen, wie du es stets zu nennen pflegst. Dieser Staub hat die Eigenschaft, erst in späteren Händen seine verderbliche Wirkung zu verlieren; ich gebe meine Hand nicht dazu her, die erste zu sein, welche nach ihm greift. Aber als wohlerwogenes und gern gespendetes Geschenk würde er, das bin ich überzeugt, viel oder vielleicht alles von seiner Schädlichkeit verlieren. Mein Bruder Winnetou braucht das hiesige Finding-hole nicht für sich; er kennt außer dieser Stelle ja noch viele andere, von wo er sich Nuggets holen kann, sobald er welche braucht!«
Er blickte eine Zeitlang still und nachdenklich vor sich nieder; dann sagte er, ohne auf das Vorangegangene weiter einzugehen:
»Es ist nicht viel, aber doch genug. Die Panacks, denen diese Gegend früher gehörte, haben auch erfahren müssen, daß es nur Unheil bringt, den Bleichgesichtern Gold zu zeigen. Sie haben sich die Hilfe der weißen Jäger gegen ihre roten Feinde durch dieses gelbe Metall erkaufen wollen, doch nichts als Undank und Verrat davongetragen. Sie schafften ganze Lasten Gold von hier fort, um es ihren bleichen Verbündeten zu schenken, und die Folge war, daß sie von diesen Freunden zu Tode gemartert wurden, damit der Schmerz sie zwinge, den Fundort zu bezeichnen; sie sind aber als Helden gestorben, ohne ihn zu verraten. Jetzt ist nur ein kleiner Rest der frühern Schätze noch vorhanden.«
»Sie waren auch gezwungen, ihr Leben durch das Untertauchen in die kalte Flut aufs Spiel zu setzen?«
»Uff! Mein Bruder hält die roten Männer doch wohl nicht auch für so ungeschickt, wie sie von Leuten geschildert werden, welche unsere Rasse gar nicht kennen! Kein Indianer ist so dumm, ein Finding-hole durch Untertauchen auszubeuten. Old Shatterhand wird sehen, wie klug die Panacks es angefangen haben, zu dem Golde zu kommen, ohne naß zu werden.«
»Ah, sie haben das Wasser abgeleitet?«
»Ja. Und die Einrichtung dazu ist so einfach hergestellt worden und noch heutigen Tages vorhanden. Es bedarf nur einer ganz geringen, kurzen Arbeit, um dem Wasser eine andre Richtung zu geben. Einen kleinen Teil des Goldes herauszunehmen, erfordert nicht lange Zeit; aber freilich, wenn man das Hole ganz leeren will, so ist eine ganze Reihe von Tagen erforderlich, um damit fertig zu werden.«
Jetzt schwieg er längere Zeit. Ich sah ihm an, daß ihn ein nicht gewöhnlicher Gedanke beschäftigte, und hütete mich, ihn zu stören. Dann machte er eine energische Bewegung mit der Hand und sagte in demjenigen Tone, welcher bei ihm stets einen festen Entschluß verkündete:
»Uff! Wir werden länger hier bleiben, als ich dachte. Der Gedanke an den Schnee gebot mir, so kurz wie möglich hier oben zu verweilen, aber wir werden uns zu dem Wagnisse entschließen, es mit ihm aufzunehmen. Im schlimmsten Falle können wir uns ja nach dem Pa-ware der Schoschonen retten. Die Pferde aber dürfen nun nicht bleiben; sie müssen fort. Jetzt mag mein Bruder mit mir die Augen schließen. Gute Nacht!«
Er legte sich nieder, und ich folgte diesem Beispiele. Ich war ganz glücklich darüber, daß er sich entschlossen hatte, meine Bitte zu erfüllen. Zwar hatte er mir das nicht mit Worten zugesagt, aber daß er zum längeren Bleiben entschlossen war, verriet mir, daß er die Absicht hatte, das Finding-hole zu leeren. Ihn zu fragen, was er mit dem Pa-ware gemeint habe, fiel mir nicht ein. Er war nicht gewohnt, mich neugierig zu sehen.
Am andern Morgen wurden wir sehr früh von der Kälte geweckt, denn das Feuer war ausgegangen, weil niemand gewacht und es genährt hatte. Wir zündeten ein neues an, um uns bis Tagesanbruch zu wärmen, und merkten nun erst, daß unsere Decken feucht geworden waren. Es wehten feine Flocken, die sich schnell auflösten, in unser abgeschlossenes »Heim« herein. Wir aßen, und als der erste Gedanke des Tages am Himmel über uns zu bemerken war, hobbelten wir die Pferde so an, daß keines zu dem andern konnte, und machten uns fertig, den Lagerplatz zu verlassen. Da wir heut nicht ritten, so mußten wir den durch die Schlucht führenden Bach zu Fuße durchwaten und also unser Schuhwerk ausziehen. Die Passage war kalt und wegen der im Wasser liegenden Steine, die wir nicht sehen konnten, höchst unbequem. Draußen zogen wir die Stiefel resp. Mokassins wieder an und sahen uns dann zunächst nach dem Wetter um. Es schneite, doch nur dünn, und Winnetou, der sich auch in dieser Beziehung nie zu irren pflegte, sagte:
»Das ist nicht der Schnee des hereinbrechenden Winters sondern der großen Bergeshöhe; er wird aufhören, sobald die Sonne erscheint. Meine Brüder mögen mir folgen!«
Da keiner von uns zurückgeblieben war, zählten wir mit den fünf Schoschonen neun Mann, die es, wohl bewaffnet, wie wir waren, leicht mit Corner und seiner Sippe aufnehmen konnten. Wir befanden uns trotz unsers gestern so steil aufführenden Rittes noch immer am Fuße eines mächtigen, himmelhoch strebenden Bergkegels, dessen Kuppe mit tiefem Schnee bedeckt war. Dieser Schnee leuchtete uns mehr als das unzulängliche, leichte Tagesgrauen. Wir hatten uns eine Stunde lang durch ein wüstes Felsengewirr bergauf zu winden und trafen dann an der Stelle wieder auf unser Wasser, wo es sich tief in die erste Kluft dieses Wirrsales hinabstürzte. Wir hätten uns eigentlich an seinem Ufer halten müssen, da wir aber nicht gesehen werden durften, verließen wir es, um einen bedeutenden Erdrutsch zu überwinden, der uns über eine halbe Stunde lang zu schaffen machte. Er war die Folge der Frühjahrsschmelze. Hierauf folgte eine ermüdende Kletterpartie über ein ausgedehntes, schräges und sehr schlüpfriges Felsendach, auf dessen oberem Rande wir halten blieben, um Rost ausruhen zu lassen.
Hier befanden wir uns nach Winnetous Angabe in gleicher Höhe mit dem Finding-hole, dem wir uns nun mit größter Vorsicht zu nähern hatten. Dabei war uns der Umstand behilflich, daß hier oben der Schnee viel dichter fiel. Man konnte nicht fünfzig Schritte weit sehen. Es gab eine Menge vom Schneewasser gerissene Gerinne zu durchqueren, Felsen zu umgehen oder zu überklimmen und Schlammstellen zu durchwaten, bis wir an eine vielfach zerrissene Steinwand kamen, hinter welcher unser Ziel verborgen lag. Links von uns sahen wir einen Einschnitt, welcher in gerader Linie von oben bis herunter führte. Winnetou deutete mit der Hand auf ihn und sagte zu mir:
»Dies ist das Bette, welches das Wasser aufnimmt, wenn man es vom Finding-hole ableitet. Weiter unten kehrt es dann zu seinem richtigen Lauf zurück.«
Wir kletterten jetzt, so leise wie möglich und einer hinter dem andern, an den Vorsprüngen dieser Wand empor, bis wir nur noch den letzten, höchsten Streifen, wie eine mannshohe Brüstung, vor uns hatten. Da hielt Winnetou an und gab uns mit der Hand das Zeichen, jetzt womöglich noch vorsichtiger zu sein als bisher. Es gab da Risse, durch, und Ecken, um welche wir lugen konnten, und wir sahen den Platz des Finding-hole vor uns liegen. Es schneite noch immer so dicht wie vorher, aber wir konnten dennoch alles mehr als deutlich erkennen, weil derjenige Teil der Scene, welcher unser Interesse am meisten in Anspruch nehmen mußte, mit zehn Schritten von uns erreicht werden konnte.
Man denke sich eine vielleicht hundert Fuß hohe, senkrechte Felsenwand, in welche eine sehr schmale und nur für Riesenbeine ersteigbare Treppe eingeschnitten ist, die von Stufe zu Stufe immer tiefer hinein und immer höher hinauf zum schneebedeckten Scheitel führt. Diese Treppe ist im Laufe von Jahrtausenden von einem Wasser ausgefressen worden, welches in aufeinanderfolgenden Kaskaden und Kaskadellen von Staffel zu Staffel stürzt und also eine Reihe von Wasserfällen bildet, welche terrassenförmig hinter und über einander liegen. Man kann nur die ersten, untersten Stufen sehen, weil die anderen, höher steigenden, sich im tiefen, finstern Hintergrunde erheben. Der Fels ist goldhaltig; das Wasser hat den ersteren zu Mehl erweicht und mit fortgenommen; das schwere, unlösbare Gold aber bot der bewegenden Kraft der Wellen Widerstand. Je kleiner und also leichter die Körnchen oder Plättchen waren, desto geringer, je größer und schwerer aber die Stücke, desto bedeutender war dieser Widerstand. Nicht weit vom Austritte des Baches aus dem Felsen strömte er über ein tiefes Loch in seinem Bette; seine Gewalt war groß genug, den leichten Goldstaub darüber hinwegzureißen; die großen Körner und Nuggets aber fielen, sobald sie diese Vertiefung erreichten, hinein. Dieser Prozeß ging Jahrhunderte, ja Jahrtausende fort; das unter Wasser befindliche Loch füllte sich; es enthielt nur große Stücke gediegenen Goldes – das Finding-hole war fertig.
Da, wo das Wasser aus der Felswand trat, hatte das Terrain rechts einen steilen, mit Steinen brustwehrartig gekrönten Abfall; das war die Seite, auf welcher wir uns jetzt hinter dieser Brustwehr befanden. Links und nach vorn war das Plateau mit größern und kleinern Absturztrümmern bedeckt, zwischen denen sich die Wellen ein vielgeschlungenes Bett gegraben hatten, um sich dann später in kräftigen Schnellen bergab zu stürzen. Das Finding-hole lag am Rande der erwähnten Trümmer und so nahe am Absturz des Plateaus, daß wir uns, wie erwähnt, ungefähr zehn Schritte davon befanden.
Wir waren, wie es schien, zur rechten Zeit gekommen, denn Corner, Sheppard und Eggly hatten soeben ihre Masken abgeworfen und sich als das gezeigt, was sie eigentlich waren. Carpio und sein Onkel lagen, mit Riemen gebunden, an der Erde, und die drei Gauner waren eben dabei, ihnen zu erklären, wozu der Ritt hierherauf überhaupt unternommen worden sei. Der alte Amos Sannel stand neben mir. Kaum hatte er den ersten Blick hinübergeworfen, so raunte er mir in freudiger Erregung zu:
»Sie sind es, Sir; sie sind es, die ich suche!«
»Welche von den drei?« fragte ich.
»Der rechts und der in der Mitte. Der rechts hat mein Gewehr; ja, er hat es; es ist's; ich würde es hundert Schritte weit erkennen. Wollen wir hinüber, hin zu ihnen, schnell, schnell?«
Er meinte Corner und Sheppard; der letztere hielt die Rallingbüchse in der Hand.
»Wartet noch!« mahnte ich. »Wir wollen uns nicht übereilen, sondern uns ganz nach Winnetou richten. Ihr kommt noch zeitig genug zu Eurem Gewehre. Horcht; sie sprechen eben jetzt!«
Corner war es, welcher sprach. Wir hörten jedes Wort:
»Ja, das hast du wohl nicht gedacht, daß du einmal auf so eine Weise überlistet würdest, du alter, grauer Sünder? Wieviel Gurgeln sind es wohl, um welche du in deinem Leben die Schlinge zugezogen hast? Jetzt steckst du selbst in einer, welche dir den Garaus geben wird. Deinen Neffen hast du mitgenommen, um ihn hier tauchen zu lassen; nun werden wir dir dasselbe Vergnügen machen. Wir ruhen nicht eher, als bis sich kein Gold mehr hier im Hole befindet, und das werdet ihr alles herausholen, alles, er und du. Und wenn du nicht gehorchen willst, so wirst du gehauen, bis das Blut dir von den schäbigen Knochen strömt!«
»In das Wasser? Bei dieser Kälte?« wimmerte der Alte. »Das werdet Ihr doch nicht von mir alten Mann verlangen!«
Die Scene schien schon längere Zeit gespielt zu haben, so daß seine ursprüngliche Überraschung verschwunden war und der unvermeidliche Grimm der in seinem Charakter liegenden Feigheit Platz gemacht hatte. Ein laut schallendes, höhnisches Gelächter von allen dreien war die Antwort.
»Jawohl verlangen wir es von dir!« antwortete der Prayer-man. »Ihr werdet so oft in das Wasser springen, bis das Hole leer geworden ist. Und damit die Anweisung über die schönen fünfundsiebzigtausend Dollars nicht dabei naß wird, werden wir sie dir aus der Tasche nehmen.«
Lachner stieß einen Schreckensruf aus. Was er dann sagte, verstand ich nicht, denn Winnetou machte mich durch einen Fingerzeig auf ein Felsstück aufmerksam, hinter welchem der Kopf eines fremden Mannes hervorlugte. Wir waren also nicht die einzigen, welche Zeugen des Verbrechens waren, welches hier begangen werden sollte. Kaum hatte ich diesen Kopf gesehen, so sprang der, welchem er gehörte, hinter dem Felsen hervor und sagte:
»Das Ausnehmen dieses Goldnestes werden wir besorgen, Mr. Corner, und Ihr werdet es sein, der in das Wasser taucht. Hands up, ihr Schurken; hands up, sage ich, sonst schießen wir!«
»Ja, Hände in die Höhe!« ertönte eine zweite Stimme. »Wenn ihr nicht sofort gehorcht, bekommt jeder eine Kugel!«
Hinter dem ersten war ein zweiter gefolgt, den ich auch nicht kannte. Beide hielten ihre Gewehre schußfertig in den Händen. Und da kam noch ein dritter, nämlich Hiller, der sein Gewehr auch angelegt hatte und dabei befahl:
»Hands up sage auch ich. Also in die Höhe mit den Armen und Händen!«
»Welley!« rief Corner erschrocken.
»Reiter!« rief Sheppard entsetzt.
»Ja, Reiter und Welley!« antwortete derjenige, welcher zuerst erschienen war. »Ihr hieltet mich für tot; aber ich lebe glücklicherweise noch, um mit euch abzurechnen. Also Hände endlich in die Höhe! Ich zähle nur bis drei. Eins – – zwei – – –!«
Corner, Sheppard und Eggly ließen fallen, was sie in den Händen hatten und hoben sie hoch empor. Den auf sie gerichteten Gewehren gegenüber waren sie wehrlos; sie mußten gehorchen.
»So ist's schön!« lachte Welley. »Jetzt werdet ihr gebunden. Wer sich nur mit einem Finger dagegen wehrt, wird erschossen. Mr. Hiller, wollt Ihr so gut sein und das besorgen? Ich und Reiter werden so lange auf sie zielen, bis Ihr fertig seid.«
»Well,« antwortete Hiller. »Mit Riemen habt ihr euch für diesen schönen Zweck vorgesehen. In zwei Minuten bin ich fertig.«
Er band die drei aus ihrer schönsten Befriedigung gerissenen Kerle so fest, daß sie kein Glied bewegen konnten. Sie lagen jetzt an der Erde und wagten nicht, ein Wort zu sagen. Welley und Reiter ließen nun ihre Gewehre sinken; sie traten näher, wobei der erstere rief:
»Gott sei Dank; endlich, endlich haben wir sie. Hoffentlich werde ich nun auch wieder zu meinem Golde kommen! – – Das habt ihr wohl nicht für möglich gehalten, ihr Schufte? Ihr glaubtet wahrscheinlich, mich in den Kopf getroffen zu haben; es war aber nur ein Schuß ins Fleisch, der mich vom Floß hinab ins Wasser warf, weil ich ganz am Rande saß. Ich hatte soviel Überlegung, nicht gleich wieder aufzutauchen, sondern mich unter dem Wasser nach einem festgeschwemmten Baum zu retten, an dem ich eben vorüber gewollt hatte. Von da aus sah ich, daß ihr bei der nahen Flußkrümmung mein Floß mitsamt dem Golde an das Ufer angeltet. Später, als ihr fortwaret, schwamm ich auch hinüber, hatte aber soviel Blut verloren, daß ich nicht weiter konnte und gewiß zu Grunde gegangen wäre, wenn sich nicht Mr. Reiter meiner erbarmt hätte.«
»Verdammt!« knirschte Corner.
»So ist dieser Schuft also hinter uns hergeritten!« fügte Eggly wütend hinzu.
»Ja, das habe ich allerdings gethan,« erklärte Reiter. »Ihr hattet mich wegen Guy Finell, den ich aus Versehen erschossen habe, in der Hand und mich gezwungen, Euer Kumpan zu sein. Aus Angst, daß Ihr mich verraten könntet, bin ich Euch gefolgt, denn ich habe Euch nicht für so schlecht gehalten, wie Ihr seid. Wir kamen hierher, wo Gabaros als alter, erfahrener Gambusino dieses Finding-hole entdeckte. Wir beschlossen, es später auszunehmen, und ritten nach dem Stihi-Creek, wo wir Welley und Watter trafen. Ihr merktet, daß sie Gold hatten, und folgtet ihnen. Ihr wolltet sie berauben. Da waren Gabaros und ich Euch im Wege. Mit Gabaros fingt Ihr absichtlich Streit an und gabt ihm eine Kugel in den Kopf. Wegen mir brauchtet Ihr keinen Mord zu begehen, denn Ihr hattet ja meine Unterschrift, daß ich ein Mörder bin, und meinen Wechsel in den Händen; ich mußte thun, was Ihr wolltet, Ich wurde einfach fortgejagt. Ich ging, bin Euch aber doch heimlich gefolgt, um Welley wo möglich zu retten. Daß Ihr auf ihn schosset, konnte ich nicht verhindern; aber er war nicht tot, und als er dann an das Ufer kam, habe ich ihm meine Hilfe angeboten. Er brannte darauf, sich zu rächen, und ich sagte ihm meinen Beistand zu, denn durch diese That hatte ich Eure Schlechtigkeit erst ganz kennen gelernt. Euch nachzufolgen wäre Dummheit gewesen, denn ich wußte, daß Ihr nach kurzer Zeit wieder hierher gehen würdet. Wir sind also miteinander hier herauf und haben auf Euch gewartet. Gestern sahen wir eine Fährte und folgten ihr in der Hoffnung, daß sie die Eurige sei. Wir trafen auf Mr. Hiller hier, welcher uns Auskunft geben konnte, weil er bei Old Shatterhand gewesen war, der Euch auch verfolgt. Da Ihr unterwegs halten bleiben und uns sehen konntet, wichen wir später von Eurer Spur ab und sind auf einem andern Wege hierher gekommen; ich habe ja damals die Gegend kennen gelernt. Wir haben Euch schon seit gestern abend beobachtet und belauscht und wissen alles, auch das, wozu Ihr diese beiden Personen mitgebracht habt. Nun wird die Abrechnung beginnen. Ich glaube, daß es um Euch geschehen ist!«
Da lachte Sheppard höhnisch auf und rief:
»Um uns geschehen? Ihr werdet es bleiben lassen, uns auch nur ein Haar zu krümmen. Ich habe Eure Unterschrift!«
»Die nehme ich Euch ab!«
»Abnehmen? Da müßte ich sie hier haben; das ist aber nicht der Fall.«
»Oho! Wir werden sie schon finden!«
»Sucht nur, immer sucht! Ich bin nicht so dumm, so etwas mit mir herumzutragen. Ich habe die Papiere in die Hände eines Sheriffs gelegt; sie sind versiegelt; aber wenn ich bis zu einer bestimmten Zeit nicht wiederkomme, liest er sie, und daß Ihr, der Mörder, Euch dann nirgends sehen lassen dürft, das könnt Ihr Euch wohl denken.«
»Verdammt!« rief Reiter enttäuscht.
»Ja, so ist es!« lachte der Prayer-man. »Nun macht mit uns, was Ihr wollt!«
Er war überzeugt, daß der ausgespielte Trumpf die von ihm beabsichtigte Wirkung haben werde. Da sagte Welley:
»Ich glaube von der Drohung dieses Halunken kein einziges Wort. Laßt Euch nicht bange machen, Mr. Reiter! Wollen einmal sehen, was diese Kerle bei sich haben. Da sind zunächst die Gewehre. Das meinige ist damals auf dem Floße liegen geblieben, und ich habe mich mit einem schlechten behelfen müssen; Sheppard aber hat eine gute Rallingbüchse; die werde ich für mich behalten. Da ist sie ja!«
Er hob sie von der Erde auf. Das war für meinen alten Amos Sannel zuviel. Er sprang über den Stein, hinter welchem er steckte, hinüber, rannte hin, riß ihm das Gewehr aus der Hand und sagte:
»Bitte sehr, Mr. Welley oder wie Ihr heißt, diese Büchse ist mein Eigentum! Sheppard hat sie mir gestohlen!«
Bei diesen Worten versetzte er dem Prayer-man einen Kolbenstoß, daß der Getroffene laut aufschrie. Sein Erscheinen überraschte natürlich alle außer Hiller.
»Wer seid Ihr, Mann?« fragte Welley, indem er seinen Revolver zog. »Hier hat kein Mensch ein Wort zu sagen. Gebt das Gewehr augenblicklich her, sonst schieße ich Euch über den Haufen!«
Wir sahen, daß es Zeit wurde, uns zu zeigen; wir verließen unser Versteck. Als Welley und Reiter uns erblickten, griffen sie zu ihren Gewehren. Winnetou trat vor sie hin und sagte:
»Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen, und hier steht Old Shatterhand. Diese Gefangenen, welchen wir schon seit vielen Tagen folgen, gehören zunächst uns. Später werden wir sie euch ausantworten.«
Hiller wich mehrere Schritte zurück und wendete sich ab, als Zeichen, daß er mit uns nichts zu thun haben wolle. Reiter und Welley ließen ihre Gewehre sinken und betrachteten den Apatschen mit ehrerbietigem Staunen. Dieser fuhr fort:
»Und nicht nur diese Gefangenen gehören uns zuerst, sondern auch das ganze Finding-hole ist unser Eigentum, denn ich habe es eher gekannt als die Bleichgesichter, welche es jetzt beanspruchen.«
Da trat Hiller schnell wieder vor und rief:
»Was? Das Gold soll uns genommen werden? Winnetou will es schon früher gekannt haben? Das kann jeder behaupten, der da hinter den Steinen gesteckt und gelauscht hat! Ich bin mit hierhergeritten, weil Reiter und Welley mir einen Teil davon versprochen haben, und es kann mir im ganzen Leben nicht einfallen, darauf zu verzichten!«
»Mir auch nicht,« erklärte Welley. »Ich werde mein Recht verteidigen, selbst gegen Winnetou! Und Ihr, Mr. Reiter?«
»Auch mir kommt es nicht im Traume bei,« antwortete dieser, »das Gold, welches ich selbst mit entdeckt habe, andern zu überlassen, seien sie, wer sie seien!«
»So ist's recht, so ist's recht!« rief Corner, indem er sich trotz seiner Fesseln aufzurichten versuchte. »Ihr habt uns zwar überfallen und gebunden, aber diese Differenz wird sich leicht ausgleichen lassen, wenn wir nur in Beziehung auf das Finding-hole fest zusammenhalten. Laßt euch ja nichts weismachen von früheren Entdeckungen! Das ist Lüge, nichts als Lüge! Diese Kerle haben uns belauscht und alles gehört, was über das Hole gesprochen wurde; sie kennen es also nun, und da ist die Behauptung billig, daß Winnetou es schon früher gekannt habe. Man weiß ja, was man auf die Worte eines Indianers zu geben hat! Bindet uns nur wieder los, so stellen wir uns an eure Seite und werden unser und euer Recht bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigen!«
Auf weitere Worte hörte ich jetzt nicht, denn ich beschäftigte mich nun vor allen Dingen mit Carpio, der das Aussehen einer Leiche hatte und mir in einer in das Herz schneidenden Weise matt entgegenlächelte.
»Sappho!« sagte er. »Endlich, endlich! Ich wußte, daß du kommen würdest, aber es hat so lange gedauert! Wenn du noch länger gewartet hättest, wäre ich gestorben!«
»Ich konnte nicht eher,« antwortete ich, indem ich die Riemen losband. »Nun ist aber alles, alles gut. Kannst du aufstehen?«
»Ja; halte mich!«
Ich unterstützte ihn; er mußte aber, kaum daß er auf die Beine gekommen war, sich wieder niedersetzen.
»Ich bin so matt, so matt,« klagte er. »Diese Menschen sind sehr schlecht mit mir umgegangen. Denke dir, ich soll hier in das eisige Wasser tauchen, um Gold heraufzuholen!«
»Das habe ich gehört. Hast du Hunger?«
»Eigentlich sollte ich welchen haben, aber ich bin zu müde dazu. Weißt du, lieber Sappho, ich habe solchen Frost; die letzte Nacht war schrecklich; ich möchte sterben, am allerliebsten sterben!«
»Du sollst bald wieder warm werden und neue Lebenshoffnung bekommen, lieber Carpio! Jetzt entschuldige mich für einige Augenblicke! Die Sache will sich zuspitzen; es hat den Anschein, als ob es gar zum Kampfe kommen wolle.«
Es war so, wie ich sagte. Während ich mit Carpio beschäftigt gewesen war, hatten Hiller, Reiter und Welley sich immer mehr in Aufregung gesprochen und dem Apatschen drohender gegenübergestellt. Jetzt trat Welley gar mit Hiller zu den Gefangenen heran und sagte in drohendem Tone:
»Nun gut! Da es so steht, so geben wir diese Leute, obwohl sie den Tod an uns verdient haben, wieder frei. Sie werden zu uns halten, und dann wollen wir sehen, ob es so leicht ist, uns um unser Eigentum zu betrügen!«
Er bückte sich nieder, um zunächst Eggly die Fesseln abzunehmen; da aber gebot ihm Winnetou:
»Halt! Welley mag damit warten, bis ich ihm noch ein Wort gesagt habe! Diese Gefangenen gehören uns. Wer sich an ihnen vergreift, um sie zu befreien, ist unser Feind und wird als solcher behandelt. Jetzt thut, was ihr wollt; aber unsere Gewehre werden mitsprechen!«
Als ich das hörte, legte ich meinen Henrystutzen an. Fünfundzwanzig Schüsse, ohne zu laden, das war mehr als genug, sie alle im Schach zu halten; dennoch nahmen die fünf Schoschonen ihre Gewehre auch hoch, und Amos Sannel zielte mit seiner Rallingbüchse direkt auf Welley. Da nahm letzterer die Hand von Eggly zurück und stieß einen Fluch aus. Winnetou fuhr jetzt fort:
»Winnetou, der Häuptling der Apatschen, braucht gar nicht zu versichern, daß er niemals eine Unwahrheit sagt, denn jedermann ist überzeugt davon. Er wird aber dennoch beweisen, daß er das Finding-hole eher gekannt hat, als die Bleichgesichter hier, und daß es sein Eigentum ist. Sie mögen einige Minuten warten; aber wer mir folgt, bekommt eine Kugel!«
Er entfernte sich in der Richtung nach dem Wasserfalle in der Felsenwand. Jetzt waren natürlich alle im höchsten Grade neugierig, in welcher Weise er den beabsichtigten Beweis führen werde. Infolge des Gespräches gestern abend vermutete ich, daß er dem Bache eine andere Richtung geben werde; er hatte ja gesagt, daß die sehr einfache Vorrichtung dazu jetzt noch vorhanden sei.
Es waren ungefähr fünf Minuten verflossen, so hörten wir von der Seite des Abhanges, wo wir heraufgekommen waren, ein Rauschen wie von einer kräftigen Kaskade, und wenige Augenblicke später wurde der Bach hier bei uns dünner und immer seichter, bis er gar nicht mehr floß. Er war leer und nur grad da, wo wir uns befanden, war ein tiefes Loch in seinem Bette, aus welchem das Wasser nicht verlaufen konnte. Jetzt kam Winnetou, deutete auf dieses Loch und sagte:
»Das ist das Finding-hole, welches mir gehört. Ich kann den Bach verschwinden lassen. Verlangen die Bleichgesichter einen bessern Beweis?«
Sie schwiegen zunächst; dann sagte Welley:
»Das Eigentumsrecht eines Indianers geht uns gar nichts an. Wir sind Weiße und haben das Finding-hole auch entdeckt. Wir machen also Anspruch darauf und werden dieses Recht bis auf die Messerspitze verteidigen.«
»Sind Hiller und Reiter derselben Meinung?« fragte der Apatsche, indem in seinen Augen ein Licht spielte, welches ich nur zu wohl kannte. Ich hielt meine Augen auf ihn gerichtet, um augenblicklich das auch zu thun, was er thun würde.
»Ja,« antwortete Reiter, und Hiller fügte hinzu: »Was eine Rothaut machen wird und so ein kindischer Betbruder dazu, wie dieser Old Shatterhand ist, das rührt mich nicht. Ich werde Nana-po genannt, mehr brauche ich nicht zu sagen, und werde mein gutes Recht bis auf die Messerspitze verteidigen!«
»Uff! Verteidigt es!«
Noch schneller, als er das sagte, hatte Winnetou mit dem Kolben seiner Silberbüchse ausgeholt und schlug den Sprecher nieder, daß er wie leblos liegen blieb. Sofort krachte auch mein Kolben auf Welleys Kopf, und fast zu gleicher Zeit erhielt Reiter einen zweiten Hieb des Apatschen, der ihn niederfällte. Material, auch sie zu binden, war mehr als genug vorhanden, denn sie selbst hatten sich reichlich mit Riemen versehen gehabt, um sich Corners und seiner Begleiter zu versichern. Als wir damit fertig waren, machten wir den alten Lachner von seinen Fesseln frei. Ich fragte ihn:
»Seht Ihr nun endlich ein, mit welchen Freunden Ihr Euch gegen uns gewehrt habt? Ihr solltet hier in diesem Wasser untergehen und zu Eurem Leben auch noch die Anweisung auf fünfundsiebzigtausend Dollars hergeben. Was sagt Ihr nun?«
Anstatt sich zu bedanken, warf mir der alte, unverbesserliche Harpax einen giftigen Blick zu und antwortete:
»Ich habe dieses Finding-hole gekauft, und Ihr wollt es mir nehmen, wie ich höre; ich mag nichts von Euch wissen. Ich habe schon einmal auf Euch geschossen, und nun ich wieder frei bin, kann ich wieder schießen und werde so lange Kugeln für Euch haben, bis Ihr mir diesen Platz nicht mehr streitig machen könnt!«
»Ihr armer, armer Teufel! So ein Schwachkopf, der niemals von seinem Geldschrank fortgekommen ist und sich von diesen Schwindlern hier auf eine ganz unbegreifliche Weise hat übertölpeln lassen, will es mit uns aufnehmen! Ihr seid verrückt!«
»Verrückt?« fuhr er mich an. »Ihr sollt gleich sehen, ob ich verrückt oder bei Überlegung bin!«
Er sprang einige Schritte fort, um sein Gewehr von der Erde aufzunehmen; da war ich aber schon bei ihm, drückte ihn fest nieder und ließ ihn von Sannel wieder binden.
»So!« sagte ich dann. »Wenn das der Dank dafür ist, daß wir Euch gerettet haben, so verzichten wir auf ihn und fesseln Euch also wieder. Ihr habt auf mich geschossen; Ihr habt Euren Neffen mit Absicht hierher in den Tod geführt; Ihr wolltet jetzt wieder das Gewehr gegen mich erheben; das ist genug. Wir werden uns zwar nicht rächen, aber Euch für so lange, wie wir uns hier befinden, unschädlich machen!«
Er schimpfte und wetterte aus Leibeskräften; wir hörten aber gar nicht darauf. Hiller, Reiter und Welley kamen wieder zu sich; sie hatten ihre Pferde jedenfalls in der Nähe; die Schoschonen wurden fortgeschickt, sie zu suchen. Es dauerte nicht lange, so kamen sie mit ihnen. Ich war neugierig, was der Apatsche nun bestimmen würde. Er gab ihnen folgenden Bescheid:
»Ihr habt uns mit Kampf und Tod bedroht; wir werden euch das verzeihen. Aber solche Leute dürfen nicht in unserer Nähe sein. Ich werde euch fortschaffen lassen mit allem, was euch gehört; wir nehmen euch nichts. Aber wenn ihr nach hier zurückkehrt, so lange wir uns hier befinden, werdet ihr erschossen. Winnetou schwört nie; sein Wort gilt als Schwur!«
Sie wurden auf ihre Pferde gebunden und Teeh, der gewandte Schoschonen-Kundschafter, erhielt mit noch drei Roten den Auftrag, sie bis hinunter zum New-Fork zu bringen; dort sollten sie frei gegeben werden und ihre Waffen erhalten. Als sie fortritten, schimpfte Welley wie ein Rohrspatz und drohte mit blutiger Rache. Reiter war still. Hiller richtete sein Abschiedswort nur an mich:
»Da habe ich nun wieder einmal einen gottesfürchtigen Menschen kennen gelernt! Diese Heuchler sind doch alle Schurken! Hier raubt uns sogar der heilige Old Shatterhand unser Eigentum vor der Nase weg und schlägt uns in Fesseln, daß wir uns nicht wehren können. Pfui! Ihr habt mir vorgestern in Eurer heuchlerischen Frömmigkeit mein Wort vom Bären übelgenommen. Ich wiederhole heut: er soll mir das Gehirn ausfressen, wenn ich diese Spitzbüberei nicht heimzahle, sobald es möglich ist!«
Nach dieser Drohung verschwand er hinter den Felsenstücken. Er verließ uns wieder, ohne ein Wort von dem zu erfahren, was ich ihm zu sagen hatte; er war selbst schuld daran. Als ich Winnetou mit einem Wink auf Carpio nun fragend anblickte, sagte er:
»Die Pferde dieser Gefangenen hier stehen da hinten am Wasserfall. Mein Bruder hole sie und bringe Carpio mit Hilfe des fünften Schoschonen hinunter in das Lager. Der Schoschone muß wiederkommen; mein Bruder aber kann unten bleiben!«
Ich ging mit dem Schoschonen nach der Felsenwand. Da sahen wir die fünf Pferde, Corners Fuchs, Petehs und Yakonpi-Topas Tier und noch zwei vorzügliche Schoschonengäule. Zugleich bemerkten wir nun, in welcher Weise Winnetou den Bach abgeleitet hatte. Dieser machte, kurz nachdem er aus der Felsenwand getreten war, eine scharfe Krümmung rechts nach dem Felsenabsturz, wo wir heraufgeklettert waren. Er kam dem Rande desselben auf höchstens vier Meter nahe, und zwar an der Stelle, wo der Riß hinunterlief, den uns der Apatsche als das Ableitungsbette des Wassers bezeichnet hatte. Die vier Meter Erdraum waren früher einmal aufgegraben worden, um das Wasser nach dem Riß zu führen; dann hatte man diesen Abzugsgraben in der Weise wieder zugefüllt, daß drei Steinplatten quergelegt und die Zwischenräume mit loser Erde zugeworfen worden waren. Wollte man jetzt den Bach ableiten, so brauchte man nur die drei Platten zu entfernen, wozu allerdings ein sehr kräftiger Mann gehörte; dann lenkte der Bach von selbst herein, riß die Erde aus eigener Kraft fort und stürzte sich in den Riß hinab.
Wir führten die Pferde nach dem Finding-hole und setzten Carpio auf Corners Fuchs, den er schon geritten hatte. Wir stiegen auch auf; ich hielt mich an Carpios Seite, und der Schoschone hatte das vierte und fünfte Tier zu führen. Als wir fort ritten, brüllten uns Corner, Eggly und Sheppard nach, daß wir verfluchte Pferdediebe seien.
Es ging sehr steil abwärts, weshalb es nicht leicht war, Carpio zu stützen, doch versicherte er auch jetzt, daß ihm die Freude, mich wiederzusehen, neue Kraft gegeben habe, und so kamen wir schließlich wohlbehalten unten an. Das Passieren durch die Felsenenge geschah sehr langsam; dann hatten wir ihn in Sicherheit. Er brauchte nicht aus dem Sattel gehoben zu werden, sondern stieg selbst herab, um sich aber gleich niederzusetzen. Der Schoschone hobbelte die Pferde an, für welche Gras genug dastand, wenigstens für jetzt; für längere Zeit reichte es freilich nicht. Dann ging er, um nach dem Finding-hole zu Winnetou zurückzukehren.
Ich zündete zunächst ein tüchtiges Feuer an und machte dem Jugendfreunde von Decken eine weiche, warme Unterlage. Wir wurden nicht naß, weil es, wie Winnetou vorhergesagt hatte, nicht mehr schneite. Jetzt hatte Carpio Appetit zum Essen bekommen, und ich sah mit Freude, daß es ihm vortrefflich schmeckte. Während er aß, fragte er mich:
»Wie ist es dann noch mit dem Zweikampf geworden? Du hast doch gesiegt?«
»Ja, sonst wäre ich nicht hier.«
»Ja, richtig! Ich ging fort, um meinen Revolver zu holen. Ich wollte Peteh erschießen, falls er dich ja überwinden sollte. Ich hatte aber unsere Hütte noch nicht erreicht, so kamen diese entsetzlichen Menschen und schleppten mich fort. Ich durfte nicht um Hilfe rufen. Mein Onkel behandelte mich am härtesten; ich mag nichts mehr von ihm wissen. Ich habe mich schon gefragt, ob er wirklich mein Verwandter ist. Wenn er es wäre, müßte er doch ganz anders sein! Sollte da nicht vielleicht auch eine Verwechslung vorliegen? Es giebt zerstreute Pfarrherren genug, welche nicht aufpassen, wenn sie Einträge in die Kirchenbücher machen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn ich auch hier das Opfer einer Konfusion wäre; ich bin das ja gewöhnt! Übrigens habe ich es auch deiner Zerstreutheit zu verdanken, daß ich vom Lager der Kikatsa fortgeschleppt worden bin.«
»Wieso?« fragte ich, ohne ihm mein Erstaunen über diese Behauptung merken zu lassen.
»Ich brauchte den Revolver gar nicht zu holen, denn ich hatte ja einen in der Tasche; es war der deinige.«
»Ist das möglich?«
»Ja! Als du früh von der Versammlung kamst, bandest du uns wieder los. Unsere Waffen lagen dort. Du stecktest deine zwei Revolver ein. Wir saßen so nahe aneinander, daß unsere Seitentaschen sich wahrscheinlich berührt haben; da ist einer von den Revolvern in meine Tasche gekommen. Hätte ich das gewußt, so wäre ich am Kampfplatz geblieben. Du siehst also, daß ich durch deine Schuld in die Hände dieser Menschenschinder geraten bin. Du bist ja immer zu Verwechslungen geneigt gewesen. Das soll aber ja kein Vorwurf sein, denn ich möchte dich um alles in der Welt nicht betrüben! Jetzt bin ich vom Essen müde geworden. Darf ich schlafen?«
Ich machte ihm ein möglichst bequemes Lager und sorgte dann, als er eingeschlafen war, dafür, daß er weder durch die Kälte noch einen andern Umstand aufgeweckt wurde. Der liebe Kerl war wirklich überzeugt, daß ich ihm meinen, anstatt er sich seinen Revolver in die Tasche gesteckt hatte! Er schlief, ohne einmal aufzuwachen, in einer Tour bis in die Mitte des Nachmittages. Da kam Rost. Er war von Winnetou geschickt worden, um mich abzulösen, falls ich nach dem Finding-hole gehen wolle. Ich that dies natürlich. Als ich oben ankam, bot sich mir ein Anblick, der mich überrascht hätte, wenn ich nicht durch Rost darauf aufmerksam gemacht worden wäre. Der Apatsche und Amos Sannel saßen am Finding-hole, und Corner, Eggly und Sheppard waren emsig beschäftigt, das Wasser aus dem Loche zu entfernen. Da kein Gefäß vorhanden war, geschah das mit Hilfe ihrer Decken, welche eingetaucht und, sobald sie sich vollgesogen hatten, ausgerungen wurden. Man durfte sie um diese Arbeit, zu der sie natürlich nur durch Zwang getrieben wurden, nicht beneiden, denn das Wasser war hier oben dem Gefrierpunkt nahe. Winnetou empfing mich, ohne ein Wort zu sagen, mit jenem leisen Lächeln, welches bei ihm die Stelle lauter Fröhlichkeit vertrat. Auch der alte Sannel schmunzelte mir lustig zu. Er hatte sein Gewehr in der Hand und half durch kräftige Kolbenstöße nach, wenn die Arbeit einmal nicht so schnell, wie es gewünscht wurde, von statten ging.
Was für Gesichter ich von den drei Wasserschöpfern zu sehen bekam, kann man sich denken! Sie waren von kochender Wut erfüllt, wagten aber kein lautes Wort zu sagen, weil der Kolben Sannels sie darüber belehrt hatte, daß jeder Ausbruch ihrer Gefühle eine sehr schmerzliche Erwiderung nach sich ziehe. Darum geschah die Arbeit mit einer stillen Geschäftigkeit, über welche wir uns nur freuen konnten. Auf der andern Seite des Hole beaufsichtigte der Schoschone den alten Lachner, welcher zu meinem heimlichen Vergnügen gezwungen worden war, sich auch mit an dem lobenswerten Werke zu beteiligen. Er schöpfte mit seinem großen Hute und that das mit einem Eifer, aus welchem wohl mit Recht zu schließen war, daß der Indianer ein ganz bedeutendes Talent zur Anfeuerung unlustiger Arbeiter besaß. Diese Strafe hatte der Alte vollauf verdient.
Das Loch war tief und weit, und obgleich acht Hände mit solcher Unermüdlichkeit beschäftigt waren, sank der Rand des Wassers doch nur langsam tiefer. Winnetou versicherte, daß es zweier Tage bedürfe, um auf den Grund zu kommen. Wenn man das Niveau nicht mehr mit den Händen erreichen konnte, mußten die Decken an Riemen hinabgelassen werden, was selbstredend eine Verzögerung mit sich brachte.
Gegen Abend kehrte Teeh mit seinen Schoschonen zurück und meldete, daß die Bleichgesichter sofort weitergeritten seien, wodurch wir uns aber nicht von ihnen täuschen ließen. Dann kam die Zeit, mit der Arbeit aufzuhören. Die Indianer trugen die Waffen der Gefangenen, denen die Augen verbunden wurden. Von je einem Indsmann geführt, mußten sie uns nach dem Lager folgen, was allerdings sehr langsam vor sich ging. Im Felsenkessel angekommen, bekamen sie zu essen und durften sich dann gefesselt schlafen legen, ohne daß ihnen die Binden von den Augen genommen worden waren. Sie sollten nicht sehen, wo sie sich befanden. Während der Nacht wurde natürlich bei ihnen gewacht.
Genau so, wie sie heut herabgeführt worden waren, wurden sie am andern Morgen wieder hinaufgeschafft, um ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Das Wetter hatte sich geändert. Es wehte ein scharfkalter Wind, der pfeifend um die Felsenkanten strich. Winnetou wurde sehr ernst. Um die Mittagszeit rief er Teeh zu sich und sagte:
»Die Pferde müssen fort, alle, doch erst morgen früh. Jetzt aber mag mein Bruder mit noch einem Krieger nach dem Pa-ware reiten, um nachzusehen, wieviel Proviant es enthält, falls wir uns dorthin zu retten haben.«
Der Kundschafter entfernte sich gehorsam, ohne ein Wort zu sagen, und nahm einen Schoschonen mit.
Unsere unfreiwilligen Arbeiter froren heut so, daß sie doppelt fleißig waren, um sich wenigstens einigermaßen zu erwärmen. Gegen Abend wiederholte sich der gestrige Marsch nach dem Lager. In der Nacht kam Teeh zurück und meldete, daß sich fünf Personen einen Monat halten könnten, länger aber nicht, falls sich ihnen nicht Gelegenheit biete, selbst auch Fleisch zu machen; er habe aber die Fährte eines großen Bären gesehen; da sei also wahrscheinlich auch anderes Wild vorhanden, welches sich hier oben verspätet habe.
»So mag mein roter Bruder bis zum Morgen ausruhen und dann mit den Pferden fortreiten, um mit ihnen in sechs Tagen wieder hier zu sein, wenn der Winter nicht inzwischen kommt. Bricht er aber während dieser Zeit herein, so wartet Avaht-Niah, bis der Schnee fest geworden ist, und schickt euch dann mit Schneeschuhen, um uns abzuholen!«
Ich hätte Carpio gern mitgeschickt; er war aber zu schwach zu diesem Ritte und wäre auch durch nichts zu bewegen gewesen, uns zu verlassen. Früh verließen uns die Schoschonen mit allen vorhandenen Pferden, für welche es auch Zeit war, weil es nichts mehr zu fressen für sie gab. Wir waren nun also mit den vier Gefangenen allein, und es kam auf jeden von ihnen einer von uns, da Carpio nicht gerechnet werden und uns in keiner Beziehung förderlich sein konnte.
Heut wurden wir mit dem Wasser fertig; wir gelangten auf den Grund des Hole, der anscheinend aus steinigem Geröll bestand, welches, mit Schlick verbunden, eine dickbreiige Masse bildete. Um diese Masse heraus zu bekommen, wurden unsere freundlichen Arbeiter abwechselnd hinuntergelassen; eine zerschnittene Decke bildete das Transportmittel. Wir sahen der ersten Probe mit außerordentlicher Spannung entgegen, nur Winnetou nicht. Sie sah aus wie mit körnigem Gestein vermischter Schlamm, war aber sehr schwer. Während Winnetou beim Hole blieb, trugen wir sie nach dem Wasser, um den Schlamm wegzuwaschen. Als dies geschehen war, blieb das reine Gold zurück, Stücke von Hirsen- bis zur Größe von Lambertusnüssen. Ich freute mich sehr darüber, blieb aber ruhig dabei. Anders war es mit Sannel und besonders mit Rost. Dieser letztere geriet in eine solche Aufregung, daß ich Mühe hatte, ihn wenigstens zum Schweigen zu bringen. Die Arbeiter durften den Wert des Fundes ja gar nicht so genau kennen lernen.
Sie glaubten, die eigentliche Goldschicht liege tiefer und der Schlamm führe jetzt nur zuweilen eine kleine Probe. Wir ließen sie dabei und schütteten alles in das Bachbette vorwärts des Loches. Sie arbeiteten jetzt mit fast freiwilligem Eifer; das Goldfieber hatte sie ergriffen. So bekamen wir bis zum Abende eine ziemliche Menge Schlick heraus und gingen sehr befriedigt nach dem Lager, ohne daß sie von dieser Befriedigung etwas bemerkten.
Es hatte den ganzen Tag leise aber anhaltend geschneit; das Gebirge sah weiß aus, so weit wir blicken konnten. Am nächsten Morgen gab es keine einzige Flocke; aber tief unten lag es wie eine dichte, undurchdringliche Decke aus weißer Watte ausgebreitet.
»Uff!« sagte Winnetou. »Das ist der Winter! Da unten schneit es, daß man kaum die Augen öffnen kann! Wir müssen uns beeilen, sonst können wir das Pa-ware nicht mehr erreichen!«
Das Goldfieber wirkte heut grad so wie gestern; die vier Männer arbeiteten ohne Unterlaß, obgleich sie vor Kälte fast erstarrten. Carpio war allein im Lager geblieben. Er hatte sich aber nicht gelangweilt; so sagte er, als wir am Abend wiederkamen. Am nächstfolgenden Vormittag war nicht länger als zwei Stunden gearbeitet worden, als Eggly, welcher sich im Loche befand, meldete, daß es keinen Schlick mehr gebe und nun wahrscheinlich die Hauptschicht komme, die viel fester sei als die bisherige. Er mußte heraus, und Winnetou ließ sich am Lasso hinab. Als er wieder heraufkam, war sein Gesicht unbeweglich. Die Arbeiter wurden gebunden und in einiger Entfernung von dem Bache niedergelegt, daß sie nicht sehen konnten, was im Bette desselben vor sich ging. Dann entfernte sich Winnetou; er nahm Sannel mit, um sich von ihm helfen zu lassen.
Ich ahnte, daß er das Wasser jetzt wieder herüberleiten werde, und hatte mich auch nicht geirrt, denn nach kaum zehn Minuten kam es geflossen, allerdings zunächst noch nicht stark. Es lief in das Loch. Die Gefangenen sahen das und schrieen laut auf. Nach und nach kam es stärker; es füllte das Loch und floß dann über den in das leere Bette geschütteten Schlick dahin. Wir standen dort, um zuzusehen. Winnetou flüsterte uns zu, still zu sein und das, was wir erblicken würden, ja nicht zu verraten. Das Wasser spülte den erdigen Schlick fort; das schwere Metall blieb liegen. Der Bach nahm uns die Arbeit des Goldwaschens ab; so hatte Winnetou es gewollt. Nach Verlauf von einer halben Stunde war alles Erdige verschwunden und der Boden des Baches drei Meter lang mit Gold bedeckt, welches uns verlockend entgegenglänzte. Wir brauchten bloß das Wasser wieder abzuleiten, um den reinen Ertrag des Finding-hole wegzunehmen! Winnetou wendete sich ab und sagte in verdrossenem Tone, so daß die Gefangenen es hörten:
»Uff! Es ist nichts in diesem Hole. Wir gehen heut noch fort!«
Er, der nie eine Unwahrheit sagte, hatte auch jetzt keine Lüge gesprochen; es war jetzt wirklich nichts im Hole; aber daneben lag das Gold im Wasser des Baches.
»Seid Ihr verrückt!« rief Eggly. »Wir haben gearbeitet wie die Tiere, und nun wir auf die richtige Schicht gekommen sind, sollen wir aufhalten?«
Winnetou blieb bei ihm stehen, sah ihm nachdenklich in das Gesicht und fragte:
»Und wenn wir Gold gefunden hätten, würden wir euch davon geben? Nein! Der Winter ist da. Wir gehen fort, um dem Tode des Verhungerns und Erfrierens auszuweichen. Wir nehmen euch mit, um euch zu retten.«
»Nein; wir wollen nicht fort. Laßt uns hier. Gebt uns unsere Waffen, und sagt uns, wie Ihr es gemacht habt, um das Wasser ablaufen zu lassen.«
»Wollt ihr das wirklich? Ihr werdet verderben.«
»Nein, nein; wir bleiben da!« schrieen sie alle vier.
»Uff! Ihr habt den Tod verdient; aber wir wollen nicht eure Richter sein; der große, weise und gerechte Manitou mag euch bestrafen. Ihr sollt morgen früh frei sein und das Finding-hole besitzen. Euer Wille geschieht. Wenn es zu euerm Verderben ist, so seid ihr selbst schuld daran. Jetzt kommt ihr mit zum Lager! Und dieses Mal sollt ihr sehen, wo es liegt. Wir verbinden euch die Augen nicht.«
Wie gern sie mitgingen, zum letztenmale als Gefangene! Sie lachten innerlich über unsere Dummheit! Im Felsenkessel angekommen, wurden sie gefesselt und ihnen auch die Augen wieder verbunden. Der alte, zuverlässige Sannel blieb bei ihnen und Carpio zurück. Wir andern drei nahmen einige Decken mit und gingen wieder nach dem Finding-hole. Dort wurde das Wasser wieder abgelassen, und wir sammelten die Nuggets in die Decken. Es gab soviel, daß wir alle drei ziemlich schwer zu tragen hatten. Dann gingen wir, ohne das Wasser zurückgeleitet zu haben, nach dem Lager zurück. Die Decken wurden dort nicht geöffnet, denn Carpio sollte das Gold noch nicht sehen; er hätte es durch seine Freude den Gefangenen verraten. Dann ging Winnetou wieder fort; er nahm Sannel mit, um so weit wie möglich hinabzusteigen und nach Material zu einem indianischen Schlitten zu suchen.
Bemerken muß ich, daß es heut ziemlich stark und windlos schneite. Die beiden Fortgegangenen kamen erst spät abends wieder. Sie hatten das Gesuchte gefunden und einen Schlitten zusammengesetzt, welcher draußen vor dem Felsen stand. Wir legten uns schlafen und wachten abwechselnd bis früh. Da aßen wir erst und schafften dann alles, was uns gehörte, hinaus auf den sehr leicht aber doch kunstvoll gebauten Schlitten, dessen Teile nur mit Riemen zusammengebunden waren. Als nur noch Carpio zu holen war, gingen wir wieder hinein, und Winnetou wendete sich an die Gefangenen:
»Winnetou, der Häuptling der Apatschen, hält Wort. Wir verlassen den Ort. Wir binden euch los, dort liegt Fleisch für zwei Tage. Eure Waffen nehmen wir eine kleine Strecke mit, daß ihr nicht auf uns schießen könnt. Ihr mögt sie euch nach einer Stunde holen. Geht ihr dann hinauf nach dem Finding-hole, so ist der Graben leer, und ihr werdet sehen, wie man es macht, um das Wasser her- oder hinzuleiten. Was weiter mit euch geschehen wird, darüber mag Manitou entscheiden. Howgh!«
Sannel nahm ihnen die Binden von den Augen, befreite sie von den Fesseln und sagte zu Sheppard:
»Diesmal kommt Ihr gut weg, Halunke! Solltet Ihr mir aber wieder einmal in die Hände laufen, so rechne ich mit Euch ab, Ihr armseliger Gewehrspitzbube. Den Schießprügel, den ich zuletzt hatte, sollt Ihr haben; die Rallingbüchse aber nehme ich mit. Viel Glück, Mesch'schurs, beim Finding-hole!«
Damit Carpio nicht naß werden möge, trugen wir ihn hinaus und setzten ihn vor die Goldbündel auf den Schlitten, wo wir ihn in Decken wickelten. Dann ging es zunächst langsam den Berg hinab. Nach ungefähr einer Viertelstunde deponierten wir die Waffen der Zurückgebliebenen auf ein freistehendes Felsstück und setzten dann unsern Weg fort, die Verbrecher dem Strafgerichte Gottes überlassend. Carpio vergoß wegen des Scheidens von seinem geliebten Oheim keine einzige Thräne!
Man weiß, daß die stärksten Regen- und Schneefälle nicht im höchsten Gebirge zu suchen sind. Je weiter wir abwärts kamen, desto mehr Schnee gab es. Wir suchten die seichtesten Stellen aus und hatten doch oft Not, hindurchzukommen. Unterhalb der Baumgrenze fiel der Schnee so dicht, daß wir oft kaum zehn Schritte weit sehen konnten; aber es war nicht mehr so eisig kalt wie oben auf den unbedeckten Höhen. Es standen uns nicht etwa mehrere Wege zur Auswahl frei; es gab nur diesen einen, und da Welley, Hiller und Reiter ihn auch geritten waren, so hatten wir uns vorzusehen, nicht auf sie zu treffen, falls sie auf uns lauerten, um uns das Gold abzunehmen.
Übrigens war es gar nicht unmöglich, daß wir schon in kurzer Zeit von unsern bisherigen Gefangenen verfolgt wurden. Wir hatten uns nicht Zeit genommen, auch die kleineren Goldkörnchen zusammenzulesen. Wenn sie an den Bach kamen und da, wo der Schlick gelegen hatte, dieses Gold im Bette schimmern sahen, mußten sie unbedingt erkennen, welche Ernte wir gehalten hatten und daß im Hole nun nichts mehr zu finden sei. Da lag der Gedanke nahe, hinter uns herzukommen, zumal der Aufenthalt da oben von Tag zu Tag gefährlicher wurde. Wir hatten uns also doppelt in acht zu nehmen, und zwar besonders weil unser Schlitten eine so deutliche Spur hinterließ.
Es wurde mit dem Schnee immer schlimmer; wir steckten oft bis an die Brust darin und mußten für den Schlitten eine Bahn mit unsern Leibern brechen. Das hielt uns ganz entsetzlich auf und strengte uns so an, daß wir, die sonst Unermüdlichen, öfters ausruhen mußten. Das war eigentlich auch gar kein Wunder, denn wo es möglich war, setzte sich Rost mit auf den Schlitten, den ich und Sannel zogen, während Winnetou voranschreitend Bahn brach. Ihn, den Herrlichen, ziehen oder schieben zu lassen, wäre mir unmöglich gewesen!
Als wir am Nachmittag das Thal des New Fork erreichten, schien der Schnee haushoch zu liegen und das Fortkommen unmöglich zu sein. Aber Winnetou tröstete uns mit der Bemerkung, daß es bis zum Pa-ware nun nicht mehr weit sei. Noch eine Stunde lang in nördlicher Richtung durch dick und dünn, dann wendete er sich rechts in ein schmales Seitenthal, welches, als wir ihm einen Kilometer weit gefolgt waren, plötzlich aufhörte. Es gab rechts und links steile Felsenhöhen und vor uns eine licht bewaldete, schräg ansteigende Lehne, welche bis in den Himmel zu ragen schien. Da hinauf ging es.
Gab es da zu schwitzen! Ich zog; Rost und Sannel schoben ächzend und stöhnend hinterher. Der kleine, leichte Carpio schien fünfzig Centner zu wiegen, und während wir drei wie die Braupfannen dampften, fragte er in seiner Harmlosigkeit rührend und freundlich: »Herr Rost, ich höre, daß Ihnen das Steigen schwer fällt; wollen Sie nicht lieber mit aufsitzen?«
Wir brauchten drei lange Viertelstunden, ehe wir oben waren. Noch aber hatten wir den Kamm nicht ganz erreicht, so fielen droben zwei Schüsse. Winnetou war uns vorangestiegen. Damit wir wegen der Schüsse nicht besorgt um ihn sein möchten, rief er herab:
»Itseh, aki kolet – Fleisch, zwei Elks!«
Welch eine Seltenheit, jetzt und so hoch hier oben! Und welch ein Glück für uns! Wenn er zwei Elks geschossen hatte, so gab das eine ganze Menge Fleisch!
Endlich, endlich erreichten wir die Höhe. Als wir da halten blieben, um zunächst zu verschnaufen, wurden uns durch den Anblick, welcher sich uns bot, Ausrufe freudiger Verwunderung entlockt.
Hier, wo wir standen, lag der Schnee stellenweise mannshoch; vor und unter uns aber war keine Spur vom Winter zu bemerken; da war alles, alles grün! Man denke sich einen sehr tiefen, langgestreckten Krater, der keinen eigentlichen Zugang hat und dessen Wände auf drei Seiten fast senkrecht abfallen, auf der vierten dagegen allmählich. Den Grund dieses Kraters füllt zur Hälfte ein See, dessen Wasser so warm ist, daß man glaubt, es unter den daraufliegenden Dämpfen brodeln zu sehen. Diese Wärme steigt nach oben, schmilzt im Winter bis fast ganz zur Höhe jede Spur von Schnee sofort hinweg und hat einer reichen, immergrünen Vegetation das Leben gegeben, welche das Wild des Waldes über die kalte Jahreszeit hinwegtäuscht und es veranlaßt, hier auf der Höhe standzuhalten. Das war das Pa-ware, was zu deutsch »heißes Wasser« bedeutet. Da war es freilich kein Wunder, daß es um diese Zeit Elks hier gab. Wir sahen sie liegen, uns schräg gegenüber. Es waren zwei männliche. Der Elk geht besonders im Winter gern in Rudeln, weil es ihm in Gesellschaft leichter ist, durch den tiefen Schnee zu kommen. Winnetou hatte zwei Kernschüsse gethan. Er ließ die Tiere jetzt unbeachtet und stieg nach dem See hinab. Wir folgten ihm mit dem Schlitten, den wir nun nicht mehr ziehen oder schieben, sondern halten mußten.
Unten angekommen, schritt er geraden Weges auf eine sehr dicht mit Epheu bekleidete Felswand zu und blieb dort stehen, um uns zu erwarten. Als wir ihn erreichten, schob er den Epheu grad an einer Stelle, wo er am dichtesten zu sein schien, auseinander und verschwand hinter demselben. Als ich ihm folgte, bemerkte ich, daß hinter dem Epheu zwei Elenfelle hingen, welche man portierenartig auf die Seiten zu schieben hatte. Ich that dies und gelangte in einen ziemlich großen Raum, welcher durch die Zwischenräume des Epheus über den Fellen eine halbe Beleuchtung bekam, an die sich das Auge schon nach kurzer Zeit gewöhnte. Hier war eine natürliche Einbuchtung des Felsens durch primitives, mörtelloses Mauerwerk in eine den Verhältnissen angemessen ganz bequeme Wohnung verwandelt worden. Der Epheu hatte nach und nach das Äußere überwachsen und sie unsichtbar gemacht, und innen hatten sich lichtscheue Pflanzen angesetzt, welche dem toten Gesteine Leben gaben.
Diese Wohnung bestand aus drei Räumen, dem vordern, in den wir zuerst getreten waren, einem mittlern, noch größern, welcher künstlich erleuchtet werden mußte, und einem hintern, welcher Kellertemperatur besaß und als Vorratsraum diente. Das war die Rettungsstation der Schoschonen für den Fall, daß irgend einer oder einige ihrer Krieger hier oben, wo sie im Herbst zu jagen pflegten, vom Winter überrascht und also gezwungen sein würden, Schutz vor der tödlichen Kälte zu suchen.
Es gab da Pelzwerk und schöne, weichgegerbte Felle als Sitz- und Lagerstätten, einen Herd mit indianischen Thongefäßen zur Zubereitung der Speisen, Thonlampen, in denen Fett zu brennen war, Hirschtalglichte, Kienspäne zum Feueranmachen und zu Beleuchtungszwecken, getrocknetes Fleisch, in ganzen Stücken und zu Mehl zerrieben, aufgestapeltes Brennholz, für mehrere Wochen reichend, kurz eine ganze Auswahl von Dingen, welche ein Einsiedler aus Zwang hier während des Winters brauchen konnte. Auch Kürbisse und zwei Ledersäcke voll getrockneter Bohnen waren da, dazu Zwiebeln, Rettiche und mehrere andere Gewächse, welche ebenso wie die Bohnen und Kürbisse draußen am warmen Wasser gezogen und im Herbst eingeerntet worden waren. Diese Vorräte hatte Winnetou gemeint, als er Teeh, den Kundschafter, hierhergeschickt hatte, um nachzusehen, wie lange sie reichen würden.
Als ich die Gefährten hereinholte, staunten sie nicht weniger als ich über den ebenso unerwarteten wie behaglichen Unterschlupf, den wir da mitten in der starren Wildnis gefunden hatten. Da unsere Anzüge naß geworden waren, wurde zunächst ein tüchtiges Feuer angebrannt, dessen Rauch durch eine Art natürlichen Kamins in die Höhe zog. Dann bereiteten wir unserm Carpio ein warmes Lager. Die Fahrt hatte ihn sehr angegriffen, obgleich er dabei gar nicht angestrengt worden war.
Es hatte während der letzten Stunden nicht mehr geschneit, und so war unsere Fährte also nicht zugedeckt worden; sie lag so offen und deutlich da, daß ein Dreiviertelblinder, wenn er auf sie stieß, durch sie her zu uns geführt werden mußte. Es galt also, wenigstens bis zum nächsten Schnee alles zu vermeiden, wodurch unsere Wohnung hier verraten werden konnte. Wir nahmen den Schlitten auseinander und schafften seine Teile herein, um sie zum Feuerholz zu werfen. Dann galt es, uns über die beiden Elks zu machen. Der eine war ein kapitaler Kerl, über zwei Meter lang und am Widerrist ebenso hoch; man mußte ihn über vierhundert Kilogramm schätzen. Der andere war kleiner. Es war ganz unmöglich, mit ihnen bis zum Abend fertig zu werden und dann die Reste zu verbergen. Wir schafften also, soviel wir konnten, herab in den Vorratsraum und ließen das übrige notgedrungen für morgen liegen.
Kurz ehe es ganz dunkel wurde, stieg Winnetou auf die Höhe, von welcher wir herabgekommen waren, um einen Rückwärtsblick auf unsere Spuren zu werfen. Als er wiederkam, meldete er:
»Die Bleichgesichter sind da. Sie lagern jenseits am Fuße des Berges und haben, um sich zu erwärmen, ein großes Feuer brennen. Heut ist es ihnen zu spät geworden; morgen aber werden sie gewiß nach dem Wasser kommen.«
Da waren ja unsere Erwartungen – Befürchtungen kann ich nicht sagen – eingetroffen, und zwar voraussichtlich nicht zu unserm Schaden! Denn wenn wir diese Leute bis jetzt schonend behandelt hatten, so konnte jetzt ein feindseliges Verhalten ihrerseits nur zur Folge haben, daß wir unsere Milde fallen ließen. Wer aber waren sie? Corner mit seinen Leuten? Welley, Hiller und Reiter? Oder hatten beide Parteien sich getroffen und zum Angriff gegen uns vereinigt? Das mußte sich morgen zeigen. Für uns brauchten wir keine Sorge zu haben, denn wir waren nach allen Seiten gegen Angriffe gedeckt und konnten eine lange Belagerung aushalten, weil wir mit Lebensmitteln versehen waren. Wasser hatten wir auch, denn von dem uns sehr nahen Ufer des Sees führte ein schmaler aber tiefer, grabenähnlicher Arm fast bis zum Eingange unseres Versteckes her. Ihn uns abzudämmen war unmöglich, und falls man versuchen würde, es zu thun, war es für uns ein Kinderspiel, diesen Versuch mit unsern Kugeln zu vereiteln.
Übrigens befanden wir uns schon heute nicht allein am Pa-ware; wir hatten Besuch, und zwar sehr interessanten. Winnetou ging nämlich am Abende einmal hinaus, Umschau zu halten, und sagte uns, als er zurückkehrte, daß er ein lautes Krachen zerbissener Knochen gehört habe; es seien jedenfalls Bären bei den Überresten der Elentiere. Wir hätten uns gar zu gern an sie geschlichen, aber dies wäre unter den jetzigen Verhältnissen ein großer Fehler gewesen, weil die Grizzlys leicht zu unsern Verbündeten werden konnten.
Später, als wir uns zum Schlafen niederlegen wollten, hörten wir es draußen schnüffeln und scharren, der Fellvorhang hob sich, und an seiner untern Kante erschien ein Grizzlykopf. Der Bär war mit der Nase auf unsere Spuren gekommen und von ihnen herbeigeführt worden. Als er das hell brennende Feuer so nahe vor sich sah, zog er sich schnell zurück. Es war ein alter, sehr starker Kerl; hätte er sich nicht soeben satt gefressen, sondern Hunger gehabt, so wäre er wohl nicht so rasch verschwunden. Er war weg, ehe wir ein Gewehr auf ihn richten konnten.
Wir schliefen in dieser Nacht wie Prinzen, am tiefsten und längsten Carpio, dessen Müdigkeit natürlich eine krankhafte war. Als wir früh vorsichtig hinaus ins Freie blickten, sahen wir, daß unsere Gegner eher wach gewesen waren als wir; sie befanden sich schon hier am »warmen Wasser« und schlichen überall umher, uns zu suchen. Unsere Spuren hätte ein Winnetou sofort gefunden; diese Leute aber waren keine Winnetous; sie kamen wiederholt an unserm Verstecke vorüber, ohne zu ahnen, wie nahe sie uns waren. Die Überreste der Elke entdeckten sie natürlich auch; sie sahen die zersplitterten Knochen und nahmen an, daß das Wild von dem Bären geschlagen worden sei. Da es keinen andern Weg als den, auf welchem wir gekommen waren, aus dem Kraterthale gab, so konnten sie sich unser vollständiges Verschwinden nicht erklären; aber aus ihren lauten Zurufen war zu schließen, daß es ihnen hier ausnehmend gefiel. Sie waren gezwungen, sich zu ihrer Rettung einen Ort zu suchen, der ihnen Schutz gegen die Unbilden des Wetters bot, und dazu konnte sich kein anderer besser als das Pa-ware eignen. Als sie den ganzen Thalkessel nach uns vergeblich durchforscht hatten, standen sie eine Weile beratend beisammen und suchten dann eine Stelle auf, welche ihren Absichten zu entsprechen schien. Dort ragte nämlich ein breites Felsstück platten- oder dachartig aus der Felswand hervor, welches den darunterliegenden Boden trocken hielt; da begannen sie zu bauen. Sie legten Steine aufeinander, um zwei Seitenmauern zu errichten, deren Ritzen sie mit Moos und Erde verstopften. Am Abend waren sie damit fertig und hatten nun eine Schutzhütte, welche vorn allerdings noch offen stand, doch wurde der nächste Tag dazu benützt, auch diese Seite noch zuzubauen, und als sie das gethan hatten, befanden sie sich im Besitze eines verhältnismäßig bequemen Aufenthaltsortes für den ganzen Winter – – – falls es ihnen möglich war, sich durch die Jagd so lange zu erhalten.
Ich muß sagen, daß wir die von ihnen gewählte Stelle für uns jedenfalls nicht ausgesucht hätten, denn sie bot keine Sicherheit für längeres Verweilen. Die Felsenwand stieg dort grad senkrecht empor, und oben bestand sie aus zerfressenem Gestein, welches keinen festen Halt mehr hatte; es konnte vom Sturme oder durch die Schwere des dort sich sammelnden Schnees leicht zum Absturz gebracht werden und mußte dann grad auf die Dachplatte der Schutzhütte fallen. Diese Leute waren außerordentlich unvorsichtig!
Wir hatten es mit keiner einzelnen der zwei Parteien, sondern mit beiden zu thun. Wie wir später erfuhren, hatte sich Welley, um die Schoschonen zu täuschen, mit seinen Begleitern nur scheinbar entfernt; sie waren dann zurückgekehrt, um uns zu überrumpeln. Sie trachteten uns nicht nach dem Leben, aber sie wollten das Gold von uns fordern, auf welches sie ein größeres Recht als wir zu haben meinten. Corner hatte, als er nach unserm Weggange hinauf zum Finding-hole gekommen war, sofort die Goldspuren im Bache gesehen und dann das übrige leicht erraten; er war mit seiner Sippe sogleich zu unserer Verfolgung aufgebrochen, welche ihm nicht schwer fallen konnte, weil unsere Spur sehr deutlich zu lesen gewesen war und wir da, wo der Schnee hoch lag, Bahn gebrochen hatten. Unten am New-Fork waren die beiden Trupps aufeinander gestoßen und hatten sich nach kurzer Verhandlung dahin verständigt, wenigstens einstweilen alle persönliche Feindschaft fallen zu lassen, um ihre vereinten Kräfte gegen uns richten zu können. Nun saßen sie drüben, jenseits des »warmen Wassers«, in ihrer Schutzhütte beisammen und konnten sich nicht erklären, wohin wir verschwunden waren. Um Fleisch brauchten sie zunächst nicht sehr besorgt zu sein, weil die eine Partei noch ihre Pferde hatte, welche nötigenfalls geschlachtet werden konnten; zu fressen hatten diese Tiere ja für einige Zeit, denn es gab in der Nähe des Wassers noch Gras und, wenn dies alle war, genug junges Holz zu verbeitzen. Dennoch sahen wir am dritten Morgen einige von ihnen bergauf steigen, um vielleicht die Fährte eines Wildes zu finden; sie kamen ohne Erfolg zurück. Dies wiederholte sich einige Male, und dann wurde das erste Pferd erschossen. In der nächsten Nacht hörten wir Schüsse fallen; der Bär war bei ihnen gewesen, aber nicht erlegt, sondern nur vertrieben worden.
Wir hielten es eine ganze Woche aus, unsern Zufluchtsort nicht zu verlassen und uns nur in der Nacht einige Bewegung zu machen; dann aber beschlossen wir, uns nicht länger mehr wie Gefangene zu verhalten. Wir gingen früh heraus; ich nahm den Bärentöter mit. Unser Erscheinen brachte zunächst ein stilles Staunen bei ihnen hervor; dann kam Bewegung in sie; sie rannten hin und her, schrieen uns die albernsten Drohungen über das Wasser zu und schossen sogar auf uns, doch ohne jemand zu treffen. Winnetou, dessen sonore Stimme erfahrungsgemäß am weitesten drang, legte die Hände an den Mund und rief ihnen zu, daß auf der halben Länge des Sees die Scheidegrenze zwischen uns und ihnen liege; wer diese Linie überschreite, werde erschossen; was von unsern Gewehren zu erwarten sei, solle Old Shatterhand ihnen klar machen, der jetzt ein Loch in den Stamm des neben ihrer Hütte stehenden Baumes schießen werde. Ich legte das Gewehr an und schoß. Das Ziel wurde getroffen, und damit war der für sie sehr ernste Beweis erbracht, daß sie selbst ganz drüben bei sich vor unsern Kugeln nicht sicher seien. Uns aber fiel es freilich nicht ein, vor ihren Gewehren Angst zu haben.
Von jetzt an brannte des Nachts vor ihrer Hütte stets ein Feuer, damit wir uns nicht etwa unbemerkt anschleichen könnten. Im übrigen lebten wir wie Hund und Katze, welche sich möglichst fern von einander halten. Wir machten auf unserer Seite und sie auf der ihrigen täglich Spaziergänge, ohne daß wir uns dabei gegenseitig belästigten. Sie glaubten, uns aushungern zu können, weil sie keine Ahnung von der Beschaffenheit unsers Versteckes und von unsern Vorräten hatten.
Wir waren alle ganz und gar nur auf das Pa-ware angewiesen, denn von da an, wo die Wärme des Wassers nicht mehr wirkte, lag der Schnee so hoch, daß nicht durchzukommen war, und er fiel noch immerfort in solcher Menge, daß die Feuchtigkeit, in welche er sich hier unten sofort auflöste, den See, wenn auch langsam, steigen machte. Von den draußen tobenden Wintersstürmen merkten wir nur wenig, weil sie durch die rundum liegenden Höhen von uns abgehalten wurden.
Es verging Tag auf Tag, Woche auf Woche; der Dezember war schon da, und Weihnachten kam allmählich näher. Wir beschlossen, wenn wir bis dahin nicht von den Schoschonen abgeholt würden, das Fest nach deutscher Weise durch einen brennenden Lichterbaum zu begehen. Von den vorgefundenen Lichtern waren nur wenige verbraucht worden, weil wir Elktalg gebrannt hatten. Zu erwähnen ist, daß drüben, jenseits des Wassers, schon das zweite Pferd geschlachtet worden war und der Bär des Nachts das Thal unsicher machte. Er schien seine hier oben irgendwo in der Nähe liegende Villegiatur in der Hoffnung, doch noch Menschenfleisch verkosten zu können, nicht aufgeben zu wollen. Drüben wurde oft auf ihn geschossen, wenn auch vergeblich; zu uns kam er nicht; entweder sah er ein, daß wegen unsers sichern Aufenthaltes nicht an uns zu kommen sei, oder er hielt uns für Leute, die er sich bis zuletzt aufheben müsse.
Von den Höhen rundum gingen sehr bedeutende Schneestürze herab, und hoch über der Schutzhütte unserer Feinde hingen die weißen Massen so schwer über, daß es mir nicht beigekommen wäre, mich auch nur eine Viertelstunde darin aufzuhalten; sie aber schienen von der ihnen drohenden Gefahr gar keine Ahnung zu haben, und uns konnte es natürlich nicht einfallen, sie vor ihr zu warnen.
Drei Tage vor dem Feste stieg ich mit Rost zur Schneegrenze hinauf, um eine junge, zum Christbaum passende Tanne zu schneiden. Während des Heruntersteigens sahen wir, daß drüben schon das dritte Pferd geschlachtet wurde; es war aber noch abgemagerter als das vorige. Was dann, wenn auch dieses letzte verzehrt worden war? Sie legten die Knochen als Lockung unter die Bäume; der Bär aber war so klug, sie heimlich zu holen und fortzutragen, anstatt sie an Ort und Stelle zu verzehren und sich durch das dadurch verursachte Geräusch zu verraten. Hunger aber schien er zu haben, denn er schnüffelte seit einiger Zeit auch bei uns herum; wir störten ihn dabei nicht, denn er war uns später doch sicher, da sein Lager sich in der Nähe zu befinden schien. Für den Winterschlaf schien der muntere Kerl heuer keine Neigung zu besitzen.
Wir füllten diesen Tag noch damit aus, daß wir Dillen für die Lichter schnitzten und allerlei Schmuck, wie ihn die Wildnis bot, für den Christbaum fertigten. Keiner freute sich mehr darüber, als mein guter Carpio. Er hätte gar zu gern mitgeholfen, aber er war zu schwach. Seit Dezember war der Verfall seiner Kräfte ein zusehends rapider; wir sahen das, thaten aber nicht, als ob wir es bemerkten. Sein Tod war sicher, und ich kann gar nicht sagen, wie wehe das meinem Herzen that! Er war so kraftlos, daß er schon nicht mehr selbständig sitzen konnte. Ob er wußte, wie nahe ihm sein Ende sei, darüber schwieg er; er war von einer milden, sich gleichbleibenden Freundlichkeit und schien besonders mir jetzt seine Liebe doppelt zeigen zu wollen. Am Abende dieses zweiundzwanzigsten Dezembers, als er es nicht hören konnte, sagte Winnetou zu mir:
»Weißt du noch, was unten am Medicine Bow River meine Meinung über ihn war? Jetzt ist die Zeit gekommen; das Erbarmen der Erde wird ihn hier im wilden Westen willkommen heißen. Wir werden ihm hier am Pa-ware sein letztes Lager bereiten. Howgh!«
Heut hatte ich die erste Wache. Als alle sich zur Ruhe gelegt hatten, fragte mich Carpio, was draußen für Wetter sei. Ich sagte ihm, daß es keinen Schnee, sondern einen schönen, hellen Sternenhimmel gebe. Da bat er mich, ihn hinauszutragen, er wolle so gern mit mir unter diesen Sternen sein. Ich erfüllte ihm seinen Wunsch. In Decken gewickelt saß er halb, halb lag er an meiner Brust. Seine Augen waren emporgerichtet; er sagte lange, lange nichts; dann ergriff er meine Hand und sprach:
»Höre, mein lieber Sappho, wenn du einmal einen Sohn haben wirst, so zwinge ihn ja nicht, etwas zu werden, was er nicht werden will! Es ist so schrecklich, so schrecklich! Mir wurde dadurch meine Jugend geraubt und mein ganzes, ganzes Leben zur Hölle gemacht! Aber ich klage niemand an, denn ich bin jetzt so froh, daß es zu Ende ist, so froh, daß ich hier an diesem schönen Wasser ein warmes, ruhiges Bette finden werde!«
»Wie kommst du dazu, vom Ende zu sprechen, lieber Carpio? Du wirst dich erholen und noch lange, lange leben!«
»Sei still! Du weißt doch ebenso gut wie ich, daß ich höchstens noch zwei oder drei Tage leben werde. Ich habe dir es schon längst angesehen; deine Augen strahlen mir jetzt in doppelter Liebe zu. Weißt du, ich habe eigentlich nur dann gelebt, wenn ich bei dir gewesen bin, und darum macht es mich so glücklich, daß ich nun auch bei dir sterben darf. Du bist zuweilen ein bißchen zerstreut, ein bißchen vergeßlich gewesen, aber doch der einzige Mensch, der mich wirklich lieb gehabt hat. Das vergesse ich dir nicht, auch im Jenseits nicht; ich werde dort immer für dich beten! Nicht wahr, du weißt, daß ich sterben muß! Sage mir keine Lüge! Sei auch jetzt bei meinem Scheiden mein wahrer Freund, wie du es stets gewesen bist! Ich sterbe; nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich danke dir! Weißt du, das Sterben ist gar nicht so schlimm, wie viele denken. Ich sage dir so glücklich lebewohl und begrüße dich dann bald im Jenseits selig wieder. Höre, Sappho, weine nicht! Thu mir doch den Gefallen und weine nicht!«
»Ich weine ja nicht, lieber Carpio!«
»Oh doch! Es fiel mir eine warme Thräne ins Gesicht; die ist von dir. Ich wische sie nicht weg, sondern ich nehme sie mit, um sie dem lieben Gott zu zeigen, damit er sieht, daß es auf Erden doch noch wahre Freunde und gute Menschen giebt. Aber eher als zum heiligen Christtag möchte ich doch nicht sterben! Der Baum soll dazu brennen. Wie schön wäre es, wenn mir sein Licht zum Himmel leuchtete! – – – Jener Baum beim Franzl in Falkenau, und dein Gedicht dazu! Ich kann es noch auswendig. Ich möchte es noch einmal deklamieren, wie dort den drei armen Leuten, und auch so unter dem Weihnachtsbaum! Sappho, bete mit mir, daß unser Herrgott mich noch bis zum Christtag leben läßt!«
Er faltete sein Hände in die meinigen, und wir beteten still, ganz still, aber um so brünstiger. Er bewegte sich nicht, auch später nicht; ich fühlte seine leisen Atemzüge; er war im Gebete eingeschlafen. Ich saß stundenlang, ohne mich zu rühren; er sollte nicht aufwachen. Die Mitternacht ging vorüber; die Sterne sagten mir, daß noch eine Stunde und noch eine verrann, da gab es plötzlich drüben jenseits des Sees ein fürchterliches Getöse; ein Krachen, wie von mehreren Kanonenschüssen, folgte, dann war es wieder still.
Carpio war darüber erwacht. Winnetou, Sannel und Rost kamen heraus.
»Es fiel wieder Schnee von der Felsenhöhe, aber sehr viel,« sagte der erstere. »Wo war es?«
»Drüben bei der Hütte, wie es scheint,« antwortete ich.
Wir lauschten einige Zeit. Es war kein Hilferuf zu hören. Vielleicht war es also nur in der Nähe der Hütte gewesen.
»Sie trachten uns nach dem Leben; sie sind still,« sagte Winnetou. »Wir gehen nicht in der Nacht; wir warten, bis es Tag geworden. Ich sehe aus dem Stande der Sterne, daß mein Bruder Scharlih länger gewacht hat, als er sollte. Meine Zeit ist da; er gehe hinein!«
»Bitte, laß mich mit Carpio hier; er wünschte es so!« antwortete ich.
Die drei gingen hinein, und ich war mit Carpio wieder allein. Er hatte die Augen zu und fing bald an, sehr schwer zu atmen, als ob ihm etwas Böses träume; dann schlug er sie auf, holte tief und erleichtert Luft und sagte hastig:
»Sappho, willst du mir einen Gefallen thun?«
»Ja.«
»Du wirst mich auslachen, aber ich habe es jetzt bei geschlossenen Augen gesehen, ganz deutlich gesehen: Die Hütte drüben ist verschüttet; es sind mehrere Menschen tot; der Bär ist dort, und einer wagt es aus Angst vor ihm nicht, um Hilfe zu rufen. Gehe hinüber, und rette ihn! Willst du?«
»Ja. Ich trage dich hinein.«
Ich lachte nicht über ihn. Es lag in seinem Tone, in der ganzen Situation etwas Zwingendes. Es soll vorkommen, daß Sterbende hellsehend sind. Ich trug ihn hinein. Die andern waren noch nicht wieder eingeschlafen. Rost mußte bei ihm bleiben. Winnetou und Sannel waren bereit, mich zu begleiten.
Die Sterne leuchteten uns bei diesem Wege. Das Feuer, welches drüben stets und auch heute gebrannt hatte, war verlöscht. Wir gingen nicht am Wasser, sondern an den Felsen hin, wo wir nur schwer gesehen werden konnten, um die nördliche Seite des Sees herum. Drüben leuchtete uns eine große Schneemasse entgegen, welche mit schweren Steintrümmern von der Bergeshöhe herabgestürzt war und, wie wir nun allerdings sahen, die Hütte verschüttet hatte. In dieser Beziehung hatte Carpio richtig gesehen. Ob in Hinsicht auf den Bären auch?
Da hörten wir ein Krachen und Prasseln, wie wenn Knochen zermalmt werden. Das mußte der Grizzly sein. Wir schlichen uns leise und äußerst vorsichtig näher. Da sahen wir seine von dem Schnee abstechende Gestalt. Er lag am Rande der Schneelawine und fraß an etwas herum. War es ein Mensch, den er angeschnitten hatte? Wir richteten uns auf und gingen auf ihn zu. Er sah uns und stand im Nu auf den Hinterbeinen. Drei Schüsse krachten, einer von mir und zwei von Winnetou. Der Grizzly drehte sich zur Seite, fiel nieder, kugelte sich einmal um und blieb dann liegen.
»Ist er tot, ist er tot?« klang da eine vor Aufregung oder Entsetzen heisere Stimme. »Holt mich heraus, Mesch'schurs, holt mich heraus! Ich bitte euch um Gottes willen!«
Wir traten behutsam an den Bären heran, um zunächst ihn zu untersuchen. Er war tot. Zwei Menschen ragten, nur drei Schritte von einander entfernt, unter den Trümmern hervor, der eine mit dem Kopfe, der andere mit der Brust, denn der Kopf fehlte ihm, den hatte der Bär zermalmt. Der noch Lebende war Hiller; er war unverletzt, weil der weiche Schnee ihn beschützt hatte, doch lagen auf diesem schwere Steinbrocken, die ihn festgehalten hatten. Der von dem Bären angefressene Tote war Eggly. Wir wälzten den Stein fort und brachten Hiller auf die Füße.
»Gott sei Dank!« stieß er hervor. »Das – – das werde ich Euch nie, nie vergessen! Ich bin kein Hasenfuß, aber in dieser halben Stunde habe ich ein ganzes Jahrhundert voll Todesangst durchlebt. Ich wachte mit Eggly vor der Hütte; da stürzte die Lawine und verschüttete uns, nicht ganz, aber wir konnten nicht heraus; die Steine waren zu schwer. Da kam der Bär. Er wählte lange, lange, eine ganze Ewigkeit, wen er fressen solle; bald beschnüffelte er ihn, bald mich; ich fühlte seinen heißen, aasigen Atem; endlich, endlich entschied er sich für ihn. Der Schädel krachte und splitterte unter dem fürchterlichen Gebiß; der Grizzly sucht ja stets erst das Gehirn! Aber ich war noch nicht gerettet; er konnte sich in jedem Augenblicke auch mir zuwenden. Es war entsetzlich; ich kann es nicht beschreiben! Da kamt Ihr, Mesch'schurs, und nun bin ich erlöst. Gott, Gott sei Dank.«
»Wem dankt Ihr da?« fragte ich. »Gott? Ich denke, der Glaube an Gott sei Kinderei?!«
»Seid still, Sir! Sagt nichts davon!«
»Pshaw! Ihr habt mir verboten, von meinem ›sogenannten Gott‹ zu sprechen, und nun dankt Ihr ihm? Habt Ihr nicht zweimal gelästert, daß der Bär Euch das Gehirn ausfressen solle?«
»Schweigt, schweigt! Ich bitte Euch um des Himmels willen! In der fürchterlichen Ewigkeit, die ich jetzt zwischen Leben und Tod zubrachte, bin ich zur Erkenntnis meiner Missethat, meiner Sünden gekommen. Rettet die Verschütteten dort in der Hütte! Ich kann nicht mithelfen; ich muß mich setzen; ich zittere noch an allen Gliedern!«
Er setzte sich nieder und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Schnee- und Steinlawine hatte, wie vorauszusehen gewesen war, die Felsenplatte getroffen, welche das Dach der Hütte bildete, und diese eingedrückt. Unter den Trümmern hörten wir dumpfe Stimmen. Wir räumten weg, was wir bewältigen konnten, um nach dem Hohlraum zu kommen, in welchem die noch Lebenden stecken mußten. Diese Arbeit war höchst anstrengend und gefährlich für uns, denn es war ja Nacht, und überall stürzten Trümmer nach. Aber gegen Morgen gelang es uns doch, Luft zu schaffen; Hiller half jetzt mit.
Der erste, welcher herauskam, war der alte Lachner. Als er sah, wer wir waren, sagte er kein Wort; wir waren des Dankes gar nicht wert! Es zuckte mir in den Fäusten, sie ihm an den Kopf zu schlagen. Dann krochen Reiter und Welley hervor; auch sie waren unverletzt. Sie schienen alle Feindschaft vergessen zu haben und drückten uns die Hände. Nun drang ein herzbrechendes Wimmern und Stöhnen zu uns; aber es war zu gewagt, im Finstern nach der Stelle zu kriechen, von woher es klang. Ich schickte Sannel hinüber zu uns, um einige Kienspäne zu holen. Als er sie brachte, machte ich Licht und kroch hinein.
Ich konnte jeden Augenblick verschüttet werden; aber es geschah mir nichts. Erst fand ich Corner; er war tot; die Kante eines Felsstücks hatte ihm die Brust eingedrückt und war dann weiter gerutscht, so daß er frei lag. Ich durchsuchte vorsichtigerweise alle seine Taschen und fand nebst anderen, mir weniger wichtigen Gegenständen zwei Depositenscheine. Die steckte ich zu mir, denn sie betrafen die Summen, welche die Verbrecher aus dem Verkaufe von Watters und Welleys Nuggets gelöst hatten. Dann kroch ich weiter, bis ich zu dem Wimmernden kam; es war der Prayer-man, welcher so schwere Verletzungen davongetragen hatte, daß an eine Rettung nicht zu denken war. Er wimmerte in der Bewußtlosigkeit. Es fiel mir nicht ein, ihn zu schonen; ich rüttelte ihn, denn ich wollte ihm eine Frage vorlegen. Ich hatte schon seit langer Zeit einen Gedanken mit mir herumgetragen, über den ich Gewißheit haben wollte. Er kam halb zu sich und stierte mich verständnislos an.
»Sheppard, du hast Guy Finell erschossen!« rief ich ihm zu.
»Finell!« fragte er. »Esel! Warum wollte er mich anzeigen?«
Ein schweres Stöhnen unterbrach dieses Geständnis. Sein verzerrtes Gesicht sah beim Lichte des neunten oder zehnten Kienspanes, den ich angesteckt hatte, wie eine Teufelsfratze aus.
»Und Reiter?« fragte ich.
»Reiter? Dummkopf! Schoß zu gleicher Zeit mit mir los, ich auf Finell, er auf die Spottdrossel, die er fehlte. Das war ein Streich! Du weißt es ja, Corner, daß er nun dachte, er sei der Mörder und – –«
Ich konnte leider nicht weiter auf seine Worte achten, denn über mir prasselte es; ich fuhr schnell zurück. Kleine Steine fielen herab und raubten einem größeren, sehr schweren Stücke den Halt, den sie ihm gegeben hatten; es stürzte und traf die Fratze, die mich soeben noch so spöttisch angegrinst hatte. Der Prayer-man war auch tot. Gott wollte ihn nicht hier bereuen, sondern im Jenseits büßen lassen. Wer mit dem Heiligsten, was der Mensch besitzt, in der Weise, wie er es gethan hatte, Lästerung treibt, begeht eine Sünde, die ihm hier nicht vergeben werden kann. Ich rührte ihn nicht an und kroch zurück.
Draußen begannen die Sterne zu erbleichen. Winnetou saß mit Amos Sannel auf den Trümmern, nicht weit von ihnen Hiller, Reiter und Welley, welche leise miteinander sprachen, weiter weg davon hockte Lachner für sich allein. Die drei standen auf, als sie mich wiedersahen, und bedankten sich abermals bei mir. Sie baten mir alles ab, was sie gegen uns gethan und gesagt hatten, und wünschten, sich uns anschließen zu dürfen, um uns beweisen zu können, daß sie der Verzeihung nicht unwert seien. Ich wies sie an Winnetou. Als dieser das hörte, sagte er:
»Diese drei Bleichgesichter haben Sünden und Fehler, aber keine Verbrechen begangen. Ihre Strafe soll sein, daß sie hier an dieser Stätte wohnen bleiben, bis wir von hier fortgehen und sie mitnehmen. Sie dürfen unsere Wohnung nicht betreten, aber uns unbewaffnet besuchen und das Fest der Christen mit uns feiern. Da werden sie einsehen, daß sie wohlgesinnte Männer beleidigt haben, die es gut mit ihnen meinten. Dieser Bär gehört uns. Wir werden ihm das Fell und auch das Fleisch nehmen.«
»Dürfen nicht wir das thun?« fragte Hiller. »Wir bringen dann alles hinüber.«
»Ja, es mag so sein.«
Er winkte Sannel und mir, mit ihm zu kommen. Wir kehrten nach unserm Zufluchtsort zurück, wo wir den beiden Zurückgebliebenen erzählten, was sich ereignet hatte. Carpio freute sich herzlich darüber, daß seine Mitteilung sich als wahr erwiesen hatte und er durch sie höchst wahrscheinlich der Retter Hillers geworden war.
Am Vormittag kam dieser mit Welley und Reiter; sie mußten den Weg zwischen hüben und drüben mehrmals machen, ehe sie das Fell und die Menge von Fleisch uns ausgeliefert hatten; wir gaben ihnen, den bisherigen Pferdefleischessern, einen Teil davon ab. Bei dieser Gelegenheit sahen sie den Christbaum stehen, der, wenn es ruhige Luft und keinen Schneefall gab, im Freien brennen sollte. Sie freuten sich, daß sie mit dabei sein durften, und Reiter sagte zu mir in deutscher Sprache:
»Ich habe schon früher gehört, daß Old Shatterhand ein Deutscher ist. Vielleicht interessiert es Sie, daß ich etwas besitze, was auf die deutsche Art und Weise der Weihnachtsfeier Bezug hat.«
»Was ist das?«
»Ein Gedicht.«
»Pshaw, Gedicht!«
»Oh bitte, es ist kein schlechtes. Ich gehöre auch nicht zu derjenigen Art von Leuten, welche jede Reimerei, mag sie sein, wie sie will, für etwas Ungewöhnliches halten. Ich bin durch Umstände, welche in meiner Familie lagen, aus der Heimat getrieben worden und dann, da ich verbittert war, nicht etwa das Muster eines vorzüglichen Menschen gewesen. Ich hatte den äußern Halt verloren und verlor dann auch den innern; ich glaubte nicht mehr an Gott. Mein Vater las das zwischen den Zeilen meiner Briefe und schickte mir dieses Gedicht als Weihnachtsgeschenk. Ich will nicht sagen, daß es mich zum frommen Manne gemacht hat, aber es hat doch bewirkt, daß ich zum Nachdenken gekommen und nicht tiefer gesunken bin. Der Deutsche deklamiert zum Weihnachtsfeste gern etwas; darf ich es deklamieren? Ich kann es nämlich auswendig.«
»Von welchem Dichter ist es denn?«
»Von keinem berühmten, sondern im Gegenteile von einem jungen Gymnasiasten, dem mein Vater damals Unterricht in der Kompositionslehre gegeben hat, wie er mir schrieb.«
»Ein Schüler? Pshaw! Wollen das lassen! Sagen Sie mir lieber, wie Sie sich so weit vergessen konnten, an der Gesellschaft Sheppards und Genossen Gefallen zu finden!«
»Gefallen?« antwortete er, gleich viel ernster werdend. »Glauben Sie nicht, daß es mir wohl bei ihnen gewesen ist; ich bin kein böser Mensch! Ich habe da unter einem Zwange gestanden, von dem ich mich nicht losmachen konnte. Es ist das ein Geheimnis; aber Old Shatterhand wird mich nicht verraten, wenn ich es ihm mitteile. Ich bin nämlich ein Mörder.«
Er sah mich an, als ob er erwarte, daß diese Mitteilung mir Schreck einjagen werde.
»Unsinn!« lachte ich.
»Ja doch! Das geschah nämlich in Steelsville; ich hatte nichts zu leben und sah mich nach Arbeit oder einer Stelle um; da traf ich auf Sheppard; wir kamen ins Gespräch; ich klagte ihm meine Not, und er teilte mir mit, daß er zur Begleitung nach dem Westen einen Boy suche, der leidlich schießen könne. Ich bot mich ihm an, und er verlangte eine Probe. Wir gingen vor den Ort hinaus nach Guy Finells Farm hinüber. Dort lagen wir wohl eine Stunde lang am Waldesrand, ehe Sheppard ein gutes, ihm genügendes Ziel einfallen wollte. Guy Finell war in seinem Garten. Da kam eine Spottdrossel geflogen und setzte sich auf einen Ast über ihm. Da meinte Sheppard schnell, diese solle ich herunterschießen, sobald er bis drei zähle. Ich ging darauf ein; die Drossel flog unverletzt fort, aber Finell lag in seinem Blute; meine Kugel war ihm durch die Brust gedrungen. Wie das zugegangen ist, das kann ich heut noch nicht begreifen, denn ich war schon damals kein schlechter Schütze. Wir machten uns natürlich schleunigst auf die Flucht, und seitdem stand ich in Sheppards Hand. Er zeigte mich bloß unter der Bedingung nicht an, daß ich ihm ein schriftliches Eingeständnis des Mordes und einen Sichtwechsel auf fünftausend Dollars auslieferte, mit dem er mich in den Händen hatte. Ich bin seitdem geradezu sein Sklave gewesen und wagte gegen keine seiner Forderungen einen Widerspruch, bis ich unten am Platte River erkannte, was für ein Halunke er war. Er jagte mich einfach zum Teufel, damit ich nicht Zeuge seines Mordes an Welley werden könnte, mit dem ich mich dann gegen ihn verbündete.«
»Wie geschah denn eigentlich der Schuß auf die Drossel? Wo befand sich Sheppard, als Sie losdrückten?«
»Er hatte sich hinter mich gestellt.«
»Ah so! Da konnten Sie nicht sehen, was er that! Er zählte, und Sie schossen genau bei drei?«
»Ja.«
»Fielen nicht zwei Schüsse?«
»Nein. Wie kommen Sie zu dieser sonderbaren Frage?«
»Davon später! Der Wechsel durfte Ihnen aber doch keine Angst einjagen!«
»Der freilich weniger, weil ich damit nur unter Umständen gefaßt werden konnte. Aber das Eingeständnis des Mordes! Es war erzwungen, und ich hätte leugnen können, aber es wäre von ihm beschworen worden. Am schwersten aber haben mich die Selbstvorwürfe gedrückt, die mich noch jetzt des Nachts nur selten ruhen lassen. Ich habe eine Familie unglücklich gemacht und sehe immerfort und alle Zeit das Opfer dieses schlecht gezielten Schusses blutend am Boden liegen! Sheppard ist zwar nun tot; aber ich weiß, daß er Wechsel und Geständnis irgendwo deponiert hat. Sie können sich denken, daß mir das große Sorgen macht!«
»Freilich! Aber legen Sie nur alles in Gottes Hand! Der weiß am besten, wie Ihnen zu helfen ist. Es giebt einen Heiland für alle Menschen und eine Erlösung aus jeder Seelennot; daran zu denken und daran zu glauben ist grad jetzt die rechte Zeit, meine ich, jetzt, wo wir bald wieder den großen Engelsruf erklingen hören: Ich verkünde große Freude, die euch widerfahren ist!«
Ich drehte mich um und ging in unser Versteck. Als er mich nicht mehr sehen konnte, lugte ich durch den Epheu heraus. Er stand vor Überraschung steif und hielt den Blick auf die Stelle gerichtet, hinter welcher ich verschwunden war. Meine letzten Worte waren ja der Anfang seines Gedichtes; konnte das Zufall sein?
Nun zeigte ich Winnetou die Depositenscheine und sagte ihm, daß dieser Reiter der Sohn eines frühern Lehrers von mir sei.
»Ich weiß, weshalb mein Bruder mir diese Mitteilung macht,« lächelte er; »sein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Dieses Bleichgesicht ist arm und hat geglaubt, sich mit den Nuggets des Finding-hole helfen zu können; der gute, große Christ soll ihm welche bringen!«
Das war mir eine Freude, und Reiter war nicht der einzige, dem beschert werden sollte; auch mein Carpio mußte natürlich etwas bekommen – – wenn er noch lebte! Es ging zusehends mit ihm abwärts; er wurde immer schwächer; sonderbarerweise blieb die Stimme kräftig. Als ich ihm sagte, daß dies wohl auf eine mögliche Besserung hoffen lasse, antwortete er mit mattem Lächeln:
»Denke das nicht! Es ist bestimmt, daß ich einstweilen von dir gehe. Ich habe im stillen schon von der Erde Abschied genommen. Er ist mir nicht schwer gefallen, denn sie hat mir wirklich nicht viel geboten, was mich halten könnte; sie ist eine sehr harte Stiefmutter gegen mich gewesen. Ich scheide also gern, und wenn meine Sprache noch jetzt kräftiger ist, als ich selbst es bin, so wird das wohl nur wegen des Gedichtes sein. Ich will es noch einmal sagen, laut sagen und dann für dieses Leben stille sein, für immer still.«
»Hast du denn nicht noch einen Wunsch, den ich dir erfüllen könnte, lieber Carpio?«
»Nein, denn was ich wünsche, das wirst du thun, ohne daß ich dich besonders darum bitte. Wenn du in die Heimat kommst, so grüße die Meinen; sag ihnen, daß ich mich den Zerstreutheiten und Konfusionen anderer Leute entzogen habe und nun endlich glücklich bin. Sag ihnen auch, daß nun der himmlische Vater über meinen jenseitigen Beruf bestimmen werde, und daß ich darum nicht befürchte, dort Vorwürfe zu hören, wie diejenigen waren, mit denen ich hier so unausgesetzt und grausam verfolgt worden bin! Jetzt will ich wieder schlafen. Verzeih mir, lieber Freund! Ich bin so müd, und der Schlaf ist so schön. Wenn der Tod so sanft und freundlich kommt wie der Schlaf, so möchte ich nur immerfort und unaufhörlich sterben!«
Er schloß die lieben Augen, öffnete sie aber kaum eine Minute später wieder und sagte:
»Jetzt ist mir plötzlich eine recht große Bitte eingefallen, lieber Sappho. Es giebt hier keinen Sarg, und ich möchte doch nicht so direkt von der bloßen Erde umgeben sein. Dort liegt das Grizzlyfell. Wenn es dir nicht gar zu wertvoll ist, so hülle mich drin ein. Es ist das zwar auch so eine Art von Konfusion und Verwechselung, denn so sollten eigentlich wohl nur berühmte Krieger begraben werden, aber ich bin das doch gewöhnt, und dies wird ja wohl die letzte hier auf Erden sein. Willst du das thun?«
»Von Herzen gern!«
»Ich danke dir; nun schlafe ich!«
Rost saß daneben und hatte alles gehört. Die Thränen liefen ihm unaufhörlich über die Wangen herab, denn der Sterbende war ihm auch recht herzlich lieb geworden.
Der Tag und die nächste Nacht vergingen, ohne daß etwas von Bedeutung geschah; aber am Morgen des Vierundzwanzigsten ertönten frohe Rufe von der Höhe herab, und wir sahen eine Schar Schoschonen kommen, wohl zwanzig Mann, von Wagare-Tey, dem jungen Häuptling, angeführt; Teeh, der Kundschafter, war auch dabei. Sie kamen, uns zu holen, und hatten Schneeschuhe und alles mit, was für uns nötig war. Unsere erste Frage war nach unsern Pferden; sie waren gut aufgehoben. Dann interessierte uns natürlich der Ausgang der Feindseligkeit mit den Upsarokas. Es hatte sich herausgestellt, daß die Blutindianer die Schuldigen waren; Peteh hatte das sogar grimmig eingestanden, ehe er an der von mir erhaltenen Wunde gestorben war. Die Mörder hatten sich alle mit im Lager am Pacific Creek befunden; sie waren, voran der alte, hinterlistige Innua Nehma, ausgeliefert und am Marterpfahle hingerichtet worden, und darüber hatten die Schoschonen mit den Upsarokas Frieden geschlossen. Yakonpi-Topa ließ uns oder auch nur Hiller allein auffordern, ihm die uns geliehenen Pferde zu bringen, so solle dieser die ihm abgenommenen Felle zurückerhalten.
Die Schoschonen hatten geglaubt, daß wir sofort mit ihnen aufbrechen würden, aber das war wegen Carpio unmöglich. Als sie hörten, daß ein Sterbender unter uns sei, ließen sie jedes laute Wort schweigen und zogen sich in scheuer Ehrfurcht, die dem Tod gebührt, zurück. Das Fleisch des erlegten Grizzly gab ihnen stille und doch interessante Beschäftigung genug. Es wurden mehrere Feuer angebrannt, und dann verbreitete sich der Bratenduft über das ganze Pa-ware. Als Carpio hörte, daß unsere Erlöser gekommen seien, sagte er:
»Der meinige wird nun auch erscheinen! Ich bin der einzige von euch, der hier im Thale bleibt. Kommst du vielleicht in deinem Leben nochmals her?«
»Es ist möglich. Selbst wenn ich nur nach einem Tagereisen von hier entfernten Punkte geführt würde, ich würde doch hierher reiten und dich besuchen, mein Carpio.«
»Thue das. Sobald du kommst, bin ich auch da, wenn du mich auch nicht siehst. Wenn es mir möglich ist, werde ich dir da ein Zeichen geben, ein freundliches Flüstern in den Blättern oder ein heiteres Kräuseln der warmen Wellen im See. Das soll mein Himmelsgruß für dich sein; dann kannst du wieder fortreiten und dir sagen, dein treuer Carpio habe dir für deinen Besuch gedankt!«
Der Abend war wieder sternenhell. Kein Lüftchen regte sich, und die dem Wasser entströmende Wärme erlaubte es uns, den Scheidenden heraus ins Freie zu tragen. Er wurde nahe beim Baume weich hingebettet. Die Weißen nahmen ringsum Platz, und in einem weiteren Kreise lagerten die Schoschonen, neugierig auf den Lichterbaum. Nur einer fehlte: der alte Lachner. Ich hatte ihm sagen lassen, daß sein Neffe im Sterben liege; er hatte sich umgedreht und nichts geantwortet. Nun schlich er in der Finsternis umher, allein mit seinem Geiz, der ihm alle Gefühle des Herzens getötet hatte. Er konnte es nicht verwinden, daß ihm das Gold des Finding-hole entgangen war. Carpio fragte auch mit keiner Silbe nach ihm.
Nun wurden die Nuggets herausgeholt und unter dem Weihnachtsbaume nach Winnetous Anordnung in vier gleichgroße Haufen zerlegt. Dann zündeten wir die Lichter an. Während dies geschah, sagte Carpio zu mir:
»Eigentlich müßte ich das Gedicht gleich anfangs sagen; aber es ist mir, als ob ich beim letzten Worte scheiden werde; darum will ich lieber bis zum Schlusse warten. Weißt du, wir haben vorgestern miteinander zum Herrgott gebetet, daß er mich diesen Weihnachtsglanz noch erleben lassen möge. Er hat unsere Bitte erfüllt; dann sterbe ich aber sogleich; das fühle ich. Thu mir noch den Gefallen, und singe mir das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht«! Es ist mein letztes Lied auf Erden; droben werde ich Halleluja singen!«
Als alle Lichter brannten, sangen wir das Lied, Hiller, Reiter, Rost und ich, in deutscher Sprache. Hierauf sprach ich einige ernste Worte; mehr konnte ich nicht, denn die Thränen raubten mir die Stimme, und dann bescherte Winnetou die Nuggets an Sannel, Reiter, Rost und Carpio.
Wie glücklich waren diese vier! Der alte Amos Sannel konnte sich nun Ruhe gönnen; Reiter versicherte, daß er die Hälfte des Betrages seinem Vater, meinem alten Kantor, schicken werde; Rost konnte infolge dieses Geschenkes daran denken, nach seiner Rückkehr von den Indsmen sich eine Praxis zu gründen, und Carpio schob seine kraftlose Hand in Winnetous Rechte, bedankte sich innig bei ihm und sagte dann zu mir:
»Was soll ein Sterbender mit Gold? Aber ich freue mich doch unendlich darüber, denn ich weiß, weshalb Ihr es mir gegeben habt. Du thust mir doch den Gefallen, lieber Sappho, und nimmst es meinem Vater mit hinüber! Es macht mich so glücklich, zu denken, daß er sich wenigstens nun dies eine Mal über seinen Sohn freuen wird. Sag ihm aber ja, dies sei keine Zerstreutheit oder Verwechslung, sondern es gehöre ihm wirklich alles!« –
Welley und Hiller hatten nichts bekommen; sie mochten sich enttäuscht fühlen, ließen aber nichts merken. Nun gab ich dem ersteren die beiden Depositenscheine und erklärte ihm, was für eine Bewandtnis es mit ihnen habe und daß dies das Geld für die ihm und Watter geraubten Nuggets sei. Er fiel vor freudigem Schreck beinahe um und floß dann von Dankbarkeit förmlich über.
Dann bekam Reiter seinen Sichtwechsel und sein schriftliches Eingeständnis des Mordes. Ich mußte ihm natürlich erzählen, wie wir zu den beiden Schriftstücken gekommen waren. Hierauf sagte ich ihm, daß nicht er, sondern Sheppard der Mörder Finells sei; der Prayer-man habe sich hinter ihn gestellt und zu gleicher Zeit mit ihm geschossen, aber auf Finell gezielt, um ihn wegen einer von ihm zu befürchtenden Anzeige unschädlich zu machen. Selbstredend fügte ich hinzu, daß ich das von dem sterbenden Mörder erfahren hatte.
»Dieses letztere ist mir kostbarer als alles andere, auch als die Nuggets!« rief der Beschenkte. »Gott sei Preis und Dank, denn nun kann ich endlich ruhig und ohne Vorwürfe schlafen! Ich habe kein Menschenleben auf dem Gewissen; das giebt neue Kraft und Mut und Zuversicht; ich bin von jetzt an ein ganz anderer Mensch! Und solchen Wohlthätern haben wir aufgelauert, um ihnen abzunehmen, was doch nicht uns, sondern ihnen gehörte! Denn wenn wir auch jetzt noch nicht einsehen wollten, daß Winnetou das erste Recht auf das Finding-hole besaß, würden wir selbst an unserm eigenen Verstande zweifeln müssen!«
»Wir haben uns über Ihr Verhalten gar nicht gewundert,« bemerkte ich ihm, »denn wir haben die schädliche Wirkung des Golddurstes noch in ganz andern Fällen kennen gelernt. Der Mensch hat keine schlimmeren Feinde als seine eigenen Leidenschaften. Das wird z. B. auch Mr. Hiller jetzt erkennen, wenn ich ihm beweise, daß er durch sein unfreundliches Verhalten gegen mich sich selbst am schwersten geschädigt hat. Ich habe ihm nämlich auch etwas zu bescheren. Hier, Mr. Hiller, nehmen Sie!«
Ich gab ihm den Lederbrief, den Yakonpi-Topa an seine Frau geschrieben hatte. Er öffnete ihn, sah bald ihn und bald mich erstaunt an und sagte dann:
»Das ist ja der von mir unterschriebene Indianerbrief! Wo haben Sie ihn her, Mr. Shatterhand! Den könnte Ihnen doch nur meine Frau gegeben haben, und ich denke, Sie sind gar nicht mit ihr in Berührung gekommen!«
»Das habe ich nicht behauptet, sondern Sie haben es daraus geschlossen, daß ich nicht davon sprach. Ihr Verhalten war nicht geeignet, uns gegen Sie gesprächig zu machen. Es hat kein Mensch diesen Brief lesen können, und erst als Ihre Frau ihn mir zeigte, erfuhr sie, um was es sich handelte. Wir hatten ganz andere Dinge vor, wurden aber von ihr und Ihrem Sohne so gebeten, uns Ihrer anzunehmen, daß wir alle anderen Pläne aufgaben und schleunigst nach dem Westen ritten, um Ihre Befreiung zu wagen. Wir, nämlich Winnetou, Rost und ich, ritten nicht direkt zu den Kikatsa, weil wir erfuhren, daß diese gegen die Schoschonen gezogen seien; wir trafen unterwegs mit ihnen zusammen, und es gelang uns, bei Yakonpi-Topa nicht bloß Ihre Befreiung zu bewirken, sondern auch das Versprechen zu erhalten, daß er Ihnen Ihr ganzes Eigentum wiedergeben werde. Diese unsere Bemühungen und Erfolge kann der Umstand, daß Sie inzwischen entkommen waren, wohl nicht wertloser machen. Als ich Sie dann traf, verschloß Ihr Benehmen mir natürlich den Mund. Hätten Sie mir meinen Glauben nicht in so schroffer Weise angetastet, so wäre Ihnen schon damals die größte Freude bereitet worden, welche Ihnen überhaupt bereitet werden kann. Ihre Frau hat mir nämlich noch einen Brief und eine Zeitung für Sie anvertraut. Ich übergebe Ihnen hiermit beides als ein Weihnachtsgeschenk von den Ihrigen und als einen neuen Beweis, daß Gottes Güte sich selbst des Abtrünnigen erbarmt. Lesen Sie jetzt! Und wenn Sie auch dann Ihren bisherigen Standpunkt beibehalten wollen, so beneide ich Sie wahrlich nicht um das, was Sie mir vorgeworfen haben, nämlich daß Sie drüben im Vaterlande mehr, viel mehr gewesen seien, als ich gewesen bin!«
Ich gab ihm die Zeitung und den Brief seiner Frau, den sie uns in das Hotel gebracht hatte. Er las. Als er fertig war, ließ er beides fallen, vergrub das Gesicht in die Hände und weinte, weinte laut. Wir ließen ihn gewähren und sagten nichts. Ich hatte hart gesprochen; aber meine Absicht dabei war eine gute gewesen. Es dauerte lange Zeit, ehe er das Gesicht wieder hob und Winnetou und mir die Hände reichte:
»Welch ein Thor bin ich gewesen, was für ein großer Thor!« sagte er. »Ich will euch gestehen, daß ich seelisch blind war, vollständig blind. Meine Frau schreibt mir, daß ihr nicht wißt, welchem Stande ich drüben angehört habe, und es würde auch zu nichts führen, wenn ich es euch jetzt mitteilte; aber ich war stolz, eingebildet und oft sogar brutal mit denen, welche nicht so hoch standen wie ich. Ich glaubte, nichts als nur Herr zu sein, und dachte nie daran, daß ich alles nur dem Zufall der Geburt zu verdanken hatte und ebenso gut der Sohn eines niedrigstehenden armen Teufels hätte sein können. Ich lachte über die Leute, welche da sagen, daß der von Gott geschenkte Adel verpflichte, auch wirklich adelig zu sein und adelig zu handeln; ich höhnte über die christliche Lebensregel, welche dem Hochstehenden gebietet, Liebe zu säen, um dafür doppelt Liebe zu ernten. Ich säete Hochmut und erntete Widersetzlichkeit und Haß; ich streute Dünkel und Verachtung aus und bemerkte nicht, daß infolgedessen überall der Abfall und die Rache keimten. Durch meinen Hochmut machte ich mir einen Mann zum Feind, der gewissenlos und dabei mächtiger und klüger war als ich; er beschloß, mich zu stürzen, und dies gelang ihm nur zu gut. Ein einziger Tag genügte, mich zum ehrlosen Bettler zu machen. Nun suchte ich Unterstützung und Hilfe ringsumher; ich wurde überall mit derselben Verachtung abgewiesen, welche ich vorher so reichlich ausgegeben hatte. Ein einziger Mensch, ein Nachbar, nahm sich unser an, aber auch nicht meinet-, sondern meiner Frau und ihres Vaters wegen. Ich war, anstatt in mich zu gehen, außer mir; ich wütete gegen das Gesetz, gegen die Behörden; die Folge war, daß ich mich nur durch die Flucht den schlimmen Folgen entziehen konnte; ich entkam nach Amerika. Mein Weib folgte mir später mit unserem Kinde; ihr Vater war unterwegs elend zu Grunde gegangen. Ich sah auch jetzt noch nicht ein, daß ich, nur ich allein unser Unglück verschuldet hatte. Ich haderte gegen das Schicksal, denn mit Gott konnte ich nicht hadern, weil ich den Glauben an ihn längst zu den Kindermärchen geworfen hatte. Ich machte sogar meiner Frau, die mir aufopferungsvoll und treu in die Ehrlosigkeit und Verbannung gefolgt war, das Leben zur Qual. Ich trachtete nur nach Geld, nach Geld, nach Geld, welches ich brauchte, um den Prozeß, welcher meine Unschuld beweisen sollte, anstrengen zu können. Darum ging ich hier so schnell und mit Freuden darauf ein, das Finding-hole mit auszunehmen, und darum stellte ich mich sofort auf die Seite eurer Gegner, als Winnetou behauptete und auch bewies, daß es nicht uns, sondern ihm gehöre. Ich war noch härter geworden, als ich früher war; ich besaß keinen Gott, keinen Glauben, keine Liebe; die Demut war mir ein lächerlicher Begriff, und darum kam ich nie zur Einkehr in mich selbst. Nur Rache, Vergeltung brütete ich; diese beiden waren die Göttinnen, denen ich diente. Alle meine Gedanken, meine Wünsche und Bestrebungen wurden nur von dem glühenden Verlangen geleitet, nach dem grausamen Gesetze ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ zu handeln. Da stürzte drüben die Lawine herab, und es kam die Ewigkeit jener fürchterlichen halben Stunde, in welcher Gott mir Antwort auf meine Lästerungen gab. Ich will und kann euch nicht beschreiben, was ich in dieser kurzen und doch so langen Zeit fühlte und dachte. Mein ganzes Leben ging an mir vorüber; ich durchlebte es noch einmal, aber nicht in dem Glanze, der mich einst umgab, sondern vor dem knirschenden Gebiß des Bärenrachens, dessen Zähnen ich in gottloser Lästerung mein Gehirn verschrieben hatte. Da tagte es in mir, schnell und licht; ich sah, was ich gewesen war. Man sagt, daß in der Stunde des Sterbens das ganze Leben mit allen begangenen Fehlern in greller Beleuchtung an dem Auge vorüberziehe; bei mir wurde diese Sage wahr. Im Reichtum und auf hoher Staffel geboren, war ich das ganze Leben hindurch mein eigener Gott gewesen, um jetzt, am Ende desselben, nichts zu sein als ein elender, armseliger Raubtierfraß, der nicht einmal nach Hilfe rufen durfte! Ich mußte schweigen, denn jeder Ruf hätte den Bären auf mich gelenkt; aber meine ganze Seele war ein einziger Schrei, ein einziges Gebet um Rettung aus dieser Todesnot. Und Gott erhörte dieses Gebet; er sandte in seiner Weisheit grad die zu meiner Befreiung, deren Feind ich ohne Veranlassung von ihnen geworden war. Und nun, was thun sie jetzt? Anstatt sich zu rächen, bescheren sie mir, geben mir alles, alles wieder, was ich verloren habe, alles und noch viel, viel mehr dazu! Denn, daß ihr wißt, ihr habt mich zu einem andern Menschen gemacht. Ich glaube nun an Gott, und ich weiß, weshalb mich seine weise Hand in die Tiefe führte. Was ich nie besessen habe, ich werde es von heute an besitzen: das wahre Lebensglück, denn ich werde von jetzt an sein, wie ich nie gewesen bin: gläubig, demütig und voll Vertrauen gegen Gott, streng gegen mich selbst und liebevoll und hilfsbereit gegen alle Menschen, welche, wie ich jetzt erkenne, meine Brüder sind. Ich habe eine schwere Schule durchgemacht; ein anderer an meiner Stelle wäre da wohl zu Grunde gegangen; aber Gott wußte gar wohl, daß es bei mir so starker Mittel zur Heilung bedurfte, und Ihr, Mr. Shatterhand, habt ja schon als Knabe ganz richtig gesagt:
Hat der Herr ein Leid gegeben,
Giebt er auch die Kraft dazu;
Bringt dir eine Last das Leben,
Trage nur, und hoffe du!« –
Er hatte, wohl damit Winnetou alles verstehen solle, englisch gesprochen; diese Strophe aber sagte er natürlich deutsch. Als Reiter sie hörte, fiel er in froher Überraschung schnell ein:
»Was – – was bringen Sie da für Verse?! Die sind ja aus dem Gedichte, welches mir mein Vater geschickt hat! Es stammt von einem seiner früheren Schüler. Woher haben Sie es denn?«
Hiller sah erst ihn, hierauf mich an und fragte ihn dann:
»Kennen Sie diesen einstigen Schüler? Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?«
»Nein.«
»Ah, das ist interessant, hochinteressant! Auch ich habe bis zu dieser Stunde keine Ahnung davon gehabt; aber hier im Briefe meiner Frau wird es gesagt. Sie brachte das Gedicht mit von drüben herüber, und es ist ihr eine wahre, feste Stütze in jedem Leid gewesen. Ich lachte darüber, habe es aber doch so oft von ihr und meinem Sohne gehört, daß ich es wohl auswendig kann. Es ist, als ob jener Schüler die Worte
Blicke auf dein Kind hernieder,
Das sich sehnt nach deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!
nur auf mich gedichtet hätte. Meine Frau hörte es einst unter einem Weihnachtsbaume von einem Mitschüler des Verfassers. Wir sitzen auch hier, im wilden Westen, unter dem Christbaume, und nichts gehört so zur heutigen Feier, wie dieses Gedicht. Ich werde zwar wahrscheinlich verschiedene Male stocken, aber ich denke doch, daß ich nichts auslassen werde; also will ich es jetzt – –«
»Halt, halt!« unterbrach ihn Reiter. »Ich kann es auswendig und werde keine Fehler machen. Erlauben Sie also, daß ich es deklamiere!«
Da erklang die Stimme Carpios:
»Nein, keiner von Ihnen, sondern nur ich darf das thun. Old Shatterhand will es so, und er hat das Recht, zu bestimmen, denn er ist der Dichter, und ich bin jener Mitschüler, von welchem Mr. Hiller gesprochen hat!«
Er hatte das zwar langsam und müde, aber deutlich gesagt. Reiter wollte seiner Verwunderung Worte geben; ich winkte ihm aber, still zu sein.
»Komm, lieber Sappho!« bat Carpio. »Richte mich auf und nimm mich an deine Brust! Ich weiß, daß ich jetzt zum letztenmal im Leben sprechen werde, und das sollen deine Weihnachtsworte sein!«
Ich erfüllte seinen Wunsch und hielt ihn an meinem Herzen fest. Über uns leuchteten die Sterne Gottes; vor uns brannten die Lichtreste des Christbaumes; sie waren abgebrannt und begannen, nacheinander zu erlöschen. So verlischt das Menschenleben hier im Erdenthale; aber droben am Firmamente leuchten die Wahrzeichen des ewigen Lebens weiter, und jeder Strahl von ihnen soll uns sagen, daß der Tod nichts anderes als die Pforte des Himmels, der Anfang einer herrlichen Auferstehung sei. Der Sterbende faltete die Hände und ließ sein Auge stumm auffordernd rund im Kreise gehen; er wurde verstanden, und jeder legte die Hände auch zusammen. Ein milder, frommer Gotteshauch schien durch das abgeschlossene Thal zu wehen; es lagerte rings um uns jetzt in Wahrheit das, wovon das liebe Christlied singt: eine stille Nacht, eine heilige Nacht. Mit einem seligen Lächeln auf dem todesbleichen, eingefallenen Angesicht begann Carpio:
»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!
Jubelnd tönt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern;
Weihrauch duftet auf Altären,
Beter knieen nah und fern. – –«
Er hatte laut angefangen; aber seine Stimme verlor von Strophe zu Strophe mehr von ihrer Stärke, doch hörte man bei der rundum herrschenden tiefen Stille deutlich jedes einzelne Wort. Ich sah, daß er die Augen schloß, dennoch sprach er weiter, langsamer und immer langsamer. Es klang so fremd, so sonderbar, wie aus einer andern, uns unbekannten Sphäre herüber. Ich war tief erschüttert und weinte wie ein Kind; ob auch andere weinten, sah ich nicht, weil die Thränen mir ohne Aufhören die Augen füllten. Bei der Stelle
»Und der Priester legt die Hände,
Segnend auf des Toten Haupt«
breitete er die Arme aus und fuhr mit erhobener Stimme fort:
»Selig, wer bis an das Ende
An die ew'ge Liebe glaubt!«
Damit war aber seine Kraft erschöpft, denn nun klang es leiser, immer leiser, nach und nach ersterbend:
»Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der – – Lebensquelle – – strebt
Und – – noch in der – – letzten – Stunde
Seinen – – Blick – – zum Himmel – – – –«
und das letzte Wort »hebt« verhauchte in einem fast unhörbaren Seufzer. Carpio war tot. Der Himmel hatte nicht nur seinen letzten Blick, sondern ihn selbst emporgezogen. Das letzte Licht am Baum verlöschte; es war, als ob das ganze Thal und jeder von uns stumm geworden sei. Ich hielt den Toten noch fest an der Brust. Da bog Hiller sich von seinem Platze weit herüber, legte ihm die Hand auf das niedergesunkene Haupt und vollendete mit vor Bewegung zitternder Stimme das Gedicht:
»Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Erlösungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.
Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland Jesus Christ!« – – –
Kein Licht brannte mehr am Baum, und so waren die Thränen nicht zu sehen, welche in den Augen aller glänzten, wenigstens aller Weißen, den alten Lachner abgerechnet, der sich auch jetzt nicht bei uns befand. Einer stand nach dem andern auf und ging fort, ohne ein Wort zu sagen, denn die Stelle, an welcher eine Seele von ihrem Körper scheidet, ist ein heiliger Ort, den man durch Schweigen ehrt. Ich saß allein, mit dem Toten an der Brust, bis nach langer Zeit Winnetou kam und zu mir sagte:
»Mein Bruder lege die Hülle seines armen Freundes fort; wir werden ihr morgen eine Wohnung errichten, die länger als sie bestehen wird. Der Geist ist bereits hinaufgestiegen zum großen, guten Manitou, wo ewige Bäume der Erlösung brennen, die nicht verlöschen wie dieser hier bei uns. Wir werden Feuer anzünden zu beiden Seiten des Dahingeschiedenen und bei ihm die Totenwache halten, bis der Morgen angebrochen ist. Er ging gern aus diesem Leben, und einst werden wir ihm folgen, um ihn wiederzusehen. Howgh!«
Wir bauten aus Steinen, Ästen und Zweigen einen Katafalk, über den das Bärenfell gebreitet wurde, und betteten Carpio darauf. Dann wurden rechts und links Feuer angezündet, bei deren Flackerschein Winnetou und ich dem Toten die letzte Wache hielten. Früh befahl er dann den Schoschonen, ein Grabmal zu errichten, welches seines und Old Shatterhands Freundes würdig sei.
Steine waren genug vorhanden, ein Mausoleum herzustellen, welches den wilden Tieren und dem Zahn der Zeit auf lange Jahre trotzte. Als es am Nachmittag fertig war, begruben wir Carpio in christlicher Weise. Auch die Schoschonen knieten nieder und falteten die Hände, als ich das letzte Gebet sprach. Dann wurde das Grab geschlossen, und Wagare-Tey, der junge Häuptling der Schlangenindianer, versprach mir, bei seinem nächsten Jagdzuge hierher es mit immergrünem Gesträuch zu umpflanzen. Ich bin später dort gewesen und habe mich überzeugt, daß er sein Wort gehalten hat.
Am nächsten Morgen wurde aufgebrochen. Wir waren wie Brüder untereinander, und nur die Anwesenheit des alten Lachner störte uns. Dieser Mensch machte uns außerordentlich zu schaffen. Er hatte zu gar nichts guten Willen und Geschick. Er kam in den Schneeschuhen nicht mit uns fort; wir mußten ihn schleppen und unterstützen, und weil wir für alle unsere Mühe keine freundliche Miene, kein einziges gutes Wort von ihm bekamen, war es gar kein Wunder, daß die Roten schließlich nicht allzu zart mit ihm umgingen. Es konnte weder mir noch Winnetou einfallen, sie zu größerer Rücksicht zu bewegen; er war es nicht wert. Als wir die Winterlager der Schoschonen erreichten, befand er sich in einem solchen Schwächezustande, daß er sich nicht länger aufrechthalten konnte. Er war der erste Patient, den Rost hier in Behandlung nahm. Die Indianer hätten ihn ohne Mitleid hinsterben lassen, wenn sie nicht durch die Rücksicht auf uns veranlaßt worden wären, sich wenigstens notdürftig seiner anzunehmen. Im Frühjahre ist er, wie ich später hörte, von einigen weißen Jägern nach Fort Laramie geleitet worden. Was dann aus ihm geworden ist, das weiß ich nicht. Es lag mir überhaupt nichts daran, etwas Weiteres über ihn zu erfahren.
Rost bekam von Avaht-Niah sehr gern die Erlaubnis, so lange bei den Schoschonen zu bleiben, wie er es für seine Zwecke angemessen halte. Er ist jetzt einer der angesehensten Naturärzte des Ostens und – – ein Leser meiner Reiseerzählungen. Er wird sich freuen, wenn er sich auch in diesem Bande findet, und ich bitte ihn um Verzeihung, daß ich ihn so gezeichnet habe, wie er damals war. Seine innere Stimme wird ihm inzwischen gesagt haben, daß der Kaputzenmuskel und der rautenförmige nicht die einzigen Muskeln der Menschen sind, welche Erwähnung verdienen.
Wir hatten keine Lust, bis zum Frühjahr bei den Schlangen zu bleiben, und machten uns über die Pässe hinüber, sobald das erste, durchdringende Tauwetter uns erlaubte, dies allerdings nicht geringe Wagnis mit den Pferden zu unternehmen. Es gelang. Wenn ich sage, wir, so meine ich Welley, Hiller, Sannel, Reiter, Winnetou und mich. Von da aus ging es zwar langsam aber immer weiter östlich; wir mußten der Ernährung der Pferde wegen oft sehr langen Halt machen; ihr Hauptfutter bestand aus jungen Zweigen, die aber jetzt saftlos und gefroren waren. Wenn Winnetou nicht bei uns gewesen wäre, hätten wir es nicht gewagt, den Tieren einen so weiten, winterlichen Ritt zuzutrauen; er aber wußte immer Rat. Dennoch kamen sie immer mehr herab, so daß wir ihnen erst in Fort Grattan und dann in Fort Kearney Zeit geben mußten, sich so weit zu erholen, daß wir weiter konnten.
Von dem Transporte der für Hiller bei den Schoschonen und bei den Kikatsa liegenden Felle hatte keine Rede sein können. Es war ausgemacht worden, daß sie von den Indianern im Frühjahre nach Fort Laramie gebracht und später von weißen Beamten der Händler dort abgeholt werden sollten.
Es war Anfang des März, als wir in Weston einrückten. Soll ich die Freude beschreiben, welche die glückliche Rückkehr Hillers dort hervorbrachte? Wenn ich auch wollte, ich könnte es nicht! Watter wurde bald ausfindig gemacht. Ich, der »reine Garnichts«, war dabei, als er mit Welley die Depositenscheine präsentierte und das Geld bekam. Beide traten mit Reiter und Amos Sannel zusammen, um ein großes Holzgeschäft zu gründen; das entsprach ihrem Vorleben und ihren Eigenheiten, und die Firma, aus welcher nur Sannel durch den Tod geschieden ist, steht noch heut in Flor.
Winnetou gab die Pferde in zuverlässige Pension, und nun kam endlich unsere damals beabsichtigte Reise nach dem Osten zur Ausführung. Nach meiner Trennung von ihm ging ich für einige Zeit nach Deutschland, um dann im Herbste am Tigris die Haddedihn-Beduinen und meinen treuen, braven Hadschi Halef Omar aufzusuchen. Ich hielt mich in Bremen gar nicht auf, denn das Geld, in welches ich die Nuggets Carpios umgesetzt hatte, brannte mir in den Taschen. Ich habe es ehrlich abgeliefert und Freude damit angerichtet.
Freude, ja, aber weiter nichts! Ich habe natürlich denjenigen Personen, bei denen diese Diskretion nötig war, andere Namen gegeben und brauche daher nicht zu verschweigen, daß man sich über dieses Geld freute, aber über die Leiden und den Tod meines lieben Carpio keine große Betrübnis zeigte. Er war den Herzen der Seinen fremd geworden, und als ich die Summe ausgezahlt hatte, sagte man mir höflich kalten Dank, und ich konnte gehen, ohne mit weiteren Fragen nach und über ihn belästigt zu werden. Ich hatte sogar das Gefühl, als müsse ich froh sein, daß mir nicht abverlangt worden war, mit Hilfe überzeugender Unterlagen zu beweisen, daß der Betrag nicht eigentlich ein größerer sei!
Der nächste Besuch, den ich infolge der erzählten Erlebnisse machte, war erfreulicher. Reiter hatte mich gebeten, seinem Vater persönliche Grüße zu überbringen, und ich that dies von Herzen gern. Mein alter Kantor war ein eisgraues Männchen geworden; auch die Frau Kantorin war grau, doch noch so wohlbeleibt wie früher; er sah wie eine dünne Achtelpause und sie mit ihrer breiten Flattusenhaube wie eine Viertelnote aus mit einer großen Fermate darüber. Als sie einmal in die Küche gegangen war, teilte er mir im Vertrauen mit, seit sein Sohn das entsetzlich viele Geld aus Amerika geschickt habe, sehe er erst ein, was für eine liebevolle Frau er besitze; früher habe er sich gar nicht die Zeit nehmen können, ihre wahrhaft rührende Verträglichkeit anzuerkennen. Übrigens freue er sich königlich darüber, daß ich mit seinem Sohne in Compagnie das große Goldloch gefunden habe, denn nun sei ich doch wohl auch so reich wie dieser! Daß Winnetou mir nicht mitbeschert hatte, sagte ich ihm natürlich nicht.
Und Hiller?
Er ist wieder alles, was er vor seiner Flucht nach Amerika war, alles und noch mehr, denn er hat seinen Gott wiedergefunden und mit ihm das einzig wahre Glück im Erden leben. Sein Glaube wurzelt in den harten Leiden der Vergangenheit wie eine starke Wettertanne, die ihre Wurzeln tief in die Felsenritzen senkt und darum Halt für jeden Sturm besitzt. Sein Sohn bekleidet eine hervorragende juristische Stellung. Die Frau, welche einst in der verfallenen Gebirgsmühle der Verzweiflung nahe war, die Ärmste der Armen in Hunger und Kälte, sie ist jetzt ein Engel der Bedürftigen, eine Retterin der Elenden, ein Trost für alle, die sich um Schutz und Hilfe an sie wenden, und besonders zur heiligen Weihnachtszeit sendet sie ihre Boten aus nach denen, welche »mühselig und beladen sind«, um sie zu erquicken. Dann kommen sie herbei, die Greise, die Siechen, die Armen, die Leidtragenden. Jedem klingt ein freundliches Willkommen entgegen; für jeden liegt ein Geschenk unter dem strahlenden Lichterbaume. Die köstlichste der Gaben aber, welche sie verteilt, ist die gnadenbringende Weihnachtsverkündigung, daß für alle, welche sich nach Erlösung aus der Not der Seele sehnen, der rettende Erlöser gekommen sei. Und das thut sie im Rückblick auf die eigene Not und die eigene Erlösung aus derselben niemals anders als mit den ihr teuren Worten:
»Ich verkünde große Freude
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!« – – –