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Eine Reihe von Jahren war nach dem bisher Erzählten vergangen; das Leben hatte mich in seine strenge Schule genommen und aus dem unerfahrenen Knaben einen Mann gemacht. Aber die Härte, mit welcher es mich behandelte, war eine nur scheinbare, denn ich hatte mir ja meinen Weg selbst vorgezeichnet und neben all den Anstrengungen und Entbehrungen, welche mich trafen, auch Freuden und Genugthuungen gefunden, die mir bei einem andern, ruhigeren Lebensgange versagt geblieben wären. Hatte ich doch – und das war eine der reichsten Gaben, die mir geworden sind, – meinen herrlichen, unvergleichlichen Winnetou kennen gelernt und mit ihm eine Freundschaft geschlossen, welche ich fast als einzig dastehend bezeichnen möchte. Diese Freundschaft allein wäre schon eine vollwichtige Entschädigung für alle erlittenen Mühsale und Entsagungen gewesen, aber an dem rauhen Pfade, den ich wanderte, standen auch noch andere schöne Blüten und Früchte, welche ich mir pflücken durfte. Hierzu gehörte vor allen Dingen die Liebe, welche mir von allen meinen braven Bekannten entgegengebracht wurde, während diejenigen, welche kein reines Gewissen hatten, nichts so fürchteten wie die Namen Winnetou und Old Shatterhand.
Meinen letzten Ritt hatte ich mit diesem edelsten der Indianer vom Rio Pecos aus durch Texas und das Indianer-Territorium nach dem Missouri gemacht, von welchem aus er, während ich zurückblieb, nach den Bergen ritt, um Nuggets zu holen. Da ich von vielen meiner Leser über die zwischen Winnetou und mir herrschenden Geldverhältnisse gefragt worden bin, benutze ich die jetzige Gelegenheit eine Andeutung darüber zu geben.
Man sprach und spricht noch heute sehr oft davon, daß die Indianer große Goldlager gekannt haben oder noch kennen, welche sie weder selbst ausbeuten noch den Weißen verraten. Selbst der qualvollste Tod könne sie nicht bewegen, ein solches Geheimnis mitzuteilen. Nun haben zahlreiche Schriftsteller, welche nie über den Ocean gekommen sind und von den Indianern und deren Verhältnissen überhaupt keine blasse Ahnung besitzen, diese Sage aufgegriffen und unsere Litteratur mit einer Menge von Büchern – – ja nicht etwa bereichert, in denen regelmäßig von der Entdeckung solcher verborgener Goldlager erzählt wird. Die Herren Verfasser haben sogar sehr häufig die Güte, mir ihre Machwerke mit der Bitte einzusenden, ein Vorwort dazu zu schreiben oder ihnen in sonst irgend einer Weise in Beziehung auf den »wohlverdienten« Absatz beizuspringen. Mich ekelt sehr oft schon der Titel an, und wenn ich mich trotzdem überwinde und einen Blick auf den Inhalt werfe, so dauert es gewöhnlich nur kurze Zeit, bis ich das Dings zuklappe, um es dem Verfasser wieder zuzustellen. Eigentlich sollte man solche nichtsnutzige oder gar schädliche Schreibereien gleich verbrennen dürfen, zumal sie ja meist für die Jugend bestimmt sind, ohne daß der Verfasser zu wissen scheint, daß für diese das Beste eben nur grad gut genug ist.
Ich habe eben jetzt so eine Lehrjungenarbeit zugeschickt bekommen, welche den Titel »Der König der Illoris« führt und drüben in den Felsengebirgen spielt. Nun frage ich, wo es einen Stamm dieses Namens giebt. Der Herr Verfasser, von welchem leider, leider schon mehrere Indianergeschichten für die Jugend, und noch dazu von einer hervorragenden Verlagsbuchhandlung, veröffentlicht worden sind, weiß nicht einmal, daß die Indianer nicht von Königen regiert werden, sondern sich selbst ihre Häuptlinge wählen, die sie ebenso gut wieder absetzen können. Und das ist bloß der Titel! Der Inhalt bringt ein fortwährendes Blutvergießen; jede Person, mit welcher der Verfasser nichts mehr anzufangen weiß, läßt er ermorden; da ist er sie doch los. Die Namen sollen indianische sein, kommen aber in keiner einzigen Sprache der Erde vor, weil er sie alle erfunden hat. Was von dieser Erzählung verdaulich ist, hat er mir nachgemacht. Er bringt genau eine so innige Freundschaft, wie zwischen Winnetou und mir herrschte, ferner meinen Jagdhieb, meinen Henrystutzen, meinen Hengst, natürlich aber unter anderen Namen; ebenso kommen Doppelgänger von Old Firehand, Sam Hawkens, Dick Stone, Bill Bulcher, den beiden Toasts u.s.w. vor; aber alles, was er von ihnen erzählt, hat oder hätte da drüben in den Felsenbergen ganz unmöglich geschehen können. Er besitzt auch nicht eine Spur von Kenntnis der dortigen Verhältnisse und spricht von ihnen in der Weise, in welcher ein Kaffer etwa über das Parallelogramm der Kräfte oder die Absorption des Sternenlichtes sprechen würde, falls er gezwungen wäre, zu verschweigen, daß er überhaupt nichts davon weiß. Daß ein solches Buch keinen Nutzen sondern nur Schaden bringen kann, versteht sich ganz von selbst, dennoch kann ich nur meine Empfehlung verweigern, habe aber keine Macht, den Druck desselben zu verhindern. Der Verleger ist zwar in Beziehung seiner Kenntnisse über die Indianer ebenso ein Idiot wie der Verfasser, aber ein gewandter Geschäftsmann und wird Tausende von Exemplaren verkaufen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, daß er den wohlberechtigten Wissensdurst der Jugend benutzt hat, sein ungesundes Mischmasch zu teurem Preise an den Mann zu bringen.
Natürlich behandelt auch dieses Werk einen armen Indianer, welcher ein ungeheures Goldlager kennt und dem man mit geradezu scheußlichen Martern so lange zusetzt, bis er sein Geheimnis verrät. Ich sage, wenn derartige Kenntnisse so häufig wären, wie solche Erzählungen es den Lesern weismachen wollen, so würde es nicht Tausende und Abertausende von armen, roten Männern geben, welche, hungernd und frierend, ihre Blöße kaum bedecken können und als körperlich und moralisch heruntergekommene Bettler und Vagabunden vor den Thüren derer herumstreichen, von denen sie um alles, was sie früher besaßen, gebracht worden sind.
Damit soll freilich nicht gesagt werden, daß die Kunde von Indianern, welche solche Geheimnisse gekannt haben, in allen Fällen eine Unwahrheit gewesen ist. Oh nein; ich selbst habe ja auch Rote gekannt, und zu diesen gehörte mein Winnetou, welche, wenn sie Gold brauchten, genau wußten, wo sie es zu holen hatten; aber das waren nicht gewöhnliche Männer, sondern sie gehörten alten, hervorragenden Familien an, in denen derartige Geheimnisse vom Vater auf den Sohn vererbten und niemals einem andern Familien- oder Stammesmitgliede, am allerwenigsten aber einem Weißen mitgeteilt wurden. Man muß nämlich wissen, daß der Sinn für Familienangehörigkeit, also der Stolz auf eine ungewöhnliche Abkunft, dem Indianer nicht etwa etwas Unbekanntes ist. Dieser Sinn wird ihnen allerdings sehr häufig abgesprochen; aber wer das thut, verrät dadurch nur seine Unkenntnis und plappert gedankenlos Behauptungen nach, welche von den Unterdrückern der roten Rasse vorgebracht worden sind, um ihr grausames Vergehen in einem weniger verwerflichen Lichte erscheinen zu lassen. Es giebt unter den roten Stämmen berühmte Familien, denen anzugehören eine große Ehre ist. Daran kann der Umstand, daß die Indianer sonst keine Familiennamen besitzen, gar nichts ändern. Es ist da bei ihnen genau so wie z. B. bei gewissen Völkern des Altertumes und des heutigen Orientes, die auch keine Familiennamen kannten oder kennen und doch Familien aufzuweisen haben, welche sogar weltgeschichtlich berühmt geworden sind.
Winnetou konnte eine ganze, lange Reihe berühmter Vorfahren aufzählen, welche alle Häuptlinge gewesen waren. Er kannte ihre Wirksamkeit und jede einzelne ihrer Thaten und hatte von ihnen die Kunde von Placers überkommen, über welche ihn selbst die ausgesuchtesten Martern nicht hätten zum Reden bringen können. Ich war der einzige Mensch, dem er, aber auch nur höchst selten und dann ganz, ganz von weitem, eine leise Andeutung darüber machte. Dazu kam, daß sein überhaupt so unvergleichlich scharfes und geübtes Auge einen ungewöhnlichen Blick für Fundorte edlen Metalles besaß. Ich wußte, daß er auf seinen vielen Wanderungen von einem Stamme zum andern selbst auch Stellen entdeckt hatte, wo Gold oder Silber zu finden war. Er hatte dann oft tage-, ja wochenlang zugebracht, diese Orte unzugänglich zu machen oder wenigstens so zu verbergen, daß ein anderer sich lange Zeit in unmittelbarer Nähe befinden konnte, ohne zu ahnen, daß er an einer Quelle großen Reichtums sitze.
Solche Stellen waren es, die er aufsuchte, wenn er einmal in die Lage kam, Geld zu brauchen. Im wilden Westen war dies nie der Fall, denn da schoß er sich unterwegs das Fleisch, welches er zur Nahrung brauchte, und konnte darauf rechnen, in jedem befreundeten Lager oder Zelte mit Freuden als Gast aufgenommen zu werden. Aber wenn er ein Fort oder eine sonstige Niederlassung aufsuchen mußte, um Munition zu kaufen, oder wenn er eine weitere Reise nach den »civilisierten« Gegenden unternahm, dann brauchte er Geld, und da versah er sich vorher stets mit einem Vorrate von Nuggets, welche er gegen geprägte Münze oder »mit Zahlen versehenes Papier« umtauschte.
Daß dann seine Kasse, wenn ich bei ihm war, auch für mich offen stand, brauche ich eigentlich nicht erst zu sagen; aber es kam das nicht sehr häufig vor, denn ich gehöre nicht zu der Art von Menschen, für welche es eine Freundschaft nur giebt, um angezapft zu werden. In der Not um Geld würde ich mich nur an Fremde, nie aber an einen Freund wenden, denn ich weiß aus Erfahrung, welche ich an andern, sonst ganz guten Menschen machte, daß das Borgen ein wahrer Freundschaftsmörder ist. Man sage mir dagegen, was man will, ich behaupte doch: Es sei mir jemand noch so wohlgesinnt, er fühle eine noch so große Hochachtung für mich und er sei von meiner Zahlungsfähigkeit auch noch so felsenfest überzeugt, sobald ich mir hundert oder fünfzig oder auch nur zwanzig Mark von ihm borge, fällt ein wenn auch noch so kleiner Tropfen auf die schönen Schwingen unserer Freundschaft und nimmt, wenn auch nur einige der glänzenden Schuppen weg – – der Schmetterling ist von jetzt an lädiert. Die wahre Freundschaft ist zum größten Opfer, die zwischen Winnetou und mir war sogar zum Opfer des Lebens bereit; diese Opferbereitschaft ist etwas Hohes, Heiliges, das Borgen aber etwas so Alltägliches, Niedriges, trivial Materielles, daß es zwischen Freunden vermieden werden und nur – – zwischen zwei blutarmen Gymnasiasten und dem lieben Franzl in Falkenau vorkommen sollte!
Zwar, wenn Winnetou für mich bezahlte, war das kein Borgen zu nennen, und er hatte die Nuggets umsonst; aber auch dieses Wort »bezahlen« hat, wenn es für einen andern, und sei dieser der beste Freund, geschieht, einen andern Klang als wenn man für sich selbst bezahlt. Hätte er mich mit an das Placer genommen und mir erlaubt, soviel Nuggets, wie ich brauchte, einzustecken, dann ja, gut! Aber was er in seiner Tasche hatte, das waren für mich nicht mehr herrenlose Nuggets, sondern das war sein Gold, sein Geld, und wenn er das für mich ausgab, so hatte ich immer das Gefühl, als dürfe ich nicht mit dabei sein, als müsse ich hinausgehen, um es nicht zu sehen. Und dieses Gefühl war es, welches mich dafür sorgen ließ, von seinen Nuggets möglichst unabhängig zu sein.
Sobald wir nämlich in eine bewohnte Gegend kamen, welche Postverbindung hatte, verwandelte ich mich aus dem Westmanne in den Schriftsteller. Meine Arbeiten wurden von jeder Zeitung gern aufgenommen und meist sofort und gut bezahlt. Diese Honorare waren es, welche mir meine Unabhängigkeit ermöglichten, und diese Zeitungsbeiträge sind es, welche den Reiseerzählungen zu Grunde liegen, mit denen ich seit einiger Zeit vor meine Leser getreten bin. Winnetou fühlte genau wie ich. Es ist ihm nie eingefallen, mir auch nur die geringste Andeutung darüber zu machen, daß dieses Schreiben für Honorar doch ganz überflüssig sei. Er hat sogar oft, wenn die Bezahlung nicht gleich eintreffen wollte, mit mir obgleich wir eigentlich keine Zeit dazu hatten, geduldig gewartet, bis sie kam, und sich dann ebenso darüber gefreut, als ob er selbst der Verfasser, und zwar ein mittelloser Verfasser sei. Ich erinnere mich noch heut mit Vergnügen einer Zurechtweisung, die ein reicher Pflanzer, dessen Knaben ich aus dem Missisippi gezogen hatte, von ihm erfuhr. Dieser Mann wollte, weil er mich wegen meines abgetragenen Prairieanzuges für einen armen Teufel hielt, mich mit einer Geldsumme belohnen; Winnetou aber trat sofort zwischen ihn und mich, blitzte ihn mit seinen Augen zornig an und sagte:
»Kann man das Leben eines Menschen mit Geld bezahlen? Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen, und dieser Gentleman ist Old Shatterhand, mein Freund. Er könnte Millionen besitzen, wenn er sie von mir annähme; er mag sie aber nicht. Und du willst ihm diese armseligen Dollars schenken? Stecke sie ein; du brauchst sie selbst!« –
Also ich war mit Winnetou an den Missouri gekommen, und zwar nach St. Joseph, wo es damals fünf Zeitungen, darunter eine deutsche, gab und die Verbindung mit St. Louis, respektive den Redakteuren der dortigen Zeitungen, eine so gute war, daß ich auf Erfüllung meiner schriftstellerischen Wünsche nicht lange zu warten brauchte. Winnetou hatte sich da von mir getrennt, um, wie bereits gesagt, Nuggets zu holen, denn wir hatten die Absicht, über den Missisippi nach dem Osten zu gehen, wozu wir natürlich Geld brauchten. Das Ziel des Häuptlings kannte ich nicht; er hatte nur gesagt, daß er sich nach Verlauf von zwei Wochen wieder bei mir einstellen werde.
St. Joseph war damals der westliche Endpunkt der Hannibal-St. Joseph-Eisenbahn und hatte unter seinen 7ooo Einwohnern ungefähr 2ooo Deutsche. Es bedurfte nur der kurzen Benachrichtigung, daß Old Shatterhand da sei, so kamen die Besitzer der Newspapers, um Beiträge von mir zu verlangen. Ich befriedigte sie alle binnen drei Tagen und konnte mir von dem erhaltenen Honorare einen feinen Anzug und Wäsche für unsere Reise nach dem Osten kaufen. Diesen Anzug nahm ich natürlich sogleich in Gebrauch, denn mein Habit aus Elkleder war mir während des Schreibens zu schwer und unbequem. Dann schrieb ich für St. Louis und erbat mir die Honorare nach Weston, wohin ich fahren wollte, um mir dort bis zu Winnetous Rückkehr auch etwas zu verdienen.
Diese Stadt, deren Einwohner zum dritten Teile Deutsche waren, liegt in einer kulturell sehr reichen Gegend und hatte sich durch die Emigrantenzüge sehr gehoben. Sie besaß damals, glaube ich, fünf Kirchen, darunter zwei deutsche. Die Deutschen befanden sich in den besten Verhältnissen und hatten mehrere Vereine, sogar eine Jägerkompagnie gegründet.
In St. Joseph war ich keine Viertelstunde lang mein eigener Herr. Es regnete förmlich Einladungen, und da ich diesen, um lieber zu arbeiten, nicht folgte, so kamen die Leute zu mir, um mich zur Schilderung unsers Lebens im Wildwest aufzufordern. Das paßte mir natürlich nicht, und damit es mir in Weston nicht ebenso ergehen möge, nahm ich mir vor, dort meinen Namen zu verschweigen. Und weil mein Pferd, dessen Beschreibung überall bekannt war, mich hätte verraten können, gab ich es einem Farmer in Pflege und fuhr mit einem Missouriboote von St. Joseph ab, nachdem ich nur meinen Wirt ins Vertrauen gezogen und ihm gesagt hatte, wo ich vorkommenden Falls zu finden sei.
Ich muß sagen, daß ich seit langer Zeit nicht so anständig ausgesehen hatte wie jetzt in meinem neuen Habitus. Das Pferd hatte ich zurückgelassen, die Waffen, den Patronengürtel und alle andern Ausrüstungsgegenstände gut verpackt, und so konnte man mich wohl eher für alles andere als für einen Westmann halten, der sich soeben erst mit Lebensgefahr durch das Gebiet der feindlichen Komantschen und Kiowas geschlichen hatte.
Als ich mich, in Weston angekommen, nach einer guten Logiergelegenheit erkundigte, wurde ich in ein Hotel gewiesen, welches zwar nur nach westlichen Anschauungen diese Bezeichnung verdiente, aber für mich, den anspruchslosen Mann, ganz genügend war. Ich verlangte vor allen Dingen Sauberkeit, und die fand ich hier, so daß ich beschloß, so lange da zu wohnen, wie ich überhaupt in Weston blieb.
Der Wirt war ein Deutscher, die Wirtin eine freundliche, vor Reinlichkeit glänzende Frau, und auch der Oberkellner redete mich, als ich in das Gastzimmer trat, in deutscher Sprache an; er wurde Oberkellner genannt, obgleich es keinen Unterkellner gab.
Dieser junge, vielleicht achtundzwanzigjährige Mann war ein außerordentlich schmächtiger und fast zu kleiner Mensch, denn er reichte mir nur bis an die Schulter, befand sich aber im Besitze eines desto größeren und außerordentlichen Schnurrbartes, auf den er große Stücke zu halten schien, weil er, wenn er nichts anderes zu thun hatte, ihn keinen Augenblick aus den Händen ließ. Nachdem ich von ihm bedient worden war, kehrte er zu der Zeitung zurück, bei der er vorher gesessen hatte, und während er las, hörte er nicht auf, den Bart nach rechts und links zu streichen. Plötzlich stieß er einen lauten Ruf der Überraschung aus, sprang auf und sagte zu dem Wirte, welcher rauchend und mich still beobachtend in meiner Nähe saß:
»Mylord, ich muß Sie sofort für heut und morgen um Urlaub bitten!«
Daß ein Kellner seinen Prinzipal mit Mylord antituliert, das hatte ich noch nicht gehört. War das hier im Hause so gebräuchlich, oder geschah es von dem kleinen Manne aus gewohnter, übertriebener Höflichkeit?
»Urlaub heut?« fragte der Wirt. »Sind Sie des Teufels? Urlaub, wo die Jäger heut ihr Stiftungsfest feiern und bei uns große Festtafel mit Ball ist!«
»Thut mir leid, Mylord,« äußerte sich der Kleine mit einer tiefen, bedauernden Verbeugung. »Ich bin bereit, Ihnen, hochverehrtester Herr, jedes Opfer zu bringen, nur dieses nicht. Ich muß nämlich mit ihm sprechen!«
»Mit wem?«
»Mit Old Shatterhand.«
»Was? Wie?« rief der Wirt. »Old Shatterhand? Ist er etwa hier in Weston?«
»Nein, aber in St. Joseph oben.«
»Wissen Sie das?«
»Ja. Hier steht es in der Zeitung zu lesen. Er ist vor einigen Tagen dort angekommen und hat sogleich einen Beitrag geliefert, welcher morgen erscheinen wird.«
Ah, der pfiffige Herausgeber des Blattes machte das Publikum auf meinen Aufsatz aufmerksam, um möglichst viele Exemplare zu verkaufen! Die amerikanischen Zeitungen sind bekanntlich weniger auf die Abonnenten als vielmehr auf den Verkauf angewiesen.
»Und da wollen Sie nach St. Joseph fahren?« fragte der Wirt.
»Ja.«
»Wissen Sie denn, wo er logiert?«
»Nein, aber ich werde es sehr leicht erfahren.«
»Sie werden es nicht erfahren!«
»Warum?«
»Weil Sie sich gar nicht danach erkundigen werden, denn ich kann Ihnen die Erlaubnis zu der Reise nach St. Joseph heut nicht geben.«
Da machte der Kellner dieselbe tiefe Verbeugung wieder und antwortete:
»Ich kenne nicht nur meine Pflicht, Mylord, sondern ich widme Ihnen auch die größte Hochachtung, deren mein Herz fähig ist, aber dennoch muß ich Ihnen durch die Mitteilung leid thun, daß ich diese Reise unbedingt machen muß.«
»Aber doch nicht gleich heute!«
»Allerdings gleich heute, denn morgen könnte Old Shatterhand nicht mehr zu haben sein.«
»Aber Sie müssen doch einsehen, daß Sie mich in die größte Verlegenheit bringen, wenn Sie grad heut fortgehen.«
»Das weiß ich freilich, kann es aber beim besten Willen nicht ändern. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nach dem Westen muß, und Sie darauf vorbereitet, daß mir jede Gelegenheit, diesen Vorsatz auszuführen, höher steht, als der Dienst in Ihrem Hotel.«
»Aber was hat das mit Old Shatterhand zu thun?«
»Bitte gehorsamst, diese Frage doch lieber nicht zu thun, weil sie sich ganz von selbst beantwortet. Ich werde Old Shatterhand bitten, mich mit nach dem Westen zu nehmen.«
»Wissen Sie denn, daß er dorthin will?«
»Ja. Wohin sollte er sonst wollen? Ein Westmann wie er gehört doch nach dem Westen!«
»Er kann doch auch von dort kommen!«
»Nein. Gestatten Sie, daß eine innere Stimme mir sagt, daß er nicht aus dem Westen kommt, sondern im Begriff steht, dorthin zu gehen! Eine bessere, eine vortrefflichere Gelegenheit, meinen Vorsatz auszuführen, kann ich ja niemals finden!«
»Aber eine bessere Gelegenheit, sich hier bei mir nützlich zu machen und Geld zu verdienen, haben Sie auch noch nicht gehabt!«
»Meine Absicht steht mir höher als alles Geld!«
»Und Sie denken, daß Old Shatterhand Sie mitnehmen werde?«
»Ich bin überzeugt davon.«
»Mann, bilden Sie sich das nicht ein!«
»Warum?«
»Old Shatterhand wird sich hüten, sich mit Ihnen abzugeben. Man weiß ja, daß er am liebsten mit Winnetou allein ist und es so viel wie möglich vermeidet, daß sich andere an ihn hängen. Er pflegt da nur mit Leuten von Ruf eine Ausnahme zu machen.«
»Er wird sie auch mit mir machen.«
»Mit Ihnen, der Sie gar kein Westmann sind?!«
»Ja.«
»Das bezweifle ich.«
»Gestatten Sie, daß mir meine innere Stimme sagt, daß er diese Ausnahme mit mir machen wird!«
»Wird sich hüten! Ich sage Ihnen im voraus, daß Ihre Reise nach St. Joseph vollständig umsonst sein wird. Ich begreife überhaupt nicht, daß Sie auf den Westen so versessen sind. Sie haben es doch bei mir so gut, wie Sie es sich nur wünschen können, und verdienen genug, um in absehbarer Zeit daran denken zu können, sich selbständig zu machen!«
Der Kellner verbeugte sich jetzt zweimal anstatt einmal und antwortete:
»Ich habe allerdings die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich meinen Platz für einen so vorzüglichen halte, daß ich ihn nicht aufgeben würde, wenn mich mein Beruf nicht geradezu zwänge, den Westen aufzusuchen.«
»Ach was, Beruf!« sagte der Wirt, jetzt unwillig. »Der Teufel hat den Beruf, nach den ›finstern und blutigen Gründen‹ zu gehen, um sich dort langsam abmorxen zu lassen, aber nicht Sie!«
»Ich bitte inständigst, Mylord, haben Sie doch die Gewogenheit, diese Ansicht ja nicht festzuhalten. Wenn ein Mensch den Beruf in sich fühlt, diese Richtung einzuschlagen, so bin ich es. Das habe ich die Ehre gehabt, Ihnen schon des öfteren auseinander zu setzen, leider aber immer ohne den gewünschten Erfolg.«
»Sie werden diesen Erfolg auch niemals bei mir haben! Wie oft sagte ich Ihnen doch schon, daß Ihnen hier in Weston eine Zukunft offen steht. Sie sind ein belesener und gewandter, dazu ein sparsamer, junger Mann, und unsere Stadt blüht einer Zukunft entgegen. Wie lange wird es dauern, so können Sie sich hier selbständig machen!«
»Dazu gehört mehr Geld, als ich habe!«
»Nein, denn Sie besitzen Kredit, und auch ich würde Ihnen gern behilflich sein, hier ein Hotel, einen Saloon oder etwas derartiges zu eröffnen, denn es ist mir lieber, Sie zum Konkurrenten zu haben als einen andern, der fremd herkommt und keine Rücksicht gegen mich zu nehmen braucht. Das habe ich Ihnen schon oft gesagt, doch aber immer leider ohne Erfolg.«
»Diese Güte, welche Sie mir erweisen, Mylord, kann keinen Erfolg haben, weil mein Beruf ein anderer als der eines Wirtes ist.«
»Sprechen Sie doch nicht von Beruf! Was Geld einbringt, das ist Beruf!«
»Ich werde, wenn ich einst mit erweiterten Kenntnissen und Erfahrungen aus dem Westen zurückkehre, mehr Geld machen, als ich in Ihrem Fache jemals machen würde; das weiß ich genau. Ein Mann, welcher den großen, vorderen, gekerbten Muskel so gut von dem Kaputzenmuskel zu unterscheiden versteht, wie ich das gelernt habe, der hat andere Ziele vor Augen als das, durch den Verkauf von Spirituosen ein reicher Mann zu werden.«
»Von Ihrer Muskelei verstehe ich nichts; ich weiß nur, daß ich Sie heut unmöglich entbehren kann. Fahren Sie doch morgen, wenn der Ball vorüber ist!«
»Das geht nicht, denn da könnte Old Shatterhand schon nicht mehr in St. Joseph sein.«
»Fragen Sie doch telegraphisch bei ihm an!«
»Ich weiß nicht, wo er wohnt!«
»Man wird ihn finden!«
»Davon bin ich überzeugt, aber selber ist der Mann! Er könnte leicht auf den Gedanken kommen, mich durch eine abweisende Antwort von sich abzuschütteln. Ich muß selbst hin.«
Da bat auch die Wirtin den Kellner, doch noch bis morgen zu warten. Sie stellte ihm vor, daß man ihn heut doch unmöglich missen könne, doch waren auch ihre Bemühungen umsonst; er antwortete in der höflichsten Weise, nannte sie Mylady und machte eine Verbeugung nach der andern, ließ sich aber von seinem Vorsatze, die Fahrt nach St. Joseph heut zu machen, nicht abbringen. Dieser junge, energische Mann war mir trotz des drolligen Anfluges, den er hatte, sympathisch. Was er eigentlich war und was er im wilden Westen suchte, das wußte ich nicht. Die Erwähnung der beiden Muskel ließ vermuten, daß er ein Beflissener der löblichen Arzneikunst sei. In Amerika kann auch ein Mediziner leicht dazu kommen, vorübergehend die Rolle eines Kellners zu übernehmen. Um der Verlegenheit des Wirtes zu Hilfe zu kommen, mischte ich mich in das Gespräch:
»Erlauben die Herren eine Bemerkung! Die Reise nach St. Joseph würde resultatlos sein, denn Old Shatterhand ist nicht mehr dort.«
»Nicht? Nicht? Wissen Sie das genau? Wer hat es Ihnen gesagt?« fragten beide durcheinander.
»Ich weiß es genau, denn ich habe es von ihm selbst erfahren,« antwortete ich.
Im Nu saßen sie rechts und links zu meinen beiden Seiten, und der Wirt erkundigte sich:
»Sie haben also mit ihm selbst gesprochen?«
»Ja. Ich komme von St. Joseph.«
»Das ist interessant, im höchsten Grade interessant! Man sagt, daß er ein Deutscher sei. Wissen Sie vielleicht, ob dies wahr ist?«
»Es ist wahr.«
»Das freut mich; das freut mich ungemein! Ich bin nämlich ein so guter Deutscher, wie es drüben im alten Lande nur irgend einen geben kann. Wissen Sie, woher er stammt?«
»Ich habe ihn nicht darnach gefragt.«
»Freilich! Solchen Mann darf man nicht aushorchen wie andere Leute. Also er ist nicht mehr in St. Joseph? Wohin ist er denn?«
»Das weiß wahrscheinlich niemand außer er selbst.«
»Das ist unangenehm, höchst unangenehm!« rief der Kellner. »Ich hätte sonst was drum gegeben, wenn ich hätte mit ihm sprechen können!«
»Was das betrifft, so kann ich Sie beruhigen. Er hat nämlich nur einen Ausflug vor und will wiederkommen.«
»Wirklich? Wirklich? Wann denn, wann?«
»Das ist noch unbestimmt. Er scheint Winnetou in St. Joseph erwarten zu müssen.«
»Winnetou? Der kommt auch? Das ist ja alles, was ich mir nur wünschen kann! Ich werde beide sehen, beide, Old Shatterhand und Winnetou! Bitte, haben Sie die freundliche Gewogenheit, uns zu sagen, was für ein Mann er ist, wie lang, wie breit, was für Augen, welchen Bart, wie gekleidet, sodann Haltung, Gang, Stimme und – –«
»Halten Sie ein, halten Sie ein!« fiel ich ihm lachend in die Rede. »Wer kann sich alle diese Fragen merken!«
»Richtig! Ich bin zu hastig gewesen!«
Er erhob sich, machte mir eine tiefe Verbeugung und fuhr fort:
»Gestatten Sie, Mylord, daß ich meine Fragen einzeln vorlege. Wie hoch ist er?«
»So hoch wie ich.«
»Wie breit?«
»Auch wie ich.«
»Hm! Gestatten Sie, daß eine innere Stimme mir immer gesagt hat, daß er viel höher und viel breiter sei! Wie ist seine Haltung?«
»Aufrecht.«
»Sein Gang?«
»Wenn er läuft, geht er mit zwei, wenn er aber reitet, mit sechs Beinen.«
»Oh, bitte, bitte, nicht solche Scherze! Ich zolle diesem Manne Gefühle, welche jeden Witz ausschließen. Was hat er für einen Bart?«
»Schnurrbart und Fliege.«
»Also auch wie Sie. Kleidung?«
»Trapperanzug aus Elkleder.«
»Mit Menschenhaar?«
»Nein, sondern mit roten Lederfransen.«
»Ja. Man weiß, daß er es nicht liebt, sich wie eine Rothaut mit barbarischen Siegeszeichen zu schmücken. Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
»Worüber?«
»Über Verschiedenes.«
»Hat er Ihnen von seinen Erlebnissen erzählt?«
»Nein. Aber ich habe mit ihm gegessen und getrunken, mich mit ihm rasieren lassen, in seiner Stube mit ihm geschrieben, bin mit ihm ausgegangen und habe sogar sein Waschbecken, seine Seife und sein Handtuch mit benutzt.«
»Was Sie sagen, Mylord! Das ist ja ein intimer, ein höchst intimer Verkehr gewesen, um den ich Sie beneide!«
Er stand wieder auf, verneigte sich vor mir und fuhr fort:
»Hoffentlich haben Sie die Güte, mir noch mehr über ihn zu sagen. Ich freue mich herzlich darüber, daß Sie hier bei uns wohnen wollen, und es soll mir eine hochgeschätzte Ehre sein, Sie so zu bedienen, wie ein so intimer Bekannter Old Shatterhands es verlangen kann. Kommen Sie vielleicht wieder mit ihm zusammen?«
»Ja.«
»Bitte, wann?«
»Ich werde der erste sein, der seine Rückkehr nach St. Joseph erfährt.«
»Und so lange bleiben Sie hier?«
»Ja.«
»Dann ersuche ich Sie inständigst, mich mitzunehmen und ihm vorzustellen! Wollen Sie das thun, Mylord?«
»Hm! Er ist kein Freund von neuen Bekanntschaften, und ich weiß, daß er grad jetzt mit Winnetou allein reisen will.«
»Vielleicht überlegt er sich das doch noch anders, wenn er mir Gehör geschenkt hat. Stellen Sie mich ihm nur vor, damit ich mit ihm sprechen kann!«
»Ich weiß nicht, ob es ihm lieb sein wird, wenn ich Ihnen diese Bitte erfülle. Ich habe vorhin gehört, daß Sie den Wunsch haben, sich ihm anzuschließen, gebe Ihnen aber zu bedenken, daß er kein Fremdenführer ist.«
»Was sagen Sie, was denken Sie, Mylord! Ich weiß sehr genau, was ich von ihm zu halten habe. Ich weiß, daß hundert verdiente Westmänner es für die größte Ehre halten würden, sich ihm und Winnetou wenn auch nur für ganz kurze Zeit anschließen zu dürfen, und ich bin nichts weniger als ein Westmann; aber wenn er hört, was ich will, so wird er mich vielleicht nicht von sich weisen.«
»Nun, was wollen Sie denn von ihm? Ich frage nicht aus Neugierde, sondern weil ich, wenn ich Sie ihm vorstellen soll, doch wissen möchte, in welcher Absicht Sie dies wünschen.«
Da stand er abermals auf, verbeugte sich und sagte:
»Gestatten Sie, Mylord, daß ich Sie über meine Person genügend unterrichte. Ich heiße Hermann Rost, bin ein Deutscher und meines Zeichens eigentlich ein Barbier. Mein Ideal war, Medizin zu studieren, aber meine Eltern waren zu arm dazu; darum wählte ich den erwähnten Beruf, den man doch vielleicht eine Vorstufe zu dem Ziele, nach welchem ich strebe, nennen kann. Ich habe dieses Ziel während meiner Lehrlings- und Gehilfenzeit stets vor Augen gehabt und stets fleißig gearbeitet. Zwei Gymnasiasten, welche bei meinem Prinzipal logierten, interessierten sich für mich und unterstützten mich im Latein, welches ich jetzt wenigstens soweit kenne, wie ein Arzt es beherrschen muß. Ich verwendete alle meine geringen Ersparnisse dazu, mir die einschlägigen Werke zu kaufen, und habe alle meine freie Zeit darauf verwendet, mir ihren Inhalt zu eigen zu machen. An den Besuch einer Universität konnte ich natürlich nicht denken; dazu fehlten mir die geistigen und auch die andern Mittel. Wenn ich überhaupt an eine Hochschule denken durfte, so konnte das nur eine amerikanische sein. Ich ging also nach Hamburg und nahm, um nicht zahlen zu brauchen, Arbeit auf einem nach New York bestimmten Segelschiffe. Dort angekommen, wurde ich wieder Barbier, doch mit dem Unterschiede, daß es mir gelang, nebenbei das Columbia-Colleg zu besuchen. Ich will Sie, Mylord, nicht mit einer langen Erzählung belästigen; es genügt, zu sagen, daß ich vor einem halben Jahre die St. Louis-Universität mit guten Zeugnissen verlassen habe.«
Als er jetzt eine Pause machte, reichte ich ihm die Hand und sagte:
»Das ist aller Ehren wert, Herr Doktor. Ich gestehe Ihnen, daß ich Ihnen meine Achtung zolle. Aber wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, hier Kellner zu werden?«
»Sie finden das sonderbar, aber für Amerika ist das gar nichts Außergewöhnliches. Ich bin Mediziner, mag aber von Medizin, wie sie von unsern Ärzten verordnet und gegeben wird, nichts wissen. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß der kranke Körper, wenn er überhaupt noch Lebensfähigkeit besitzt, keine fremden, wohl gar giftigen Stoffe in sich aufzunehmen braucht, um wieder gesund zu werden. Die durch die Krankheiten verursachten Störungen im menschlichen Körper müssen durch die Natur selbst wieder ausgeglichen werden, wobei ich aber keineswegs behaupte, daß diese Ansicht auf alle Krankheiten und auf alle Arzneimittel anzuwenden sei. Ich habe mir vorgenommen, auf diesem Wege weiter zugehen, und bin der Meinung, daß die sogenannten wilden Völker, weil auf die Natur angewiesen, Anhänger meiner Überzeugung sind. Darum entstand in mir der Gedanke, nach dem Westen zu gehen, um bei irgend einem Indianerstamme meine Studien zu machen. Die Mittel zur Ausrüstung besaß ich zwar nicht, aber ich machte mich doch auf den Weg und kam bis hierher, wo ich diese Stelle annahm, um Geld zu verdienen und eine passende Gelegenheit nach dem Westen abzuwarten. Heut las ich, daß Old Shatterhand in St. Joseph sei, und faßte sofort den Entschluß, mich an ihn zu wenden. Vielleicht nimmt er mich mit, und wenn nicht, so bedarf es nur einer Empfehlung von ihm oder Winnetou an einen ihnen befreundeten Stamm, um mich einer guten Aufnahme dort sicher sein zu lassen. Was sagen Sie dazu, Mylord?«
»Ich betrachte Sie jetzt allerdings mit andern Augen als vorhin, wo ich Sie, der ich Sie nur für einen Kellner hielt, sagen hörte, daß Sie Old Shatterhand bitten wollten, Sie mitzunehmen. Ich war überzeugt, daß dieser Wunsch Ihnen nicht in Erfüllung gehen werde, zumal ich weiß, daß er mit Winnetou jetzt nicht nach dem Westen, sondern nach dem Osten gehen wird.«
»Nach Osten? Wie bedaure ich das!«
»Suchen Sie ihn trotzdem auf! Er wird Ihnen wenigstens seinen Rat nicht vorenthalten, und wenn Winnetou damit einverstanden ist, halte ich es nicht für unmöglich, daß Sie von ihnen eine Empfehlung in Gestalt eines Totem für einen ihnen befreundeten Häuptling bekommen. Am besten wäre es, Sie erbäten sich ein Totem für einen der Winnetou untergebenen Apatschenstämme. Da könnten Sie nicht nur einer guten Aufnahme, sondern auch aller möglichen Unterstützungen und Auskünfte sicher sein. Das ist so meine Ansicht; was Old Shatterhand dazu oder darüber sagen wird, das ist freilich eine andere Sache.«
»Aber Sie kennen ihn. Er hat Ihnen sogar erlaubt, Ihre Hände mit ihm in dasselbe Waschbecken zu tauchen; er würde also einen Wunsch von Ihnen nicht ganz unberücksichtigt lassen. Würden Sie, Mylord, vielleicht die große Güte haben, mir ein Empfehlungsschreiben an ihn mit nach St. Joseph zu geben?«
»Warum nicht? Ich bin gern bereit, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, kann Ihnen aber nicht versprechen, daß dieses Schreiben auch wirklich den beabsichtigten Erfolg haben wird.«
Da stand er auf, verbeugte sich dreimal, und zwar tiefer als vorher, und sagte:
»Ergebensten Dank, Mylord! Der Erfolg wird nicht auf sich warten lassen. Gestatten Sie, daß mir eine innere Stimme sagt, daß ich auf jeden Fall ein Totem bekommen werde. Sie meinen also, ein solches für einen Apatschenstamm würde am vorteilhaftesten sein?«
»Ja. Freilich hätten Sie dann von hier aus eine größere und gefährlichere Reise, als wenn Sie sich nördlicher wohnenden Indianern anschließen wollten. Das bringt mich auf die Frage, wie es mit Ihren Fähigkeiten bezüglich einer solchen Reise und eines Aufenthaltes in der Wildnis steht.«
»Oh, was das betrifft, so bin ich gesund, ausdauernd und habe gelernt, ein Pferd zu regieren. Da ich meinen Zweck bei allem, was ich that, im Auge behielt, habe ich mich während meines Aufenthaltes in St. Louis sehr fleißig im Gebrauch der Waffen geübt. Ich bin zwar kein Prairiemann, darf aber sagen, daß ich unter zehn Schüssen sechs- oder siebenmal das Schwarze treffe.«
»Das ist allerdings ganz hübsch, aber wenn man einen guten Westmann erzählen hört, erfährt man freilich, daß Scheibenschüsse, und wenn auch hundertmal ins Schwarze, einem richtigen Savannenläufer gar nicht imponieren können.«
Wir wurden jetzt gestört, denn der Kellner hatte einen jetzt eben eingetretenen neuen Gast zu bedienen. Dieser war einem Geistlichen ähnlich ganz schwarz gekleidet und glatt rasiert und hatte einen kleinen Handkoffer bei sich. Er gab sich ein frommes, würdevolles Aussehen, zu welchem aber, wie ich nicht jetzt gleich sondern später erst bemerkte, sein unstäter und ruhelos umherforschender Blick nicht recht passen wollte.
»Ah, der Prayer-man,« sagte der Wirt, indem er auf ihn zuging, um ihn mit der Hand zu begrüßen.
»Ja, der Prayer-man,« näselte der Fremde salbungsvoll. »In dieser sündhaften Welt ist der Prayer-man notwendiger als jeder andere Mann. Die Menschen wollen sich nicht mehr von Gott strafen lassen; sie wandeln die Wege des Verderbens, und wenn nicht eine zweite Sündflut kommen und alles Lebende verderben soll, müssen die Gott treu Gebliebenen versuchen, die Irrenden auf den Pfad des Glaubens zurückzuführen. Grad hier an der Grenze zwischen der Civilisation und dem wilden Westen treffen die Kinder dieser Welt zusammen und verderben durch ihr Beispiel die wankenden Seelen, welche vielleicht noch zu retten wären.«
»Leider, leider ist das so!« stimmte der Wirt bei. »Können Sie sich besinnen, daß wir bei Ihrer letzten Anwesenheit davon sprachen, daß der Händler, welcher da gegenüber wohnte, sein Haus und Geschäft verkauft hatte und nach Memphis ziehen wollte?«
»Ich kann mich nicht mehr darauf besinnen!«
»Ich dachte, Sie wüßten es noch. Er hatte den Kaufpreis ausgezahlt bekommen; es wurde aber, ich glaube zwei Tage nach Ihrer Abreise, bei ihm eingebrochen; das Geld war fort.«
Da schlug der Prayer-man entsetzt die Hände zusammen, und hob die Augen fromm empor und rief:
»Welch eine Sündhaftigkeit! Du sollst nicht stehlen! Wer dies Gebot nicht achtet, ist unwürdig, das Reich Gottes zu erben!«
»Und drüben in Plattsburg geschah ein ganz ähnlicher Fall, einen oder zwei Tage vorher, wenn ich mich nicht irre. Pretter, der Advokat, hatte einem Klienten zweitausend Dollars auszuzahlen, konnte das Geld aber nicht gleich an den Mann bringen, weil dieser verreist war; da kamen die Einbrecher und holten es. Sie kennen doch den Advokaten?«
»Nein, denn die Kinder der Seligkeit vermeiden allen Zank und Streit; sie führen keine Prozesse und brauchen also auch keine Advokaten!«
»Ich dachte, Sie wären damals von Plattsburg direkt nach Weston herüber gekommen!«
»Ich wandle die Pfade meines himmlischen Berufes und merke mir die irdischen Wege nicht. Jetzt will ich einige Tage hier in Weston bleiben. Kann ich die kleine, bescheidene Stube wiederbekommen, welche ich damals bewohnte?«
»Ja; sie steht Ihnen zu Verfügung.«
»So will ich gleich einmal versuchen, ob mein heutiger Eintritt in Ihr Haus ein vom Herrn gesegneter ist.«
Er öffnete seinen Koffer, suchte eine Handvoll Schriften zusammen, kam zu mir, legte sie vor mich hin und fragte:
»Verstehen Sie deutsch, mein werter Herr?«
Ich nickte.
»So habe ich wahrscheinlich die Freude, in Ihnen einen Landsmann zu begrüßen, der das Bibelwort kennt: Der Teufel geht wie ein brüllender Löwe umher, um zu suchen, wen er verschlinge. Noch ist es Zeit, ihm auszuweichen. Erfassen Sie die Gelegenheit, und greifen Sie nach dem Rettungsanker, der sich Ihnen hier in diesen frommen Werken bietet, deren geringer Preis auf den Titelblättern zu lesen ist!«
Mit einer Geste, als ob er mich segnen wolle, wendete er sich von mir ab und seinem Tische wieder zu, wo er sich niedersetzte, um zu sehen, ob ich lesen und auch kaufen werde. Also das war die Probe, ob sein Eintritt ein vom Herrn gesegneter sei.
Der Amerikaner hält sehr viel auf Religiosität; darum werden in den Vereinigten Staaten mehr fromme Bücher als in andern Ländern gekauft. Herumziehende Traktätchenhändler machen kein übles Geschäft. Ein solcher Händler war dieser Prayer-man. Ich gehöre zu den Menschen, denen ihr Glaube höher als alle irdischen Angelegenheiten steht; aber das zudringliche Zurschautragen der Frömmigkeit ist mir verhaßt, und wenn jemand vor Salbung förmlich überfließt wie dieser Mann, so zuckt es mir in der Hand, und ich möchte ihm am liebsten mit einer Salbung anderer Art antworten. Ich kann mir da nicht helfen: ich muß dabei stets an die Fabel vom Wolf im Schafsfell denken. Es widerstrebte mir, die Schriften anzufassen, aber ich that es doch, denn nicht nur der Prayer-man beobachtete mich, sondern auch der Wirt und der Kellner sahen zu mir her. Ich wollte nicht in den Verdacht kommen, ein Verächter der Religion zu sein, und sah die Sachen durch.
Es waren Predigten und fromme Abhandlungen in englischer und in deutscher Sprache; auch kleine Gebetbücher und Liedersammlungen gab es dabei; doch stießen mich die meisten Titel schon ab. Da stand zu lesen: »Himmelsrettung eines räudigen Erdenschafes«, »Psalterklänge auf fünf Seelensaiten«, »Kanzeldonner für verfluchte Menschenschlangen«, »Religiöses Fernrohr zur Entdeckung des Wegs zur Seligkeit«. Ich mag vielleicht unrecht haben, aber solche Bezeichnungen empören mich. Die Sprache soll für das Höchste, was der Mensch besitzt, die edelsten ihrer Worte haben; hier aber war es trivialisiert. Ein einziges kleines Heftchen hatte einen Titel, der mir wenigstens nicht widerwärtig war; er lautete: »Sechs ergreifende Festgedichte für Weihnachten, Ostern und Pfingsten.« Es kostete fünfundzwanzig Cents, war also teuer genug. Ich behielt es, ohne hineingesehen zu haben, schob die andern Sachen fort und legte das Geld darauf. Da kam der Prayer-man wieder, nahm Geld und die Hefte zu sich und sagte:
»Mein Freund, Ihre Auswahl ist eine sehr bescheidene. Es ist die Pflicht eines jeden guten Christen, die heilige Religion zu unterstützen; Sie aber scheinen mehr an den irdischen Gütern als an den himmlischen zu hängen; darum gebe ich Ihnen zu bedenken, daß einem jeden dereinst mit demselben Maße gemessen wird, mit dem er hier gemessen hat. Ihre Sparsamkeit wird Ihnen keinen Lohn im Himmel bringen!«
Ich hatte mit dem Manne gar nicht sprechen wollen, konnte mich aber jetzt nicht enthalten, ihm zu antworten:
»Das lassen Sie meine Sorge und nicht die Ihrige sein! Behalten Sie Ihren geistlichen Rat für sich, um den ich Sie nicht gebeten habe!«
Er wollte etwas erwidern, denn er öffnete schon den Mund dazu, aber die Veränderung, welche in meinem vorher gleichgültigen Gesichte unwillkürlich vorgegangen war, schien ihn zu belehren, daß Schweigen jetzt besser sei als Reden; er wendete sich mit einer hochmütigen Handbewegung von mir ab, legte die Drucksachen in den Koffer, zog ein Exemplar der Gedichte, die ich behalten hatte, hervor und gab es dem Wirte mit den Worten hin:
»Als Gast dieses Hauses kann ich von Ihnen keine Bezahlung fordern. Ich verehre Ihnen diese sechs ergreifenden Festgedichte unentgeltlich zum Heile Ihrer Seele. Ich erweise Ihnen diese fromme Aufmerksamkeit auch deshalb mit, weil ich eines dieser Gedichte hier in Weston erhalten habe.«
»Hier? Von wem?« fragte der Wirt, indem er das Heft aufschlug.
»Von einer sehr frommen Dame, welche mir schon öfters abgekauft hat. Es ist die Frau des Pelzjägers, welcher schon seit einer Reihe von Monaten zurückerwartet wird und nicht kommt. Ihr Sohn, welcher bei ihr wohnt, ist Lawyer, nimmt aber keine Stelle an.«
»Ah, Sie meinen Frau Hiller?«
»Ja, Hiller ist ihr Name; ich besinne mich jetzt. Als ich zum letztenmal bei ihr war, las sie mir ein Weihnachtsgedicht vor, und dies gefiel mir so, daß ich sie bat, es mir abschreiben zu dürfen. Ich habe es drucken lassen und verkaufe es nun.«
»Welches ist es?«
»Gleich das erste.«
»Also das mit der Überschrift: Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem?«
»Ja. Das müssen Sie lesen, unbedingt lesen, oder vielmehr ich selbst werde es Ihnen vorlesen, denn dies richtig thun zu können, muß man eine auserwählte Gabe besitzen, den Sinn des Gedichtes zu erfassen und mit dem auf- und absteigenden Fall des Tones das Herz des Zuhörers zu ergreifen. Erlauben Sie mir also!«
Er nahm das Heft dem Wirte wieder aus der Hand, schlug es auf und stellte sich an, das Gedicht zu deklamieren.
»Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem!« wieder so ein gassenfrommer Titel! Jedenfalls war der Wert des Gedichtes diesem Titel angemessen. Ich mochte es gar nicht hören und stand auf, um hinauszugehen. Schon war ich fast an der Thür, als er begann:
»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!«
Man kann sich denken, daß ich vor Erstaunen stehen blieb. War es denn möglich, daß ich mein Gedicht, wirklich mein Gedicht da hörte? Oder war es ein anderes mit zufällig denselben Anfangsversen? Ich horchte weiter; ja, es war das meinige, Wort für Wort das meinige, welches er mit näselnder Stimme bis zu Ende deklamierte. Ich kehrte an meinen Tisch zurück, auf welchem das von mir gekaufte Heft lag, schlug es auf und las: »Weihnachtslust am Kindleinstall zu Bethlehem – Reuegedicht eines verlorenen, aber durch das Lesen unserer Schriften wiederbekehrten Sünders.«
Ich war baff! Sollte ich lachen, oder sollte ich mit den Fäusten dreinschlagen? Da hörte ich, noch ehe ich einen Entschluß fassen konnte, die Worte des Prayer-man:
»Wenn Sie sich von der Wirkung dieses Gedichtes überzeugen wollen, so sehen Sie sich den Fremden dort an!«
Er zeigte mit der Hand auf mich und fuhrt fort:
»Er war zu sparsam, sich den Quell der Gnade ganz zu kaufen; er hat nur einen Tropfen davon bezahlt, aber dieser eine Tropfen schon hat ihn so ergriffen, daß er in seinen Busen greift und auch die andern Hefte noch verlangen wird. Ich eile, seine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten!«
Nach diesen Worten holte er die von mir zurückgewiesenen Hefte aus dem Koffer, legte sie mir wieder vor und hielt mir die Hand hin, um das Geld in Empfang zu nehmen. Ich fühlte mich durch diese Frechheit in jenen innern Zustand versetzt, welchen Winnetou mit den Worten zu bezeichnen pflegte:
»Mein Bruder wird gleich losschießen; er hat die Patronen schon im Munde und auch in den Fäusten.«
Ich pflegte dann gewöhnlich im freundlichsten Tone zu sprechen; aber was dann folgte, war nichts weniger als Freundlichkeit. So fragte ich jetzt auch den Prayer-man mit gutmütigem Lächeln:
»Das Gedicht hat allerdings einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ist Ihnen der Verfasser bekannt?«
»Ja,« antwortete er.
»Wer und was ist er?«
»Er war ein berüchtigter Pferdedieb.«
»Ah, er war – – ist es also nicht mehr?«
»Nein, denn das Lesen unserer Schriften hat ihn zur Reue geführt. Seine Reue war so tief, daß er sich kurz vor seinem Tode noch hinsetzte, um diese Verse zu dichten.«
»Vor seinem Tode? Er lebt also nicht mehr?«
»Nein. Oder wissen Sie nicht, daß Pferdediebe hier in den Staaten gehängt werden?«
»Ah, gehängt worden ist er also! Das wissen Sie genau?«
»Ja; ich war es ja, von dem er die Schriften bekam, die ihn zur Reue führten, und bin bei seinem seligen Verscheiden zugegen gewesen.«
»Er war ein Deutscher?«
»Was denken Sie, Herr! Hat es jemals einen Deutschen gegeben, welcher zum Pferdedieb geworden ist?! Nein, er war ein Irishman.«
»Ich hörte aber doch, daß Sie das Gedicht bei einer Frau Hiller abgeschrieben und dann erst in Druck gegeben haben?«
»Ja, das ist richtig,« gestand er zu und fuhr nach einer Pause der Verlegenheit fort: »Diese Frau hat eine Abschrift des Gedichtes von dem betreffenden Gefängnisbeamten bekommen.«
»Stand der Name des Dichters dabei, als Sie es abschrieben?«
»Ja, ich habe ihn aber nicht notiert, um den armen Teufel, der so selig in das Jenseits gegangen ist, nicht im Diesseits noch zu blamieren.«
Ich hatte meine Fragen einander immer schneller folgen lassen und sie in einem immer steigenden Tone ausgesprochen. Er beachtete das gar nicht und war jetzt sogar so unverfroren, mich aufzufordern:
»Sie haben die Macht der wahren Reue erkannt, lieber Herr, und werden nach dieser Erkenntnis zu handeln wissen. Hier nehmen Sie nun auch die andern Schriften! Ich werde Ihnen nur zwei Dollars und fünfzig Cents dafür berechnen.«
Jetzt war es mit meiner Zurückhaltung zu Ende. Ich prasselte ihn förmlich an:
»Schwindler, der Sie sind! Sie sagten vorhin, ich hätte in meinen Busen gegriffen; ich aber sage Ihnen, daß ich Ihretwegen weder in meinen Busen noch in meinen Beutel greife! Sie wären der Kerl dazu, meine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten! Bekümmern Sie sich um Ihre eigene Seele, die Ihnen wohl noch genug zu schaffen machen wird! Der Dichter dieser Strophen soll ein Pferdedieb gewesen sein, der an seinem Stricke selig in das Jenseits hinübergeschieden ist, weil Sie, Sie unverschämter Lügner, ihn durch Ihre Schriften von der ewigen Verdammnis errettet haben? Sie wagen, mir zu sagen, daß ein Irländer ein solches Gedicht in deutscher Sprache schreiben kann? Sie wagen es, auch mir die in Ihren Druckwerken enthaltene Seligkeit für zwei und einen halben Dollar anzubieten? Hier haben Sie den Rummel. Lesen Sie ihn selbst, denn Sie bedürfen der Reue und Buße mehr als selbst der allerschlimmste Pferdedieb!«
Bei diesen Worten warf ich ihm die Schriften ins Gesicht. Er stand vor Erstaunen und Zorn eine ganze Minute bewegungslos, dann trat er hart an mich heran, hielt mir die geballten Fäuste vor das Gesicht und rief:
»Was haben Sie gethan?! Und wie haben Sie mich genannt?! Einen Schwindler und einen unverschämten Lügner! Ich soll schlimmer sein als ein Pferdedieb! Sagen Sie nur noch ein solches Wort, so haue ich Sie zu Staub!«
Er that, als ob er ausholen wolle.
»Nieder mit den Händen!« befahl ich ihm. »Weil Sie auch einer sind, schäme ich mich in meinem Leben zum ersten mal, ein Deutscher zu sein! Der Dichter dieser Strophen soll gehängt worden sein! Wissen Sie, wer es ist? Er steht hier vor Ihnen, und Sie werden mir den Vorrat, den Sie haben, ausliefern, damit ich ihn verbrennen lasse!«
»Sie – Sie – – Sie wollen der Dichter sein?« lachte er höhnisch auf. »Ihr Gesicht ist ja ein solches Schafs – –«
Weiter kam er in seiner Rede nicht, denn ich gab ihm eine solche Ohrfeige, daß er, zwei Stühle mit sich niederreißend, zu Boden stürzte. Er sprang aber schnell wieder auf, riß ein langes Messer aus der Tasche und drang damit, vor Wut keine Worte findend, auf mich ein. Ich empfing ihn mit dem emporgehobenen Fuß und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt gegen den Leib, daß er wieder niederstürzte. Noch hatte er sich nicht halb aufgerafft, so stand ich bei ihm, nahm ihn mit der linken Hand beim Genick, riß ihn vollends empor, schlug ihm mit der Rechten das Messer aus der Hand, gab ihm noch zwei schallende Ohrfeigen, schleifte ihn zu seinem Koffer und befahl ihm dort:
»Heraus mit den Gedichten, die verbrannt werden müssen! Wenn du nicht sofort gehorchst, helfe ich nach!«
Der fromme Mann hatte mehr als genug. Er schien sich zwar weigern zu wollen, aber ein vermehrter Druck an seinem Halse brachte ihn zum Gehorsam. Er warf die Exemplare des Gedichtes aus dem Koffer auf den Tisch und grinste dabei drohend:
»Mir kann es recht sein, denn wenn sie gegen meinen Willen verbrannt werden, muß ich sie bezahlt bekommen; es giebt noch Gerechtigkeit in der Welt, also hier im Westen auch!«
»Jawohl hier im Westen auch! Das habe ich dir schon gezeigt und bin bereit, es dir auch noch weiter zu beweisen. So, da bist du fertig, und ich bin es einstweilen mit dir auch. Nimm dich in acht, daß wir nicht noch einmal in dieser Weise zusammentreffen. Man kommt nicht immer so gut aus meinen Händen, wie ich dich jetzt aus ihnen entkommen lasse. Merk dir das, frommer Augenverdreher!«
Ich gab ihn frei und nahm die Schriften, um sie selbst in die Küche zu tragen, wo ich mich überzeugte, daß sie alle in den Ofen gesteckt und verbrannt wurden. Als ich dann in das Zimmer zurückkehrte, war der Prayer-man nicht mehr da.
»Er ist auf seine Stube gegangen,« sagte der Wirt im Tone des Bedauerns, indem er mich halb vorwurfsvoll, halb prüfend mit dem Blicke maß. »Das kam so schnell, so unerwartet! Sie sprachen so freundlich zu ihm, und plötzlich bekam er die Schriften in das Gesicht! Und dann die gewaltige Ohrfeige, diese Schnelligkeit, dieser Tritt in den Leib und dieser Griff in das Genick – – so etwas habe ich noch gar nicht gesehen. Das ging doch so rasch wie das Bretzelbacken!«
»Ja, so etwas habe auch ich noch nicht gesehen!« stimmte der Kellner bei. »Das war alles in zwei kurzen Augenblicken fertig, als ob es vorher extra einstudiert worden sei. Und da habe ich, als Sie meinten, daß Old Shatterhand Ihre Gestalt und Länge habe, gesagt, daß ich ihn mir viel kräftiger vorgestellt hätte! Gestatten Sie, Mylord, daß mir eine innere Stimme sagt, daß Sie diesen gewaltigen Griff in das Genick wahrscheinlich von ihm gelernt haben! Da muß ja jedem gewöhnlichen Menschen sofort der Atem ausgehen!«
»Haben Sie die Gedichte wirklich alle verbrannt?« erkundigte sich der Wirt.
»Alle,« antwortete ich.
»Da werden Sie sie wohl bezahlen müssen!«
»Pshaw! Es wird diesem Kerl gar nicht einfallen, mich darüber zur Rechenschaft zu ziehen.«
»So sind Sie also wirklich der Verfasser des Gedichtes?«
»Ja.«
»Sonderbar! Er sagte doch – – hm! Er ist ein sehr frommer und sehr ehrenwerter Mann!«
Es war dem Wirte nicht schwer anzusehen, daß er diesem sehr frommen und sehr ehrenwerten Manne mehr Glauben schenkte als mir. Ich fühlte keinen Beruf, ihn von dieser Ansicht zu bekehren, und erwähnte den Prayer-man also nicht weiter, sondern erkundigte mich:
»Sie kennen die Frau Hiller, von welcher gesprochen wurde?«
»Ja.«
»Ist sie auch eine Deutsche?«
»Ich glaube eher, daß sie eine Deutschösterreicherin ist. Man hat nicht oft Gelegenheit, mit diesen Leuten zu sprechen.«
»Sie leben einsam?«
»Sehr. Der Mann ist Pelzjäger für eine bedeutende Firma in St. Louis und meist nur zwei oder drei Monate während des ganzen Jahres daheim. Da pflegt er sich, widmet sich seiner Frau und seinem Sohne und läßt sich wenig sehen. Sie werden die jetzigen Verhältnisse des Fell- und Pelzhandels wohl schwerlich kennen, denn ein Mann, der Gedichte macht, hat für so unpoetische Sachen keine Zeit; er ist lange nicht mehr so in Flor wie früher, weil das Wild immer seltener wird. Der Jäger, welcher Geschäfte machen will, muß jetzt mehr wagen als früher und in die gefährlichsten Gegenden der Rocky-Mountains vordringen, wo zwar noch gute Beute zu holen ist, dabei aber gefährliche Zusammenstöße mit Indsmen nicht zu vermeiden sind. Es ist da schon mancher hinaufgegangen und nicht wiedergekommen; Hiller aber hat stets Glück gehabt. Er geht nie allein in die Berge, sondern pflegt alljährlich eine Gesellschaft von Jägern und Fallenstellern anzuwerben, deren Master er in jeder Beziehung ist. Diese Leute werden von ihm nach der Zeit, nicht nach der Stückzahl honoriert, gleichviel, ob er gute Geschäfte macht oder nicht; er scheint aber dabei doch stets seine Rechnung gefunden zu haben, denn es sind von ihm stets ganze Massen von Pelzwerk nach St. Louis geliefert worden. Die Jäger drängen sich dazu, von ihm engagiert zu werden, und die Indsmen scheinen Respekt vor ihm zu haben, wenigstens darf man dies aus dem Umstande schließen, daß sie ihm einen Kriegsnamen gegeben haben, was sie bei keinem gewöhnlichen Manne zu thun pflegen.«
»Kennen Sie diesen Namen?«
»Ja; er lautet Nana-po. Wie das heißt, und aus welcher Sprache es ist, das weiß man nicht.«
»Wirklich nicht? Hat Hiller es niemandem gesagt?«
»Nein. Wenn er sich hier befindet, so lebt er einsam und ist ein so wortkarger Mann, daß ihn wahrscheinlich noch kein Mensch nach diesem Namen gefragt hat.«
»Das Wort ist abgekürzt und lautet vollständig Nana-po-pahwitsch und gehört den Dialekten der Utahs und Schoschonen an, welche miteinander verwandt sind. Dieser Ausdruck bedeutet soviel wie »mein älterer Bruder« und ist nach Indianerbrauch eine ehrende Bezeichnung. Da die Utahs nicht in einer an Pelztieren reichen Gegend wohnen, so vermute ich, daß es die Schoschonen sind, die ihm diesen Namen gegeben haben. Er muß auf freundschaftlichem Fuße zu ihnen stehen und sich durch seine Eigenschaften ihre Achtung erworben haben, sonst würden sie ihn nicht ihren Bruder, sogar ihren älteren Bruder nennen. Ich bin überzeugt, daß die Bewohner von Weston stolz auf diesen ihren Mitbürger sein können.«
»Davon haben wir gar keine Ahnung gehabt,« gestand der Wirt. Und indem er mich mit erstaunten Augen musterte, fuhr er fort: »Sie zeigen da Kenntnisse, die man bei Ihnen gar nicht vermuten konnte. Ein Westmann sind Sie nicht, denn ein solcher hat kein Geschick, sich in einer Kleidung, wie die Ihrige ist, so zu bewegen wie Sie; aber die Sprachen der Roten sind Ihnen bekannt, und Sie machen Gedichte. Wahrscheinlich gehören Sie dem studierenden Stande an?«
»Sie haben recht; ich bin ein Federfuchser.«
»Und, bitte, wie heißen Sie? Sie entschuldigen diese Frage. Man muß doch wissen, wie man Sie zu nennen hat.«
Da ich verschweigen wollte, wer ich war, und mein richtiger Name möglicherweise auch hier als derjenige Old Shatterhands bekannt sein konnte, legte ich mir in der Schnelligkeit einen ähnlich klingenden bei, indem ich antwortete:
»Mein Name ist ein so seltener, daß Sie ihn wahrscheinlich noch niemals gehört haben; ich heiße nämlich Meier.«
»Meier?« lachte er. »Allerdings höchst selten! Aber kennen thue ich ihn doch, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich auch so heiße. Hatten Sie eine bestimmte Absicht, in welcher Sie sich nach der Familie Hiller erkundigten?«
»Ja. Es ist des Gedichtes wegen, welches vor einer Reihe von Jahren verfaßt wurde. Wer es sich so lange aufgehoben hat, der muß ein ganz besonderes Interesse daran haben, und so versteht es sich ganz von selbst, daß ich es gern wissen wollte, wer diese Frau Hiller ist.«
»So besuchen Sie sie doch einmal! Sie hält sich zwar, ebenso wie ihr Mann, sehr zurück, wird aber doch wohl nicht so unhöflich sein, Sie abzuweisen.«
»Es ist, wie ich höre, auch ein Sohn da?«
»Ja. Er hat, wie bereits gesagt, auf den Lawyer studiert, nimmt aber keine Stelle an, sondern sitzt zu Hause bei einer Menge von Büchern, mit denen er sich den ganzen Tag beschäftigt, als ob er sie auswendig lernen wolle. Sonst aber ist er, wenn man ihm begegnet, ein ganz freundlicher, junger Mann.«
Es war so, wie ich gesagt hatte: der Umstand, daß diese Frau mein Gedicht besaß, fiel mir auf. Woher hatte sie es? Sie war eine Deutschamerikanerin. Stammte sie aus meiner Heimat? Hatte sie es mit herübergebracht, oder war es ihr von einem Verwandten geschickt worden? Es fiel mir nicht ein, das Gedicht für so wertvoll zu halten, daß sie es nur dieses dichterischen Vorzuges wegen so lange aufgehoben hätte; ich sagte mir vielmehr, daß es damit eine andere Bewandtnis haben müsse, und bin aufrichtig genug, zu gestehen, daß mich die Neugier trieb, sie kennen zu lernen. Ich ließ mir also ihre Wohnung beschreiben und ging, diese aufzusuchen.
Das hübsche Häuschen hatte einen Seitengarten, in welchem eine Frau beschäftigt war, Spätrosen abzuschneiden. Ihr Kopf war zum Schutze gegen die Sonne mit einem weit vorgezogenen Tuche bedeckt, so daß ich ihr Gesicht nicht vollständig sehen konnte. Als ich mich bei ihr erkundigte, ob Frau Hiller zu sprechen sei, fragte sie, wer ich sei und was ich wolle. Ich nannte mich Meier und sagte, daß ich eine kurze Erkundigung beabsichtige und also gar nicht lange stören werde.
»Gehen Sie hinein; ich komme gleich,« beschied sie mich und wendete sich dann wieder ihrer Arbeit zu.
Im Flur gab es rechts und links eine Thür; die links war verschlossen; ich trat also rechts ein und befand mich dann in einem zwar kleinen aber für mich hochinteressanten Parlour, welches mit Waffen und indianischen Trophäen ausgestattet war. Ich fand aber keine Zeit zu einer langen Betrachtung derselben, denn die Frau, welche ich im Garten gesehen hatte, kam sehr bald nach und sagte, indem sie auf einen Stuhl zum Niedersitzen deutete:
»Ich bin Frau Hiller. Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Meier?«
Indem ich antworten wollte, nahm sie das Tuch vom Kopfe und legte es beiseite; ich bekam ihr ganzes Gesicht zu sehen und behielt vor Überraschung die Antwort auf den Lippen.
»Nun, bitte!« sagte sie, als sie sah, mit welchem Erstaunen ich sie betrachtete.
War es Wirklichkeit, oder irrte ich mich infolge einer Ähnlichkeit, die allerdings auffällig gewesen wäre, wenn eine Täuschung vorgelegen hätte? Nun war es mir freilich klar, warum diese Frau mein Gedicht aufgehoben hatte, denn es bildete ein Erinnerungszeichen an die vielleicht trübsten Tage ihrer Vergangenheit.
»Sie wollten sich nach etwas erkundigen – –?« fragte sie, als ich noch immer mit der Antwort zögerte.
»Allerdings,« ließ ich mich endlich hören. »Diese Erkundigung wird nun, da ich Sie sehe, freilich eine andere sein, als die, welche ich vorher beabsichtigte; sie ist der Art, daß ich alle Ursache zu der Bitte habe, sie mir nicht übelzunehmen.«
»Sprechen Sie nur!« forderte sie mich auf, indem sie mich erwartungsvoll anblickte. Dabei trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, von dem ich nicht wußte, ob er einer plötzlich aufsteigenden Besorgnis zuzuschreiben sei oder dem Bemühen, in meinen Zügen etwas ihr noch unklar Vorschwebendes deutlicher zu entdecken.
»Haben wir uns nicht vielleicht schon einmal gesehen, Mrs. Hiller?« fragte ich.
Sie wurde blaß, und ihre Stimme klang unsicher, als sie antwortete:
»Ich gestehe, daß mir Ihr Gesicht nicht ganz fremd vorkommt. Wahrscheinlich sind wir uns hier in den Staaten einmal flüchtig begegnet?«
»Nein, nicht hier, sondern drüben jenseits des Meeres. Wenn ich mich nicht irre, wurden Sie damals nicht Hiller, sondern Frau Elise Wagner genannt.«
Da verwandelte sich die erst leichte Blässe ihres Gesichtes in vollständige Farblosigkeit; sie sank auf einen Sessel nieder, schlug die Hände zusammen und seufzte, indem sie mit angstvollen Augen zu mir aufblickte:
»Mein Gott! Ist denn diese Zeit noch immer nicht versunken und vergessen? Geht die Grausamkeit des Schicksales so weit, uns selbst hier, an der Grenze des wilden Westens, noch zu verfolgen? Haben wir denn nicht schon genug unschuldig gelitten, daß selbst nach so langer Zeit das Gespenst der Vergangenheit sich aus dem Grabe erhebt und uns wieder drohend entgegentritt?«
Sie wollte noch weiter sprechen; ich fiel ihr aber in die Rede:
»Ich bitte dringend, sich ja keine Sorge zu machen! Die Absicht, welche mich zu Ihnen führt, ist eine durchaus freundliche, und ich beeile mich, Ihnen vor allen Dingen zu sagen, daß ich Sie nur zweimal ganz kurz gesehen habe und mir Ihre Verhältnisse vollständig unbekannt sind.«
»Ah!« holte sie tief, tief Atem. »Ihre Absicht ist keine böse! Wie bin ich erschrocken! Bitte wollen Sie mir sagen, wo Sie mich gesehen haben?«
»Es ist kein Wunder, daß Sie mich nicht erkennen, denn es sind seitdem Jahre verflossen, und ich war nur ein Knabe. Ich habe eigentlich auch gar keinen Grund, Sie in Ihrem hiesigen Heim zu stören, doch muß ich sagen, daß ich Ihnen stets ein treues und teilnahmvolles Andenken bewahrt habe. Als ich heut hier von Ihnen hörte, hatte ich keine Ahnung, daß Mrs. Hiller jene Frau Wagner ist, der ich für ihr ganzes Leben alles Gute wünsche.«
Es war wieder Farbe in ihr Gesicht und Glanz in ihre Augen gekommen. Sie stand auf und fragte:
»Aber, wenn Sie nicht wußten, wer ich bin, welche Ursache hatten Sie, mich aufzusuchen. Sie haben allerdings nicht das Aussehen eines Mannes, dem es Vergnügen bereitet, der Bedränger anderer Leute zu sein.«
»Es ist eigentlich eine – wenn ich mich so ausdrücken darf – eine litterarische Veranlassung, welche mich zu Ihnen führt. Ich bin Schriftsteller und reise viel, um dann über meine Reisen Bücher zu schreiben. Ich habe damals als Schüler eine kleine poetische Sünde begangen, von der ich glaubte, daß sie mir längst vergeben sei; aber heut erfuhr ich, daß solche Sünden niemals vergessen werden. Die Rache hat mich vorhin hier in Weston ereilt, wo ich mit einem frommen Manne zusammentraf, der mir mein Verbrechen für fünfundzwanzig Cents an das Gewissen legte und mir dabei durch den Titel erfreulicherweise den Beweis erbrachte, daß ich doch wenigstens kein verlorener, sondern ein bekehrter Sünder bin.«
Ich zog das Heft aus der Tasche und reichte es ihr hin, nachdem ich die erste Seite aufgeschlagen hatte. Sie warf einen Blick darauf und rief überrascht aus:
»Mein Gedicht – – wollte sagen, mein Lieblingsgedicht! Es ist abgedruckt worden! Wer hat das gethan?«
»Ein frommer, ja, ein sehr frommer Prayer-man, der es vor einiger Zeit bei Ihnen abgeschrieben hat.«
»Der – –? Ich entsinne mich seiner. Ich kaufte ihm einige Sachen ab, deren Stil ein so frommschwülstiger war, daß ich glaubte, ihn darauf aufmerksam machen zu müssen, daß man durch diese Art der Ausdrucksweise, die eine gradezu abstoßende ist, der guten Sache mehr Schaden als Nutzen bringe. Er behauptete dagegen, daß es keine andere Behandlungsweise dieser Art von Themata gebe, und ich holte also dieses Gedicht, um ihn zu überführen. Es gefiel ihm sehr, und als er mich bat, es abschreiben zu dürfen, ersah ich keinen Grund, ihm die Erlaubnis zu verweigern. Ich ahnte freilich nicht, daß er es drucken lassen werde. Er hat doch wohl auch gar kein Recht dazu?«
»Wenigstens kein moralisches. Aber in rein litterarischer und geschäftlicher Beziehung sind die Werke deutscher Dichter und Schriftsteller hier in den Vereinigten Staaten leider vogelfrei, und der Amerikaner macht davon den ausgiebigsten Gebrauch. Es werden hier deutsche Werke massenhaft nachgedruckt, und die hiesigen Herausgeber – fast hätte ich gesagt Diebe – werden dabei reiche Leute, ohne den Verfassern, welche drüben am Hungertuche nagen, einen Cent zu bezahlen. Der sonst »Sehr moralische« Amerikaner will Geld machen; ob er dabei einen armen Schriftsteller seines sauer verdienten Arbeitslohnes beraubt, das ist ihm vollständig gleichgültig, wenn ihm diese meiner Ansicht nach freilich sehr unmoralische Money-mäkerei nur gelingt. Mir hat zum Beispiel die sehr löbliche »San Francisco-Abendpost« meine Werke nachgedruckt, ohne es nur der Mühe wert zu halten, mich wenigstens davon zu benachrichtigen oder mich dann auf meine wiederholten Anfragen auch nur einer einzigen Antwort zu würdigen. Und das ist eine Zeitung in deutscher Sprache! Es scheint da, man hat gar keine Veranlassung, darauf stolz zu sein, daß man ein Deutscher ist. – – Und selbst wenn wir Deutschen allen möglichen Schutz besäßen, würde ich mich gar nicht darüber wundern, daß dieser salbungsvolle Traktätchenhändler das Gedicht ohne alles Besinnen und Bedenken als sein Eigentum betrachtet hätte, denn wo die Frömmigkeit nur gleisnerische Außensache ist, pflegt sie nur als Deckmantel der Habsucht und noch schlimmerer Eigenschaften zu dienen.«
»Hätte ich ihm doch die Erlaubnis, es abzuschreiben, nicht gegeben! Was ist denn das für eine entsetzliche Überschrift? Der Mann kann nicht bei Sinnen sein!«
»Er erzählte mir sogar, daß der Dichter ein Pferdedieb gewesen sei, der kurz bevor er für seine Thaten aufgehängt wurde, aus Reue das Gedicht verfaßt habe. Doch, lassen wir das! Es genügt für jetzt, daß diese Strophen die Veranlassung meines Besuches bei Ihnen sind. Ich glaubte, annehmen zu müssen, daß jemand, der sich für – –«
»Ah, bitte!« unterbrach sie mich. »Wir waren ganz davon abgekommen. Die Hauptsache ist doch – – sagen Sie, Sie sind der Verfasser dieses Gedichtes?«
»Ja.«
Ihre Augen öffneten sich weit, als ob sie meine ganze Gestalt mit einemmal umfassen wollten; sie hob die Arme gegen mich und fragte schnell weiter:
»Dann sind Sie also der junge Schüler, welchen – –?«
»Der bin ich,« nickte ich.
»Welchen wir damals mit noch einem andern in – – in – – in Falkenau in Böhmen sahen?«
»Ja.«
»Sie kamen uns dann in die Mühle nach, wo mein guter, alter, lieber Vater starb?«
»Ja.«
»Und gaben uns – – gaben uns – –. Oh, ich war damals vor Herzeleid nicht bei mir selbst, sonst hätte ich – – hätte ich – – erlauben Sie! Ich muß ihn rufen, sofort rufen! Das ist einer meiner schönsten Lebenstage! Sie haben uns durch Ihr so ganz und gar nicht zu erwartendes Kommen eine Freude bereitet, die ganz unbeschreiblich ist, denn Sie wissen nicht, nein, Sie können gar keine Ahnung haben, wie oft wir an Sie, an den jungen Mann gedacht haben, der uns damals eine Wohlthat erwies, die wir ihm niemals, niemals vergelten können!«
Sie wollte eine Nebenthür öffnen; ich hielt sie zurück und sagte:
»Bitte, wenn Sie nicht wünschen, daß ich sofort wieder gehe, so erwähnen Sie ja nicht wieder, daß mein Mitgefühl mich damals zu einer Handlung hinriß, welche – –.«
»Was? Welche – –?« unterbrach sie mich, indem sie sich mir rasch wieder zuwendete. »Welche Sie wohl lieber nicht gethan hätten? Das ist nicht wahr! Wenn Sie das sagen wollen, so kennen Sie sich selbst nicht! Ich weiß, daß Sie selbst ein armer, armer Teufel waren und das, was Sie im Gasthause genossen, nicht bezahlen konnten. Wer trotz dieser seiner Armut und ohne sich zu besinnen all sein Geld einem noch Bedürftigeren giebt, der bereut das nie, der wird stets mildthätig bleiben, denn sein offenes Herz ist eine herrliche Gottesgabe, um welche ihn selbst die größten Härten des Lebens nicht zu bringen vermögen. Und, weil wir einmal davon sprachen, ehe mein Sohn bei mir ist, will ich Ihnen folgendes sagen: Ich bin recht wohl in der Lage, Ihnen das Geld, welches Sie mir damals gaben, zurückerstatten zu können, aber ich thue das Ihnen und auch mir nicht an. Das Schärflein der Witwe, oder in diesem Falle richtiger gesagt, das ganze, ganze Vermögen des armen Schülers, welches er auf dem Altare der Liebe, des Erbarmens opferte, darf nicht zu einem mit Zinsen zurückzugebenden Darlehen herabgewürdigt werden; es soll und muß ein Opfer bleiben, welches Gott, der gerechteste Zahlmeister von Ewigkeit zu Ewigkeit, zurückerstatten wird. Vielleicht hat er dies schon gethan, denn aus dem Gymnasiasten, der sogar dann noch der Botenfrau seine letzten Kreuzer in die Hände schüttete, scheint ein Mann geworden zu sein, der seinen Reichtum, wie ich Ihnen anzusehen glaube, nicht allein im Besitz von Gold und Silber sucht. Und mit jenem Gelde, welches mir und meinem Knaben die Reise nach Bremen ermöglichte, habe ich von Ihnen, ohne daß Sie es ahnten, noch eine andere, unendlich wertvollere Gabe empfangen, die ich Ihnen mit allem Golde der Erde, wenn ich es besäße, nicht vergelten könnte, denn Sie haben mich damals von der Verzweiflung errettet. Die Unglücksfälle, welche ohne unser Verschulden damals unsern äußern Wohlstand und unser inneres Glück Schlag auf Schlag niederschmetterten, hatten uns um den Glauben an Gott und um all unser Vertrauen zu ihm gebracht; das war ein größerer Verlust als alle irdischen, die wir erlitten haben. Hungernd und frierend, glaubenstot und hoffnungslos schleppten wir uns bettelnd von Ort zu Ort, und je weiter wir kamen, desto elender wurden wir äußerlich und auch innerlich. Da leuchteten plötzlich mitten in all diese unbeschreibliche körperliche und seelische Armseligkeit hinein die Kerzen des Tannenbaumes in Falkenau, und wie aus Gottes eigenem Munde vom weihnächtlichen Himmel herab erklangen uns die Worte Ihres Gedichtes:«
»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ.« – –
Jetzt eine kurze Pause machend, stand sie mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen vor mir. Ihr Blick war, wie damals in der Mühle, wie durch die Mauer hindurch ins Weite gerichtet, aber mit einem so ganz, ganz anderem Ausdrucke. Damals seelenlos, stier und leer, besaß er heut Leben, Licht und Energie. Damals auf eine trostlose Wüste des Elends, der Erbärmlichkeit gerichtet, sah er jetzt die Errettung aus diesem Jammer hinter sich, und vor sich vielleicht noch immer die fernen Strahlen des kleinen Weihnachtsbaumes, der sein Licht so unerwartet auf den mühseligen Pfad der Unglücklichen geworfen hatte. Nun fuhr sie fort:
»Ihre zweite Strophe möchte ich, indem ich zurückblicke, in Beziehung auf uns umändern in:
»Jubelnd klingt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern;
Weihrauch duftet auf Altären,
Und auch uns blieb es nicht fern!«
denn besonders meinem armen Vater brachten Ihre Verse mehr innerliches Licht, als ihm äußerlich die Kerzen des Baumes leuchteten. Das glaubensleere Dunkel seiner Seele begann sich zu erhellen. Man ahnt gar nicht, was ein kurzes Wort, eine einzige Gedichtstrophe, zur rechten Zeit oder am rechten Orte gesprochen oder gelesen, für eine große, nachhaltige Wirkung auf den Menschen haben kann! Wenn man das beherzigte, wie anders, wie ganz anders würde dann gesprochen und geschrieben werden! Ich war damals mehr mit meinem Vater als mit mir selbst beschäftigt, aber als ich, da ich mich von Gott abgewendet hatte, die Worte hörte:
»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
Selig ist, wer bis ans Ende
An die ewge Liebe glaubt!«
da kam wie ein plötzlicher, heller, klarer Sonnenstrahl die Erkenntnis über mich, daß ich, wenn ich jetzt unter der Schwere meines Leidens zusammenbräche, nicht selig zu preisen, sondern als unselig zu bejammern sein würde, denn ich hatte mit Gott gehadert und zu den verlorenen irdischen Gütern auch alle meine geistigen und geistlichen Besitztümer geworfen, als ob diese ebenso nichtig wie jene seien. Ich habe dann, so müde ich war, während der ganzen Nacht nicht geschlafen, sondern immer und immer gebetet und gefleht:
»Blicke auf dein Kind hernieder,
Das sich sehnt nach deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!«
und so entsetzlich der nächstfolgende Tag war, und so sicher ich den Vater dem Tode entgegensinken sah, es klang doch fort und fort eine mahnende Stimme in mir, daß ich die Hand nach dem verlorenen Glauben an Gott und nach dem weggeworfenen Vertrauen zu ihm ausstrecken müsse, wenn ich nicht auch tot sein und mich verloren geben wolle. Wir waren während der Nacht dem Erfrieren nahe; dann nahm uns die arme Botenfrau mitleidig auf, und ich kniete am Sterbelager des Vaters, dem es nicht an der Wiege gesungen worden war, daß er einst auf Lumpen von der Erde scheiden werde. Meine Thränen rannen nach innen und drohten, den mir von Ihnen gekommenen Weihnachtsschimmer wieder zu verlöschen. Er starb armselig, aber doch selig, Ihre Worte bestätigend:
»Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.«
Als ich dann von seinem Lager aufstand, kämpfte in mir der Jammer, der mich wieder niederreißen wollte, mit der Pflicht, mich um meines Sohnes willen zusammenzuraffen und aufrecht zu halten. Hinter mir gähnte hart an meinen Fersen die klaffende Tiefe des überstandenen Elendes; neben mir lag der Tote, von dem ich noch nicht wußte, wo er seine letzte Ruhestätte finden werde; vor mir stiegen steile, kahle, unbekannte Felsen auf, die kommenden Tage, die ich, schon jetzt vor Müdigkeit zusammenbrechend, erklimmen sollte, und welche Mittel hatte ich dazu? Eine trockene Brotrinde war alles, was ich besaß, alles – – alles! Es wurde mir leer vor den Augen. Ich sah die Leiche nicht mehr, nicht die Frau, deren jämmerlicher Gast ich war, auch nicht meinen Sohn und auch nicht – – – Sie, der Sie sich bei uns befanden, ohne daß ich es beachtet hatte. Aber indem ich in eine endlose, leere Öde schaute, hörte ich Ihre mir noch bekannte Stimme; ich antwortete, ohne zu wissen, was; dann waren Sie fort. Dann saß ich auf dem Schemel und strengte mich an, zu mir zurückzukehren. Mein Sohn schmiegte sich an mich und sagte mir, es sei etwas in meiner Tasche, was Sie mir gegeben hätten. Ich nahm es heraus und hörte den Klang von – – Geld! Herr, das Wort Geld ist ein gemeines, ordinäres Wort, aber ich sage Ihnen: Als ich die Silberstücke zählte, wurde es bei jedem einzelnen, welches ich zu den andern legte, lichter in mir. Ich dachte in diesem Augenblicke nicht an die Größe Ihres Opfers, sondern nur daran, daß es mir Rettung brachte. Es kam wie eine Erlösung über mich; ich konnte weinen – weinen – – weinen. Wie es dann kam, ich weiß es nicht, aber ich hatte Ihr Gedicht in den Händen, kniete am flackernden Herdfeuer und las unter Thränen Ihre Mahnung:
»Hat der Herr ein Leid gegeben,
Giebt er auch die Kraft dazu;
Bringt dir eine Last das Leben,
Trage nur, und hoffe du!«
Das hatte ein Schüler, ein armer, vielleicht siebzehnjähriger Knabe gedichtet! Und ich?! Es war fast wie Scham, was da über mich kam. Ich ging hinaus vor die Mühle und ein Stück in den Wald hinein. Dort kniete ich nieder und betete – betete – betete. Herr, mein Gott, ich konnte wieder beten! Als ich dann in die Stube zurückkehrte, hatte alles ein ganz anderes Aussehen als vorher. Das Elend war verschwunden und dafür ein stiller, weher Ernst zurückgeblieben. Die Botenfrau sagte mir, daß auch sie Geld von Ihnen bekommen habe und sich nun morgen einmal recht sattessen wolle. Mein Knabe sah mich mit so liebevollen Augen an, und über das Gesicht des Toten hatte sich ein stiller, seliger Hauch des Friedens ausgebreitet. Es war mir, als befinde sich sein Geist an meiner Seite und flüstere mir tröstend zu:
»Darum gilt auch mir die Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch mein Heiland, Jesus Christ!«
Und so ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Reden Sie mir nicht darein, sondern lassen Sie mir diesen wohlthuenden Glauben, daß mein Vater von Gott die Erlaubnis hat, unsichtbar bei mir zu weilen, um mich zu leiten und meinen Fuß vor Anstoß zu bewahren! Wenn Gott seine Engel sendet, die uns zu beschützen haben, können wohl auch unsere Abgeschiedenen, die uns durch ihre Liebe doch am nächsten stehen, solche Engel sein! Während die Heerscharen des Himmels seinen Thron umschweben, um ihm Halleluja von Ewigkeit zu Ewigkeit zu singen, steigen die Geister unserer Lieben auf und ab, um seine Befehle auszurichten und uns in ihren Schutz und ihre Hut zu nehmen. Ich möchte nicht um alles diese Überzeugung missen, die mir im Leiden Kraft gewährt, mich in der Einsamkeit tröstet und mir die frohe Hoffnung bietet, daß ich meinen Sohn mit meinem Tode nicht verlassen werde.«
»Es liegt mir fern,« sagte ich, als sie jetzt zu Ende zu sein schien, »Ihnen einen Glauben zu nehmen, der Sie glücklich macht, weil er eine Konsequenz Ihrer Kindes- und Ihrer Mutterliebe ist. Sie haben damals jedenfalls noch sehr schwere Tage erlebt, von denen wir jetzt lieber gar nicht sprechen wollen. Ich freue mich aufrichtig und herzlich, Sie wiederzusehen, und wünsche, daß wir dieses Wiedersehen nicht durch die Erinnerung an eine Zeit trüben, welche längst vergangen ist.«
»Sie haben recht. Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich gleich die erste Viertelstunde Ihres Besuches mit meinem Rückblicke auf jene Zeit in Anspruch nahm! Ich that es in der Überraschung und weil Sie gleich und vor allen Dingen erfahren und wissen sollten, wie wichtig Sie mir geworden und wie unvergeßlich Sie uns geblieben sind. Ich war damals nicht in der Lage, mich nach Ihnen zu erkundigen, und dies dann durch Briefe von Amerika aus zu thun, verboten uns gewisse Gründe, über welche ich nicht sprechen kann. Ich darf höchstens sagen, daß der Name Wagner ein falscher war und daß wir verschwunden sein mußten, ohne eine Spur zurückgelassen zu haben. Wir hätten zwar vielleicht erfahren können, was Sie geworden sind, denn wir kannten Ihren Namen und – –«
»Nein, den kannten Sie nicht,« fiel ich ein.
»Er steht doch auf dem Gedicht!«
»Nicht ganz; es fehlt eine Silbe. Ich heiße Meier.«
Als sie sah, daß ich dabei lächelte, fragte sie:
»Darf ich vielleicht annehmen, daß dies eine Silbe zu viel ist? Ein Schüler setzt, wenn ein Gedicht von ihm veröffentlicht wird, wohl keinen falschen Namen darunter; ich meine vielmehr, daß er sehr stolz sein wird, sich gedruckt zu sehen!«
»Wie es scheint, sind Sie in die tiefsten Tiefen der deutschen Schülerseele eingedrungen; dennoch muß ich dabei bleiben, daß ich hier in Weston Meier heiße.«
»Darf man die Gründe erfahren?«
»Jetzt noch nicht. Sie haben Ihre Geheimnisse, und ich besitze auch welche; jedenfalls aber werden die meinigen noch vor meiner Abreise offen vor Ihnen liegen.«
»So sollen Sie jetzt meinen Sohn sehen. Ich wollte ihn rufen, denke aber, daß wir ihn lieber in seinem Zimmer überraschen werden. Bitte, kommen Sie!«
Sie führte mich durch die schon erwähnte Thür in ein einfaches aber sehr trauliches Wohnzimmer, dessen Ausstattung ebenso wie der Empfangsraum einen Westmann als Besitzer verriet. Von hier aus ging es in eine kleinere, einfensterige Stube, wo an einer Wand ein volles Bücherregal und gegenüber ein Schreibtisch stand, an welchem ein junger Mann saß, der bei unserm Eintritte aufstand und uns fragend anblickte. Man sah seinen feinen Zügen die geistige Arbeit an; ich erkannte ihn trotz des Schnurrbartes, den er trug, sofort.
»Sieh dir diesen Herrn an!« sagte seine Mutter. »Ich bin unendlich begierig, zu erfahren, ob du sagen kannst, wer er ist.«
Er betrachtete mich eine Weile, schüttelte den Kopf und gab dann den Bescheid:
»Ich sehe ihn heut auf jeden Fall nicht zum erstenmal, aber sagen, wer er ist, das kann ich nicht. Möglich, daß die dunkle Gesichtsfarbe schuld ist. Der Herr ist ja von der Sonne verbrannt und vom Wetter mitgenommen wie ein Fallensteller!«
»Fallensteller!« lachte sie. »Um braun zu werden, braucht man nicht auf der Prairie oder im Urwalde herumzulaufen.
Herr Meier hat den Westen jedenfalls noch nie gesehen, denn er ist – – ich will dir einhelfen: er ist ein Dichter.«
»Dichter – –? Meier – – Mei – – Mei – –«
Da flog ein Strahl freudigen Erkennens über sein Gesicht; er streckte mir beide Hände entgegen und rief:
»Unsinn – – – Meier! Welch eine Überraschung! Eine größere Freude konnte uns gar nicht werden! Jetzt erkenne ich Sie und bin darüber verwundert, daß es nicht sogleich geschehen ist, obgleich Sie damals ein kleines, schmales Kerlchen waren und jetzt fast wie ein Indsman aussehen. Da muß ich doch gleich auch einmal zum Dichter werden, wobei ich mir aber gestatte, die Reime von Ihnen zu entlehnen:
Ich verkünde große Freude
Grade wie zum heilgen Christ,
Denn gekommen ist uns heute
Einer, der uns teuer ist!«
Er schüttelte mir dabei die Hände so anhaltend, daß die Aufrichtigkeit seiner Freude keinem Zweifel unterliegen konnte, und schob uns dann mit den Worten in das Wohnzimmer zurück:
»Hier ist kein Platz für ein so frohes Wiedersehen. Meine Bücherrücken machen ein so ernstes Gesicht, daß wir uns ihren Augen unbedingt entziehen müssen.«
Es waren fast lauter juristische Werke, und ich bekam später Gelegenheit, zu bemerken, daß sie sich meist auf die in Österreich geltenden Rechte bezogen. Den Grund sollte ich dann auch erfahren.
Die beiden guten Menschen wollten vor allen Dingen möglichst viel über mich und meine Verhältnisse wissen. Ich konnte ihnen nur kurz sagen, was die Frau schon von mir erfahren hatte, nämlich daß ich Reiseschriftsteller sei und, fügte ich hinzu, über meine pekuniäre Lage nicht zu klagen habe. Damit mußten sie sich einstweilen zufrieden geben. Sie baten mich, während meines Aufenthaltes in Weston bei ihnen zu wohnen, und ich war überzeugt, daß ihnen das Eingehen auf diese Einladung große Freude gemacht hätte: aber ich schlug es ihnen ab, weil ich weiß, daß ich für Privatleute ein Gast bin, der unter Umständen sehr unangenehm werden kann, so daß sich die anfängliche Freude leicht in das Gegenteil verwandelt.
Die in meinem Hause übliche Gastfreundschaft, welche ich eine westmännische nennen möchte, beraubt meinen Gast nicht einen Augenblick lang seiner Freiheit und Selbstbestimmung. Er bekommt als Zeichen, daß er sein eigener Herr bleibt, sofort den Hausschlüssel ausgehändigt. Er ist in jeder Beziehung Familienglied, und was ich habe, gehört, so lange er bei mir ist, auch ihm. Er braucht nicht zu bitten oder auf Erfüllung eines Wunsches zu warten wie ein Fremder, sondern er hat nur zu wollen, zu bestimmen, ganz so zu thun, als ob er in seinem eigenen Hause sei. Wann er geht, und wann er kommt, ob er mit uns essen, mit uns ausfahren oder ausgehen will, ob es ihm beliebt, allein zu sein oder sich mit uns zu unterhalten, das ist alles seine Sache; er braucht darüber kein Wort zu verlieren. Wir suchen alle seine Wünsche zu erraten; wir leben nur für ihn; das ganze Haus, die Bedienung und jede andere Person ist nur für ihn da; aber er darf ja nichts davon merken, sonst fühlt er sich nicht frei, nicht wohl. Er muß den Eindruck, die feste Überzeugung haben, daß er auch nicht die allergeringste Störung mache, daß trotz seiner Anwesenheit das ganze häusliche Leben so verlaufe, als ob er gar nicht vorhanden sei. Ein Gast muß denken, daß man sich um ihn nicht mehr als um jeden andern Hausgenossen bekümmere, und sich dennoch oder vielmehr grad deshalb recht behaglich fühlen. Diese Art der Gastlichkeit scheint leicht auszuüben zu sein und wenig Aufopferung zu fordern, verlangt aber ganz im Gegenteile viel, viel mehr verborgene Aufmerksamkeit, Selbstlosigkeit und Individualisierungskunst als die andere, laute, ich möchte sagen protzige Art, über welche ich mich oft geärgert habe.
Diese andere Art zeigt vor allen Dingen dem Gaste, daß er Gast ist. Man stürzt seinetwegen das Haus um; man verändert seinetwegen den Wirtschaftsplan; man schließt seinetwegen die gute Stube auf, geht seinetwegen ins Theater oder spazieren, macht seinetwegen eine Landpartie, kocht seinetwegen anderes Essen, zieht seinetwegen bessere Kleidung an, läßt sich seinetwegen nicht in den Hausschuhen sehen, führt seinetwegen im Gespräch einen andern Ton, macht seinetwegen aus dem Werktag einen Feiertag; alles, alles geschieht oder unterbleibt nur seinetwegen und zwar in einer Weise, die ihm dieses »Seinetwegen« bis zur höchsten Zweifellosigkeit beweisen muß. Dabei konzentriert sich alles nur um ihn; man ist vom Morgen bis zum Abend nur immer um ihn herum; er darf nicht den kleinen Finger bewegen, ohne daß man sofort nachzählt, ob er auch wirklich noch alle zehn beisammen habe. Man sorgt mit großem Fleiße dafür, daß er diese Opfer, diese Anspannung, diese Ausgaben, diese Aufmerksamkeit ja nicht übersieht, denn sonst könnte er, so meint man nämlich, vielleicht gar annehmen, daß er nicht willkommen sei. Der arme Teufel ist natürlich der reine Sklave dieser Gastlichkeit. Kein Augenblick gehört ihm; er kann nicht essen und trinken, was er will und was ihm bekommt; man läßt ihn keine Minute allein, weil er sich sonst verlassen fühlen könnte; er darf keinen einzigen Schritt unbegleitet aus dem Hause gehen; er kann nichts unternehmen, nichts ansehen, nichts kaufen, ohne mit Rat und Hilfe förmlich überschüttet zu werden. Und weil er sich trotz alledem für einen einsamen Waisenknaben, um den sich kein Mensch bekümmert, halten könnte, wird er bei Verwandten und Bekannten und in allen Trinkwirtschaften herumgeschleppt, oder man ladet Gäste ein, die ihn unterhalten müssen. Der gute Mann erleidet wahre Folterqualen, die sich bis zum höchsten Grade der Tortur steigern, wenn er vielleicht die Unvorsichtigkeit begangen hat, in der Kunst, der Wissenschaft oder in irgend einem andern Fache hervorragendes zu leisten, so daß sein Name in die Öffentlichkeit gedrungen ist. So ein Unglücklicher bekommt Einladungen über Einladungen, aber wehe ihm, wenn er einer folgt! Er wird von seinen lieben, aufopferungsvollen Gastfreunden herumgeritten, bis er vor Müdigkeit zusammenbricht. Diese Menschen haben keine Ahnung davon, daß sie geradezu eine Art von Mord begehen, wenn sie den Gast, der sich bei ihnen erholen will, vollständig seiner Freiheit berauben, alle Augen auf jede seiner Bewegungen und hundert Ohren auf jedes seiner Worte richten und von ihm verlangen, keinen einzigen Augenblick ein gewöhnlicher Mensch sondern von morgens früh bis abends spät ein geistreicher Mann zu sein. Es giebt sogar Leute, welche ihren Gast nur deshalb keine Minute aus den Augen lassen, weil sie annehmen, er sei als ihr Gast ihr persönliches Eigentum und dürfe sich den ganzen Tag nur ihnen, aber keine Viertelstunde lang einem andern Menschen widmen. Auf diese Weise machen sie sich für das, was er bei ihnen genießt, vielleicht ohne es genießen zu wollen, bezahlt und glauben dann auch noch, daß er ihnen Dank schuldig sei. Das Allerschlimmste aber dabei ist, daß er die Empörung, welche er darüber empfindet, nicht merken lassen darf, sondern alle Qualen dieses Marterpfahles, an den man ihn gefesselt hat, mit lächelnder Miene über sich ergehen lassen muß, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, für einen rücksichtslosen, undankbaren Menschen gehalten zu werden. – Das ist die Art der Gastfreundschaft, vor welcher mir graut, und bei der jeder vernünftige und freiheitsliebende Mensch in das Stoßgebet ausbricht: Herr, bewahre mich vor meinen Freunden; vor meinen Feinden kann ich mich schon selber schützen! Für solche Leute bin ich ein, wenn auch erst willkommener, dann aber sicher heimlich fortgewünschter Gast; ich halte es eine Weile aus, werde dann aber, wenn es sich nicht ändert, unangenehm, denn es hat jeder Mensch nicht nur das Recht sondern auch die Pflicht, sich seiner Haut zu wehren. Das Resultat meiner Erfahrungen in dieser Beziehung läßt sich mit wenigen Worten sagen: Ich habe gern Gäste, bin aber nicht gern selbst Gast.
So schlug ich auch hier in Weston die Bitte, bei Frau Hiller zu wohnen, in höflicher aber bestimmter Weise ab und entschädigte sie durch das Versprechen, am Abend wiederzukommen. Sie meinte, daß ich heut im Hotel doch nicht arbeiten könne, weil der durch das Festmahl und den Ball verursachte Lärm mich um die dazu nötige Sammlung bringen werde.
Die Jägercompagnie zog mit Musik durch die Stadt und dann nach dem Platze, auf welchem die Schießübungen stattfanden. Ich ging auch hin, um zuzusehen. Die Herren schossen für ihre Zwecke gut; ein Schütze à la Westmann war aber nicht dabei. Ich sah auch den Prayer-man, welcher auf dem Platze herumging, um seine Schriften auszubieten; er schien gute Geschäfte zu machen. Der Festplatz bot ganz genau das Bild einer deutschen Vogelwiese und konnte mich also nicht lange fesseln. Als es dunkel zu werden begann, suchte ich mein Hotel auf, wo die Herrichtung der Festtafel alle Hände in Anspruch nahm. Der Wirt hatte sich einige Aushilfskellner von auswärts kommen lassen, weil unter den durchwegs wohlhabenden Bewohnern der Stadt keiner zu finden gewesen war, der sich zu diesem Dienste herbeiließ. Sie wollten alle, anstatt zu bedienen, selber tanzen, was höchst wahrscheinlich auch keiner dem andern übelnahm.
Da ich Durst hatte, setzte ich mich, ohne erst auf mein Zimmer zu gehen, an einen Ecktisch und ließ mir ein Glas Bier geben. In der diagonalen Ecke saß ein Mann auch beim Biere. Wir waren vorläufig die einzigen Gäste. Er sah gelangweilt vor sich hin und blinzelte zuweilen sehnsüchtig zu mir herüber. Wahrscheinlich sehnte er sich nach Unterhaltung und taxierte mich nun heimlich darauf ab, ob ich die Person sei, bei welcher er das Gewünschte finden könne. Nach einiger Zeit stand er auf, schlenderte durch die Stube und kam dabei so nebenher auch an mir vorbei. Er blieb stehen und grüßte:
»Good evening, Sir! Schöner Tag heut, nicht?«
»Well!« nickte ich.
Er sprach englisch, also that auch ich es.
»War Festtag für die Jäger. Wißt Ihr das?«
»Yes!«
»Feine Schützen! Nicht?«
»Leidlich!«
»Wie? Nur leidlich?«
»Yes!«
»Versteht Ihr denn etwas davon?«
»Yes.«
»Seid wohl gar selber ein guter Treffer?«
»No!«
»Nicht! Und wollt doch etwas davon verstehen?«
»Yes!«
»Wie reimt sich das zusammen, Sir? Ihr scheint überhaupt ein sehr gesprächiger und unterhaltender Mann zu sein; ich aber langweile mich dort an meinem Tische. Darf ich mein Bier holen und mich zu Euch setzen?«
»Yes!«
Ich hatte seine Fragen immer nur mit einem einzigen Worte beantwortet, und doch nannte er mich einen gesprächigen und unterhaltenden Mann! Jedenfalls war er das mehr als ich. Als er sich bei mir niedergesetzt hatte, nahm er den zerrissenen Faden wieder auf:
»Also, wie reimt sich das zusammen? Ihr meint wohl, daß man, ohne selbst schießen zu können, zu sehen vermag, ob jemand in das Schwarze getroffen hat?«
»Yes!«
»Das ist nicht ganz falsch gedacht; aber sehen oder selbst schießen, das ist ein Unterschied! Und das Schwarze nur einmal zu treffen oder alle Kugeln nach einander hineinzusetzen, das ist auch nicht eins und dasselbe! Meint Ihr nicht?«
»Yes.«
»Solltet einmal mich schießen sehen, nämlich mich! Möchtet das wohl gern, Sir?«
»Yes.«
»Könnt das Vergnügen einmal haben, wenn Ihr einige Tage hier bleibt. Wann wollt Ihr wieder fort? Morgen?«
»No!«
»Nicht! Ich schätze nämlich, daß Ihr auch fremd hier seid wie ich. Habe ich recht?«
»Yes.«
»Schön! Wir sind also in dieser Beziehung Kameraden, und Kameraden müssen zusammenhalten. Stellen wir uns also einander vor! Kennt Ihr mich?«
»No!«
»Ich heiße Watter. Jedenfalls habt Ihr diesen Namen schon oft gehört?«
»No!«
»Nicht? Das wundert mich. Ist Euch etwa auch der Name Welley unbekannt?«
»Yes!«
Jetzt fiel ihm meine Wortarmut doch endlich auf; er sagte:
»Yes – no, no – yes – – kein anderes Wort sagt Ihr, und das soll eine Unterhaltung unter Kameraden sein! Thut doch den Mund etwas weiter auf! Ihr könnt das ruhig wagen, denn Ihr verschwendet Eure Worte an keinen Unwürdigen. Werdet es sofort erfahren. Sagt mir nur vorher, was Euer Name ist!«
»Meier.«
»Meier?! Schöner Name, sehr schön; so schön, daß sich ein paar Millionen Menschen erst bis aufs Blut um ihn gestritten und dann sich friedlich in ihn geteilt haben. Nicht?«
»Yes!«
»So ein Friedlicher scheint auch Ihr zu sein. Wenigstens kann man bei Eurer kurzen Ausdrucksweise keinen großen Streit mit Euch anfangen. Sagt doch einmal, Mr. Meier, was habt Ihr denn eigentlich für ein Geschäft?«
»Writer.«
»Writer? So, so! Also Tinte und Feder! Das reicht freilich nicht aus zu einem guten Schuß! Der wilde Westen ist Euch also grad so unbekannt wie mein Rücken dem Bauche; zwei ganz verschiedene, entgegengesetzte Seiten! Aber nun sollt Ihr erfahren, was ich bin. Ich bin nämlich ein Westmann. Wißt Ihr, was das ist?«
»Yes!«
»Ja, aber verstehen werdet Ihr nichts davon! Und ich bin nicht nur ein Westmann, sondern sogar ein berühmter Westmann. Und Welley ist auch so einer. Wir sind nämlich stets beisammen, nur heut nicht, er ist noch unterwegs, kommt aber nach. Er kann jeden Augenblick da zu der Thür hereintreten. Ihn müßt Ihr auch schießen sehen, ihn und mich! Welley sollte morgen schon da sein; würde mich freuen, sehr freuen, des Wettschießens wegen.«
»Wettschießen?« fragte ich.
»Ja, ein Wettschießen. Ich war da draußen auf dem Platze, gleich als das Schießen begann. Da gab es so ein paar Jäger, welche groß thaten; habe über sie gelacht und bin eine Wette mit ihnen eingegangen. Das müßt Ihr morgen sehen! Werde mir da einige Pfund Dollars verdienen. Brauche es zwar nicht, denn ich habe genug. Welley auch. Was meint Ihr wohl, wieviel wir zusammen haben, er und ich?«
»Das kann ich nicht wissen.«
»Ja richtig, nicht wissen, aber auch nicht ahnen. Wir sind nämlich reich, ungeheuer reich, an Staub und an Nuggets. Wißt Ihr, was das ist, Nuggets?«
»Yes!«
»Ja, wissen werdet Ihr es, aber gesehen habt Ihr wohl noch keine. Werde Euch 'mal welche zeigen. Da, schaut her!«
Er griff in die Tasche und brachte eine halbe Hand voll Goldkörner hervor, welche von der Erbsen- bis zur Haselnußgröße waren. Das waren natürlich Renommier-Nuggets, die er stets bei sich trug, um sie vorzuzeigen, der unvorsichtige Mensch! Indem er sie mir hinzeigte, fuhr er fort:
»Habt Ihr wohl eine Ahnung, für wieviel das Gold ist? Sagt es mir doch einmal!«
»Fünf Dollars,« antwortete ich, obwohl ich wußte, daß die Nuggets einen Wert von wenigstens fünfundzwanzig hatten.
»Fünf – – Dollars!« lachte er. »Ihr seid fünfmal verrückt, Mr. Meier! Wenn Ihr mir dreißig geben wollt, so bekommt Ihr das Gold noch lange nicht! Und nun hört, was ich Euch sage!«
Er bog sich über den Tisch herüber und flüsterte mir in wichtigem Tone zu:
»Ich habe wenigstens einen halben Centner solcher Nuggets; damit Ihr eine richtige Idee bekommt, sage ich es Euch im deutschen Gewicht, weil Ihr ein Deutscher seid; das sind also über vierzehntausend Dollars. Versteht Ihr mich wohl?«
»Yes!«
»Und Welley hat noch mehr, viel mehr! Habt Ihr eine Ahnung, woher wir diese Menge von Goldstaub und Körnern haben?«
»No!«
»Wollt Ihr es wissen?«
»Yes!«
»Seid Ihr aber auch verschwiegen, Mr. Meier, sehr verschwiegen?«
»Yes!«
»Gut, weil Ihr das seid, will ich es Euch sagen.«
Er ließ die Nuggets wieder in die Tasche fallen und sprach weiter:
»Ihr wißt natürlich nicht, was man unter einer Bonanza, einem Placer oder einem Finding-hole versteht. Ich will es Euch sagen. Eine Bonanza ist eine Stelle, wo das Wasser einen mächtig großen Goldklumpen aus dem Gestein gewaschen hat; solche Orte sind aber nur außerordentlich selten; es sollen Klumpen von mehr als Centnerschwere gefunden worden sein. Ein Placer ist überhaupt eine Stelle, wo Gold in irgend einer Form gefunden wird. Mit den Finding-holes aber hat es eine eigenartige Bewandtnis. Wenn nämlich das Wasser das Gold aus den Bergen heruntergeschwemmt hat, nimmt es dasselbe je nach der Schwere langsamer oder schneller mit sich fort und rollt die Stücke rund ab wie Steine, die man in einem Flußbette findet. Giebt es nun unten auf dem Grund des Wassers ein tieferes Loch, einen Spalt im Gestein oder eine sonstige Vertiefung, so wird alles Leichtere darüber hin weggerissen, während die größeren Goldstücke ihrer Schwere wegen in das Loch fallen und dieses nach und nach ausfüllen. So ein mit Gold an- oder ausgefülltes Loch wird ein Finding-hole genannt. So lange es sich unter Wasser befindet, kann man es nur durch irgend einen Zufall entdecken; aber es kommt auch nicht sehr selten vor, daß das Wasser plötzlich einmal einen andern Lauf nimmt, sich ein anderes Bett gräbt; dann wird das vorige Bett bloßgelegt und trocknet aus, so daß das Gold zu sehen ist Nach und nach wehen die Winde von Staub, Laub und andern Dingen eine Decke darüber, unter welcher das Finding-hole wieder verschwindet, aber das Auge eines guten Goldsuchers ist scharf und weiß die Stelle trotz der darauf liegenden Erdschicht zu entdecken. Habt Ihr das verstanden, Sir?«
»Yes!«
»Schon wieder nur yes! Mr. Meier, ich sage Euch, wenn Ihr es Euch nicht angewöhnt, den Mund weiter aufzuthun, werdet Ihr es im Leben nicht weit bringen! Denn wer nicht mit seinem Mundwerke umzugehen weiß, der bleibt immer auf der Stelle sitzen, wo er sitzt!«
»Auch wenn er auf einer Bonanza oder einem Finding-hole sitzt?«
»Auch dann! Was nützt ihn das Gold, wenn er darauf sitzen bleibt und nicht fortgeht, um es zu verkaufen? Übrigens habt Ihr jetzt zum erstenmal ein paar Worte mehr als nur eines gesagt, und ich will hoffen, daß Ihr bei diesem bessern Modus bleibt! Ihr seid sonst ein ganz guter, gesprächiger und redseliger Gesellschafter; aber ich gebe Euch den guten Rat, nicht so wortkarg zu bleiben wie bisher!«
»Danke, Mr. Watter!«
»Bitte, bitte! Nun möchtet Ihr wohl wissen, ob ich meine Goldkörner in einer Bonanza, an einem Placer oder in einem Finding-hole gefunden habe?«
»Yes!«
»Hört, fangt nicht schon wieder mit diesem dummen Yes an! Es bringt mich aus dem Konzept und macht mich irr. Wenn Ihr etwas Gescheites von mir hören wollt, so müßt Ihr Euch auch bemühen, wie ein gescheiter, ordentlicher Mensch zu reden; das muß ich Euch in allem Ernst bemerken! Eine Bonanza habe ich natürlich nicht gefunden, denn solche große Klumpen fallen einem nicht so in das Maul!«
»Würde auch einen tüchtigen Knax geben und schade um die Zähne sein!«
»Richtig! Da macht Ihr ja schon einen Witz! Wenn es auch ein herzlich schlechter war, so ist das doch vernünftiger als das ewige Yes und No. Über ein Finding-hole sind wir auch nicht gestolpert, denn so ein Glück ist nur dummen Kerlen und nicht so klugen Menschen, wie ich und Welley sind, beschert. Aber ein Placer, ein sehr gutes Placer haben wir entdeckt, und – was nicht immer vorkommt – wir haben Zeit gehabt, es bis zum letzten Körnchen auszubeuten; dann aber war es auch gleich hohe, ja sogar die höchste Zeit, denn es kamen allerlei Lumpenkerle dazu, vor denen sich jeder ehrliche Mann in acht zu nehmen hat. Nun müßte ich Euch die Gegend beschreiben, aber Ihr würdet das doch nicht verstehen, denn Ihr seid nicht einmal ein Greenhorn, sondern der reine Garnichts in Beziehung auf den fernen Westen. Es ist ein reines Elend, wenn man es mit Leuten zu thun hat, welche nur immer in ihrer Tinte sitzen und mit ihrer Schreibfeder auf dem Papiere Windmühle spielen; aber weil Ihr sonst ein leidlich guter und wohl auch gebildeter Gesellschafter seid, soll es mir auf wenigstens einige notwendige Andeutungen nicht ankommen.«
Er that einen tiefen Zug aus seinem Glase und fuhr dann fort:
»Seid Ihr vielleicht im schönen Staate Idaho geboren?«
»No!«
»Nicht? Das ist sehr gut und doch auch wieder sehr schade für Euch, Mr. Meier. Gut, weil man Euch da für einen Menschen halten kann, mit dem man umgehen darf, denn da oben habe ich fast nur lauter Gesindel gefunden. Schade, weil dort das Gold nur so aus der Erde strebt und Euch, wenn Ihr dort das Licht dieser Welt erblickt hättet, vielleicht zwei große Klumpen davon über Eurer Wiege zusammengewachsen wären. Ich sage Euch, man hat von da oben Millionen an Gold und Silber und andern Metallen heruntergeschleppt. Ich wollte natürlich auch mein Teil davon haben und bin also mit meinem Kumpan Welley und einigen andern unternehmenden Männern hinauf. Habt Ihr vielleicht einmal in dem Stihi-Creek gebadet?«
»No!«
»Hört, in solchen Fällen will ich Euer No gelten lassen, sonst aber nicht! Ihr seid ein vortrefflicher Mensch und darum gönne ich es Euch, daß Ihr nicht so dumm gewesen seid, ein solches Bad zu nehmen. Der Stihi-Creek ist nämlich seiner sogar im Sommer ganz unbegreiflich großen Kälte wegen berüchtigt. Man sagt, daß selbst die Fische drin erfrieren. Ob sein Name in irgend einer Beziehung zu dieser Kälte steht, kann ich nicht sagen, weil niemand weiß, was Stihi bedeutet.«
»Stihi ist ein schoschonisches Wort und bedeutet den höchsten Grad von Kälte, also eiskalt.«
Es machte mir heimlich Spaß, daß er mit einem schnellen Rucke emporfuhr und mich mit großen Augen maß.
»Wie – – was – – – wie?« stieß er erstaunt hervor.
»Und unbegreiflich kann ich diese Kälte ganz und gar nicht finden, denn der Stihi-Creek wird direkt von den Eiswassern des Fremonts-Peak gespeist.«
»Auch das noch? Auch das wollt Ihr wissen? Will dieses Küchlein schoschonisch gackern und wirft mit Schneebergen um sich, als ob sie Gummibälle wären!« Er setzte sich wieder nieder und fügte lachend hinzu: »Aber ich gestehe, daß dieser Witz besser ist als der, den Ihr vorhin gemacht habt. Ich sehe, daß trotz Eurer frühern Wortkargheit noch ein ganz vernünftiger Mensch aus Euch werden kann, mein lieber Mr. Meier. Also vom Stihi-Creek muß ich sagen, daß er sehr goldreich ist; ich weiß es aus Erfahrung, denn an seinem Ufer lag das Placer, dem wir unsere Nuggets entnommen haben. Wir hatten eben alles eingepackt und wollten uns am nächsten Tage auf den Rückweg machen, als vier Kerle geritten kamen und sich an uns machten. Sie gaben sich alle Mühe, uns auszufragen, bekamen aber natürlich keinen Bescheid. Sie ärgerten sich darüber umso mehr, als sie in der weithin aufgewühlten Erde sahen, daß wir hier gearbeitet und wohl auch gute Geschäfte gemacht hatten, denn sie mußten die festen Ledersäcke bemerken, in denen die kleineren Nuggetbeutel steckten. Ich glaubte, sie hätten uns am liebsten kalt gemacht; aber wir legten die Revolver nicht aus unsern Händen weg und machten, um aus ihrer Nähe zu kommen, uns noch am gleichen anstatt erst am andern Tage auf den Weg.«
»Sie sind Euch aber wohl gefolgt?«
»Hm! Diese Frage ist gar nicht dumm, denn sie trifft das Richtige. wir sind nämlich den Green-River hinab. Am Einflusse des Big Sandy-Creek machten wir eine längere Rast und merkten da, daß sie hinter uns her waren. Wir machten uns also schnell weiter fort, sahen sie aber, als wir über den South-Paß gingen, wieder auf unserer Fährte. Am Sweetwater hätten sie uns beinahe des Nachts überrumpelt. Das wurde uns denn doch zu gefährlich, und wir beschlossen, uns zu trennen, um sie irre zu führen. Wir warfen das Los zwischen uns, welches so entschied, daß Welley den Platte hinabfuhr, während für mich der Landweg blieb.«
»Und die andern?«
»Welche andern?«
»Ihr sagtet doch, daß außer Welley noch einige andere unternehmende Männer bei Euch gewesen seien.«
»Ja, richtig! Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß wir uns von diesen losmachten, als wir, ohne daß sie dies ahnten, das Placer am Stihi-Creek entdeckt hatten. Pfiffig muß man sein! Es fiel uns gar nicht ein, mit ihnen zu teilen!«
»Habt Ihr, als Ihr dann allein waret, die Verfolger wieder bemerkt?«
»No!«
»Hattet Ihr mit Welley eine Zeit und einen Ort festgesetzt, wo Ihr Euch wieder treffen wolltet?«
»Yes, hier in Weston in diesem Hotel.«
»Hm! Ihr sagtet, daß die vier Männer Euch am Sweetwater beinahe des Nachts überrumpelt hätten. wie ging das zu?«
»Wir rochen ihr Lagerfeuer und schlichen uns hin. Wir sahen nur zwei von ihnen, aber die Gewehre der beiden andern lagen auch da. Das war genug für uns.«
»Ihr hattet auch ein Feuer?«
»Natürlich! Die Nächte da oben sind kühl, und wir brauchten es auch, um unser Fleisch zu braten.«
»Wann und wo habt Ihr dann gelost?«
»Eben an diesem unserm Feuer, gleich nachdem wir sie entdeckt hatten.«
»Wann seid Ihr von dort fort?«
»Als der Tag graute.«
»Ihr sagtet, daß Welley mehr Gold als Ihr bei sich gehabt habe. Warum das? Hattet Ihr nicht geteilt?«
»Welche Frage! Man merkt es, daß Ihr ein Garnichts seid! Welley ging auf einem Floße den Platte hinab, und ein Floß trägt doch mehr, als ein Pferd tragen kann. Das wenigstens solltet Ihr doch wissen! Ich wiege anderthalb Centner, und meine Nuggets sind einen halben Centner schwer; stellt Euch da vor, was mein Pferd zu schleppen hatte. Ich möchte fast sagen, daß ich geschlichen anstatt geritten bin, so langsam kamen wir fort.«
»Wie lange habt Ihr vom obern Platte bis hierher gebraucht?«
»Fast vier Wochen.«
»Habt Ihr die Nuggets schon verkauft?«
»Nein; damit muß ich warten, bis Welley kommt; da thun wir die beiden Lasten zusammen und schaffen sie nach St. Louis.«
»So habt Ihr das Gold etwa gar hier im Hotel?«
»Natürlich! Wo sollte ich es sonst haben? Aber erst hattet Ihr nur ein Yes oder ein No, und jetzt fragt Ihr mich so ausführlich aus. Habt Ihr einen Grund dazu?«
»Yes.«
»Welchen, Mr. Meier?«
»Ihr scheint Euch darüber zu wundern, ich aber bin der Ansicht, daß ein »reiner Garnichts« auch einmal Gründe haben kann.«
»Ja, aber was für welche! Gefällt Euch vielleicht etwas von dem, was ich erzählt habe, nicht?«
»Es gefällt mir mehreres nicht; ich will aber nicht viele Worte machen, sondern Euch kurz heraus folgendes sagen: Ihr wartet vergeblich auf Euren Kumpan Welley, denn er ist ermordet und beraubt worden, und wenn Ihr Euch nicht bald von hier weg aus dem Staube macht und gegen andere ebenso mitteilsam seid wie gegen mich, wird es Euch wahrscheinlich ähnlich ergehen wie ihm.«
Er warf den Kopf zurück, sah mich mit halb zusammengekniffenen Augen ungefähr so an, wie ein Kasernenhofblütentreiber einen dummen Rekruten, der ihm eine alberne Antwort gegeben hat, betrachtet, und fragte dann in höchst überlegenem Tone von oben herab:
»Wie war das? Was habt Ihr gesagt? Habe ich richtig verstanden? Ermordet – ausgeraubt –?!«
»Ja, so habe ich gesagt; Ihr habt nicht falsch gehört, Mr. Watter.«
»Bei Euch ist wohl da oben, wo andere Menschen das Gehirn haben, der Kopf mit Luft gefüllt?«
»Weiß nicht; habe noch nicht hinein geguckt.«
»Ich glaube sogar an eine so vollständige Leere, daß nicht einmal Luft drin ist! Wie ist es nur möglich, auf einen so unbeschreiblich verrückten Gedanken zu kommen! Ihr seht doch sonst so ziemlich vernünftig aus! Oder habt Ihr Euch nur einen dummen Spaß erlaubt? Das würde ich mir verbitten!«
»Wenn hier überhaupt vom ›Verbitten‹ die Rede sein soll, so bin ich es, der es sich verbittet, als hirnlos und verrückt bezeichnet zu werden, Mr. Watter! Grad diejenigen Menschen, welche ›in der Tinte sitzen‹, wie Ihr Euch auszudrücken beliebtet, müssen an ihr Gehirn noch ganz andere Ansprüche machen, als zum Beispiele solche Leute, welche da oben am Plattefluß ein Feuer riechen und dennoch nicht auf den so nahe liegenden Gedanken kommen, daß das ihrige auch gerochen wird!«
»Das klingt ja ganz genau so, als ob Ihr mir eine Lehre erteilen wolltet!«
»Nehmt das ganz so, wie es Euch beliebt! Wenn man die Verfolger so nahe hinter sich hat, daß man sie sehen kann, brennt man überhaupt kein Feuer an; das muß sich sogar ein ›reiner Garnichts‹ sagen. Als Euch der Geruch des Feuers, welches die vier Männer, die auch nicht etwa kluge Westleute waren, angezündet hatten, in die Nase kam, hättet Ihr diese Nase nur hinter Euch ins Gebüsch zu stecken brauchen, um die zwei Personen zu bemerken, von denen Ihr dann nur die Gewehre saht. Sie belauschten Euch, noch ehe Ihr das fremde Feuer entdecktet, und dann auch nachher, als Ihr das Los warft, um Euch zu trennen und verschiedene Wege einzuschlagen. Sie hörten alles, was Ihr zu einander sagtet, und erfuhren also Euern ganzen Plan, auch daß Ihr Euch in diesem Hotel treffen wollt. Sie merkten, daß Euer Kumpan den größern Teil des Goldes zu transportieren bekam, und folgten dann also ihm, während sie Euch einstweilen laufen ließen, um Euch das übrige hier in Weston abzunehmen. So ist die Sache, anders nicht.«
»Hört, Mr. Meier, jetzt sehe ich freilich ein, daß Ihr ein Gehirn besitzt, und was für eins! Ihr habt ja eine gradezu großartige Phantasie, um welche man Euch beneiden müßte, wenn man die Erzeugnisse derselben in Goldklumpen verwandeln könnte! Ich will einmal annehmen, daß Ihr im Ernst gesprochen habt, und mir da erlauben, Euch mit einer einzigen Frage zu schlagen: Warum haben diese Kerle uns nicht niedergemacht, als sie, wie Ihr annehmt, hinter uns lagen und uns belauschten? Mit zwei Kugeln wäre alles abgemacht gewesen, und sie hätten unser ganzes Gold gehabt! Nun, was sagt Ihr jetzt, Ihr unvergleichlich kluger Mann?«
»Sie hätten über einen Centner Gold zu schleppen gehabt. Was das heißt, habt Ihr ja selbst erfahren. Sie ließen Euch lieber noch leben, um es von Euch so weit schleppen zu lassen, bis es sich da befand, wo sie dann endlich zugreifen konnten. Man kann auch an noch andere Gründe denken.«
»Noch andere? Ich wüßte keinen. Habt doch die Güte, mir nur noch einen einzigen zu sagen!«
»Recht gern! Denkt doch an Euer eigenes Verhalten droben am Stihi-Creek! Ihr habt dort Eure Gefährten fortgeschickt, weil Ihr das Placer nur für Euch haben wolltet. Vielleicht gab es unter den vier Männern auch einen, den man erst beseitigen wollte, ehe man zugriff; vielleicht war das nicht bloß einer. Bei mir steht es bombenfest, daß man Eurem Kumpan auf dem Flusse gefolgt ist. Er müßte ja längst vor Euch angekommen sein! Oder habt Ihr vielleicht Grund, anzunehmen, daß er, um besser wegzukommen als Ihr, sich aus dem Staube gemacht hat?«
»Nein. Dieser Fall ist geradezu undenkbar. Er ist ehrlich gegen mich, denn wir sind schon über zwanzig Jahre lang gute Kameraden gewesen und einander so treu wie – – wie – – na, wie zum Beispiel Winnetou und Old Shatterhand. Habt Ihr schon einmal von diesen beiden gehört?«
»Yes!«
»Gott sei Dank, daß ich endlich wieder einmal bloß ein Yes zu hören bekomme! Nämlich seit Ihr gesprächiger geworden seid, gefallt Ihr mir nicht mehr; Ihr kommt mir wie ein Waschbär vor, welcher sich einbildet, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein.«
»So kann ich mich ja von jetzt an wieder auf ein Yes und No beschränken!«
»Thut das, Sir, thut es immerhin! Ich werde es Euch ganz gewiß nicht wieder vorwerfen!«
»Well! Aber vorher will ich noch eine kurze Warnung aussprechen: Nehmt Euch hier in acht, und sagt zu keinem Menschen, daß Ihr so viel Gold bei Euch habt. Ich an Eurer Stelle würde es gleich morgen schon in Geld umtauschen und dann noch gleich nach Plattsmouth fahren.«
»Warum dorthin?«
»Weil dort der Platte in den Missouri mündet und Euer Kumpan unbedingt dort gewesen sein muß, wenn er die Fahrt auf dem Platte-River glücklich vollendet haben sollte. Ich würde unbedingt dort die sorgfältigsten Erkundigungen einziehen und, falls diese resultatlos wären, den Platte aufwärts gehen, um mich weiter zu erkundigen. Das seid Ihr Welley schuldig, der so lange Zeit ein treuer Freund von Euch gewesen ist.«
Sein Gesicht, welches sich nach und nach verfinstert hatte, nahm jetzt einen zornigen Ausdruck an, und er sagte:
»Hört einmal, macht mir das Bild nur nicht zu bunt! Meine Pflichten kenne ich selbst, und was ich Welley schuldig bin, darüber brauchen mir andere Leute kein Wort zu sagen! Ihr bildet Euch ein, daß er tot sei, und ich behaupte, daß er lebt und sehr bald kommen wird. Ihr werdet mir wohl erlauben, mich nach meiner Überzeugung, nicht aber nach Eurer Einbildung richten zu dürfen!«
»Mr. Watter, das ist grob!«
»Das soll es auch sein, denn Ratschläge, um welche ich nicht gebeten habe, mag ich nicht haben! Ihr braucht Euch nur überlegen, wie die Sache steht: Ihr seid nicht einmal ein Greenhorn; Ihr wißt weder Gix noch Gax von dem Wildwest und seinem Leben; ich aber bin ein Westmann, welcher sich in jeder Lage auskennt; ja, ich kann dreist behaupten, daß ich mich selbst vor Leuten wie Winnetou, Old Shatterhand, Old Firehand und anderen nicht zu verstecken brauche; und da setzt Ihr Euch her zu mir und sprecht von Fehlern, die ich gemacht haben soll, und macht mir Vorschläge, über die ich eigentlich mich gar nicht ärgern, sondern lieber grad hinaus lachen sollte! Ihr habt doch wohl auch einmal sagen hören, daß der Mops den Mond anbellt? Nun, der Mond bin ich, und das weitere wollt Ihr Euch gefälligst selbst denken!«
»Schön! Der Mops sagt Euch Dank für diesen Vergleich, Mr. Watter!« lachte ich.
»Bitte sehr! Und ferner mache ich Euch auf die Verrücktheit aufmerksam, welche in der großartigen Behauptung liegt, daß ich hier beraubt und ermordet werden soll.«
»Die Worte ermordet und beraubt habe ich nicht in Anwendung gebracht, nämlich in Beziehung auf Euch. Ich habe gesagt, daß es Euch, wenn Ihr nicht vorsichtig seid, ähnlich ergehen wird wie ihm. Das braucht also kein Raub und kein Mord, sondern das kann auch bloß ein Diebstahl sein.«
»Auch das ist lächerlich! Ich wollte sogar, es kämen solche Spitzbuben: wie würde ich ihnen heimleuchten! Mein Gold steckt tief im Kasten, und dieser ist nicht nur gut zugeschlossen, sondern ich habe ihn sogar fest angeschraubt.«
»Wo?«
»In der Stube, welche ich hier bewohne. Nehmt dann mich dazu, das Gewehr, das Messer, meine Revolver, so möchte ich den Dieb sehen, dem es gelingen könnte, mir den Kasten leer zu machen, oder gar ihn loszuschrauben und dann fortzutragen!«
»Seid Ihr denn stets in dieser Stube?«
»Nein.«
»Also!«
»Pshaw! Sie ist verschlossen, und ich habe den Schlüssel in der Tasche.«
»Ich sage ebenso Pshaw! Was man nicht durch Anwendung von Gewalt erreicht, das kann man vielleicht durch List viel leichter fertig bringen. Aber ich will Euch meine Warnung ja nicht etwa aufzwingen. Jeder mag sein eigener Wächter sein, und die Nuggets sind doch nicht mein sondern Euer Eigentum.«
»Das ist richtig, und es freut mich, daß Ihr anfangt, wieder vernünftig zu reden. Es klingt doch gar so possierlich, wenn die Maus dem Löwen Ratschläge erteilen will, wohin er den Tiger, der sich gar nicht an ihn wagt, zu beißen hat! Ich muß Euch, um Euch einen richtigen Begriff zu geben, sagen, daß nicht einmal Winnetou es gewagt hätte, mich ungebeten mit einem Rate zu belästigen.«
»Winnetou? Kennt Ihr ihn?«
»Und ob!«
»Persönlich?«
»Ja.«
»So habt Ihr mit ihm verkehrt?«
»Sehr oft sogar, natürlich auch mit Old Shatterhand, der von ihm unzertrennlich ist. Und mit Old Firehand stehe ich mich sogar auf du und du.«
»Ja-a-a-a-a, Mr. Watter, wenn das der Fall ist, so habe ich mit meinen Ratschlägen freilich einen ganz unverzeihlichen Bock geschossen. Das hättet Ihr längst sagen sollen! Sind diese beiden Männer denn wirklich so unvergleichliche Westleute, wie man sie beschreibt?«
»Unvergleichlich? Hmmmmmm!« brummte er, selbstgefällig schmunzelnd, indem er langsam an sich herab blickte. »Ich kenne Personen, oder doch wenigstens eine Person, welche diesen Vergleich wohl ganz gut aushalten würde; aber andere können sich auf keinen Fall an sie wagen.«
»Ich gäbe sonst was drum, wenn ich sie einmal sehen könnte!«
»Das glaube ich Euch, denn es ist wirklich eine Pracht, sie vor Augen zu haben. Der Winnetou ist ein wahrer Riese von Gestalt; er könnte sich getrost bei Barnum engagieren und fürs Geld sehen lassen. Und Old Shatterhand ist noch größer als er.«
»Wirklich?«
»Ja. Old Shatterhand ist zweimal so breit und um anderthalb Kopf höher als Ihr!«
»Good lack! So eine Gestalt ist an sich schon sehenswert!«
»Ja. Denkt Euch dazu eine Körperkraft, die es mit einem Ochsen aufnimmt, eine Gewandtheit, welche außer dem einen, den ich vorhin beim Vergleiche meinte, kein zweiter besitzt, und dazu eine Schlauheit, vor welcher sich alle Füchse der Welt verstecken müssen, kurz und gut, denkt Euch grad das Gegenteil von dem, was Ihr seid und was Ihr könnt, so habt Ihr Old Shatterhand grad vor Euern Augen!«
»Ihr seid um die Freundschaft, welche Euch mit ihm und Winnetou verbindet, gradezu zu beneiden!«
»Das gebe ich gern zu, zumal sie schon so alt ist und so treu, so innig, daß man sich die beiden ohne mich fast gar nicht denken kann.«
»Ihr sagtet aber doch, daß Welley in dieser Weise Euer zweites Ich gewesen sei!«
»Das war er auch.«
»Wie stimmt das dann mit Winnetou und Old Shatterhand?«
»Das stimmt in der Weise, daß wir immer zu vieren gewesen sind.«
»Ah – – so – –!«
Ich dehnte, ohne es eigentlich zu wollen, diese zwei kurzen Worte in einer Weise, die ihm nicht gefiel, denn er fragte mich:
»Wollt Ihr mir etwa nicht glauben, Sir?«
»Bitte! Mir fiel nur auf, daß man niemals Euch erwähnt, wenn man von diesen beiden spricht.«
»Das ist es ja, was mich stets geärgert hat! Auf sie fällt aller Ruhm; ihre Begleiter aber bekommen nichts davon, obgleich sie ihn ebenso verdienen!«
»Es wundert mich, dies zu hören. Ich könnte Euch eine ganze Reihe von Westmännern nennen, welche mit den beiden geritten sind und vielleicht grad deshalb sehr oft mit Lob und Anerkennung genannt werden.«
»Ihr könntet das? Wer wären denn diese Leute?«
»Old Firehand, Sam Hawkens, Dick Stone, Pitt Holbers, Dick Hammerdull, der lange Davy mit dem dicken Jemmy, die beiden Snuffels und noch viele andere mehr. Die Namen Watter und Welley aber hat man nie dabei gehört. Wie das nur wohl kommen mag, Sir?«
»Ihr werdet sie nicht beachtet oder sie vergessen haben.«
»Oh nein; ich besitze ein ganz vorzügliches Gedächtnis.«
»Hört, das sagt Ihr so in einem Tone! Sprecht grad heraus! Ich liebe versteckte Anzüglichkeiten nicht! Meint Ihr vielleicht, daß Ihr alle Begleiter dieser beiden berühmten Jäger kennt und daß derjenige, dessen Name Euch unbekannt ist, nicht bei und mit Ihnen gewesen sein kann?«
»Ich meine nur das, was ich schon gesagt habe: Ich kenne alle, aber auch alle Bekannten Winnetous und Old Shatterhands, habe aber von Euch noch nichts gehört.«
»Alle, also alle kennt Ihr? Das heißt doch mit andern Worten, daß ich geflunkert haben soll! Hört, Mr. Meier, wenn Ihr ein Westmann wäret, würde ich Euch auf Messer herausfordern; dankt also Gott, daß Ihr ein reiner Garnichts seid! Ihr seid mir Luft; Ihr seid mir Schnuppe, aber auch ganz und gar Schnuppe; darum will ich so thun, als ob ich die Beleidigung gar nicht gehört hätte, und Euch laufen lassen. Aber noch länger bei Euch zu bleiben, das dürft Ihr nicht von mir verlangen!«
»Thue ich auch gar nicht!«
»So? Nicht? So steht gefälligst auf, und setzt Euch fort!«
»Aaaaaaah!« staunte ich ihn ob dieses Verlangens lachend an.
»Ja – – jawohl!«
»Wer hat zuerst hier gesessen?«
»Ihr; aber das geht mich gar nichts an! Ihr werdet Euch doch nicht einbilden, daß ich, der Westmann, der Freund Old Shatterhands und Winnetous, vor Euch, dem Garnichts, retiriere!«
»Von einer Einbildung ist hier gar keine Rede.«
»Wovon denn?«
»Von dem, was ich für richtig halte.«
»Ach, also was Euch beliebt?«
»Yes!«
»Und was beliebt Euch denn?«
»Daß Ihr Euch wieder dorthin setzt, wo Ihr vorher gesessen habt.«
»Das beliebt Euch also, das? Nun, so wollen wir doch einmal sehen, wie weit Ihr es mit diesem Eurem Belieben bringt. Ich bleibe hier sitzen, so lange es mir beliebt. Jetzt bin ich neugierig, was Ihr machen werdet!«
»Das sollt Ihr sofort erfahren!«
Es waren inzwischen mehr Gäste gekommen, welche unsere halblaut geführte Unterhaltung nicht gehört und auch nicht beachtet hatten; Watter aber hatte in der letzten Zeit seine Stimme erhoben und sprach schließlich so laut, daß sie über das ganze Zimmer schallte, wodurch die allgemeine Aufmerksamkeit natürlich auf uns gelenkt wurde. Ich bin durchaus kein Freund von Kneipenscenen, aber die öftere Wiederholung seines »reinen Garnichts«, die Verächtlichkeit, mit welcher er meinen nur zu begründeten und wohlgemeinten Rat zurückgewiesen hatte, und die lügenhafte Behauptung, ein Freund von Winnetou und mir zu sein, verdienten eine Zurechtweisung, mit welcher ich gar nicht zögerte. Indem er mich bei seinen letzten Worten in überlegener, geringschätziger Weise anlächelte und ich ihm sagte: »Das sollt Ihr sofort erfahren«, stand ich rasch auf, hob seinen Stuhl mit ihm selbst in die Höhe, trug ihn durch die Stube hinüber und setzte ihn dort nieder, wo er vorher gesessen hatte. Als ich wieder zurückging, erscholl ein allgemeines Gelächter, untermischt mit lauten Bravorufen.
Er sprang sofort wieder auf, kam eiligst hinter mir her und schrie, als ich mich niedergesetzt hatte, mich an:
»Ihr habt es gewagt, mich anzufassen! Wißt Ihr, was das heißt, was das zu bedeuten hat? Eure Albernheiten habe ich ruhig ertragen, denn sie waren so dumm, daß Ihr mich nur erbarmen konntet; aber thätliche Angriffe kann ein Westmann auf keinen Fall dulden. Wißt Ihr, was ich thun werde?«
»Nun, was?« fragte ich, ihn ruhig anlächelnd.
»Ich werfe Euch hinaus, hinaus bis auf die Straße!«
»Schön! Thut es, Mr. Watter! Seht, ich stehe auf; hier habt Ihr mich! Ich werde mich gar nicht wehren.«
Ich stand wieder auf und stellte mich vor ihn hin.
»Gut, gut!« rief er. »Soll sofort los gehen! Also hinaus, hinaus!«
Er faßte mich bald rechts, bald links, bald oben, bald unten, bald hüben und drüben oder hinten und vorne zu gleicher Zeit und brachte mich doch nicht um einen Centimeter von der Stelle, denn ich hatte die Beine ausgespreizt und die Knie ein wenig gebogen und schob jedem Drucke von ihm den Schwerpunkt meines Körpers entgegen. Wer diesen Vorteil, oder sagen wir lieber Trick, genau kennt und gut eingeübt hat, den bringt selbst ein ungewöhnlich starker Mann nicht leicht von der Stelle. Die Hauptsache ist dabei, daß man nicht den Bruchteil einer Sekunde zögert, seinen Schwerpunkt sofort dem Drucke des Gegners entgegenzuschieben. Man muß diesen Druck, ich möchte sagen, vorher ahnen; man darf nicht warten, bis man ihn erst fühlt; läßt man nur einen Augenblick vergehen, so ist's zu spät und man hat die Balance verloren. Daß zur Ausführung dieses Tricks nicht nur Gewandtheit und lange Übung, sondern auch eine gute Körperkraft gehört, das brauche ich eigentlich gar nicht zu sagen.
Es läßt sich denken, daß alle Gäste ihre Plätze verlassen hatten, um uns zuzuschauen. Es war ein Gaudium für sie, zu sehen, welche Mühe sich Watter gab, seine Drohung wahr zu machen.
»Lo lo! Up! Greift zu! Fester, fester! Come on! Hebt, schiebt, schiebt! Huzza, huzza!« erklang es aufmunternd von allen Seiten. »Wer wettet mit? Ich sage, er bewegt ihn nicht! Einen Dollar, zwei Dollars, fünf Dollars! Jetzt, jetzt! Ach, wieder nichts! Der Mann steht wie ein Fels, wie ein Gebirge! Zehn Dollars setzte ich, zehn! Wer wagt sich dagegen!«
Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Rufe meinen Gegner zur größten Anstrengung spornten; er that, was er konnte, doch ohne jeden Erfolg. Endlich ließ er wieder ab, holte tief Atem und schrie erbost:
»Dieser Kerl hat entweder den Teufel, oder er ist an die Diele festgenagelt! So etwas hat man noch nie erlebt!«
»Ich will Euch gleich etwas zeigen, was Ihr wohl auch noch nicht erlebt habt!« lachte ich. »Ihr wolltet mich auf die Straße werfen; ich will es feiner mit Euch machen; Ihr müßt zwar auch hinaus, aber ich werde Euch nicht werfen, sondern tragen. Paßt auf!«
Um seine Arme und Hände für mich unschädlich zu machen, drehte ich ihn schnell, ehe er es vermutete, um, faßte ihn oben am Rock- und Westenkragen, unten am Gesäß, hob ihn mit einem Rucke in die Höhe, schüttelte ihn einigemal derb auf und nieder, was ihm für den Augenblick die Energie benahm, ging nach der halb offen stehenden Thür, schob diese vollends auf und trug ihn durch den Flur hinaus auf die Straße. Alles, was sich im Zimmer befand, kam unter hellem Gelächter hinterhergelaufen.
»Wo soll ich ihn hinthun, Mesch'schurs?« fragte ich.
»Steckt ihn wieder zum Fenster hinein, damit wir ihm drin applaudieren können!« schlug einer vor.
»Gut! Da geschieht es schon!«
Bei diesen Worten schob ich den »Freund Winnetous und Old Shatterhands« durch das Fenster, mit dem Kopfe voran, und gab, als der Oberkörper drin war, den Beinen einen Stoß, so daß er nieder auf den Boden fiel. Allgemeines Händeklatschen und Bravorufen begleitete diesen leichten Erfolg; dann kehrten wir in die Stube zurück. Kein Watter war zu sehen! Dr. Rost, der einstweilige Oberkellner, beantwortete die erstaunten Fragen, indem er lustig lachend auf ein auch offenes Fenster an der andern Wand deutete:
»Dort ist er gleich wieder hinaus, als er schnell aufgestanden war. Das ging so im Nu, daß man ihn fast gar nicht deutlich sehen konnte!«
Das Gelächter verdoppelte sich natürlich. Übrigens hatte der famose Westmann ganz klug daran gethan, sich sofort aus dem Staube zu machen, denn er hätte nach dieser Zurechtweisung doch nur eine jämmerliche Figur gespielt. Was mich betrifft, so wollte man mich in Beschlag nehmen; man schlug vor, daß alle sich an einem Tische zusammensetzen möchten; ich brachte aber irgend eine glaubhafte Entschuldigung vor und ging auf mein Wohnzimmer, um dort den Tisch zur Arbeit herzurichten, denn ich hatte vor, trotz des Ballgeräusches die Nacht hindurch bis zum Morgen zu schreiben.
Meine Stube hing durch eine Thür mit der nebenan liegenden zusammen; der Schlüssel steckte auf meiner Seite. Ohne irgend ein Mißtrauen zu hegen, folgte ich nur der alten, westmännischen Gewohnheit, meine Umgebung genau zu kennen, und schloß die Thür auf. Man hatte jenseits einen Schrank vorgesetzt, welcher so breit und so hoch war, daß er nicht nur die Thür sondern auch ihre Einfassungen vollständig verdeckte. Wer als Fremder jenseits wohnte, konnte also leicht der Meinung sein, daß der Schrank an der Mauer stehe und eine Thür gar nicht vorhanden sei.
Nun kam die Zeit, der Einladung von Frau Hiller zu folgen. Das Abendbrot war zubereitet, und wir setzten uns, als ich kam, sofort zu Tische. Man schien erwartet zu haben, daß ich jetzt weniger schweigsam sein, sondern erzählen werde, weshalb ich nach Amerika gekommen sei und was ich bis heutigen Tages erlebt habe; ich wies das aber von mir, selbstverständlich in einer Weise, die sie nicht beleidigen konnte. Hierauf erfuhr ich, warum sich im Arbeitszimmer des Sohnes fast nur Bücher juristischen Inhaltes befanden.
Den eigentlichen Grund, weshalb die Familie die Heimat verlassen hatte, wo diese Heimat lag und welchem Stande Hiller angehört hatte, das erfuhr ich nicht und hütete mich auch, mir nur durch eine Silbe den Anschein zu geben, als ob ich es gern erfahren möchte. Diese Verhältnisse konnten mir bei all meiner Teilnahme für die Leute, bei denen ich mich befand, vollständig gleichgültig sein. Aber ich merkte, daß es ein Band gab, welches sie mit der Heimat zusammenhielt und nicht zerrissen werden sollte. Es war ihnen ein großes Unrecht geschehen, dem sie wehrlos gegenübergestanden hatten. Man hatte eine, wie es schien, sehr schwere Schuld auf sie geworfen, deren Folgen, also der Bestrafung, zu entgehen, sie geflüchtet waren. Die Ehre der Familie war verloren gegangen, und sie schienen bis heut ihr ganzes Bestreben darauf gerichtet zu haben, diese Ehre wieder herzustellen, um in die Heimat zurückkehren zu können. Es galt, Beweise ihrer Unschuld zu erbringen, wozu es guter gerichtlicher und wahrscheinlich auch polizeilicher Kenntnisse bedurfte, und weil sie sich keinem Fremden anvertrauen konnten oder wollten, war der Sohn Jurist geworden und hatte sich, ohne nach einer Anstellung in den Vereinigten Staaten zu verlangen, ausschließlich darauf gelegt, die einschlägigen Gesetze seines Vaterlandes zu studieren. Sobald er sich dazu reif fühlte, sollte an die Lösung der so schwierigen Aufgabe gegangen werden.
Das Studium des Knaben und die Hingabe an die Erreichung dieses einzigen, großen Lebenszweckes hatte natürlich Opfer gefordert, vor allen Dingen pekuniäre. Hiller hatte verdienen müssen und doch zu keinem erwerblichen Berufe Kenntnisse oder Geschick besessen, was mich auf die Vermutung brachte, daß die Familie eine aristokratische sei und das Haupt derselben bis zum Hereinbruche des Unglückes nur der Repräsentation gelebt habe, ein Beruf, welcher ein großes Vermögen erfordert und zwar in den heimatlichen Verhältnissen möglich, aber im Lande der rastlosen Arbeit jenseits des Oceans mit keinem einzigen Cent bewertet ist. Zu seinem und der Seinen Glück war Hiller ein guter Jäger gewesen, und es gelang ihm, bei einer der großen Pelzfirmen Engagement zu finden. Er arbeitete sich mit der Zeit in diesem Fache so empor, daß er ein seinen Absichten genügendes Einkommen erzielte. Freilich konnte er nur kurze Zeit im Jahre daheim sein, und Frau und Sohn mußten sich in steter Sorge um ihn befinden; aber die Macht der Gewohnheit blieb auch hier nicht ohne Wirkung, zumal ihm auf seinen Jagdzügen nie etwas widerfahren war, was man ein Unglück hätte nennen können.
Jetzt aber befanden sich die beiden Personen, bei denen ich saß, in großer Sorge um ihn. Er war, wie schon oft, im zeitigen Frühjahre fortgegangen, um bei den Indianern, mit denen er in Geschäftsverbindung stand, die Erträgnisse der Herbst- und Winterjagd einzuhandeln, und bis heute nicht zurückgekehrt, obgleich er seine Heimkehr für spätestens auf Anfang Juli festgesetzt hatte. Auf ihre wiederholten, ängstlichen Erkundigungen war Frau Hiller aus St. Louis nur immer der unzulängliche Bescheid zugegangen, daß man selbst noch keine Kunde von ihm oder einem seiner Begleiter bekommen habe und den erwarteten großen Pelzlieferungen schon längst mit Ungeduld entgegensehe. Die Firma schien sich also selbst in Sorge zu befinden; dazu kam, daß sich seit einiger Zeit ein dunkles Gerücht über Feindseligkeiten zwischen den in den nordwestlichen Bergen hausenden Indianerstämmen im Umlauf befand. Ich hatte von diesem Gerücht noch nichts gehört, weil ich mit Winnetou aus dem Süden und zwar durch Gegenden gekommen war, in denen es keine Weißen gab und wo wir jedes Zusammentreffen mit den Roten hatten vermeiden müssen.
Ich suchte, um Frau Hiller und ihren Sohn zu beruhigen, alle möglichen Gründe zusammen, welche sein langes Ausbleiben erklären konnten, brachte aber damit nicht die beabsichtigte Wirkung hervor. Als ich mich erkundigte, welche Indianerstämme es seien, die er hatte besuchen wollen, antwortete sie:
»Er pflegt das der Konkurrenz wegen immer geheim zu halten; gegen mich zwar braucht er natürlich nicht verschwiegen zu sein, aber es würde doch zu nichts führen, Ihnen diese Namen alle zu nennen, die Ihnen ja doch unbekannt sind.«
»Sie irren. Ich kenne die Verhältnisse aller Stämme der Vereinigten Staaten besser, als Sie denken.«
»Aus der Ferne, ja, aus Zeitungen und aus Büchern! Sie sind uns ein lieber, hoch geehrter Freund und in Ihrem Fache ein jedenfalls tüchtiger Mann; aber was unsere Sorge um meinen Mann betrifft, da ist es Ihnen unmöglich, uns auch nur einen kleinen Teil der Last zu nehmen. Dazu gehörten Männer, die den Westen kennen und kühn und erfahren genug sind, sich hinauf in die Felsenberge zu wagen, um nach den Vermißten zu forschen. Ein deutscher Schriftsteller, und wenn er der berühmteste wäre, wiegt da auch nicht ein Gramm. Sie verzeihen diese Worte; aber es ist wirklich so! Ich werde nach St. Louis fahren, um dort den Vorschlag zu machen, daß man einige tüchtige Jäger hinaufschickt, aber mutig und klug müssen sie sein und die Verhältnisse genau kennen, nicht solche unbewanderte Leute wie alle die, welche nicht wußten, was das Leder zu bedeuten hatte!«
»Leder?« fragte ich.
»Ja. Da kann ich Ihnen gleich einen Beweis liefern, daß die Klugheit des klügsten Europäers oder überhaupt Weißen sich an einem Stückchen Leder in Unwissenheit verwandelt.«
»Hm! Ein Stückchen Leder? Gestatten Sie, daß ich mich vor diesem Beweise nicht fürchte! Ich bin nämlich Lederkenner.«
»Oh, in der Weise, wie Sie es meinen, bin ich auch Lederkennerin. Hier aber handelt es sich um die Beantwortung der für mich sehr wichtigen Frage: Welche Bedeutung hat es, wenn ein Indianer zu Ihnen kommt und Ihnen ein Stück Leder giebt?«
»Das Leder ist ein Brief oder hat sonst irgend eine Bedeutung, welche auf eine Mitteilung abzielt.«
»Das hat bis jetzt ein jeder gedacht; aber keiner hat mir auch nur ein einziges Wort über diese Bedeutung sagen können. Ich habe mich hier erkundigt und bin überall herumgefahren; ich bin auch in St. Louis gewesen, wo es bei den Handelsfirmen doch Leute giebt, von denen man Erfolg erwartet; es sind hundert und noch mehr Westmänner, Jäger, Trapper und sonstige Kenner gefragt worden; alle haben das Leder untersucht, aber die Antwort hat stets in einem Kopfschütteln und dem Geständnis bestanden, daß dieses Leder ein ganz gewöhnliches Stück Leder sei und gar nichts zu bedeuten habe. Und doch muß es eine Bedeutung besitzen, und zwar für mich, denn ein Indianer hat es gebracht und dabei gesagt, daß es für die Squaw von Nana-po, so wird mein Mann genannt, bestimmt sei!«
»Sie sagten doch, daß Sie keine Nachricht von Ihrem Manne hätten! Warum haben Sie das Leder nicht schon längst erwähnt?«
»Weil das keinen Zweck gehabt hätte. Was hundert Westmänner nicht sagen können, können auch Sie nicht wissen. Die Bedeutung des Leders wird mir ein Rätsel bleiben, bis einmal so ein Mann wie Old Firehand oder Old Shatterhand in diese Gegend kommt, den ich dann augenblicklich aufsuchen werde, um es ihm zu zeigen.«
»Da können Sie jahrelang warten, ehe so einer zufälligerweise einmal nach Weston oder in die Nähe kommt!«
»Leider! Aber in Jefferson soll Old Shatterhand und sogar auch Winnetou schon einigemal gewesen sein.«
»Sie haben das Leder noch?«
»Ja.«
»Vielleicht genügt es, daß Sie es mir einmal zeigen!«
»Ihnen?! Meinetwegen! Sie sollen es sehen, nur damit Sie später sagen können, daß Sie ein indianisches Totem oder so etwas in der Hand gehabt haben. Ich hole es!«
Sie brachte es und gab es mir. Es war ein vierfach zusammengelegtes Lederstück von der Größe eines Papierbogens. Man konnte auf keiner Seite ein Zeichen oder sonst etwas bemerken, was darauf hätte schließen lassen, daß es irgend eine Bedeutung, irgend einen andern Zweck gehabt hätte, als überhaupt jedes Lederstück hat. Und doch wußte ich sofort, woran ich war.
»Nun?« fragte sie lächelnd. »Nicht wahr, es ist ein Stück Leder wie jedes andere Lederstück?«
»Nein.«
»Nicht? Da bin ich wirklich neugierig, was Sie denken! Natürlich wird es ein Irrtum sein!«
»Ich denke, daß auch einmal ein deutscher Schriftsteller allen Ihren hundert und noch mehr Westmännern beweisen kann, daß sie keine Westmänner sind. Dieses Leder ist ein Brief!«
»Was? Doch? Sie irren sich! Sie täuschen sich!« rief sie schnell aus. »Es ist ja ganz und gar nichts darauf zu sehen!«
»Nicht darauf sondern darin!«
»Darin? Kann ein Lederstück hohl sein?!«
»Dieses Lederstück ist oder vielmehr sind eigentlich zwei Stücke Leder!«
»Unmöglich! Das hätte man doch fühlen und auch an den Rändern sehen müssen.«
»Pshaw! Wir haben da zwei sehr fein zubereitete Waschbärfelle vor uns, welche zusammengeklebt sind. Das eine ist der Brief und das andere die Decke.«
»Warum hätte man eine Decke auf den Brief geklebt?«
»Um die Schrift zu schonen.«
»Das hätte man auf einfachere Weise erreichen können, zum Beispiel durch Einwickeln.«
»Die Decke hat noch einen zweiten Zweck, einen Zweck, welcher mir Besorgnis einflößt.«
»Warum.«
»Der Indianer, welcher den Brief gebracht hat, ist ein Feind von Ihnen, also auch Ihres Mannes gewesen. Auf welche Weise hat er Ihnen das Leder gegeben?«
»Ich war nicht daheim. Er hat es gebracht und gesagt, das sei für die Squaw von Nana-po; dann ist er schnell wieder fortgegangen. Ich habe mich dann nach ihm erkundigt; aber er ist keinen Augenblick in der Stadt geblieben.«
»Also habe ich recht. Die Beschaffenheit dieses Briefes ist eine solche, daß Sie Zeit brauchten, ihn zu öffnen und zu lesen, und während dieser Frist konnte er sich flüchten. Der Inhalt des Briefes ist kein guter für Sie.«
»Um Gott! Wenn Sie ihn doch lesen könnten!«
»Ich kann ihn lesen!«
»Das wäre ein Wunder, ein geradezu unbegreifliches Wunder, nachdem so viele Kenner nichts herausgebracht haben!«
»Das waren keine Kenner sondern Pfuscher. Wissen Sie vielleicht, was der Lederarbeiter unter ›Leder schärfen‹ versteht?«
»Nein.«
»Die Ränder sind mit einem sehr scharfen Messer verdünnt worden, um besser zusammenzukleben, so daß man nicht bemerkt, daß das Leder aus zweien besteht. Der Kenner aber fühlt sofort, daß die Ränder dünner sind.«
»Aber man müßte doch in der Mitte fühlen, daß es doppelt ist!«
»Es ist da auch zusammengeklebt.«
»Geht da nicht die Schrift beim Auseinanderreißen verloren?«
»Wir reißen nicht, sondern wir weichen auf.«
»Da weicht doch auch die Schrift auf!«
»Nein, denn die ist nicht mit einer Wasserfarbe geschrieben. Bitte, geben Sie mir eine Schere, und bringen Sie eine Schüssel voll Wasser!«
Als sie beides brachte, schnitt ich auf allen vier Seiten den Rand des Leders weg und legte dieses so in die Schüssel, daß das Wasser darüberstand; dann mußten wir warten, bis der Klebstoff aufgelöst war. Inzwischen hatten wir Zeit, die eiserne Herdplatte durch ein gelindes Feuer zu erwärmen, um den Brief darauf trocknen zu lassen, weil das Trocknen in der Luft zu lange gedauert hätte.
Es ist eigentlich überflüssig, zu betonen, daß die zwei Personen sich in einer außerordentlichen Spannung befanden. Es wollte ihnen gar nicht einleuchten, daß ein »deutscher Schriftsteller« nun doch mehr wisse als alle Westmänner, an die sie sich vorher gewendet hatten; aber die Sicherheit und Überzeugung, welche ich zeigte, brachten ihren Zweifel je länger desto mehr ins Wanken. Zu ihrer Spannung gesellte sich die Unruhe, eine Folge meiner Behauptung, daß der Indianer ein feindlicher gewesen und also der Inhalt des Briefes kein erfreulicher sei.
Nach einer halben Stunde nahm ich das Leder aus dem Wasser und konnte die beiden Teile wie zwei auf einander geklebte Papiere auseinander ziehen; sie konnten sie nicht unterscheiden; ich aber sah trotz der Nässe, welcher Teil die Decke gewesen und welcher der Brief war; diesen letzteren legte ich, die Schriftseite nach oben, auf die warme Ofenplatte, mußte aber sehr aufpassen, daß die Schrift ja nicht durch die Wärme zum Zerfließen kam. Dann wurde der Brief zwischen zwei Lampen auf den Tisch gelegt.
Die beiden beugten sich schnell darüber, um zu lesen, richteten sich aber enttäuscht wieder in die Höhe.
»Das sind ja keine geschriebenen Buchstaben sondern eingeschnittene rote Punkte, Striche und Figuren!« sagte die Frau.
»Es ist eine wunderbar gelungene indianische Zinnoberschrift,« antwortete ich.
»Die nun wahrscheinlich kein Mensch lesen kann! Wie froh war ich, als Sie behaupteten und dann auch bewiesen, daß es ein Brief sei! Und nun fallen wir in die frühere Ungewißheit zurück!«
»Beruhigen Sie sich, Mrs. Hiller! Ich lese ihn.«
»Wirklich? Wahrhaftig! Wo haben Sie denn das nur gelernt?!«
»Bei den Indianern.«
»Was? Wie? Sie wären bei den Indianern gewesen? Davon haben Sie ja kein einziges Wort gesagt!«
»Man soll sprechen, wenn es notwendig ist, sonst nicht. Erlauben Sie, daß ich mir erst still die Bedeutung der Figuren entziffere! Das nimmt natürlich mehr Zeit in Anspruch als das Lesen eines Briefes in gewöhnlicher Schrift.«
Es dauerte vielleicht zehn Minuten, bis ich fertig war. Der Inhalt war, wie ich vorhergesagt hatte, kein erfreulicher. Ich fragte mich im stillen, ob es nicht vielleicht besser sei, ihn zu verschweigen, kam aber doch zu dem Entschlusse, ehrlich und aufrichtig zu sein. Ich durfte der Frau nicht vorenthalten, wie es mit ihrem Manne stand. Wenn sie es erfuhr, war es ihr mit Hilfe ihrer Pelzfirma vielleicht möglich, ihn zu retten. Ich bereitete sie durch eine kurze Einleitung auf die betrübende Mitteilung vor und erklärte ihnen dann:
»Sie sehen zunächst hier oben ein Viereck mit vier Cowboys darin. Das ist der Name des Schreibers und Absenders dieses Briefes, des Häuptlings der Kikatsa, welche eine Abteilung der Krähenindianer, also der Crows oder, wie sie selbst sich nennen, Upsarokas sind. Er heißt Yakonpi-Topa; das ist zu deutsch: Vier Hirten, womit Cowboys gemeint sind. Er hat nämlich damals, als er auszog, um sich einen Namen zu holen, was jeder junge Indianer thun muß, vier Cowboys getötet und ihre Skalpe mit heimgebracht; daher dieser sein Name.«
»Aber wie kommt dieser grausame Mörder dazu, mir einen Brief zu senden? Mein Mann hat doch mit ihm und den Kikatsa nie etwas zu thun gehabt!« sagte die Frau.
»Bitte um Geduld; Sie werden es schnell genug erfahren. Weiter sehen Sie fünf Schlangen mit Menschenköpfen; vier von diesen Köpfen sind barhaupt und haben langes Haar, wie die Indianer tragen; der fünfte hat einen Hut auf, was stets einen Weißen bedeutet. Die Schlangen sind Schlangenindianer, also Snakes, die sich Schoschonen nennen. Ich weiß jetzt genau, daß Mr. Hiller mit diesen Schoschonen in Geschäftsverbindung steht.«
»Das ist richtig; er wollte auch zu ihnen. Woher wissen Sie das?«
»Die Schlange mit dem Hute ist Ihr Mann; die vier andern Schlangen sind Schoschonen. Unter ihnen sehen Sie sechs verkehrte Vögel, d. h. sie liegen auf dem Rücken und haben die Beine an den Leib gezogen; sie sind also tot. Von den Schlangen führt eine aus runden Punkten, welche Flintenkugeln bedeuten, bestehende Linie zu den Krähen herunter; das heißt: vier Schoschonen und Ihr Mann haben sechs Kikatsa erschossen. Die Vögel sollen nämlich Krähen, also Crow- oder Kikatsaindianer bedeuten.«
»Das ist unmöglich! Es kann meinem Manne nicht einfallen, einen Indianer zu töten!«
»Was ich hier lese und Ihnen sage, ist nicht nur nicht unmöglich sondern wahr, eine gar nicht anzuzweifelnde Thatsache. Der größte Indianerfreund kann, z.B. wenn er von ihnen überfallen wird, in die Lage kommen, einen oder einige Rote zu erschießen.«
»Das ist dann aber Notwehr und nicht Mord!«
»Ganz recht; leider aber erkennen die Indsmen diese Unterscheidung niemals an. Weiter! Sie sehen hier eine ganze Menge von Krähen; sie bilden einen Kreis um die Schlangen, welche zusammengebunden sind. Das heißt: Die Kikatsa haben die Mörder gefangen genommen.«
»Himmel! Meinen Mann auch?«
»Leider!«
»Was wird mit ihm geschehen? Sagen Sie es mir! Schnell, schnell, schnell!«
»Bleiben Sie ruhig! Es ist ihm nichts geschehen. Er lebt jetzt noch.«
»Jetzt noch? Aber später?! Sie wollen ihn töten, ja?«
»Bitte, Mrs. Hiller, regen Sie sich nicht auf; es wird wahrscheinlich alles gut! Hier sehen Sie einen Berg gezeichnet, um welchen Felle hängen; das bedeutet einen ganzen, großen Haufen von Fellen; die Westleute pflegen zu sagen: einen Berg von Fellen. Die Kikatsa haben Ihrem Manne also sein ganzes Pelzwerk, welches er bei sich führte, abgenommen.«
»Das Unglück wird ja immer größer! Was soll man in St. Louis dazu sagen, wo man erwartet, daß –«
»Klagen Sie jetzt nicht, sondern hören Sie mich! Zunächst ist ein Menschenleben mehr wert als der größte Haufe von Häuten; wir wollen uns also einstweilen nur um Mr. Hiller kümmern. Und sodann hat er natürlich nicht alle seine Einkäufe mit sich geschleppt, sondern sie von Zeit zu Zeit auf den Weg gegeben. Diese Sendungen werden schon noch in St. Louis ankommen. Ferner sehen Sie hier vier Schlangen an einen Pfahl gebunden; ihre Köpfe liegen unten, aber glücklicherweise kein Hut dabei. Das heißt: die vier Schoschonen sind wegen des Mordes von den Kikatsa zu Tode gemartert worden; Ihr Mann war aber nicht mit dabei. Von ihm lesen wir jetzt weiter: Es folgen, wie Sie sehen, zwei Figurenreihen. Vor der einen befindet sich eine nach oben und vor der andern eine nach unten gerichtete Hand. Diese beiden Hände bedeuten: entweder, oder; das heißt: entweder geschieht das, was auf der einen Reihe, oder das, was auf der andern Reihe steht.«
»Und was steht da? Sie spannen mich auf die Folter!«
»Haben Sie doch nur Geduld! Hier sehen Sie ein Leder und unten auf der andern Reihe auch. Das ist der Brief, den Sie bekommen haben. Wann wurde er Ihnen gebracht?«
»Vor noch nicht ganz vier Wochen.«
»Gut, so haben wir ja noch drei Monate Frist!«
»Wieso Frist? Wozu?«
»Um Ihren Mann zu retten. Schauen Sie her! Da liegt die Schlange gebunden, mit einem Hute auf dem Kopfe; das ist: Ihr Mann ist gefangen, lebt aber noch. Hierauf sind vier Monde nacheinander abgebildet; das bedeutet die Zeit von vier Monaten. Dann sehen Sie diese Schlange am Pfahle, und der Kopf mit dem Hut liegt unten. Der Sinn dieser Zeichnung ist: der Weiße lebt noch, wird aber genau vier Monate nach Abgabe des Briefes am Marterpfahle sterben; ich will aber – – –«
»Das ist doch schrecklich, schrecklich!« unterbrach sie mich, indem sie die Hände zusammenschlug. »Giebt es denn nicht – – –«
»Hören Sie nur weiter!« fiel ich ihr in die Rede. »Auf der andern Reihe folgt nach dem Briefe die Schlange mit dem Hute; sie hat jetzt Hände, in denen sie zwei Gewehre hält, mit denen andere Gewehre mittels einer Schnur verbunden sind; das bedeutet eine Vielzahl von Gewehren. Dahinter kommt das Zeichen des Häuptlings mit den vier Cowboys oder Hirten. Dieses Zeichen hat zwei Hände, welche es den Gewehren entgegenstreckt. Von der Schlange bis zum Häuptlinge hin ziehen sich oben wieder vier Monde, und darunter sehen Sie zwei Hände mit ausgespreizten Fingern, an die sich ein einzelner Finger legt; das ist die Bezeichnung, die Gebärde des Zählens; zwischen diesen Händen steht eine Sonne, das Zeichen des Jahres, von 365 Tagen, welche sich auf die Gewehre beziehen, also 365 Gewehre. Der Häuptling hat diese und nicht eine nach unsern Begriffen ›runde Summe‹ gewählt, weil die Sonne für ihn die einfachste, kürzeste und darum bequemste Zahlenbezeichnung war. Hinter dieser Gruppe erblicken Sie die Schlange mit dem Hute auf einem von ihr abgewendeten Pferde, welches galoppiert, sich also schnell entfernt. Diese ganze Figurenreihe bedeutet also: Wenn die gefangene Schlange, also Ihr Mann, binnen vier Monaten 365 Gewehre an den Häuptling zahlt, erhält er die Freiheit und kann fortreiten. Ganz unten sehe ich zu meinem Erstaunen zwei wirkliche Buchstaben, nämlich ein kleines v und ein großes lateinisches H. Was das zu bedeuten hat, kann ich leider nicht sagen.«
»Aber ich, ich, ich!« rief sie schnell und froh. »Zeigen Sie, zeigen Sie! Ja, hier steht es: v. H.; das ist das adelige ›von‹ mit dem Anfangsbuchstaben unsers Namens, also ein Lebenszeichen meines Mannes!«
»Und zugleich das Zeichen, daß er mit dem Briefe einverstanden ist! Haben Sie diesen verstanden, oder soll ich ihn wiederholen?«
»Ja, bitte, sagen Sie mir den Inhalt noch einmal!«
»Gern! Also Mr. Hiller ist mit vier Schlangenindianern beisammen gewesen und wird darum der leichteren Bezeichnung wegen von dem Häuptling auch als Schlange abgebildet, aber von ihnen durch einen Hut unterschieden. Diese fünf Schlangen haben sechs Krähenindianer getötet, welche zum Stamme der Kikatsa gehörten, und sind dafür von den Kikatsa gefangen genommen worden. Die vier roten Schlangen, mit denen man wenig Federlesens machte, wurden am Marterpfahle umgebracht; mit der fünften, weißen Schlange aber, Ihrem Manne also, hat man etwas anderes vor. Vielleicht ist er bei der Tötung der Krähenindianer nicht so beteiligt gewesen wie die Schlangenindianer; vielleicht auch oder sehr wahrscheinlich ist die Rachsucht des Häuptlings weniger groß als seine Klugheit, die sich in den Besitz einer hinreichenden Anzahl von Gewehren zu setzen wünscht, mit denen er diejenigen seiner Krieger, die noch keines besitzen, bewaffnen kann. Wenn sich das Gerücht, von welchem Sie vorhin sprachen, bestätigt, so bereiten sich da oben in den Bergen Feindseligkeiten vor, bei denen die bessere Bewaffnung leicht den Ausschlag giebt. Der Häuptling sendet also einen Brief an die Frau des Gefangenen und sagt ihr in demselben: Schickst Du binnen vier Monaten nach Empfange dieses Schreibens 365 Gewehre an mich, so gebe ich Deinen Mann frei, und er kann reiten, wohin er will; thust Du das aber nicht, so muß er grad so am Marterpfahle sterben wie die vier Schoschonen! Mr. Hiller hat den Brief gesehen und unterzeichnet; er ist also damit einverstanden, daß er an Sie geschickt wurde.«
»Auch mit der Absendung der Gewehre?«
»Das will ich nicht behaupten. Wenn er der Westmann, der Jäger ist, wie Sie ihn beschreiben, ist er gegen die Lieferung der Waffen.«
»Aber da müßte er doch sterben!«
»Nicht so unbedingt, wie Sie anzunehmen scheinen. Kein Jäger wird es für in seinem Interesse gehandelt erachten, daß die Indianer ihm in Beziehung auf Bewaffnung gleichgestellt werden, und vier Monate sind eine lange Zeit, in der viel geschehen kann. Das wäre mir ein Westmann, der binnen hundertundzwanzig Tagen keine Gelegenheit zur Flucht fände! Ich bin oft auch schon Gefangener der Indianer gewesen, ohne eine viermonatliche Frist zu – –«
»Sie, Sie waren auch gefangen?!« fiel sie ein.
»Ja, und zwar wiederholt. Ich habe da in der Hitze des Gefechtes mehr gesagt, als ich sagen wollte; das thut aber nichts, denn wie die Sachen stehen, werden Sie auch noch mehr über mich erfahren. Also, man braucht diesem Häuptling Yakonpi-Topa nicht gleich soviel Gewehre, wie das Jahr Tage hat, hinzuwerfen, um Mr. Hiller frei zu machen; er wird auch mit sich handeln lassen, wenn Ihr Mann nicht inzwischen schon entkommen ist. Übrigens müßten, falls man die Waffen vielleicht doch schicken will, die Boten tüchtige Kerle sein, die sich nicht fürchten und sich nicht betrügen lassen, sonst nimmt er die Gewehre und giebt den Gefangenen nicht frei. Ich kenne das!«
»Da machen Sie mir ja noch mehr Angst, als ich so schon habe!«
»Sie dürfen das, was ich sage, nicht so schwer nehmen, Mrs. Hiller. Ich halte es für notwendig, daß ich gegen Sie aufrichtig bin, denn ich muß Ihnen die Schatten zeigen, damit Sie die Lichter umso besser erkennen.«
»Ich danke Ihnen! Mein Entschluß steht fest: Ich werde morgen früh nach St. Louis fahren und den Brief wieder mitnehmen, um mit den Herren wegen der Gewehre zu sprechen.«
»Übereilen Sie nichts! Es giebt da noch wichtige Punkte zu überlegen.«
»Welche?«
»Yakonpi-Topa hat geschrieben, daß er Ihrem Manne einen ganzen Berg von Pelzen abgenommen hat; aber ob er sie ihm wiedergeben will, davon schreibt er nichts.«
»Das versteht sich doch von selbst!«
»Oh nein! Wollte er sie ihm ausliefern, so hätte er im Briefe den Berg hinter das fortgaloppierende Pferd gemalt. Auch schreibt er nur von Ihrem Manne, nicht aber von dessen weißen Begleitern. Mr. Hiller ist doch nicht allein fort?«
»Er hat noch sechs Mann mitgenommen.«
»Sehen Sie! Die sind auch Gefangene der Kikatsa oder vielleicht gar schon am Marterpfahle gestorben!«
»Ist es denn nicht möglich, daß sie gar nicht mit gefangen genommen wurden?«
»Möglich ist es wohl, aber nicht wahrscheinlich. Ich nehme an, daß sie mit ihm bei den Schlangenindianern gewesen sind?«
»Gewiß!«
»Wenn Ihr Mann ohne sie den Kikatsa in die Hände gefallen wäre, so hätten das seine Gefährten unbedingt erfahren und Ihnen oder auch nach St. Louis so schnell wie möglich Nachricht gegeben. Auch würden, wenn sie noch frei wären, längst Pelzsendungen angekommen sein.«
»Das leuchtet mir am schnellsten ein, Mr. Meier!«
»Nicht wahr? Und sodann: Fünf Schlangen, dabei Ihr Mann, sollen sechs Krähen ermordet haben! Mr. Hiller war ein Indianerfreund, der auch aus geschäftlichem Interesse wohl alles gethan hätte, um eine solche That zu verhüten. Die Sache ist nicht ganz richtig; wenigstens ist sie nicht so, wie sie von Yakonpi-Topa in seinem Briefe dargestellt wird. Man muß da vorsichtig sein und nicht vorschnell handeln. Warum haben die Krähenindianer die vier Schoschonen so schnell hingerichtet, den einen Weißen aber leben lassen? Hat Yakonpi-Topa Ihren Mann mit allen sechs Begleitern gefangen und spricht in seinem Briefe nur von einem unbestimmten Weißen, so giebt er für die 365 Gewehre einen von ihnen frei und behält Ihren Mann mit den andern fünf doch zurück, um neue und noch größere Forderungen zu stellen. Sie sehen: einen solchen Indianerbrief zu lesen, ist das wenigste; man muß ihn auch überlegen. Diese roten Herren sind pfiffig, und ich sage Ihnen, daß das Schreiben, welches hier vor uns liegt, ein kleines diplomatisches Meisterstück ist. Alle Ihre hundert und noch mehr Westmänner würden sich durch diesen Brief wahrscheinlich auf falsche Wege locken lassen.«
»Sagen Sie, Mr. Meier, könnten Sie nicht vielleicht morgen mit mir nach St. Louis fahren?«
»Zu den Herrschaften vom Pelze?«
»Ja.«
»Danke! Ich bin nicht gewohnt, solchen Leuten nachzulaufen.«
»Oder soll ich telegraphieren, daß man mir einen Bevollmächtigten schickt, mit dem ich verhandeln kann?«
»Das wäre schon etwas anderes!«
»Ich möchte nämlich gern haben, daß Sie mit dabei sind!«
»Ich? Der deutsche Schriftsteller?!«
Sie blickte eine Weile still vor sich hin, reichte mir dann die Hand hin und sagte:
»Verzeihen Sie! Ich weiß nicht, woran ich mit Ihnen bin und was und wie ich thun und sagen soll. Das Unglück, welches meinen Mann betroffen hat, läßt mich fast ausschließlich nur an ihn denken, und darum wirken Sie nicht so ganz und voll auf mich, wie es sonst der Fall sein würde; aber es ist mir dennoch so, als ob ich an Ihnen immer neue Entdeckungen zu machen hätte. Sie lesen einen Indianerbrief, den andere Westmänner für ein leeres, wertloses Stück Leder hielten; Sie lesen sogar zwischen den Zeilen dieses Briefes und dringen dann in einer so klaren und selbstverständlichen Weise in die schwierigen Verhältnisse ein, daß ich gleich bitten möchte: Gehen Sie hin, und holen Sie meinen Mann! Ich glaube, ich würde fast ohne Besorgnis warten, bis Sie wiederkämen, denn ich habe das sichere Gefühl, daß Ihnen kein Unfall passierte, daß Sie alle Schwierigkeiten überwinden und ihn mir heimbringen würden. Wie kommt das nur? Vorhin kam mir der Gedanke an Old Shatterhand, jetzt nicht mehr.«
»Ist auch nicht nötig, Mrs. Hiller.«
»Ich dachte: Wenn der hier wäre und die Sache in die Hand nehmen wollte! Ja, wenn er sich nur herbeiließe, einen guten Rat zu geben!«
»Das hat er schon gethan.«
»Gethan?« fragte sie verwundert.
»Ja.«
»Wann?«
»Jetzt eben.«
»Wo?«
»Hier in diesem Zimmer, an diesem Tische.«
»Ich – – verstehe Sie nicht. Sie geben mir Rätsel zu lösen, die ich – – – ich – – – ich – – –«
Sie vollendete den Satz nicht und sah mit ungewissen, furchtsam fragenden Augen zu mir herüber. Ich brach in ein herzliches Lachen aus und half ihr aus der Verlegenheit:
»Ja, Sie haben mit dem Manne, dessen Namen Sie erwähnten, gesprochen. Ich habe nämlich die eigentümliche Gewohnheit, eigentlich ein deutscher Schriftsteller, nebenbei aber auch Old Shatterhand zu sein.«
Sie brachte vor Erstaunen keinen Laut hervor. Ihr Sohn aber, der sich nur zuweilen mit einem kurzen bescheidenen Worte an unserm Gespräche beteiligt hatte, sprang so rasch auf, daß er den Stuhl hinter sich umwarf, und rief mir so laut, als ob er Feuer schreien wolle, zu:
»Old Shatterhand? Sagen Sie die Wahrheit?«
»Ja.«
»Ich glaube es; ich glaube es! Aber bitte, beweisen Sie es dennoch – – meiner armen Mutter wegen, die so schwere Sorgen um den Vater hat!«
»Gern! Welchen Beweis wollen Sie?«
»Old Shatterhand hat von Winnetou einen Stich in den Hals bekommen – – –?«
»Hier, sehen Sie – – da ist die Narbe!«
»Und der Schnitt, als Sie Blut brauchten, um Blutsbrüderschaft mit ihm zu trinken – –?«
»Hier haben Sie die Hand und den Vorderarm; da sehen Sie! Stimmt es?«
Da faßte er seine Mutter, zog sie vom Stuhle auf, drückte sie an sich und rief frohlockend:
»Er ist's; er ist's; er ist's wirklich. Er ist Old Shatterhand! Nun brauchen wir keine Sorge zu haben; er wird uns den Vater bringen, und wenn er ihn aus der Mitte von tausend Rothäuten herausholen müßte!«
»Sachte, sachte!« warnte ich lachend. »Sie sprechen ja von mir wie von einem Dollarstück, welches Sie schon in der Tasche haben! Hinauf zu den Kikatsa zu reiten, ist keine Kleinigkeit! Das erfordert Zeit, und wir haben keine Zeit dazu.«
»Nicht? Warum nicht?«
»Weil wir nach dem Osten wollen!«
»Nach dem Osten? Was wollen Sie dort? Etwa Gedichte machen oder Kalender schreiben? Bei einer solchen Arbeit kann ich mir Old Shatterhand gar nicht denken!«
»Ich auch nicht, Verehrtester! Aber wenn ich die Feder in die Hand nehme, so bin ich nicht mehr Old Shatterhand, sondern – – sondern ein gewisser Mr. Meier, der zum Beispiel heut die ganze Nacht hindurch schreiben wird, bis es morgen Mittag schlägt. Und was unsere Reise nach dem Osten betrifft, so ist sie so fest beschlossen, daß uns nur ein ganz ungewöhnlicher Grund veranlassen könnte, sie aufzuschieben oder gar ganz aufzuheben.«
»So ein Grund ist doch nun da! Oder ist es vielleicht etwas Gewöhnliches, meinen Vater aus der Gefangenschaft und vom Tode am Marterpfahle zu erretten?«
»Ja, wenigstens für uns, denen derartige Aufgaben schon längst nichts Neues mehr sind.«
»Uns – – – wir – –? Sie sprechen immer in der Mehrzahl. Wen meinen Sie damit noch?«
»Erraten Sie das nicht?«
»Etwa Winnetou?«
»Ja.«
»Wirklich? Winnetou ist auch da?«
»Da noch nicht, aber er wird noch kommen.«
»Wann?«
»Bald.«
»Hurra, Hurra! Winnetou kommt auch! Winnetou und Old Shatterhand, Old Shatterhand und Winnetou! Mutter, heut ist ein Tag, wie ich noch keinen erlebt habe! Mein Wunsch, mein heißer Wunsch ist stets und stets gewesen, den guten, lieben Gymnasiasten, den wir in Falkenau trafen, einmal wiederzusehen. Da steht er; er ist heut gekommen! Und dann weißt du, wie ich Tag und Nacht gearbeitet habe, um Euren Wunsch zu erfüllen und ein guter Jurist zu werden. Ich habe weder nach rechts noch nach links geschaut und mir keine andere Erholung gegönnt als nur die, daß ich die Blätter las, in denen von Winnetou, dem Häuptling der Apatschen, und seinem weißen Freunde und Blutsbruder geschrieben wurde. Oder ich ging hier zu Bekannten, bei denen man von diesen zwei Westmännern und ihren Gefährten erzählte. Da habe ich oft gedacht, was für Freude ich haben würde, wenn ich das Glück hätte, einen von ihnen oder gar alle beide einmal zu sehen, sie vielleicht, wenn auch von weitem nur, sprechen zu hören. Und nun ist er da in unserm Zimmer, dieser Old Shatterhand, der zugleich unser kleiner Student ist, und Winnetou, der Herrliche, den alle Welt bewundert, bei dessen Namen jedes Herz begeistert schlägt, wird auch kommen! Mutter, ich bin so glücklich heut, daß ich es dir gar nicht sagen kann, wie!«
Der vorher so stille, junge Mann war geradezu außer sich; ja, noch mehr, er schien ganz außer Rand und Band geraten zu sein, denn er tanzte jubelnd um den Tisch herum. Wäre ich nur sein »kleiner Student« gewesen, so hätte er mich gewiß ebenso umarmt und geküßt wie seine Mutter; da in mir aber zu gleicher Zeit auch Old Shatterhand mit steckte, so wagte er sich mit diesen Liebkosungen nicht an mich heran. Es war vielleicht seit seiner frühen Kindheit heut das erste Mal, daß er eine solche Freude in dieser Weise äußerte.
Jetzt wußten die beiden nun, warum ich vorher so schweigsam über mich gewesen war. Sie gaben zu, daß ich ganz recht gethan hatte, mich hier in Weston nicht zu nennen, weil ich sonst keinen Augenblick für mich hätte allein sein können und gezwungen gewesen wäre, nur immer zu erzählen und Tausende von Fragen zu beantworten. Einen kleinen Vorgeschmack eines solchen Fragensturmes bekam ich übrigens auch schon hier, denn Mutter und Sohn schienen ihre eigenen Verhältnisse ganz und gar vergessen zu haben und wollten immer nur von mir und meinem Winnetou wissen und hören. Ich mußte ein Gewaltwort sprechen und ihnen sagen, daß ich nicht nur heut kein weiteres Wort erzählen sondern auch sofort gehen werde, wenn sie mir keine Ruhe lassen würden.
Ganz sonderbarerweise stand es bei beiden ganz fraglos fest, daß wir ihnen nicht bloß mit unserm Rate sondern auch durch die That beistehen würden. Sie sprachen von Winnetous und meinem Ritte hinauf zu den Kikatsa-Indianern wie von einer ganz und gar selbstverständlichen und fest beschlossenen Angelegenheit, über welche es gar keinen Zweifel geben könne. Das war, wie ich wohl wußte, nicht etwa rücksichtslose Anmaßung, sondern eine reine und unausbleibliche Folge des Rufes, in dem wir standen, oder vielmehr der poetischen Legenden, welche sich besonders über Winnetou gebildet hatten, den man sich nicht anders als den stets bereiten Rächer allen Unrechtes und Schützer der Bedrängten denken konnte. Nach der Beschreibung, welche von ihm und seinen hochherzigen Eigenschaften im Schwange war, durfte man allerdings zu jeder Zeit von ihm erwarten, daß er selbst die wichtigste Sache, falls sie ihn selbst betraf, augenblicklich fallen ließ, wenn es galt, sich der vielleicht gar nicht so wichtigen eines andern anzunehmen.
Um die Wahrheit zu sagen, war ich, ohne daß ich es verriet, gar nicht abgeneigt, diesen braven Leuten beizustehen, denn erstens reizte mich das Abenteuer an sich selbst, und zweitens schien es mir eine Konsequenz der Vergangenheit zu sein, meine Teilnahme für sie aus dem Worte in die That zu übersetzen; aber immer und immer wieder nur für andere leben und nur für andere wagen, daß wird einem doch auch einmal genug, und ich durfte auf meine Gefühle allein hin keinen Entschluß fassen, ohne vorher Winnetou zu fragen, um zu erfahren, welcher Ansicht er darüber war. Darum hielt ich es für angebracht, so zu thun, als ob wir wohl mitraten aber keinesfalls mitthaten könnten.
Das glaubten sie aber nicht; sie waren vielmehr vom Gegenteile so überzeugt, daß der Sohn die Absicht aussprach, sich uns anzuschließen, denn wenn fremde Leute ihr Leben wagten, um seinen Vater zu befreien, so könne er doch unmöglich thatenlos zu Hause sitzen bleiben. Ich hatte meine liebe Not, ihn davon zu überzeugen, daß er sich ganz und gar nicht zur Beteiligung eigne und durch seine Anwesenheit die vorauszusehenden Anstrengungen und Gefahren nur vergrößern würde.
Als keiner meiner Einwände im stande war, die Unerschütterlichkeit, mit welcher man von unserer Hilfe überzeugt war, ins Wanken zu bringen, gab ich halb ärgerlich und halb lachend schließlich noch als letzten Grund an:
»Aber was soll mit meinem neuen Anzuge werden, in den ich mich mit so ungeheuren Kosten gesteckt habe, um jenseits des Missisippi für einen leidlich anständigen Menschen gehalten zu werden? Nun ich ihn einmal gekauft habe, will ich ihn auch tragen, und zu einem so strapaziösen Ritte wäre es doch jammerschade um ihn!«
»Den lassen Sie natürlich hier bei uns,« sagte Frau Hiller, »und wenn Sie zurückkehren, bekommen Sie ihn wieder. Sie können dann ganz ebenso Staat drin machen wie jetzt. Und denken Sie, was für eine Expedition das werden wird! Sobald Sie bekannt geben, daß Sie und Winnetou dieses Unternehmen beabsichtigen, werden Ihnen soviel Begleiter zuströmen, daß Sie mit einem ganzen Heere droben bei den Kikatsa ankommen und, um des schnellsten, ungefährlichsten und mühelosesten Sieges sicher zu sein, nur über diese Kerle herzufallen brauchen!«
»Ungefährlich und mühelos? Verzeihung, Mrs. Hiller; aber wenn Sie das glauben, befinden Sie sich in einem Irrtum, der freilich nur bei einer Dame möglich ist. Je zahlreicher die Truppe, desto unwahrscheinlicher ist der Erfolg. Vor allem andern, was noch viel wichtiger ist, bildet da schon die Ernährungsfrage eine Aufgabe, deren Lösung große Schwierigkeiten bietet. Sie kennen die Gegenden nicht, welche man da zu durchreiten hat. Der Weg ist wenigstens fünfzehnhundert amerikanische Meilen weit, bedenken Sie, und bietet ganze, große Strecken, auf denen man kein einziges Pfund Fleisch schießen kann oder wo den Pferden das Wasser und das Futter mangelt. Und grad an den allerwichtigsten Umstand haben Sie gar nicht gedacht: Wir haben Herbst, und droben in den Bergen tritt der Winter früher ein als hier. Es kann da vorkommen, daß man heut den schönsten Sonnenschein hat und morgen schon im Schnee stecken bleibt. Ein vorsichtiger Mann muß darauf rechnen, daß er nicht wieder herunter kann, sondern gezwungen ist, den ganzen Winter in irgend einem abgelegenen Gebirgswinkel zuzubringen. Was soll da mit so vielen Leuten werden? Ich bin überzeugt, daß die meisten von ihnen verhungern würden.«
»So lange wird es dauern? Mein Gott! Da machen Sie mir ja schon wieder Angst!«
»So lange kann, nicht wird es dauern. Ich bin gewohnt, mit allen Möglichkeiten und Zufällen zu rechnen, und habe nur aus dem Grunde davon gesprochen, weil Sie sich alles leichter denken, als es ist, und außerdem der Meinung waren, daß ein größerer Trupp auch die größere Aussicht auf Erfolg besitze. Es findet aber vielmehr grad das Gegenteil statt. Wir, nämlich Winnetou und ich, haben die größten Gefahren und schwierigsten Lagen oft nur deshalb überwinden können, weil wir allein waren. Wir kennen uns genau und wissen, daß wir auf einander rechnen können; bei einer großen Gesellschaft aber giebt es viel Köpfe und viel Sinne, und es giebt da Ärgernisse, Fehler und Dummheiten, über welche man aus der Haut fahren könnte. Ich wiederhole, was ich schon gesagt habe: Sie dürfen durchaus nicht auf die Erfüllung Ihres Wunsches rechnen, daß wir unsern bisherigen Plan ändern und nach dem Westen zurückkehren werden, um die Krähen aufzusuchen, aber wenn wir es ja thäten, so können Sie sicher sein, daß wir einen jeden, der sich anböte, uns zu begleiten, abweisen würden.«
»Sie wollten den weiten, gefahrvollen Ritt ganz allein unternehmen?!«
»Ja.«
»Sie zwei gegen einen ganzen Stamm? Das ist doch unmöglich!«
»Es wäre nicht zum erstenmal, daß wir grad dadurch unsern Zweck erreichten!«
»Aber die vielen Gewehre, welche der Häuptling verlangt hat und die also mitgenommen werden müssen, die könnten Sie da doch nicht mit sich schleppen!«
»Allerdings nicht. Es würde uns auch gar nicht einfallen, den Gefangenen loszukaufen, sondern wir würden ihn auf eine Art und Weise herausholen, die keinen Penny Kosten macht. Die Krähen, anstatt sie zu bestrafen, für ihre Feindseligkeit auch noch mit einer solchen Menge von Gewehren zu belohnen, das käme uns keinen Augenblick in den Sinn! Sie hören, daß wir die Sache ganz anders anfassen würden, als es vielleicht von Ihren mehr als hundert Westmännern und Kennern geschähe, und das wäre uns nur dadurch möglich, daß wir uns um keinen unnützen Kameraden zu bekümmern brauchten.«
»Ich kann gar nichts dazu sagen, denn ich verstehe nichts davon; aber ich bin überzeugt, daß das, was Sie für gut halten, auch gut ist, wenn auch mein Mann seine Wanderungen niemals allein, sondern stets in möglichst zahlreicher Begleitung unternommen hat.«
»Das ist etwas ganz anderes. Sein Zweck war die Pelztierjagd und dazu der Handel mit den Indianern. Da brauchte er schon zum Transporte der Felle, den er allein nicht hätte bewältigen können, die ausreichende Beihilfe anderer Leute. Wir aber verfolgen auf unsern Ritten ganz andere Ziele, und wenn es sich gar darum handelt, durch List etwas zu erreichen, was mit Hilfe der offenen Gewalt große Opfer fordern würde, so müssen wir uns verborgen halten, was gar nicht möglich wäre, wenn wir uns in zahlreicher Gesellschaft befänden. Nun aber ist meine Zeit abgelaufen, und wenn Sie es gestatten, will ich mich an meine Arbeit begeben.«
»Für die ganze Nacht hindurch?«
»Ja.«
»Ist das nicht zu anstrengend?«
»Für mich nicht. Ich bin es nicht ungewohnt, sogar mehrere Tage und Nächte hindurch den Schlaf ganz zu entbehren. Die Natur richtet sich darnach ein oder, wird gezwungen, sich zu fügen.«
»Soll ich nach St. Louis telegraphieren?«
»Nein. Warten Sie damit, bis Winnetou kommt! Wir wollen sehen, welcher Meinung er ist.«
»Ich bin überzeugt, daß er nicht das Herz hat, uns seine Hilfe zu versagen.«
»Na, na! Der Mensch soll niemals mit allzu großer Sicherheit auf die Erfüllung seiner Wünsche rechnen!«
»Oh, Sie stellen sich ja nur so, als ob ich zweifeln müsse; im Grunde genommen aber sind Sie schon entschlossen, bei dem Häuptling der Apatschen ein gutes Wort für uns einzulegen. Ich fühle das und sehe es Ihnen auch an.«
»Da warne ich Sie. Lassen Sie sich weder durch Ihr Herz noch durch Ihren Scharfsinn täuschen! Und nicht wahr, Sie verschweigen, daß Old Shatterhand sich hier befindet?«
»Wenn Sie es wollen, ja. Lieber aber möchte ich es allen Menschen sagen, daß er heute mein Gast gewesen und überhaupt ein alter, lieber Bekannter von mir ist. Sehen wir uns morgen wieder?«
»Ich denke es, falls Sie nicht inzwischen Gründe finden, mich abzuweisen, wenn ich komme. Gute Nacht!«
Ich wurde bis vor die Thür begleitet und ging dann nach dem Hotel, von welchem mir schon von weitem die Tanzmusik entgegenschallte. Die Fenster des Gastzimmers standen offen, und mit dem hellen Lichte der Lampen drang das Stimmengewirr der Gäste heraus, welche so zahlreich waren, daß kein Stuhl leer stand.
Einen Augenblick stehen bleibend, blickte ich hinein und sah Watter, den schwatzhaften Westmann und unverdient glücklichen Nuggetfinder, auch drinsitzen. Er hatte also die ihm von mir gewordene Zurechtweisung und Blamage schon überwunden und hielt es nicht für gegen seine Ehre, sich wieder in dem Raume sehen zu lassen, aus welchem er erst von mir hinausgetragen worden und dann auf einem so lächerlichen Wege geflohen war. Bei ihm saß – – der Prayer-man. Sie schienen in ein sehr angelegentliches Gespräch vertieft zu sein. Wenn sich Watter gegen den salbungsvollen Schriftenhändler ebenso mitteilsam verhielt, wie er gegen mich gewesen war, so konnte ihm nur angeraten werden, seinen Goldkasten noch fester anzuschrauben als bisher!
Eben wollte ich mich nach der Thür wenden, um hinein zu gehen, da fing ich einen Blick des Prayer-man auf, den er nach einem andern Tische warf, einen Blick, welcher mir, der ich gewohnt war, scharf zu beobachten, sonderbar und auffällig vorkam. Es war ein Blick heimlichen Einverständnisses, ein Blick, welcher, wenn ich recht gesehen hatte, so ungefähr sagen sollte: Sorge dich nicht; ich habe meine Sache gut gemacht, und er geht mir sicher auf den Leim!
An dem betreffenden Tische saßen nicht weniger als sechs Personen, darunter einer, welcher seinen Stuhl etwas abgerückt hatte und nicht am Gespräch der übrigen teilnahm. Diese waren jedenfalls Bewohner von Weston, während ich ihn für einen Fremden hielt. Er hatte seine Augen auf Watter und den Prayer-man gerichtet, und ich sah eben jetzt als die Wirkung des ihm von dem letzteren zugeworfenen Blickes einen Zug der Befriedigung über sein braungebranntes Gesicht gleiten. Nach dieser Beobachtung gab es für mich keinen Zweifel darüber, daß er aus irgend einem Grunde mit dem Traktätchenhändler im heimlichen Einvernehmen stand. War dieser Grund ein guter oder ein schlimmer? Ging die Sache mich etwas an? Sollte ich Watter warnen? Nein; eine Warnung wäre Unsinn gewesen, denn ich wußte ja nichts. Aber wenn ich nicht das Rencontre mit dem Westmanne gehabt hätte, wäre ich jetzt hineingegangen, um mich zu ihm zu setzen und dadurch den Prayer-man von ihm wegzutreiben. Nun aber war mir dies nicht möglich, denn infolge der Lehre, die ich ihm erteilt hatte, wäre mir von ihm jedenfalls ein Empfang geworden, welcher sehr wahrscheinlich zu einer neuen, Aufsehen erregenden Scene geführt hätte. Was ging mich dieser Mann überhaupt noch an? Er hatte mich, andere Beleidigungen gar nicht mit gerechnet, einen »reinen Garnichts« genannt, und so war es wohl ganz richtig von mir, daß ich nun für ihn auch gar nicht mehr vorhanden sein wollte. Er hielt sich ja für einen tüchtigen Mann und mochte also für sich selbst sorgen! Ich ging auf mein Zimmer und brannte die Lampe an, welche mir auf meinen Wunsch hinaufgestellt worden war. Dann setzte ich mich an den Tisch und machte mich an das Manuskript, mit welchem ich bis morgen fertig sein wollte.
Unter mir klang die Musik; noch stärker drang sie zum offenen Fenster herein; um mir die frische Nachtluft nicht abzuschließen, ließ ich es offen, machte aber den Laden zu. Dann zog ich, um nicht von jemandem, welcher die Zimmer verwechselte, was in Hotels häufig vorkommt, in meiner Arbeit gestört zu werden, draußen den Schlüssel ab und verriegelte von innen die Thür. Auch zog ich die Stiefel aus und nahm an ihrer Stelle die leichten, bequemeren und geräuschlosen Mokassins an die Füße. Von jetzt an ging meine Arbeit trotz der unter mir klingenden Musik flott und ohne Unterbrechung von statten.
Nach einiger Zeit hörte ich jemand in das Nebenzimmer kommen und die Thür von innen verschließen. Es stand also nicht leer, sondern es gab einen Logiergast, der es bewohnte, was mir aber gleichgültig sein konnte. Nur fiel mir auf, daß er nicht schlafen ging, sondern unruhig auf und ab spazierte.
Eben war unten eine Tanzpause eingetreten; die Musik schwieg, und so kam es, daß ich ein Klopfen an der Thür der Nachbarstube hören konnte.
»Wer ist's?« fragte der Ruhelose.
»Du weißt's,« lautete die Antwort. »Mach schnell, damit ich nicht erwischt werde!«
Erwischt? Dieses Wort mußte mir auffallen. Wer befürchten muß, erwischt zu werden, der befindet sich nicht auf rechtlichen Wegen. Der Klopfende hatte laut sprechen müssen, um von dem im Zimmer verstanden zu werden; darum hatte auch ich seine Worte gehört. Infolge des Wortes »erwischt« stand ich leise auf, schlich mich an die Verbindungsthür und horchte. Der eine ließ den andern ein; die Thür wurde wieder verschlossen, und dann hörte ich die Frage:
»Können wir belauscht werden?«
»Nein,« wurde geantwortet.
»Aber ich sah draußen, daß nebenan noch ein Zimmer ist!«
»Das ist unbewohnt.«
»Weißt du das genau?«
»Ja.«
»Du hast dich erkundigt?«
»Nein, weil das vielleicht aufgefallen wäre. Man kann in unserer Lage nicht vorsichtig genug sein. Aber ich bin schon vorhin und auch jetzt wieder im Hofe gewesen und habe gesehen, daß der Laden vor dem Fenster verschlossen ist; es ist also unbewohnt. Und selbst wenn jemand drüben wäre, könnte er uns nicht hören; durch die Mauer dringt kein Wort.«
Der Sprecher wußte also nicht, daß sich hinter dem Schranke eine Thür befand.
»Setz dich!« sagte er weiter. »Du hast diesen Watter beobachtet. Wie denkst du heut? Noch so wie erst?«
»Ja. Wir haben es bei ihm jedenfalls viel leichter als bei seinem vorsichtigen – –«
Pum-pum-derum! fiel unten die Musik mit Paukenschlägen ein, und ich konnte nichts mehr hören. Wer waren die beiden Männer da drüben? Jedenfalls der Prayer-man und der Fremde, welchem er den von mir beobachteten Blick zugeworfen hatte. Und welche Person war mit den Worten »Seinem vorsichtigen – – –« gemeint gewesen? Da sie Watter erwähnt hatten, so glaubte ich, diesen abgebrochenen Ausdruck auf Welley, seinen Kumpan, beziehen zu müssen. Und wenn ich damit das Richtige getroffen hatte, so war Welley zwar ein vorsichtiger Mann gewesen aber dennoch tot, meine Voraussage also eingetroffen. Dieser Gedankengang führte aber noch weiter: Nämlich, wenn alles so war, wie ich dachte, so befanden sich Welleys Mörder oder doch wenigstens zwei Mitschuldige da drüben in dem Zimmer neben mir.
Dieser Gedanke ließ mich meine Arbeit vergessen, und ich ging an meine Thür, um mich zu überzeugen, daß sich das Lochplättchen auf dem Schlüsselloch befand und von dem Lichte in meiner Stube also nichts zu sehen war, falls die beiden Männer beim Verlassen des Nebenzimmers ja auf den Gedanken kommen sollten, einmal hin durchzublicken. Dann ging ich wieder an die Verbindungsthür, drehte den Schlüssel leise, leise auf, hob die Klinke empor und öffnete sie.
Ich hatte ein sehr feines Gehör, konnte aber doch nichts verstehen, sondern nur vernehmen, daß gesprochen wurde. So lauschte ich längere Zeit vergeblich, bis unten die Polka zu Ende war; da hörte ich nun die Worte:
»Du hast ihm die Nuggets gezeigt?«
»Natürlich! Anders ging es doch nicht.«
»Was sagte er?«
»Er wurde begierig wie ein Teufel auf die Seele. Der alte Kerl ist habsüchtig wie kein zweiter Mensch.«
»Die Hauptsache ist, ob er auf den Handel einging.«
»Sofort!«
»Wieviel hast du verlangt?«
»Hunderttausend Dollars.«
»Ah! Was meinte er zu dieser Summe?«
»Sie war ihm zu hoch; er bot fünfzigtausend.«
»Das war auch genug,« erklang es mit einem Lachen, an dem ich nun den Prayer-man ganz genau erkannte. Er war es und kein anderer Mensch, der zuerst in das Nebenzimmer getreten war und dann dem andern geöffnet hatte. Dieser fiel in das Lachen ein und fuhr fort:
»Ja, es wäre auch genug für nichts; aber ich versuchte doch, noch mehr herauszuschlagen, und es kam soweit, daß wir den Unterschied von fünfzigtausend halbierten und auf fünfundsiebzigtausend einig wurden.«
»Wann zahlbar?«
»Sofort, wenn ich ihm das Finding-hole übergeben habe.«
»Mit welcher Münze?«
»Münze? Welchem vernünftigen Menschen würde es wohl einfallen, schwere Münzen so weit und hoch da hinaufzuschleppen. Er zahlt mit einer Anweisung.«
»Pfui!«
»Was pfui?«
»Ich liebe Anweisungen nicht; sie sind nicht sicher.«
»Diese ist sicher!«
»Pshaw! Es braucht nur der geringste Verdacht zu entstehen, so wird die Anweisung nicht honoriert.«
»In diesem ganz besonderen Falle kann von einem Verdachte keine Rede sein, und mit der Anweisung habe ich mich so gut vorgesehen, daß die Zahlung gar nicht verweigert werden kann. Wir sind nämlich miteinander zum Bankier gegangen, wo er sie geschrieben hat. Dann wurde ausgemacht, daß, wenn ich käme und das Papier brächte, mir das Geld sofort ausgehändigt werden müsse. Der Bankier kennt mich also persönlich, womit allen späteren Zweifeln vorgebeugt worden ist.«
»So seid ihr also beide bei der Bank gewesen? Das will ich eher gelten lassen, als daß diese gar nichts davon weiß, und später kommt ein Fremder und verlangt eine so bedeutende Summe auf ein Papier hin, welches man mit Mißtrauen betrachtet. Auf die jetzige Weise gefällt mir dieses Geschäft natürlich besser als vorher. Die Anweisung nimmt er mit?«
»Natürlich! Und oben am Finding-hole muß er sie hergeben.«
»Und tauchen?«
»Ja. Der Alte ist ein vorzüglicher Schwimmer, und sein deutscher Neffe hat es auch gelernt. Sie werden gezwungen, die Nuggets aus dem eiskalten Wasser zu holen, und wenn ihnen dies das Leben noch nicht kosten sollte, helfen wir nach.«
»Alle Teufel, wird das ein Geschäft! Dann, dann haben wir die Nuggets von jetzt, das Gold aus dem Hole und die fünfundsiebzigtausend Dollars dazu. Wenn dieser Streich gelingt, können wir uns zur Ruhe setzen.«
»Ich wüßte keinen Grund, weshalb er mißglücken sollte!«
»Weshalb? Gründe stellen sich oft grad dann ein, wenn man sie am wenigsten erwartet hat. Man hat immer und stets Glück gehabt, und grad dann, wenn man den letzten Hauptstreich führen will, geht die Sache den verkehrten Gang. Bei diesem Welley wäre es uns auch beinahe mißlungen. Der Kerl war gescheiter als dieser geschwätzige Watter, der einem seine Nuggets beinahe in die Tasche steckt. Es ist gut, daß wir ihn damals haben reiten lassen. Auf diese Weise hat er das schwere Gold für uns hierher geschleppt, und wir können es uns in aller Gemächlichkeit von ihm holen.«
»Was wird er für Augen machen!«
»Die werde ich mir ganz genau betrachten!«
»Du, sei ja nicht unvorsichtig!«
»Fällt mir nicht ein! Ich weiß ganz genau, wieweit ich – – –«
Jetzt begann unten ein neuer Tanz, und ich konnte nichts mehr verstehen. Das war ja eine außerordentlich saubere Angelegenheit, die man da vor meinen Ohren besprochen hatte! In ihrem ganzen Umfange kannte ich sie natürlich nicht; aber nach dem, was ich erlauscht hatte und mir dazu dachte, verhielt es sich so, daß der eine dieser Gauner einem Manne, welcher der Onkel eines deutschen Neffen war, Nuggets vorgezeigt und ihm weisgemacht hatte, daß sie aus einem Finding-hole seien, welches er nicht selbst ausbeuten könne und also verkaufen wolle. Der Oheim war auf das Anerbieten eingegangen und hatte fünfundsiebzigtausend Dollars, zahlbar auf eine Anweisung, dafür versprochen, falls das Hole sich als so reichhaltig erweisen sollte, wie es ihm beschrieben worden war. Bis hierher war mir alles klar; aber woher hatten die Halunken die vorgezeigten Nuggets? Waren sie Welley abgenommen worden? Wer war der Onkel und wer der Neffe? Wo wohnten sie? Von welcher Bank hatte man gesprochen? Der Onkel und der Neffe waren gute Schwimmer. Wozu man dies benutzen wollte, das hatte ich gehört. Sie sollten nach dem Finding-hole gebracht werden, angeblich um es anzusehen, zu kaufen und zu bezahlen. Aber das war nur Vorspiegelung. In Wahrheit wollte man ihnen die Anweisung abnehmen, um sie später bei der erwähnten Bank in Geld umzusetzen, und die beiden Betrogenen sollten nicht bloß diesen Verlust erleiden, sondern auch noch gezwungen werden, die Nuggets aus dem Finding-hole herauszuholen.
Man muß wissen, was so eine Arbeit zu bedeuten hat! Man nehme an, so ein Goldloch befinde sich im Bette eines Gebirgswassers, welches aus den Eisfeldern quillt. Dieses tiefe Loch wird also von dem darüber wegfließenden Wasser vollständig angefüllt und hat auf seinem Grunde die wegen ihrer Schwere da hinuntergespülten Goldbrocken und Körner. Um sie heraufzubekommen, muß man sich ausziehen und auf den Grund des eiskalten Wassers niedertauchen. Das muß so lange geschehen, bis nichts mehr unten liegt; es kann, je nach der Menge des Goldes, wochen- und auch monatelang dauern. Wenn man annimmt, daß schon ein einmaliges Tauchen in die eisige Flut genügt, sich eine tödliche Erkältung zu holen, so kommt man zu der Überzeugung, daß die vollständige Entleerung des Hole den sichern Tod nach sich ziehen muß. Und zu dieser schrecklichen Arbeit sollten Onkel und Neffe gezwungen werden! Es gehörte eine geradezu teuflische Verworfenheit und Gefühllosigkeit dazu, einen solchen Plan nur zu entwerfen, geschweige denn auszuführen. Es stand natürlich bei mir fest, daß ich dieses Vorhaben unbedingt verhindern müsse.
Soweit ich es bis jetzt kannte, konnte ich freilich nichts dagegen thun. Hätte ich die Kerle angezeigt, so wäre ich einfach abgewiesen worden, weil ich nichts beweisen konnte. Ich mußte Belege haben, unumstößliche Belege, und hoffte, während des weitern Verlaufes der Unterhaltung vielleicht noch so viel zu erfahren, daß ich, wenn ich auch keine direkten Beweise bekäme, sie mir doch aus dem Erlauschten konstruieren könne. Ich wartete also mit Sehnsucht und größter Spannung auf die nächste Tanzpause, während welcher das Gespräch für mich wahrscheinlich wieder hörbar wurde.
Endlich, endlich hörte die Musik wieder auf, und ich schob mich so nahe, wie ich nur konnte, an die Hinterwand des Schrankes, welcher jedenfalls leer war, weil darin befindliche Kleider den Schall so gedämpft hätten, daß selbst mein ausgezeichnetes Gehör nicht scharf genug gewesen wäre, die vor dem Schranke im Zimmer gesprochenen Worte zu verstehen.
Ich lauschte also, hörte aber kein Wort. Ich wartete, doch vergeblich. Ich blieb bis zum Beginne des neuen Tanzes auf meinem Posten, vernahm aber keinen Laut, keinen Ton, nicht das allergeringste Geräusch. Es war nicht anzunehmen, daß die beiden Männer so lange Zeit wortlos bei einander säßen; sie mußten sich entfernt haben, und ich hatte das wegen des von unten heraufschallenden Lärmes nicht gehört.
Was nun thun? Mich wieder hersetzen und weiterschreiben? Dazu fehlte mir die nötige Sammlung. Die Sache ließ mir keine Ruhe; ich löschte meine Lampe aus und ging, meine Thür von draußen verschließend, hinunter. Die Gaststube lag rechts. Links war ein kleines Kabinett, eigentlich für den Portier bestimmt; da aber keiner da war, hatte der Oberkellner die Obliegenheiten eines solchen mit übernommen. Dort hingen auch die Schlüssel der Gastzimmer.
Eben kam der Oberkellner in diesem Kabinett heraus und wollte eiligst nach der Stube. Ich hielt ihn trotz dieser Eile an und fragte ihn:
»Sitzt der Prayer-man noch drin, Herr Doktor?«
»Ja,« antwortete er.
»Seit wann?«
»Seit einigen Stunden schon.«
»Aber er ist einmal für einige Zeit fort gewesen?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht!«
»Hören Sie, Sie haben keine Zeit, aber meine Sache ist höchst wichtig, und ich vertraue sie Ihnen mit der Bitte an, keinem, aber auch gar keinem Menschen etwas zu sagen. Ich werde Ihnen dafür bei Winnetou und Old Shatterhand dankbar sein. Der Prayer muß einmal fortgewesen sein; er muß! Sie haben vielleicht keine Acht auf ihn gehabt?«
»Sie müssen sich irren, Mr. Meier. Grad auf ihn habe ich mehr Acht als auf jeden andern Gast, weil er seit einiger Zeit trinkt geradezu wie ein Kellerloch. Er und Mr. Watter scheinen es darauf abgesehen zu haben, zu erfahren, wer von ihnen am meisten vertragen kann. Kaum habe ich ihnen volle Gläser gegeben, so muß ich schon wieder hin, um sie von neuem zu füllen. Da müßte ich es bemerkt haben, wenn er einmal auch nur auf fünf Minuten fortgewesen wäre. Er ist nicht aufgestanden.«
»Wo hat er seine Stube?«
»Im Hinterhaus über dem Stalle.«
»Wie? Nicht in dem Vorderhause?«
»Nein.«
»Und Watter? Wohnt der vielleicht neben mir?«
»Nein; er wohnt am andern Ende des Korridors.«
»Wer aber logiert neben mir?«
»Niemand.«
»Das ist unmöglich. Es waren Leute nebenan im Zimmer!«
»Auch da müssen Sie sich geirrt haben, Mr. Meier. Ich müßte es doch vor allen Dingen wissen, wenn das Zimmer neben Ihnen besetzt wäre, denn nicht der Wirt, sondern ich pflege den ankommenden Gästen ihre Wohnungen anzuweisen.«
»Hm! Ist der Schlüssel zu dem Nebenzimmer da?«
»Ja; hier!«
Er nahm ihn vom Nagel und zeigte ihn mir.
»Erlauben Sie ihn mir auf eine Minute; ich will einmal hinauf! Aber bitte also, keinem Menschen ein Wort sagen!«
»Keinem,« nickte er. »Mein Ehrenwort darauf!«
Ich begab mich zunächst in mein Zimmer, um meine Lampe wieder anzubrennen; dann ging ich mit dieser auf den Korridor, um die Nachbarwohnung aufzuschließen. Der Schlüssel paßte ganz genau; es war der richtige. Ich trat hinein, zog die Thür hinter mir zu und ließ das Licht der Lampe überall hin, in jeden Winkel fallen. Die Sache war mir so wichtig, daß ich so genau wie sonst selten forschte; es durfte mir kein Stäubchen entgehen.
Und richtig, da fand ich eine Spur. Es lagen Schnupftabakskörnchen auf dem Boden, und ich hatte heut gesehen, daß der Prayer-man nicht nur schnupfte, sondern sogar ein leidenschaftlicher Schnupfer war, denn während der kurzen Zeit, in der es mir heut möglich gewesen war, ihn zu beobachten, hatte er doch wenigstens zwanzigmal die Finger in der Schnupfdose und an der Nase gehabt. Ich suchte weiter und fand noch mehr Tabaksbröckchen, welche eine allerdings nicht zusammenhängende aber doch für mich bemerkbare Linie von der Thür nach dem Fenster bildeten, also über das ganze Zimmer hinweg. Er war vor dem Erscheinen seines Spießgesellen erregt hin und her gegangen, hatte dabei die Dose in der Hand gehabt und in dieser Erregung, wie es leidenschaftliche Schnupfer zu thun pflegen, die Nase in einem fort mit Prisen gefüttert und dabei den Schnupftabak verstreut. Also, der Oberkellner mußte sich irren; er konnte sagen, was er wollte, der Prayer-man war dennoch dagewesen!
Ich ging wieder hinaus, verschloß die Thür, setzte die ausgelöschte Lampe in mein Zimmer, verschloß dieses und trug den Schlüssel, welchen ich von dem Oberkellner erhalten hatte, in das Kabinett, wo ich ihn an den Nagel hing. Der Prayer-man hatte diesen Schlüssel heimlich weggenommen, um in der unbewohnten Fremdenstube seinen Bundesgenossen zu erwarten; so war es, anders nicht. Woher aber kannte er diesen Schlüssel so genau, und warum hatte er den Komplicen nicht hinüber nach dem Hintergebäude in seine eigene Stube bestellt? Vielleicht, weil die heimliche Zusammenkunft den dort Bediensteten leichter aufgefallen wäre als den Bewohnern des Vorderhauses, wo man in dem da herrschenden Gedränge den einzelnen nicht beobachtete.
Was sollte ich nun thun? Mich in die Gaststube setzen und den Prayer-man beobachten? Nein, denn das konnte ihm leicht auffallen, und ich liebe nicht den Dunst und Qualm so eng gefüllter Lokale. Schreiben? Meine Gedanken waren abgelenkt, und ich wußte, daß ich jetzt nichts fertig bringen würde. Ich beschloß also, einen Spaziergang zu machen und während desselben über diese Angelegenheit nachzudenken, die eine so wichtige war und mir doch nicht die kleinste Handhabe zum Anfassen bot.
Von der Straße aus warf ich einen Blick durch die Fenster in die Stube. Der Fremde, den ich im Verdachte des geheimen Einverständnisses mit dem Prayer-man gehabt hatte, war nicht da; dieser letztere aber saß mit Watter beisammen und erhob eben jetzt sein Glas, um mit ihm anzustoßen. Hatte er vielleicht die Absicht, ihn kaputt zu trinken? Ich riß aus meinem Notizbuche ein Blatt, worauf ich die Warnung schrieb:
»Betrinkt Euch nicht, Mr. Watter, und gebt heut sehr auf Eure Nuggets acht!«
Dieses Blatt faltete ich zusammen, gab es einem von den Knaben, welche von der Straße aus neugierig in das Lokal gafften, zeigte ihm den Mann, dem er es zu bringen hatte, und sagte, daß er keine Auskunft geben und gleich wieder gehen solle; dann werde er zwanzig Cents von mir erhalten. Er ging hinein, und ich sah, daß er den Zettel richtig übergab; es fielen einige kurze Worte, und der Adressat steckte den Zettel, ohne ihn zu lesen, in die Westentasche.
»Nun?« fragte ich den Jungen, als er wieder kam.
»Er fragte mich, von wem es sei; ich sagte ihm, das werde er schon lesen; da meinte er, übers Jahr werde er antworten, und steckte das Papier ein.«
Der Knabe erhielt seinen Botenlohn, und ich ging. Ich hatte meiner Pflicht genügt; mehr konnte ich jetzt nicht thun. Nach einem Spaziergange von einer halben Stunde hatte ich mir diese Angelegenheit aus dem Kopfe gebracht, und ich kehrte nach dem Hotel und in meine Stube zurück, um die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen, mit welcher ich zwar flott vorwärts, aber doch erst um die Mittagszeit zu Ende kam. Den Morgenkaffee hatte ich mir auf das Zimmer bringen lassen; zum Diner ging ich in die Gaststube hinab, mit deren Wiederherstellung nach der gesterigen Verwirrung man erst jetzt zu Ende war.
Ich war der einzige Gast, so daß sich der Oberkellner ganz der für mich so freundlichen Aufgabe widmen konnte, mir das Beste von den übrig gebliebenen Resten des Festmahles aussuchen und wärmen zu lassen.
Später kam Watter hinzu. Er sah angegriffen und übernächtig aus und ging unsicheren Schrittes auf den Tisch zu, an welchem er schon gestern gesessen hatte und dann von mir wieder niedergesetzt worden war; heut nahm er von mir keine Notiz. Von dem Oberkellner gefragt, ob er speisen wolle, antwortete er abweisend:
»Nein, keinen Bissen! Aber bringt mir eine Flasche Wein, so stark, wie Ihr ihn habt! Wenn man von einem Hunde gebissen worden ist, muß man Hundehaare auflegen.«
»Seid Ihr denn auch gebissen worden?« fragte der Oberkellner lächelnd.
»Nicht sehr, sondern nur ein bißchen; aber der Prayer-man war totgebissen worden, vollständig totgebissen! Wißt Ihr das, Mr. Rost?«
»Ja; die zwei Kellner, welche ihn mit hinaufgeschafft haben, erzählten es mir.«
»Ja; er war so toll betrunken, daß er nicht stehen und nicht gehen konnte. Ich mußte mich seiner annehmen und bat sie, mir zu helfen. Da haben wir ihn über den Hof hinüber nach dem Hintergebäude und hinauf in seine Stube getragen. Ist er schon dagewesen?«
»Nein.«
»Das läßt sich denken, denn sein Rausch war ein so schwerer, daß er leicht vor Abends nicht – – – alle Teufel, er kann ja doch noch gar nicht dagewesen sein, denn er kann nicht heraus und herunter!«
»Warum nicht?«
»Weil ich den Schlüssel zu seiner Stube einstecken habe. Er war nämlich trotz seiner Betrunkenheit sehr auf seine Sicherheit bedacht. Er konnte zwar nur noch lallen, aber ich verstand dennoch seinen Wunsch. Er hatte gestern durch den Verkauf seiner Schriften Geld eingenommen, für welches er besorgt war. Er befürchtete, man könne seinen Rausch benutzen und sich bei ihm einschleichen, um es ihm abzunehmen. Darum bat er mich, ihn einzuschließen und den Schlüssel einzustecken.«
»Ein sonderbarer Wunsch, den nur ein Betrunkener haben kann!« bemerkte der Oberkellner.
»Warum?«
»Er konnte sich doch selbst einschließen und den Schlüssel zu sich in das Zimmer nehmen.«
»Das ist richtig, und das sagte ich ihm auch; aber was kann man gegen die Idee eines berauschten Menschen thun? Nichts, gar nichts. Ich mußte ihm seinen Wunsch erfüllen. Er hat eine fürchterliche Schlappe erlitten, denn er behauptete, daß er wenigstens fünfmal soviel wie ich vertragen könne, und wurde doch von mir totgetrunken, obgleich er sich außerordentlich dagegen stemmte. Ich muß doch einmal hinübergehen, um nachzusehen, wie es mit ihm steht.«
Er stand von seinem Tische auf und ging.
Dieser Mann freute sich seines Trinkersieges, auf den er stolz war, während ich eine ganz andere Ansicht über diese Sauferei, denn anders konnte man es nicht nennen, hatte. Wetten darüber, wer mehr essen oder mehr trinken kann, sind mir abscheulich. Das Verlangen des Prayer-man an Watter, ihn einzuschließen und den Schlüssel einzustecken, kam mir ganz und gar nicht wie das unmotivierte Verlangen eines Betrunkenen vor; ich ahnte vielmehr, daß der Schriftenhändler sich nur so berauscht gestellt hatte, um irgend einen Zweck zu erreichen. Indem ich über diesen Zweck nachdachte, kam ich auf den Gedanken, daß es sich da vielleicht um einen Alibibeweis handle. Hatte ich damit das richtige getroffen, so war während der vergangenen Nacht das Gold Watters verschwunden. War es da nicht meine Pflicht, ihn, wenn er jetzt wieder kam, aufzufordern, sofort einmal nach seinen Nuggets zu sehen? Eigentlich wohl ja, uneigentlich aber nein, und ich zog bei dem jetzt zwischen ihm und mir bestehenden gespannten Verhältnisse, welches er selbst geschaffen hatte, das »Uneigentlich« dem »Eigentlich« vor.
Daß ich beschloß, zu schweigen, hatte auch noch einen andern, außerordentlich triftigen Grund. Selbst wenn meine Ahnung sich bewahrheitete und die Nuggets also verschwunden waren, durfte ich überzeugt sein, daß alle Nachforschungen nach ihnen vergeblich sein würden. Der Prayer-man konnte beweisen, daß er im öffentlichen Gastzimmer gesessen und sich einen so schweren Rausch angetrunken habe, daß er getragen werden mußte, und dann bis jetzt in seiner Stube eingeschlossen gewesen sei. Der Kumpan, mit dem ich ihn im Nebenzimmer belauscht und welcher die That ausgeführt hatte, war mit den Nuggets fort. Niemand kannte ihn. Ich konnte nicht beweisen, daß er mit dem Prayer-man in heimlichem Einvernehmen gestanden hatte. Daß zwei Männer in der Stube neben der meinigen gewesen seien, würde man mir wohl kaum glauben, denn schon der Oberkellner hatte es bezweifelt, und selbst wenn man es mir glaubte, war damit so gut wie nichts bewiesen. Dazu kam, daß Watters Nuggets für mich lange nicht die Wichtigkeit besaßen wie der von mir erlauschte Plan, welcher gegen den sogenannten Onkel und dessen Neffen ausgeführt werden sollte und den ich, wenn es mir möglich war, zunichte machen wollte. Verriet ich aber wegen des an Watter begangenen Diebstahls, daß ich an der Verbindungsthür meines und des andern Zimmers gelauscht hatte, so gab ich unklugerweise eine mir gegen den Prayer-man zur Verfügung stehende Waffe, mit welcher ich ihn später niederschlagen konnte, aus der Hand und machte es mir dadurch unmöglich, ein Verbrechen zu verhüten, dessen Verhinderung in meine Hände, aber auch nur in die meinigen, gegeben war. Darum mußte ich jetzt schweigen.
Nach einiger Zeit kehrte Watter zurück; er brachte den Prayer-man mit, welcher sehr malade that, obgleich er ein ganz und gar nicht katzenjämmerliches Aussehen hatte. Er aß sogar mit großem Appetite, während Watter behauptete, daß es ihm unmöglich sei, einen einzigen Bissen zu genießen. Auch dieser Umstand zeigte, wer von den beiden der eigentlich oder wirklich Betrunkene gewesen sei.
Sie unterhielten sich zunächst über ihre Wette, dann aber auch über andere Dinge, wobei sie jede Gelegenheit benutzten, mir eine Beleidigung zuzuwerfen. Ich that, als ob ich sie gar nicht sprechen höre, und ging dann fort, um erst einen Besuch bei Frau Hiller und dann einen Spaziergang zu machen, der mir nach der durchwachten Nacht Erfrischung bringen sollte. Als ich bei Mrs. Hiller diesen Spaziergang erwähnte, bat sie mich, mit ihrem Sohne daran teilnehmen zu dürfen, weil sie die Gelegenheit, mit mir zusammensein zu können, möglichst ausnützen müsse. Die Höflichkeit verbot mir, nein zu sagen und sie wissen zu lassen, daß ein Westmann unter »spazieren gehen« etwas ganz anderes meint, als langsam neben einer Dame herzuschlendern und dabei nach einer den Geist und den Körper anstrengenden Nachtarbeit sich Mühe zu geben, ein angenehmer Gesellschafter zu sein.
Aus der ausgiebigen Partie, welche ich vorgehabt hatte, wurde also ein ermüdend langsamer Bummel, der uns auch nach dem gestrigen Festplatze führte, über welchen wir nur hatten gehen wollen, ohne uns da aufzuhalten, denn weil das Fest vorbei war, glaubten wir, ihn leer zu finden. Es wurde aber, wie wir schon von weitem hörten, heute wieder geschossen, und es gab eine ziemliche Anzahl von Leuten da, welche den Scheibenständen eine solche Aufmerksamkeit widmeten, daß der junge Hiller hinging, um sich nach der Ursache zu erkundigen. Er kam nicht zurück, sondern winkte uns, nachzukommen. Wir erfuhren, daß ein höchst interessantes Wettschießen stattfinde, welches gestern von einem gewissen Mr. Watter angeregt worden sei und eine größere Dimension angenommen als man vorher beabsichtigt habe.
Ich war der Zuschauer von hundert Wettschießen unter wohlgeübten Jägern im wilden Westen gewesen und hatte da wohl auch einmal selbst mitgeschossen; darum lag mir gar nichts daran, mir meine ohnehin nicht rosige Laune durch das Anstaunen stümperhafter Schießereien noch mehr verderben zu lassen; aber Frau Hiller war nun auch neugierig geworden, und so sah ich mich gezwungen, mit meiner sich heimlich dagegensträubenden Person einen unfreiwilligen Zuwachs des anwesenden Publikums zu liefern.
Das eigentliche, seit gestern für heut beabsichtigte Preisschießen war schon vorüber; es hatte über eine Stunde gedauert und einen für die hiesige Jägercompagnie unerwarteten Ausgang genommen, denn Watter war der Sieger gewesen. Man hatte geglaubt, daß die bei jedem Kampfe um einen Preis, also auch hier, unvermeidliche Aufregung nun vorüber sei und sich schon auf den Heimweg begeben wollen, da aber war Watter im Gefühle seiner Überlegenheit auf den Gedanken gekommen, den fünfzig Dollars betragenden Preis auf hundert Dollars zu verdoppeln und gegen einen gleichen Einsatz auf fünf Schüsse auszubieten. Keiner der Jäger war so überzeugt von seiner Geschicklichkeit oder so mutig gewesen, eine solche Summe gegen den bisher überlegenen Sieger zu wagen, da aber hatte zum allgemeinen Erstaunen der Prayer-man erklärt, daß er parieren wolle. Ein frommer Traktätchenhändler, welcher sich erbot, mit einem Westmanne auf hundert Dollars um die Wette zu schießen, das hatte ungeheures Aufsehen erregt. Ich sagte mir, daß wohl keiner davon so überrascht gewesen sei wie Watter selbst, und gestehe zu, daß mir dieses Schießen nun freilich viel interessanter vorkam, als es mir vorher gewesen war. Eben, als wir an den Schießstand traten, wurden die Bedingungen ausgerufen. Jeder hatte sich seines eigenen Gewehres zu bedienen und die fünf Schüsse in zwei Minuten abzugeben. Die geschossenen Nummern sollten addiert und dann durch fünf dividiert werden; wer den größten Quotient hatte, war der Sieger.
Die Entfernung betrug, so schätzte ich, hundertundzwanzig Schritte; der Treff ins Schwarze war also ein reines Kinderspiel. Wenn es hier etwas zum An- oder Erstaunen gab, so war es der Umstand, daß jeder sein eigenes Gewehr haben sollte. Der Prayer-man besaß also eins, und nicht nur das, sondern er hatte es auch mit; er führte es also stets mit sich herum; der Handel mit Traktätchen war also nur Nebensache oder vielmehr Mittel zum Zweck für ihn. Er war nach der Stadt in das Hotel geeilt und kam jetzt mit dem Gewehre von da zurück.
Ich stand ziemlich weit von ihm, sah aber doch, daß der Lauf mit einer Säure stumpf gebeizt worden war; das machte mich neugierig, und ich forderte Hiller auf, hinzugehen, um unauffällig zu erfahren, ob in der Nähe des Schlosses eine Firma in den Lauf gestanzt sei. Es wurde ihm leicht, dies zu erfahren, denn es gab mehr Wißbegierige, welche das Gewehr in die Hand nahmen und es betrachteten. Er kam wieder und teilte mir mit, daß er »Ralling, Shelbyville, Tenn.« gelesen habe.
Dieser Name machte mich stutzig. Es giebt oder vielmehr es gab im Wildwest Jäger, welche ihrer Gewehre wegen allbekannt oder gar berühmt waren. Wenn so ein Mann irgendwo erschien, ging sein Gewehr von Hand zu Hand; es wurde betrachtet, geprobt und beurteilt, wie ein seltenes Pferd von Kennern in die Augen genommen wird. Jeder, der es gesehen und seiner Prüfung beigewohnt hatte, erzählte an andern Orten davon, und so kam es, daß jeder bewanderte Westmann die meisten guten Gewehre, welche es jenseits des Missisippi gab, entweder gesehen hatte oder nach ihrem Firmenstempel oder dem Namen des jetzigen Besitzers kannte. Winnetou und ich, die wir so weit herumgekommen waren, konnten mit Recht behaupten, die Kenntnis solcher Gewehre in höherem Grade als jeder andere zu besitzen. Diese Kenntnis war bei uns zu einer Art Lieblingswissenschaft geworden, in welcher wir uns bei jeder Gelegenheit zu bereichern suchten. Nun kannte ich nur zwei Gewehre, welche den Ralling-Stempel trugen. Das eine besaß ein Unterhäuptling Winnetous, welcher Nonton der Pinal-Apatschen war; das andere gehörte Amos Sannel, einem alten, biederen Pelzjäger, den wir oben in Utah und dann auch einmal in Montana getroffen hatten. Wir waren mehrere Wochen lang mit ihm zusammen gewesen und hatten da mit seiner Erlaubnis manchen Schuß aus seinem vorzüglichen Einläufer gethan. Er hatte in die beiden Backen des Schlosses Blumen ätzen lassen, deren Staubfäden rechts am Laufe ein A und links ein S bildeten; doch mußte man, um dies zu sehen, überhaupt wissen, daß die Fäden Buchstaben seien. Wir hatten nichts vom Tode dieses braven Alten gehört, und ich nahm darum an, daß es sich hier beim Prayer-man um ein drittes Gewehr von Ralling handle. Das war aber auch schon genug, in mir den Wunsch zu erregen, es einmal in die Hand nehmen zu dürfen.
Jeder der beiden Wettenden bekam eine zwölfkreisige Scheibe für sich. Kreis No. 12 war der innerste und schloß das Schwarze ein; der äußerste Kreis hatte die No. Eins, je besser der Schuß, desto höher war also die Nummer. Es wurde um die Reihenfolge gelost; Watter hatte zuerst zu schießen. Das Geld war in die Hände einer Dame gelegt worden.
Ich muß sagen, daß ich, als er zum ersten Schusse anlegte, einige Schritte vorwärts machte, um ihm näher zu stehen. Der Westmann in mir machte sich doch geltend! Er schoß eine Acht. Das war, da er schon vorher geschossen hatte und sich heute also in Aktion befand, ein schlechter Schuß. Dann kam gar eine Sieben, hierauf aber ein Schwarz, welchem eine Elf und eine Neun folgte. Er hatte also zusammen 47 Points geschossen, 92/5 auf die Kugel. Wenn durch diese Fertigkeit die ganze hiesige Jägercompagnie vorher von ihm besiegt worden war, so war es freilich leicht, ihren Mitgliedern eine Wette anzutragen!
Jetzt trat der Prayer-man vor. Meine Aufmerksamkeit verdoppelte sich, denn wie er jetzt dastand, in dieser Haltung und mit diesem aus halb zusammengekniffenen Augen auf die Scheibe gerichteten Blick, war er kein Traktätchenhändler mehr. Hätte ich ihn in diesem Augenblick zum erstenmal gesehen, ich hätte sofort gesagt, daß es ein Westmann, und zwar kein schlechter, sei. Natürlich hat das Wort »schlecht« hier nicht auf die moralischen Eigenschaften Bezug.
Sich leicht vorbiegend, nahm er das Gewehr in einer Weise in Anschlag, welche nur den guten Westschützen kennzeichnet, zielte kurz und drückte ab. Er schoß eine Zehn.
»Das war der erste Schuß,« lachte er. »Es wird schon besser werden, Mesch'schurs!«
Der zweite Schuß brachte wieder zehn; auf den dritten und vierten fiel Schwarz, und der fünfte traf die Elf. Er hatte also zusammen 55 geschossen, durchschnittlich also genau eine Elf.
Watter hing den Kopf. Er hatte gestern dem Prayer-man jedenfalls viel von seinen großen Eigenschaften als Westmann erzählt, weil er des Glaubens gewesen war, daß dieser vom far-west gar nichts verstehe, und mußte nun sehen, daß er von diesem vermeintlich Kenntnislosen um acht Points und hundert Dollars geschlagen worden war! Der Sieger, dem man zujubelte, verbeugte sich in stolzer, selbstbewußter Weise nach allen Seiten und näherte sich der erwähnten Dame, um den Preis aus ihrer Hand zu nehmen. Aber noch war er nicht ganz bei ihr, so hielt er an, drehte sich um und erhob die Hand zum Zeichen, daß man schweigen möge. Ich ahnte, was für ein Entschluß in ihm erwacht war. Der Wettteufel ist, wo es eine Gelegenheit zum Verluste des Gewonnenen giebt, immer bereit, sein schadenfrohes Spiel zu treiben.
»Myladies und Mesch'schurs,« rief er. »Ich will nicht weniger anständig sein, als Mr. Watter vorhin gewesen ist. Er hat seinen Preis wieder ausgeboten und ich thue das auch. Es stehen zweihundert Dollars auf fünf Schüsse. Wer setzt dieselbe Summe dagegen?«
Kein Mensch antwortete. Ich sah Watter an. Sollte er denn nicht versuchen, wieder zu seinem Verluste zu kommen und noch hundert Dollars dazu? Er schien mit sich zu Rate zu gehen. Bis jetzt hatte er nur fünfzig Dollars verloren; nun aber handelte es sich um das Vierfache, und das schien ihm zuviel zu sein. Frau Hiller legte ihre Hand an meinen Arm und sagte leise:
»Das wäre jetzt etwas für Sie!«
Ihr Sohn hatte das gehört und wies sie zurecht:
»Da müßte er seine Gewehre mithaben; mit einem fremden schießt selbst der größte Meister keine fünfundfünfzig auf fünf Kugeln weg!«
Ich antwortete nicht, denn ich hielt es für vollständig ausgeschlossen, daß ich in irgend einer Weise hier in Betracht kommen könne. Mir war es nur darum zu thun, das Gewehr des Prayer-man einmal betrachten zu dürfen. Aber es sollte doch anders kommen, als ich gedacht hatte!
Der Sieger wiederholte sein Angebot noch einigemal, doch ohne Erfolg. Er blickte dabei im Kreise herum, wobei sein Auge auch auf mich traf. Es blieb an mir haften. Sein Gesicht nahm einen höhnischen Ausdruck an, welcher mir die sofortige Überzeugung gab, daß er sich jetzt von seiner Rachsucht hinreißen lassen werde, mich zu blamieren. Richtig! Er hob den Arm, zeigte auf mich und rief:
»See, See! Da steht ja einer, der so thut, als ob er die Klugheit mit tausend Löffeln gegessen habe! Er hat gestern Mr. Watter, der doch ein kluger, unvergleichlicher Westmann ist, so mit Gescheitheit förmlich überschüttet, als ob Männer wie Old Firehand oder Old Shatterhand dumme Jungens gegen ihn seien. Seht ihn doch einmal an! Er ist seines Zeichens Schriftsteller, ein Papierfresser und Tintentrinker, thut aber so dick, als ob er die Pfiffe und Kniffe des ganzen Wildwest im Leibe habe! Jetzt hat er Gelegenheit, zu beweisen, daß er nicht bloß Worte zu machen verstehe. Ich rufe ihm zu: Come on!«
Jetzt waren natürlich aller Augen auf mich gerichtet, und zwar in einer für mich nicht schmeichelhaften Ausdrucksweise. Frau Hiller und ihr Sohn waren entrüstet darüber; ich blieb aber ruhig und antwortete nicht.
»Da habt Ihr es, daß er kein Wort sagen kann!« fuhr der Prayer-man fort. »Solche Prahlhänse bekommen eine wahre Todesangst, wenn es sich um Thaten handelt!«
Da fiel Watter, dem dies natürlich aus der Seele gesprochen war, lachend ein:
»Gebt Euch keine Mühe! Dieser Mensch hat ja in seinem ganzen Leben noch kein Gewehr in der Hand gehabt; das sieht man ihm ja an!«
»Oder hat er kein Geld!« rief der Prayer-man wieder. »Er mag nur hundert gegen meine zweihundert setzen, ja, nur fünfzig! Seht Ihr, wie verlegen er wird? Er schwitzt schon vor Angst!«
»Wenn ich wäre wie Ihr, so ließe ich ihn ohne Einsatz mitthun; er trifft doch die Scheibe nicht!« schlug Watter vor.
»Gut, gut! Also ohne allen Einsatz gegen meine zweihundert Dollars!« stimmte der Prayer-man mit höhnischem Grinsen bei. »Ich setze sie gern, sehr gern aufs Spiel, nur um der sehr verehrten Versammlung einmal zeigen zu lassen, wie ein Papierfresser schießt!«
»Der mir, nämlich mir, guten Rat erteilen will, aber selbst ein reiner Garnichts ist!« bekräftigte Watter. »Holt ihn heran, heran!«
Für jeden andern wäre die Blamage fertig gewesen; mir machte sie großen Spaß; ich steckte eine sehr verlegene Miene vor und ließ mich von den Umstehenden nach ihrem Belieben vorwärtsschieben und weiterziehen. Das Interesse an dem Preisschießen war bisher immer lebhafter geworden, hatte aber nun, wo es sich um ein solches Gaudium handelte, den höchsten Grad erreicht. Der Sieger, welcher mit fünf Schüssen eine 55 erzielt hatte, setzte zweihundert Dollars gegen nichts, nur um den Anwesenden eine lustige Unterhaltung zu verschaffen. Man rief und schrie; man lachte schon im voraus und drängte mich zu ihm hin. Als er mich bei sich sah, schlug er ein spöttisches Gelächter auf und rief:
»Na, da sind Sie ja endlich, Sie – – Sie – – wie war doch gleich Ihr Name?«
»Meier,« antwortete ich.
»Ja, Meier, Meier – – – Meier! Jedoch der Meier thut nichts zur Sache, denn nur dort auf die Scheibe kommt es an. Sie werden also mit mir um die Wette schießen – – – was? – – – heh?«
»Aber – aber – –« antwortete ich bang; »ich habe – doch keine Flinte!«
»Flinte? Flinte! Das ist gut! Habt Ihr es gehört, Mesch'schurs? Er hat Flinte gesagt, Flinte, hahahaha! Diesem Mangel wird gleich abgeholfen sein, Mr. Meier, denn Sie dürfen mit meiner Flinte schießen, Flinte, hahaha! Also, sind Sie einverstanden?«
»Ja – ja, ich muß doch wohl!«
»Ja, Sie müssen! Sie kommen nicht los davon! Also ich setze zweihundert Dollars, und wenn Sie mich überschießen, gehört das Geld Ihnen; die Lady dort wird es Ihnen geben. Haben Sie es verstanden?«
»Yes!«
»Wollen wir losen, wer erst drankommt?«
»Yes!«
»Oder soll ich gleich erst schießen?«
»Yes!«
Er schien es für nicht seiner würdig zu halten, wenn er nach mir schießen mußte, nachdem ich nichts getroffen hätte.
»Gut!« stimmte er bei. »Ich schieße also zuerst. Gebt Raum, Mesch'schurs! Der Spaß wird gleich beginnen!«
Man stand noch immer dicht um uns gedrängt; jetzt schaffte er Platz; die Leute wichen zurück, doch immer lachend und einander Ausdrücke zurufend, welche voller Spitzen für mich waren. Die Schußlöcher der beiden Scheiben wurden überklebt; dann stellte sich mein Gegner zum ersten Schusse an. Er hatte das Gewehr schon angelegt; da setzte er es wieder ab und sagte laut, daß alle es hörten:
»Denken Sie nicht, Myladies und Mesch'schurs, daß ich jetzt wieder eine 55 schieße! Ich würde mich ja schämen müssen, mir die Mühe gemacht zu haben, ihm eine so hohe Ziffer vorzugeben; ich schieße also so, wie es grad kommen will. Also, paßt auf!«
Er schoß eine Neun, dann eine Acht und wieder eine Neun. Hierauf zielte er sorgfältiger und schoß eine Elf und zuletzt eine Zehn. Er hatte also 47 zusammengebracht.
»Das ist nicht viel, für so einen Dummkopf aber mehr als genug!« lachte er. »Hier ist das Gewehr – – die Flinte, hahaha, die Flinte, und da sind die Patronen!«
Ich nahm den »Dummkopf« so ruhig hin, als ob ich ihn nicht gehört hätte, und ergriff das Gewehr beim Laufe, den Kolben nach oben, um es zu betrachten. Ein brausendes Gelächter war die Folge dieses vermeintlichen Ungeschickes, und Watter rief:
»Ich setze zehn Dollars, zwanzig Dollars, daß er auf seine fünf Schüsse keine dreißig macht. Wer hält dagegen?«
Keiner hatte den Mut dazu; aber Hiller antwortete:
»Ich setze zwanzig dagegen. Wer bekommt das Geld? Meine Mutter hier?«
»Jawohl, ja!« lachte Watter. »Es ist ganz egal, wer es einstweilen hält; ich bekomme es nachher doch.«
Hiller hatte diese Summe nur zufälligerweise bei sich, wie er mir später sagte, hätte aber gern tausend und noch mehr gesetzt, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Seine Mutter bekam die vierzig Dollars in die Hand.
Mein erster Blick war natürlich auf die Schloßbacken des Gewehres; ich sah die beiden Blumen mit dem S und dem A; es war also dasjenige unsers alten Amos Sannel. Wie war es in die Hände seines jetzigen Besitzers gekommen? Etwa durch ein Verbrechen! Ich hatte keine Zeit, jetzt meine Gedanken mit dieser Frage zu beschäftigen, und fühlte mich zunächst durch das Bewußtsein beruhigt, eine mir bekannte Waffe in der Hand zu haben. Dennoch war ich wenigstens des ersten Schusses nicht sicher, weil die Möglichkeit vorlag, daß das Gewehr inzwischen schlecht behandelt worden war. Der erste Schuß mußte ein Probeschuß sein. Aber wohin? Ich wollte meinen Gegner mit achtundvierzig überschießen; dazu genügten vier Schwarze; ich hatte also die erste Kugel ganz frei und beschloß, sie gar nicht nach der Scheibe zu richten.
»Vorwärts, vorwärts!« riefen die Zuschauer ungeduldig. »Schießen Sie doch! Wann geht es denn los?!«
Ich nahm das Gewehr so dumm wie möglich in Anschlag, zielte auf einen im Kugelfange befindlichen Ast und drückte los. Ein schallendes Gelächter begleitete diesen Mißerfolg, der aber für mich ein sehr beruhigender Erfolg war, denn der Ast war getroffen.
»Er hat den Kugelfang erschossen, vollständig totgeschossen!« johlte der Prayer-man. »Geht weg, Leute, geht weg, denn es ist höchst gefährlich, seitwärts von ihm zu stehen! Ich bin überzeugt, daß er es noch fertig bringt, grad längs seiner Ellbogen hinauszuschießen!«
Ein allgemeiner, lauter Beifall belohnte diesen Witz. Ich lud wieder und sah dabei, daß Hiller jetzt doch eine besorgte Miene machte. Darum forderte ich ihn laut auf:
»Seien Sie unbesorgt um die vierzig Dollars, Mr. Hiller! Lassen Sie sich das Geld immerhin schon jetzt von Ihrer Mutter geben, denn ich werde gewinnen!«
Hierauf ertönte allerdings ein ganz unbeschreibliches Gelächter, und Watter rief, als es sich ziemlich gelegt hatte:
»Da hört man ja, daß der Kerl verrückter ist als verrückt! Wenn er die vorgelegte siebenundvierzig überschießen wollte, müßte er mit vier Kugeln vier Schwarze treffen!«
»Das werde ich auch!« antwortete ich.
»Hallo! Das kann man gar nicht anders als den reinen Wahnsinn nennen!«
»Pshaw! Ihr scheint alle blind zu sein! Ich mußte natürlich das Gewehr prüfen und hätte das mit einem Zieler in die Zwölf thun können, hielt dies aber einem solchen Luftschützen gegenüber, wie der Prayer-man ist, gar nicht für nötig. Wer wie er, vorhin, wo es ihm ernst war, auf fünf Kugeln nur eine Fünfundfünfzig macht, der mag seine ›Dummköpfe‹ nur an die eigene Adresse richten. Also, aufgepaßt! Von jetzt an geht es schneller als bisher!«
Mein zweiter Schuß krachte; er traf einen Finger breit vom Rande ins Schwarze; die nächste Kugel ging schon mehr in die Mitte, und der vierte und der fünfte Schuß nahmen grad durchs Centrum ihren Weg. Ich weiß wohl, daß ich sehr gewagt gehandelt hatte, als ich darauf rechnete, vier Treffer hintereinander zu machen; aber es giebt Schützen, und ich gehöre glücklicherweise zu ihnen, welche – – ich weiß das, was ich sagen will, nicht anders zu verdeutlichen – – – welche die Treffer schon voraus fühlen. Es ist das ungefähr so, als wenn ein guter Billardspieler versichert, daß er hundert Points hintereinander machen werde. Er weiß, daß er grad jetzt ruhiges Blut hat und daß auch sonst alle Erfordernisse dazu vorhanden sind – – er macht die hundert wirklich. Die geringste Kleinigkeit hätte eine der vier Kugeln ablenken können, das weiß ich wohl, aber ich wußte und wußte es eben, daß dies nicht geschehen werde, und diese Zuversicht hilft nicht zum wenigsten zu dem Erfolg.
Jetzt verhielten sich die Zuschauer freilich ganz anders als nach meinem ersten Schusse! Zunächst war alles still; dann brach ein wahrer Sturm des Beifalles los, um den ich mich aber gar nicht bekümmerte. Ich sah, daß Frau Hiller ihrem Sohne die vierzig Dollars gab, und ging zu der Dame, welche die Zweihundert hielt. Schon wollte sie mir das Geld geben, da stürzte der Prayer-man herbei und schrie:
»Halt, halt! Das Geld ist mein; es ist ja alles nur ein Scherz gewesen!«
Es bildete sich im Nu ein Kreis von Zuschauern um uns, welche neugierig waren, wie dieses Quiproquo sich lösen werde. Mein Gegner wollte nach dem Gelde greifen; da schob ich meinen Arm vor und sagte:
»Ich habe Ihnen schon einmal eine Lehre gegeben; versuchen Sie es ja nicht, eine zweite herauszufordern, denn diese würde viel kräftiger als die erste ausfallen! Sie haben die zweihundert Dollars gesetzt, und ich habe sie gewonnen; sie sind mein! Ich rate Ihnen, diesen Verlust ganz ruhig hinzunehmen, sonst könnte ich, wenn Sie diesem Rate nicht Folge leisten, Ihnen noch ganz anders kommen, als ich schon gekommen bin!«
»Was soll das heißen? Was meinen Sie? Soll das etwa eine Drohung sein?!« fuhr er mich zornig an. »Sie sind nicht der Mann, der auch nur einem Floh in meinem Rocke Angst einjagen könnte!«
»Ich habe es weniger auf die Flöhe in Ihren Kleidern als vielmehr auf das Ungeziefer in Ihrem Gewissen abgesehen!«
»Ungeziefer – –? Gewissen – –? Was wissen Sie von meinem Gewissen? Wenn Sie wieder eine Verrücktheit loslassen wollen, dann heraus damit, heraus!«
»Well! Woher haben Sie Ihr Gewehr, Sie frommer Mann?«
»Woher? Gekauft habe ich es natürlich!«
»Von wem?«
»Von dem früheren Eigentümer.«
»Wer war das?«
»Ein Freund von mir, dessen Namen Sie nicht zu wissen brauchen.«
»Wann haben Sie es gekauft?«
»Vor langer Zeit; es ist länger als zehn Jahre her.«
»Das ist eine Lüge!«
»Eine Lüge? Herr, wagen Sie ja nicht, mich zu beleidigen, Sie Mr. Meier – Meier – Meier, Sie?«
»Pshaw! Ich kenne das Gewehr!«
»Sie? Ah so! Sie scheinen alles Unbekannte zu kennen!«
»So will ich einmal sehen, ob Sie auch so etwas Unbekanntes kennen. Haben Sie vielleicht schon einmal den Namen Amos Sannel gehört?«
Diese Frage kam ihm so vollständig unerwartet, daß er keine Zeit, sich zu beherrschen, fand. Er erbleichte bis in die Haarwurzeln hinauf, nahm sich aber schnell zusammen und antwortete, wenn auch in unsicherem Tone:
»Dieser Name ist – – ist mir – – mir vollständig unbekannt.«
»So will ich Ihnen sagen, daß Amos Sannel ein Pelzjäger ist oder vielleicht auch war, aus dessen Gewehr – Ihrem jetzigen, ich sehr oft geschossen habe. Darum die vier sichern Treffer hintereinander! Bei Lebzeiten verkauft oder verschenkt so ein Mann ein solches Gewehr nie; ich nehme also an, daß es ihm gestohlen wurde oder daß es erst nach seinem natürlichen oder auch gewaltsamen Tode in andere Hände gekommen ist. Was sagen Sie dazu?«
»Nichts, gar nichts, als daß Sie mir beweisen sollen, daß mein Gewehr dasjenige dieses Amos Sannel ist.«
»Nichts leichter als das! Sein Name ist eingeätzt.«
»Schau! Eingeätzt? So, so! Meine Damen und meine Herren, sehen Sie sich das Gewehr einmal genau an, und wenn sie einen Namen finden, lasse ich mich auf der Stelle hängen!«
Er holte es und gab es zum Betrachten in der Reihe herum. Niemand fand, was ich meinte. Da zeigte ich auf die beiden Backen und erklärte:
»Der Dieb oder gar Raubmörder wird sich das Gewehr freilich sehr genau angesehen haben, ist aber ein so großer Dummkopf gewesen, diese Blumen nur für Blumen, nicht aber für Verschleierungen des Namens zu halten. Sehen Sie genauer hin, so werden Sie bemerken, daß die Staubfäden ein A und ein S bilden, was eben Amos Sannel bedeutet!«
Jetzt freilich fanden sie die Buchstaben leicht; sie wichen von dem Prayer-man zurück. Dieser bemerkte das und zischte mich grimmig an:
»Schwindler, der Sie sind! Sie haben beim Laden ganz zufällig die Ähnlichkeit der Staubfäden mit den beiden Buchstaben bemerkt und sich schnell eine Lüge ausgesonnen, um sich an mir zu rächen!«
»Den ›Schwindler‹ bleibe ich Ihnen für zwei Augenblicke schuldig und lasse Sie aus guten Gründen auch in Beziehung auf das Gewehr einstweilen laufen. Für jetzt handelt es sich nur um unser Wettschießen. Ich will den Preis haben, und Sie wollen ihn nicht zahlen. Die Anwesenden mögen entscheiden; ich werde mich ganz genau nach ihrem Urteile richten. Also, Myladies und Mesch'schurs, habe ich die zweihundert Dollars bekommen sollen, falls ich die Siebenundvierzig überschießen würde?«
»Ja,« erklang es rund umher.
»Habe ich eine Achtundvierzig geschossen, also mehr als er?«
»Ja.«
»Gehört das Geld nun ihm?«
»Nein.«
»Mir?«
»Ja.«
»Well, so werde ich es nehmen, und wer mich darin hindern will, der hat es nun mit mir zu thun!«
Ich wendete mich wieder an die Dame; da fuhr der Prayer-man schnell dazwischen:
»Halt! Ich dulde es nicht. Es war eine Wette, und das Geld ist noch nicht ausgezahlt. Das Gericht entscheidet, daß kein Mensch zur Zahlung zwingen kann!«
»Papperlapapp! Sie haben sich so vor dem Gerichte zu fürchten, daß es Ihnen gar nicht einfallen wird, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Übrigens Gericht – – es giebt auch ein gewisses Gericht, welches man selbst ausübt, und ich werde Sie sogleich ein solches kennen lehren: Ich bin Ihnen den ›Schwindler‹ vorhin schuldig geblieben und will ihn jetzt bezahlen; der heutige Preis dafür sind drei Ohrfeigen, die ich Ihnen jetzt geben werde. Eine Quittung brauche ich nicht. Kommen Sie her, Sie frommgesalbter Mann!«
Er wollte schnell fort; ich nahm ihn aber beim Genick, drehte ihn herum und verabreichte ihm die erwähnte Zahlung mit solcher Schnelligkeit, daß er gar nicht zu dem Versuche kam, sich ihrer zu erwehren. Dann gab ich ihm einen Stoß, daß er weit fort zu Boden flog, und nahm der Dame endlich die zweihundert Dollars aus der Hand. Das Geld einsteckend, grüßte ich die Anwesenden, deren Gesinnung sich nach den vier Treffern vollständig umgekehrt hatte, und als ich mich mit Mrs. Hiller und ihrem Sohne entfernte, schallte ein vielstimmiges Bravo hinter uns her.
»Das war ein wahrhaft köstliches Abenteuer!« sagte meine Begleiterin. »Das kommt bei Ihnen alles so schnell und so selbstverständlich, die Schüsse und die Ohrfeigen, daß man es sich gar nicht anders kommend denken kann! Sie sind durch unsern Spaziergang um ein hübsches Sümmchen reicher geworden!«
»Pshaw! Um das Geld ist es mir wahrlich nicht; ich habe es genommen, um ihn zu strafen. Übrigens ist Ihr Vertrauen zu mir auch belohnt worden, wenn auch nur mit einem kleinen Betrage. Gehen wir heim?«
»Ja, natürlich zu mir!«
»Gestatten Sie mir, daß ich höflichst ablehne!«
»Warum?«
»Mir ahnt, daß der Prayer-man sich baldigst aus dem Staube machen wird, und da habe ich Gründe, im Hotel zu sein. Ich habe ihm einiges gesagt, was ihn hier moralisch in Mißkredit gebracht hat. Ich vermute, er fühlt, daß ihm der Boden unter den Füßen zu warm wird. Ich begleite Sie bis an Ihre Wohnung. Vielleicht sehen wir uns am Abend wieder.«
»Erst am Abend?« fragte der Sohn. »Wie plötzlich können Sie fort müssen! Es ist mir jede Viertelstunde kostbar, die ich mit Ihnen beisammen sein kann. Arbeiten Sie jetzt?«
»Nein.«
»Haben Sie sonst etwas Wichtiges vor?«
»Nein.«
»So erlauben Sie, daß ich bei Ihnen bleibe. Wir trinken ein Bier im Hotel. Sie thun mir einen großen Gefallen damit. Ich gehe so wenig aus.«
Es lag mir nichts daran; aber ich konnte nicht unhöflich sein und sagte also ja. Man ist eben, wenn man Bekannte aufsucht, niemals sein eigener Herr! Wir gingen also, nachdem wir seine Mutter heimgebracht hatten, nach dem Hotel, wo uns der Wirt im Beisein seiner Frau und des Oberkellners mit der verwunderten Frage empfing:
»Was ist denn geschehen, Mr. Meier? Erst kam der Prayer-man gelaufen, schimpfte aus allen Tonarten auf Sie und erklärte, daß er abreisen werde, weil Sie ihn aus dem Hause und aus der Stadt trieben. Als er nach seinem Zimmer gegangen war, kam auch Mr. Watter, schimpfte ebenso auf Sie und fragte nach dem Prayer-man. Sobald er erfuhr, daß dieser abreisen werde, erklärte er, daß auch er das Hotel verlasse, denn mit einem Menschen, wie Sie seien, möge er nicht unter einem Dache wohnen.«
»Sie sind nicht beide miteinander gekommen?« fragte ich.
»Nein.«
»Erst der Prayer-man und dann Watter?«
»Ja.«
»So weiß der erstere noch nicht, daß der letztere auch Ihr Hotel verlassen will?«
»Nein. Warum fragen Sie das?«
Ich hütete mich natürlich, ihm den Grund mitzuteilen. Wenn meine allerdings kühnen Schlüsse keine Trugschlüsse waren, so mußte Watter jetzt beim Zusammenpacken seiner Sachen entdecken, daß – – Ich kam gar nicht dazu, diesen Gedanken vollends auszudenken, denn der Genannte stürzte, bleich vor Schreck und im höchsten Grade aufgeregt, herein, auf den Wirt zu und rief:
»Schickt sogleich fort, Sir, sogleich! Ich muß den Sheriff und auch den Constable haben, aber sofort, sofort!«
»Weshalb? Wozu?« fragte der Wirt erstaunt.
»Ich bin bestohlen worden, ganz entsetzlich bestohlen! Man ist in mein Zimmer eingebrochen und hat mir meine Nuggets, alle meine Nuggets und meinen Goldstaub geraubt. Schickt sogleich fort, sogleich!«
Man kann sich denken, welchen Eindruck diese Worte machten. Ein jeder Wirt hält auf den Ruf seines Hauses und ist bereit, ihm Opfer zu bringen. Hier handelte es sich um keinen vielleicht zu vertuschenden, sondern um einen ganz ungewöhnlichen Diebstahl, denn auch der Hotelbesitzer wußte, daß Watters Gold einen halben Centner wog. Er forderte diesen auf, ruhig zu sprechen und ihm den Hergang der Sache kurz mitzuteilen. Der Bestohlene versuchte, seine Aufregung zu bemeistern, und erzählte:
»Ihr wißt, Sir, daß und weshalb ich Euer Haus verlassen will. Ich ging nach meinem Zimmer, um einzupacken. Der Kasten mit dem Golde steht im Schranke; er kann nicht herausgenommen werden, denn ich habe ihn mit acht Schrauben an den Boden des Schrankes befestigt. Die Schrauben gehen durch den Boden des Kastens in den Boden des Schrankes, und wenn man sie aufdrehen will, kann man nur dann zu ihnen kommen, wenn man den Inhalt, also die Nuggets, herausnimmt. Das macht aber soviel Mühe und erfordert eine so lange Zeit, daß sich jeder Einbrecher hüten wird, den Kasten mit dem Golde zu stehlen. Dennoch aber ist es fort, vollständig fort! Der Kasten war natürlich verschlossen und der Schrank auch, und ich habe beide Schlüssel bei Tage stets hier in meiner Hosentasche und des Nachts unter dem Kopfkissen gehabt. Jetzt öffnete ich den Schrank und auch den Kasten, um ihn loszuschrauben – er war leer! Schicken Sie also augenblicklich zum Constable und auch zum Sheriff. Es darf kein Mensch das Haus verlassen, kein einziger! Ich erkläre jedermann, der sich in seinen Mauern befindet, für arretiert, besonders aber den fremden Deutschen, der sich Mr. Meier nennt!«
Diese Worte lenkten natürlich alle Augen auf mich.
»Warum besonders grad diesen Herrn?« fragte der Wirt erstaunt.
»Weil er es höchst wahrscheinlich gewesen ist, denn ich habe ihm alles erzählt. Es war das eine großartige Unvorsichtigkeit von mir, welche ich schwer zu bereuen habe!«
Ich nahm diese Anschuldigung in Anbetracht der Aufregung, in welcher Watter sich befand, ruhig hin. Der Wirt achtete nicht auf sie und forderte ihn auf, mit ihm nach dem Zimmer zu gehen, wo der Diebstahl stattgefunden hatte. Als sie gingen, wendete sich Watter an der Thür noch einmal um und rief dem Oberkellner zu:
»Mr. Rost, paßt auf diesen Deutschen sehr scharf auf, bis ich wiederkomme! Er darf dieses Zimmer nicht verlassen!«
Hiller war über meine Gleichgültigkeit im höchsten Grade erstaunt. Die Wirtin und die Oberkellner baten mich, die Worte des zornigen Goldsuchers nicht so zu nehmen, wie sie geklungen hatten; er sei noch darüber bös, daß er gestern eine so kräftige und ihn lächerlich machende Lehre von mir erhalten habe.
»Ahnen denn auch die Wirtsleute nicht, daß Sie gar nicht Meier, sondern anders heißen und Old Shatterhand sind?« fragte mich Hiller leise.
»Sie befinden sich in vollständigster Unwissenheit darüber,« antwortete ich ihm.
»Ich würde es ihnen sagen.«
»Warum?«
»Weil man sich in Beziehung auf den von diesen Menschen auf Sie geworfenen Verdacht ganz anders gegen Sie verhalten würde.«
»Oh, diese Leute wissen gar wohl, daß ich der Dieb nicht bin, und wenn es andern einfallen sollte, sich nach der albernen Verdächtigung zu richten, so werde ich ihnen allerdings, falls mir nichts anderes übrig bleibt, meinen Namen nennen, der sie eines Bessern belehren wird.«
»Ja, denn der Name Old Shatterhand ist so bekannt und geachtet, daß er Ihnen als unumstößlichster Beweis Ihrer Ehrlichkeit dienen würde.«
Der Wirt kam mit Watter zurück. Er hatte einen Boten nach der Polizei geschickt und erklärte nun:
»Wenn die Beamten keine Klarheit in die Sache bringen, so bleibt sie ein Geheimnis für alle Zeit. Ich kann nicht begreifen, wie das zugegangen ist!«
»Ich auch nicht,« stimmte Watter bei. »Der Vorgang an sich ist mir vollständig unerklärlich, desto besser aber weiß ich, wer der Halunke ist, der mich zum armen Mann gemacht hat oder vielmehr hat machen wollen, denn er ist noch da, und ich hoffe, man wird ihn zu zwingen wissen, den Ort anzugeben, wo er meine Nuggets hingesteckt hat. Ich bleibe hier sitzen und lasse ihn nicht von der Stelle, bis die Polizei gekommen ist!«
Er setzte sich, mir giftige, haßerfüllte Blicke zuwerfend, zwischen mich und die Thür. Ich schwieg auch jetzt; der Wirt aber sagte zu ihm:
»Ihr habt jetzt schon oben in Eurem Zimmer von mir gehört, daß Ihr mit Eurem Verdachte auf ganz falschem Wege seid. Der Dieb ist jedenfalls an einem ganz andern Orte als hier in meinem Hause zu suchen.«
»Pshaw! Das weiß ich besser!«
»Er würde sich hüten, sich hierher zu setzen!«
»Oh, es giebt freche Patrone, welche grad dadurch, daß sie bleiben, den Verdacht von sich ab und auf Unschuldige lenken wollen. Ich kenne diese Kniffe, denn ich bin ein alter, erfahrener Westmann, der sich nicht so leicht etwas weismachen läßt!«
Diese Starrnackigkeit erbitterte den Oberkellner, der mich liebgewonnen hatte, so, daß er ihm in einem nichts weniger als freundlichen Tone die Warnung gab:
»Begeht ja nicht eine Unvorsichtigkeit, welche noch größer ist, als die gestrige war! Es könnte leicht geschehen, daß es Euch nicht möglich wäre, Euch der darauf folgenden Blamage bloß durch einen Sprung zum Fenster hinaus zu entziehen!«
»Was habt Ihr mir zu sagen, Ihr Grünschnabel? Behaltet Euern Rat für Euch, sonst könnte mir es in den Sinn kommen, zu denken, daß ein solcher Einbruch in ein Hotelzimmer unmöglich ohne das Vorwissen und die Beihilfe des Kellners unternommen werden kann!«
Da fuhr der Wirt zornig auf:
»Mann, werdet ja nicht unverschämt! Es thut mir um Euert- und um meines Hauses willen herzlich leid, daß so etwas geschehen ist, aber beleidigen lasse ich weder mich noch einen meiner Leute. Wenn Ihr auch Gäste verdächtigt, so kann ich leider direkt nichts dagegen thun und muß es ihnen überlassen, sich selbst zu wehren; ich hoffe aber, daß Mr. Meier, von dessen Unschuld ich überzeugt bin, Eure Anschuldigungen nicht länger so schweigsam auf sich ruhen läßt!«
Da kam der Sheriff mit einem Constable. Der letztere blieb an der Thür stehen; der erstere fragte, wo Mr. Watter, der Bestohlene, sei. Dieser sprang auf und stellte sich als diesen vor. Er erzählte, was er vorher dem Wirte erzählt hatte, und sprach dann auch seinen gegen mich gerichteten Verdacht und dessen Begründung aus. Hierauf erkundigte sich der Beamte bei ihm:
»Habt Ihr auch andern Leuten gesagt, wo sich die Nuggets befunden haben?«
»Nein, keinem Menschen!«
»Und Ihr bleibt bei diesem Verdachte?«
»Ja, zumal dieser Deutsche gestern, als er bei mir saß, so unvorsichtig war, sich dadurch zu verraten, daß er unbedachterweise ein Wort über diesen Diebstahl fallen ließ.«
»Ah! Das giebt freilich zu denken.«
Er zog die Stirne in Falten, nahm mich mit einem fast beleidigenden Blicke in Augenschein, kam auf mich zu, blieb vor mir stehen und fragte:
»Ihr seid ein Deutscher?«
»Ja, und Ihr ein Yankee?«
»Hört, Mann, hier habe ich zu fragen und nicht Ihr!«
»Wer will es mir verbieten, zu fragen, wer und was jemand ist, der mit mir spricht?«
»Ich. Ihr scheint, hm – –!«
Er legte den Kopf herüber und hinüber und betrachtete mich von beiden Seiten.
»Ich scheine – – hm! sagt Ihr? Ich scheine gar nicht, sondern ich bin, was ich bin, nämlich noch immer im Unklaren darüber, wer und was Ihr seid.«
»Donnerwetter! Ich bin der Sheriff!«
»Schön! Das muß doch gesagt werden, weil wir Menschen nun einmal nicht allwissend sind. Jetzt stehe ich Euch zur Verfügung und werde Eure Fragen, so lange sie höflich sind, gern beantworten.«
»Hört, Ihr werdet sie auch in dem Falle, daß Ihr sie nicht für höflich haltet, beantworten müssen!«
»Wird mir nicht einfallen!«
»Oho! Ich bin bekleidet mit der Staatsgewalt!«
»Richtig! Aber mit was für einem großen oder kleinen Teile dieser Gewalt? Ihr seid ein ganz gewöhnlicher Bürger der Vereinigten Staaten, dem man auf nur zwei Jahre das Amt des Sheriffs übertragen hat; dann werdet Ihr wieder, was Ihr vorher waret. Als ein Herrscher von Gottes Gnaden steht Ihr nicht vor mir, und wenn mir Eure Fragen nicht gefallen, so bekommt Ihr eben keine Antwort darauf. Ich würde nicht in dieser Weise zu Euch sprechen, Sir, wenn Euer Benehmen gegen mich das richtige gewesen wäre!«
»Wieso war es denn nicht richtig?« lächelte er ironisch.
»Ein Richter oder Polizeier muß vor allen Dingen gelernt haben, seine Blicke zu beherrschen; das ist es, was Ihr nicht könnt. Man kann mit den Augen unter Umständen leichter oder vielmehr auch schwerer als mit Worten beleidigen.«
»Das ist ja eine ganze Strafpredigt, welche Ihr mir haltet! Ihr gebt doch zu, daß Ihr verdächtigt worden seid?«
»Yes!«
»Ich habe Euch also zu vernehmen und werde Euch arretieren, wenn es mir beliebt!«
»Das werdet Ihr nun freilich nicht!«
»Wer will es mir verwehren?«
»Ich!«
Er trat einen Schritt zurück, unterwarf mich wieder einer höchst ironischen Betrachtung und antwortete lachend:
»Ihr? Mir verwehren? Sagt mir doch einmal gütigst, wie Ihr das anfangen würdet!«
»Soll ich es Euch nicht lieber zeigen?«
»Well,« nickte er. »Bin sehr neugierig darauf; also zeigt es einmal!«
Ich packte ihn sofort an der Brust und am Oberschenkel, hob ihn hoch empor, trug ihn nach dem offenen Fenster und sagte:
»Hier hinaus würde ich Euch werfen, Sir! Da Ihr mir aber die Arretur bis jetzt noch nicht angekündigt habt, so werde ich Euch einstweilen wieder dahin setzen, wo ich Euch weggenommen habe. So, da steht Ihr wieder!«
Ich hatte ihn wieder zurückgetragen und vor meinen Tisch gestellt. Er hatte vor Überraschung oder Schreck kein Glied bewegt; jetzt aber wurde er um so lebendiger.
»Hört, Ihr habt Euch am Sheriff vergriffen!« donnerte er mich an. »Wißt Ihr, was das heißt?«
»Vergriffen? Daß ich nicht wüßte! Ihr habt mich aufgefordert, und ich bin dieser Aufforderung gefolgt; dazu habe ich hier Zeugen!«
»Mann, ich werde doch noch anders mit Euch reden, als Ihr jetzt zu ahnen scheint! Wenn ich Euch arretieren will, so stelle ich mich nicht so mundrecht zum Anfassen her, sondern dazu ist der Constable da!«
»Pshaw! Der würde auch zum Fenster hinaus fliegen!«
»Ja, riesenstark scheint Ihr zu sein, und gewaltthätig dazu. Ich kann Euch leider nicht bestrafen lassen, weil ich Euch allerdings nichts ahnend aufgefordert habe; aber es giebt Handschellen und Stricke, verstanden!«
»Die flögen Euch und dem Constable nach, und zwar könnte mich kein Mensch dafür bestrafen. Es scheint fast, daß ich die Gesetze des Staates Missouri besser kenne als Ihr, der Beamte dieses Staates. Es darf nämlich hier ohne ganz speziellen richterlichen Befehl keine Verhaftung vorgenommen werden. Wißt Ihr das? Wo habt Ihr diesen Befehl? Und wenn Ihr ihn hättet, so bin ich ein Ausländer. Ihr müßtet Euch erst an den Circuit Court oder gar noch höher wenden!«
»Alle Teufel! Das ist ja eine ganze, polizeiliche Belehrung, die Ihr mir da haltet!« rief er aus, sich Mühe gebend, seine Verlegenheit zu verbergen. »Also höflich und freundlich soll ich mit Euch sein? Well, wollen es versuchen! Habt Ihr die Nuggets gestohlen, Mr. Meier?«
»No!«
»Nicht! Also werden wir einmal in Eurem Zimmer nachsuchen!«
»Das dulde ich nicht!«
»Nicht? Ah!«
»Nein, denn nach den Gesetzen des Staates Missouri bedarf es zu einer Haussuchung auch eines ganz speziellen richterlichen Befehles.«
»Ich bin erstaunt! Ihr, der Ausländer, scheint unsere Gesetze ja förmlich bis auf das Tüpfelchen auf dem i studiert zu haben!«
»Das muß man auch, wie es scheint!«
»Nun, ich verstehe mich ebenso darauf wie Ihr. Ich brauche zu einer Haussuchung hier keinen Befehl, weil der Wirt mir die Einwilligung dazu nicht vorenthalten wird.«
»Den Wirt geht mein Zimmer gar nichts an! Nach den Gesetzen des Staates Missouri ist jeder in einem Hotel wohnende Gast der vollberechtigte Besitzer des Zimmers, welches er bewohnt und bezahlt. Es würde also nicht seiner sondern meiner Erlaubnis bedürfen.«
Der Sheriff kannte diese Gesetze selbstverständlich auch; nur hatte er geglaubt, daß es einem Fremden gegenüber nicht notwendig sei, sich nach ihnen zu richten. Keine Haussuchung – – keine Arretierung – – und doch war ich beschuldigt? Dazu die Art und Weise meines Auftretens! Er schluckte seine Verlegenheit hinunter und sagte:
»Übertreibt es nicht, Sir, und macht mir mein Amt nicht schwer! Es ist auch für Euch besser, wenn Ihr Euch den Umständen fügt!«
»Das weiß ich; aber ich bin nur unschuldig verdächtigt, weiter nichts, und muß es mir verbitten, in der Weise angeäugt und mit Ausdrücken angerempelt zu werden, als ob schon hundert Schuldbeweise gegen mich vorlägen. Ihr seid belogen worden, Sir. Ich bin nicht der einzige, zu dem der Bestohlene von seinen Nuggets gesprochen hat. Fragt nur den Wirt und den Oberkellner!«
Diese beiden gaben sofort zu, daß er auch ihnen seine ganze Fundgeschichte förmlich aufgezwungen und den Kasten mit den Nuggets sogar gezeigt habe.
»Und fragt den dort auch!« fügte ich hinzu, indem ich nach der Thür zeigte, zu welcher der Prayer-man soeben hereinkam.
Dieser wußte noch nicht, daß der Diebstahl schon entdeckt worden und der Sheriff schon gekommen war. Watter sprang auf, nahm ihn schützend bei der Hand und sagte zu dem Beamten:
»Dieser Gentleman ist ein sehr guter Freund von mir, der allerdings auch alles weiß, der aber meine Nuggets eher bis auf den Tod für mich verteidigen als sie mir stehlen würde. Ich stehe für ihn ein.«
»Well! Hat er auch hier gewohnt?«
»Yes!«
»So muß ich auch ihn befragen trotz der Garantie, welche Ihr mit Euren Worten für ihn bietet. Sagt, Mr. Meier, werdet Ihr so vernünftig sein, mich in Eurem Zimmer nachsehen zu lassen?«
»Ja,« antwortete ich. »Doch stelle ich die Bedingung, daß auch das Zimmer und die Sachen des Prayer-man untersucht werden!«
»Einverstanden!«
»Nein, nicht einverstanden!« rief Watter. »Ich lasse meinen Freund nicht beleidigen! Ich kann nachweisen, daß er während der ganzen Zeit, in welcher der Diebstahl ausgeführt worden sein muß, bei mir gesessen hat; dann bin ich mit ihm auf sein Zimmer gegangen und habe ihn eingeschlossen und seinen Schlüssel mitgenommen. Er ist so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Nehmt nur dort diesen Mr. Meier tüchtig vor, der doch schon durch seine Gewaltthätigkeiten und Grobheiten beweist, daß er ein böses Gewissen hat!«
Durch diese Wiederholung seiner Beschuldigung nun endlich doch erzürnt, ließ ich mich leider zu der Dummheit hinreißen, zu entgegnen:
»Was dieses neugeborene Kind betrifft, so bin ich über ihn zu Mitteilungen bereit, die Euch wahrscheinlich überraschen werden. Er mag zunächst beweisen, daß das Gewehr des alten Amos Sannel sein wohlerworbenes Eigentum ist, und sodann kenne ich ihn auch in anderer Beziehung besser, als er ahnt. Ich bin droben am Platte-River nicht so unbekannt, wie er denkt, und werde nachweisen, daß er sogar den sonst so vorsichtigen Welley mit auf seinem Gewissen hat!«
Der Prayer-man wurde leichenblaß und starrte mich aus den weit aufgerissenen Augen mit einem so erschrockenen Blicke an, als ob ich eine gespenstige Erscheinung sei.
»Platte-River – –? Welley – –?« fragte mich der Sheriff. »Was ist's mit diesem Flusse, und welche Bewandtnis hat es mit diesem Welley?«
»Das sollt Ihr bald erfahren. Gebt nur vor allen Dingen Eurem Constable den Befehl, sich an die Thür zu stellen und diesen Verkäufer frommer Schriften nicht hinauszulassen! Ich sehe voraus, daß er nicht zögern – – halt, halt, halt!«
Der Prayer-man hatte, als ich ihn und seinen Complicen belauschte, gesagt, daß er der Entdeckung des Diebstahles mit Vergnügen beiwohnen werde; jetzt war die Zeit zu diesem Vergnügen da; aber die Verhältnisse waren anders, als er sie sich dabei gedacht hatte. Meine Anschuldigungen kamen für ihn wie ein Blitz aus heitrem Himmel herab. Der Boden war ihm schon draußen beim Wettschießen unter den Füßen warm geworden; jetzt fühlte er, daß diese Wärme sich zur Hitze steigerte, und als ich nun gar seine Bewachung forderte, riß er sich aus dem Schreck, in welchen ihn meine Erwähnung Welleys versetzt hatte, heraus und war mit zwei schnellen Sprüngen durch die Thür verschwunden. Er hatte nichts in den Händen gehabt; seine Sachen befanden sich also noch auf seinem Zimmer; daraus war zu schließen, daß er wenigstens auf sein Gewehr nicht verzichten sondern dieses holen werde; darum forderte ich die Anwesenden auf, schnell mit mir nach dem Hintergebäude zu kommen, um ihn dort festzunehmen. Ich eilte nach der Thür; da stellte sich mir aber der Sheriff in den Weg und sagte:
»Bitte, zu bleiben, Sir! Ihr seid Angeschuldigter und dürft nicht hinaus!«
»Angeschuldigter? Der Prayer-man hat doch durch seine Flucht bewiesen, daß er der Thäter ist!« antwortete ich.
»Nein! Ihr habt ihm noch andere Dinge vorgeworfen, auf die sich seine Flucht beziehen könnte. Ich werde mit dem Wirte und dem Oberkellner ihm nacheilen; Ihr aber bleibt mit dem Constable hier!«
»Das hieß ja soviel wie Arretur, und die dulde ich nicht, wie ich schon gesagt habe!«
»Mißversteht mich nicht! Ihr seid nicht verhaftet, sondern ich bitte Euch, hier zu bleiben, bis ich wiederkomme. Wollt Ihr mir versprechen, dies zu thun?«
Das kam mir denn doch so komisch, so urkomisch vor, daß ich mich laut lachend niedersetzte und dem Beamten antwortete:
»Well; ich werde sitzen bleiben, bis Ihr zurückkehrt, falls Ihr mich nicht bis zum jüngsten Tage warten laßt! Aber macht jetzt schnell, sonst macht sich das liebe, unschuldige, neugeborene Kind mit allen Flügeln fort, und der kluge Mr. Watter bekommt seine Nuggets niemals wieder!«
Sie trabten alle zur Thür hinaus und ließen mich und Hiller unter dem liebreichen Schutze des Constable im Zimmer zurück. Es war wirklich eine Dummheit von mir gewesen, dem Prayer-man zu verraten, daß ich einen Blick in seine Geheimnisse geworfen habe; aber jetzt, da der Sheriff eine noch viel größere Dummheit beging, konnte ich mich nicht mehr über die meinige ärgern. Mir war es in diesem Augenblicke vollständig gleichgültig, ob sie ihn entkommen ließen oder nicht.
Freilich, wenn ich an den von mir belauschten Plan dachte, der sich auf den mir leider rätselhaften Onkel und seinen Neffen bezog, wurde mir durch das wahrscheinliche Entkommen des Schriftenhändlers ein Strich durch meine Rechnung gemacht. Ich hatte gehofft, daß er bleiben und daß sich mir dadurch irgend eine Gelegenheit bieten werde, über diese beiden Personen etwas näheres zu erfahren. An Aufmerksamkeit meinerseits hätte es sicher nicht gefehlt, und der sogenannte Zufall ist kein Zufall, sondern das Ergebnis unbekannter Umstände, die einem oft so günstig sind, daß es gar kein Fehler ist, wenn man ihn auch mit in Rechnung bringt. Wenn aber dem Prayer-man die Flucht gelang, konnte mir all mein Scharfsinn nicht das mindeste nützen, und ich mußte wahrscheinlich ganz darauf verzichten, zu erfahren, wer die Leute seien, die hinauf nach dem Finding-hole gelockt werden sollten.
Hiller war ganz glücklich darüber, daß er mit mir hatte gehen dürfen. Er fühlte sich nicht nur als Zeuge, sondern als Mitbeteiligter bei einem hochinteressanten Ereignisse, über dessen bisherigen Verlauf er sich in diesem Augenblicke allerdings nur ärgern konnte. Er wollte nicht begreifen, daß ich so zögerte, meinen Namen zu nennen, denn er sagte sich nicht, daß grad er selbst auch nur infolge des Umstandes, daß er diesen Namen kannte, nun als nicht ganz hochwillkommener Inseparable bei mir saß. Sobald es bekannt wurde, wer ich war, konnte ich mit Sicherheit darauf rechnen, in kurzer Zeit sämtliche Bewohner Westons, welche von Winnetou und mir gehört hatten, als solche inseparable Sympathievögel um mich herumzwitschern zu hören.
Es dauerte lange, sehr lange, ehe der Sheriff sich mit seinen Begleitern wieder sehen ließ. Als sie endlich kamen, war das »neugeborene Kind«, ganz wie ich gedacht hatte, leider nicht dabei. Er sah den Blick, den ich auf ihn richtete, und sagte:
»Lacht nicht, Sir!«
»Lache ich denn?« fragte ich.
»Ihr thut es, wenn auch heimlich; ich sehe es Euch an!«
»Was Ihr seht, ist nicht Humor, sondern Neugierde, Sir. Darf ich vielleicht fragen, ob der Prayer-man in sein Zimmer schlafen gegangen ist?«
»Ich verbitte mir derartige Scherze! Der Mensch ist fort, und wir sind ihm vergeblich nachgerannt bis weit vor die Stadt hinaus!«
»War er in seiner Stube, als ihr hinüberkamt?«
»Ja, aber er hatte zugeschlossen.«
»Ihr mußtet ihn doch von zwei Seiten nehmen, von der Thür und von dem Fenster aus!«
»Das haben wir dann auch gethan; aber als wir unter das Fenster kamen, stand es auf, und er war herabgesprungen.«
»Ich sagte es doch: mit allen Flügeln fortgeflogen! Hat er etwas von seinen Sachen mitgenommen?«
»Nur das Gewehr. Mr. Rost ist dann mittels einer Leiter durch das Fenster eingestiegen und hat uns die Thür geöffnet. Wir untersuchten das Zimmer und fanden nichts als seinen Koffer.«
»Was war darin?«
»Fromme Schriften, der Rest von gestern.«
»Hm! Darf ich einmal hinübergehen?«
»Was wollt Ihr drüben? Haltet Ihr Euch vielleicht für scharfsinniger und findiger als einen Polizeibeamten?«
»Nein; aber es kommt vor, daß ein Mensch schließlich doch sieht, was andere Leute nicht gesehen haben.«
»Da habt Ihr es wieder!« fiel Watter ein. »Dieser Mr. Meier ist überzeugt, daß es keinen Menschen gebe, der es an Klugheit mit ihm aufnehmen kann. Grad diese seine eingebildete Gescheitheit befestigt meinen Verdacht. Er ist der Dieb. Ich habe seinen falschen, hinterlistigen Augen gleich von Anfang an nicht getraut!«
Das war mir nun endlich doch zu viel. Ich stand auf, ging zu ihm hin und sagte:
»Und trotz dieser falschen Augen habt Ihr mir Eure ganze Bonanza-Brühe vorgequatscht? Mensch, ich habe mit Euch lange Geduld gehabt; nun aber ist sie zu Ende. Wenn Ihr noch ein einziges beleidigendes Wort gegen mich sagt, werfe ich Euch an die Decke, daß Ihr oben kleben bleibt!«
Da befahl mir der Sheriff:
»Keine Drohungen hier! Setzt Euch auf Euern Stuhl! Ich habe hier polizeiliche Recherchen zu führen und kann nicht dulden, daß der Bestohlene von dem des Diebstahles Verdächtigten in dieser Weise angebrüllt wird! Kommt jetzt mit hinauf! Ich werde den Schauplatz des Verbrechens und dann auch Euer Zimmer untersuchen.«
»Well! Ich habe versprochen, Euch diese Untersuchung zu gestatten, und halte Wort; dann aber werde ich mir das Vergnügen machen, Euch einmal zu zeigen, wie man es anzufangen hat, Schuld von Unschuld zu unterscheiden und einen Gentleman nicht als Lump, sondern als Gentleman zu behandeln. Vielleicht kleben nachher zwei und nicht bloß einer an der Decke!«
»Hört, Mann, das ist genug gesagt, um Euch die Handschellen anlegen zu lassen! Wir haben sie mit, und wenn – –«
Er hielt inne und blickte nach dem Fenster, durch welches lautes Pferdestampfen hereinklang. Man sah zwei indianisch aufgeschirrte, prächtige Hengste und einen Indianer, welcher sich, um hereinzuschauen, aus dem Sattel herabbückte, so daß sein lang niederfallendes, dunkles Haar beinahe die Erde berührte. Der Wirt ging rasch hin, und wir hörten die sonore Stimme des Indsman fragen:
»Dies ist ein Hotel? Wohnt mein Bruder Old Shatterhand hier?«
»Old Shatterhand?« fragte der Wirt erstaunt. »Soll er hier in Weston sein?«
»Ja. Er ist gestern hier eingetroffen, und weil dies das beste Haus für Fremde ist, vermute ich, daß er hier wohnt. Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen.«
»Winnetou, Winnetou, Winnetou!« klang es aus jedem Munde, und alle eilten nach dem Fenster hin. Ich aber war im nächsten Augenblicke draußen bei ihm.
»Winnetou, mein Bruder, sei gegrüßt!«
»Scharlih, mein Bruder, gieb mir deine Hand!«
Sein dunkles Auge strahlte lächelnd auf meinen neuen Anzug nieder, indem er weiter sprach:
»Mein Freund Scharlih wird diese Kleidung der Bleichgesichter ablegen und sein Leder wieder anlegen müssen, doch heut bleiben wir noch hier. Gefällt es dir in diesem Hause?«
»Das Haus ist gut, und seine Bewohner sind es auch; aber soeben befindet sich drin die Polizei, weil Nuggets gestohlen worden sind und ein Bleichgesicht mich beschuldigt hat, der Dieb zu sein.«
»Uff! Old Shatterhand ein Dieb! Dieses Bleichgesicht hat dich doch sofort um Verzeihung gebeten?«
Man konnte jedes Wort, welches wir sprachen, drin hören; darum zog ich den einen Augenwinkel in Falten, ein Zeichen, welches Winnetou sofort verstand, und antwortete:
»Nein; er behauptet trotz all meiner Versicherungen noch jetzt, daß ich der Dieb sei, und der Sheriff glaubt es ihm und hat mir soeben gedroht, Eisen um meine Hände legen zu lassen.«
»Uff, uff, uff! Eisen um Old Shatterhands Hände? Mein Bruder gehe voran; ich folge gleich!«
Das Zusammenziehen des Augenwinkels war zwischen uns die Andeutung, eine Sache, über welche wir innerlich lachten, äußerlich mit Ernst und Wichtigkeit zu behandeln. Ein heiteres Lächeln ging schnell wie ein Blitz über sein Gesicht, um sich in den Ausdruck drohenden Zornes zu verwandeln. Ich verstand sein »ich folge sogleich«, und kehrte in die Stube zurück, indem ich die Haus- und auch die Zimmerthür weit offen ließ.
Die Anwesenden waren von den Fenstern weggetreten. Sie wußten nun, wer ich war, und sahen mich mit ganz andern Augen an als vorher. Wie staunten sie aber, als sie das Stampfen der Hufe vom Flur her hörten und dann Winnetou zu Pferde vor der Thür erschien! Er bückte sich, um hereinzukommen, hielt den Rappen an, blitzte mit seinen hellen, wunderbaren Augensternen eine Person nach der andern an und fragte dann:
»Welches von diesen Bleichgesichtern ist der Sheriff?«
»Ich bin es,« antwortete der Genannte in einem Tone, als ob er in Demut vor einem gekrönten Regenten stehe.
»Du bist es, du, also du!« erklang es wie Mitleid aus dem Munde des herrlichsten Indianers. »Du, du wagst es, Old Shatterhand, meinen berühmten Bruder, vor dem alle Scharen der roten und der weißen Krieger zittern und der lieber alles, was er besitzt, verschenkt, als daß er einen fremden Grashalm nimmt, einen Dieb zu nennen? Pshaw!«
Es lag in diesem »Pshaw!« der Ausdruck einer so tief herniedersteigenden Herablassung, eines so hoheitsvollen Erbarmens, daß der, an den es gerichtet war, keine Antwort fand und unwillkürlich einige Schritte zurückwich, als ob er mit dieser nun sehr heikel gewordenen Angelegenheit jetzt lieber gar nichts mehr zu thun haben wolle. Einem jeden, der Winnetou nicht gekannt hat, muß dieser Eindruck seiner Persönlichkeit, wenn auch nicht unerklärlich sein, so doch als höchst ungewöhnlich vorkommen, aber der berühmte Häuptling der Apatschen war auch weit mehr als bloß ein ungewöhnlicher Mann. Die Häuptlingsstellung war es natürlich nicht, welche imponierte, denn die soziale Distinktion eines indianischen Sachem ist, wenigstens den Weißen gegenüber, keine an sich Ehrfurcht gebietende, sondern es lag ganz allein nur in seiner Personalität, in der Gesamtheit seiner Vorzüge, seinen geistigen und seelischen Eigenschaften, welche in seiner fehlerlosen männlichen Schönheit eine köstliche Verkörperung gefunden hatten, daß sein Erscheinen überall, wohin er kam, Bewunderung erregte und dabei zugleich jene niemals ausbleibende Ehrerbietung erweckte, deren sofortige Folge stets der unwillkürliche Gehorsam ist.
Er trug, wie auch ich stets, wenn ich mich im Westen befand, einen aus Elkleder gefertigten Jagdanzug von indianischem Schnitt, an den Füßen leichte Mokassins, welche mit Stachelschweinsborsten und selten geformten Nuggets geschmückt waren. Eine Kopfbedeckung gab es bei ihm nicht. Sein reiches, dichtes, bläulich schwarzes Haar war auf dem Kopfe zu einem hohen, helmartigen Schopf geordnet und fiel von da aus, wenn er im Sattel saß, wie eine Mähne oder ein dichter Schleier fast bis auf den Rücken des Pferdes herab. Keine Adlerfeder schmückte diese indianische Frisur. Er trug dieses Abzeichen der Häuptlinge nie; es war ihm ohnedies auf den ersten Blick anzusehen, daß er kein gewöhnlicher Krieger sei. Ich habe ihn mitten unter Häuptlingen gesehen, welche alle mit den Federn des Kriegsadlers geschmückt waren und sich auch sonst mit allen möglichen Trophäen behangen hatten; seine königliche Haltung, sein freier, ungezwungener, elastischer und doch so stolzer Gang zeichneten ihn doch als den edelsten von allen aus. Wer auch nur einen einzigen Blick auf ihn richtete, der sah sofort, daß er es mit einem bedeutenden Manne zu thun hatte. Um den Hals trug er die wertvolle Friedenspfeife, den Medizinbeutel und eine dreifache Kette von Krallen der Grizzlybären, welche er mit Lebensgefahr selbst erlegt hatte. Der Schnitt seines ernsten, männlich schönen Angesichtes, dessen Backenknochen kaum merklich vorstanden, war fast römisch zu nennen, und die Farbe seiner Haut war ein mattes Hellbraun, mit einem leisen Bronzehauch übergossen.
Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küßlichen Lippen, welche der süßesten Schmeicheltöne ebenso wie der furchterweckendsten Donnerlaute, der erquickendsten Anerkennung gleich so wie der schneidendsten Ironie fähig waren. Seine Stimme besaß, wenn er freundlich sprach, einen unvergleichlich ansprechenden, anlockenden gutturalen Timbre, den ich bei keinem andern Menschen gefunden habe und welcher nur mit dem liebevollen, leisen, vor Zärtlichkeit vergehenden Glucksen einer Henne, die ihre Küchlein unter sich versammelt hat, verglichen werden kann; im Zorne hatte sie die Kraft eines Hammers, welcher Eisen zerschlägt, und, wenn er wollte, eine Schärfe, welche wie zersetzende Säure auf den festesten Gegner wirkte. Wenn er, was aber sehr selten und dann nur bei hochwichtigen oder feierlichen Veranlassungen geschah, eine Rede hielt, so standen ihm alle möglichen Mittel der Rhetorik zur Verfügung. Ich habe nie einen besseren, überzeugenderen, hinreißenderen Redner gehört als ihn und kenne nicht einen einzigen Fall, daß es einem Menschen möglich gewesen wäre, der Beredsamkeit des großen, unvergleichlichen Apatschen zu widerstehen. Beredt auch waren die leicht beweglichen Flügel seiner sanftgebogenen, kräftigen, aber keineswegs indianisch starken Nase, denn in ihren Vibrationen sprach sich jede Bewegung seiner Seele aus. Das Schönste an ihm aber waren seine Augen, diese dunklen, sammetartigen Augen, in denen, je nach der Veranlassung, eine ganze Welt der Liebe, der Güte, der Dankbarkeit, des Mitleides, der Besorgnis, aber auch der Verachtung liegen konnte. Solch' ehrliche, treue, lautere Augen, in welchen beim Zorne heilige Flammen loderten oder aus denen das Mißfallen vernichtende Blitze schleuderte, konnte nur ein Mensch haben, der eine solche Reinheit der Seele, Aufrichtigkeit des Herzens, Unwandelbarkeit des Charakters, und stete Wahrheit des Gefühles besaß wie Winnetou. Es lag in diesen seinen Augen eine Macht, welche den Freund beglückte, den Feind mit Furcht und Angst erfüllte, den Unwürdigen in sein Nichts verwies und den Widerspenstigen zum Gehorsam zwang. Wenn er von Gott sprach, seinem großen, guten Manitou, waren seine Augen fromme Madonnen-, wenn er freundlich zusprach, liebevolle Frauen-, wenn er aber zürnte, drohende Odins-Augen.
Dieser herrliche Mann befand sich jetzt, hoch zu Pferde, hier im Zimmer, und aller Augen hingen mit Staunen und Bewunderung an seinem gebieterischen Angesichte und seiner tadellosen Gestalt, welche in vornehmer Haltung halb auf dem Sattel, halb in den mit Klapperschlangenzähnen verzierten Bügeln ruhte. Von seinen breiten, kräftigen Schultern hing sein, gleich dem meinigen von seiner schönen Schwester Nscho-tschi gefertigter Lasso in Schlingen über Brust und Rücken bis auf die Hüften herab, wo er um die schmale, elastische Taille eine buntschillernde Santillodecke als Shawl gewunden hatte, welcher Messer, Revolver und alle die Gegenstände enthielt, die der Westmann in oder an seinem Gürtel zu tragen pflegt. Auf seinem Rücken hing ein doppelläufiges, an den Holzteilen mit silbernen Nägeln beschlagenes Gewehr. Das war die weitberühmte Silberbüchse, deren Kugeln nie ihr Ziel verfehlten.
Wenn man eine jener Indianererzählungen liest, deren Wert oder vielmehr Unwert ich schon weiter oben der Wahrheit nach bezeichnet habe, so findet man sie meist mit schauderhaften Illustrationen versehen, gegen welche der Kenner und auch jeder andere vernünftige Mann einen wahren Ekel empfinden muß. Da sieht man nichts als Kampf, Mord und Gier nach Blut. Jeder Rote ist mehr oder weniger bunt mit Federn geschmückt, was eine Lüge ist und die Unwissenheit des Verfassers und Zeichners verrät, und um den kriegerischen Eindruck zu erhöhen, sind, wo es nur immer der Platz hergiebt, alle Arten indianischer und anderer Waffen angebracht. Wie anders hier bei Winnetou! Man sah nur sein Gewehr, denn selbst sein Tomahawk, übrigens ein Meisterstück der Waffenschmiedekunst, steckte unsichtbar in einer Scheide von Opossumfell, welche links an seiner Hüfte hing. Und doch wirkte seine Erscheinung so unbedingt kriegerisch, daß es wohl niemandem eingefallen wäre, an ihm eine derjenigen Eigenschaften zu bezweifeln, welche er als oberster Kriegshäuptling sämtlicher Apatschenstämme besaß.
Er wendete sich, als der Sheriff ängstlich zurückgewichen war, an die übrigen und fragte:
»Und welches ist das Bleichgesicht, dem die Nuggets gestohlen worden sind?«
»Ich,« antwortete Watter.
»Du hast behauptet, Old Shatterhand sei der Dieb?«
Watter wagte nicht, ja zu sagen.
»Und als mein weißer Bruder dich zurechtwies, hast du es dennoch fortbehauptet?!«
Der tadellose Westmann antwortete auch jetzt nicht.
»Mensch, ich reite dich nieder und lasse dich unter den Hufen zerstampfen! Tschah!«
Dieser Ausruf Tschah war für seinen Rappen der Befehl, hochzuspringen. Er nahm ihn mit den Zügeln vorn empor, stemmte die Fersen fest ein und setzte mit dem Pferde über den Tisch hinüber, daß alles vor Schreck laut aufschrie, obgleich der kühne Sprung so wunderbar gelang, daß der Tisch von keinem Haar, nicht einmal dem Schweifhaare des Hengstes gestreift worden war. Watter retirierte bis an die Wand, wo er nicht weiter konnte. Winnetou zog sein Pferd wieder in die Höhe und ließ es auf den Hinterhufen dem Flüchtling folgen, bis es so nahe vor demselben stand, daß er es hätte mit der Hand berühren können.
»Um Gottes willen, thut das nicht, thut das nicht!« schrie Watter voller Angst. »Ich habe ja nicht gewußt, daß dieser ganz vorzügliche Gentleman der berühmte Old Shatterhand ist!«
»Coyote!!«
Coyote ist der Prairiewolf, welcher Aas frißt und sich nicht einzeln an ein lebendes Wild wagt. Dieser Feigheit und seines Gestankes wegen wird er so verachtet, daß sein Name, zu einem Menschen gesagt, als große Beleidigung gilt. Watter wagte es nicht, diese Beleidigung zurückzuweisen; er hielt, um sich vor den Hufen zu schützen, welche sich vor seinem Gesichte bewegten, die Ellbogen vor und rief:
»Zurück, zurück, Mr. Winnetou! Das Pferd schlägt mir ja nach dem Kopfe!«
»Wenn du gestehst, daß du ein Coyote bist! Bist du einer?«
»Ja doch, ja! Ich bin alles, was Ihr wollt, sogar ein Coyote!«
Da drehte der Apatsche den Rappen herum, ließ ihn nieder und sagte:
»Und nun hinaus jeder, der Old Shatterhand, meinen weißen Bruder, beleidigt hat, hinaus! Hier ist nur Platz für ihn und seine Freunde! Hinaus!«
Er ließ das Pferd zwischen den Tischen hintänzeln, was bei der Lebhaftigkeit und dem feurigen Temperamente des Tieres gefährlich aussah, obwohl es dabei dem Drucke jedes seiner Muskeln gehorchte. Watter schoß sofort zur Thür hinaus. Ihm folgte etwas langsamer der Sheriff, dem der Constable noch voraneilte. Wir erfuhren dann, daß sie sich eine andere Stube genommen hatten, die nicht, wie der Sheriff sich ausgedrückt hatte, »als Manege zum Zureiten von Indianerpferden benutzt wird!«
Zu Pferde in das Gastzimmer eines Hotels zu kommen, konnte nur der Gedanke eines Winnetou sein, der so ein Reiter war, daß er nichts beschädigt hätte, selbst wenn die Tische und Stühle von Glas gewesen wären. Unsere Hengste waren Brüder, Pferde edelster Abkunft, vollständig fehlerlos, feurig, mutig, ausdauernd, klug und trotz ihres Feuers lämmerfromm, allerdings nur gegen uns beide. Winnetou hatte sie selbst indianisch zugeritten und dressiert. Der Name seines Hengstes war Iltschi, des meinigen Hatatitla, welches Apatschenwort auf den beiden letzten a betont und also Hatahtitlah ausgesprochen wird. Mein Hatatitla stand mir, so oft ich kam, zur Verfügung und war, so lange ich mich mit Winnetou zusammenbefand, mein Eigentum, welches ich ihm übergab, sobald ich mich von ihm trennte. Ich hätte das Pferd mitnehmen können, was ich aber natürlich niemals that. Unsere äußerliche Zusammengehörigkeit und innere Harmonie bekam durch den Umstand, daß wir stets zwei ganz gleiche Pferde ritten, eine sehr zutreffende Illustration.
Winnetou stieg, als die erwähnten Personen aus der Stube gegangen waren, ab und führte den Hengst hinaus, um ihn und Hatatitla anzubinden. Die Hufe hatten auf der Diele keine Spur gemacht, weil sie unbeschlagen waren. Der Wirt sagte zu mir:
»Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie nicht bloß so ein herumlaufender und zuweilen schreibender Mr. Meier seien; meine Frau wird das bestätigen. Daß ein so bedeutender Diebstahl bei mir stattgefunden hat, ist ein außerordentlich unangenehmer Fall, der aber mehr als aufgewogen wird durch die hohe Ehre, daß Sie und der berühmte Häuptling der Apatschen meine Gäste sind. Ich hoffe doch, daß auch Winnetou bei mir logieren wird?«
»Für heut kann ich zusagen, für morgen aber nicht mehr,« antwortete ich, »denn ich glaube, daß wir morgen nach dem Westen aufbrechen werden.«
Da fragte Hiller schnell:
»Nach dem Westen, also nicht nach dem Osten, wohin Sie doch erst wollten?«
»Ja. Winnetou kommt jetzt von St. Joseph herab und hätte unbedingt einen andern, dort gekauften Anzug an und auch die Pferde in der dortigen Gegend in Pension gelassen, wenn die Absicht, nach dem Osten zu gehen, nicht eine andere geworden wäre. Ich verstehe alles, was er thut, ohne ihn zu fragen.«
Das war Wasser auf die Mühle des Oberkellners, welcher mit einer tiefen Verbeugung zu mir sagte:
»Verzeihen Sie, wenn ich es vielleicht an der nötigen Höflichkeit habe mangeln lassen; ich wußte ja nicht, wer Sie sind! Darum also, weil Sie Old Shatterhand sind, konnten Sie mit so großer Bestimmtheit sagen, daß ich Winnetou nicht in St. Joseph treffen würde! Ich bin ganz überglücklich über den Vorzug, Sie in unserm Hause eingekehrt zu sehen, und bitte um die Erlaubnis, daß eine innere Stimme mir sagt, mein Herzenswunsch, indianisch-medizinische Studien machen zu dürfen, werde jetzt in Erfüllung gehen!«
»Wenden Sie sich an Winnetou!«
»Oh, er wird thun, was Sie wollen, Mylord!«
»Möglich! Aber ich weiß jetzt noch nicht, aus welchen Gründen er unserm Plane eine Änderung gegeben hat, und kann erst dann, wenn ich sie erfahren habe, Ihnen eine bestimmte Zu- oder Absage geben.«
Wenigstens ebenso sehr wie Rost freute sich Hiller über die Ankunft meines roten Bruders, denn erstens war er schon darüber glücklich, ihn überhaupt einmal zu sehen, und zweitens glaubte er, daß sich die Hoffnungen, welche er in Beziehung auf seinen Vater hegte, nun erfüllen würden. Als der Apatsche wieder herein kam und sich zu mir und ihm setzte, richtete der junge Mann seinen Körper kerzengrad im Stuhle auf und ließ diese hochachtungsvolle Haltung auch nicht wieder fallen, bis er sich entfernte.
Es wäre ein Irrtum, zu denken, daß Winnetou nun von sich, seinem Ritte und seinen Absichten gesprochen hätte. Das that er nicht, und ich erwartete es auch nicht von ihm, denn ich kannte ihn. In solchen Angelegenheiten war er der schweigsame Mann, der nur dann sprach, wenn es notwendig war, aber auch kein einziges Wort zu viel. Ich hatte gelernt, mehr aus seinen Augen, seinem Gesicht zu lesen als von seinen Lippen zu hören. Als der Oberkellner ihn dienstbereit nach seinen Wünschen fragte, antwortete er nur das eine Wort »Wasser« und richtete dann sein Auge auf mich. Ich verstand diesen Blick und erzählte ihm in kurzen Worten von dem Diebstahle, wobei ich keine lange Ausführung nötig hatte, um den Prayer-man und Watter und mein Verhältnis zu ihnen zu charakterisieren; ein treffendes Wort genügte vollständig für ihn. Als ich fertig war, stand er auf und sagte:
»Mein Bruder mag über die Klugheit dieser Leute nicht lachen sondern Mitleid mit ihr haben! – – – Winnetou will den Stall ansehen. Komm!«
Der Stall war sauber und stand jetzt leer. Wir schafften die Pferde hinein und ließen ihnen Wasser und Futter geben, welches wir vorher auf seine Güte untersuchten. Zugleich befahl Winnetou, daß kein anderes Pferd hineingestellt werden dürfe, was uns gern zugesagt wurde.
Der Stall lag, wie bereits einmal erwähnt, im Hintergebäude. Neben seiner Thür führte eine Treppe nach der Stube, in welcher der Prayer-man gewohnt hatte. Wir sahen den Sheriff mit Watter und dem Constable herabkommen. Ganz seinem bisherigen, unfreundlichen Verhalten zu mir entgegen, kam der erstere auf mich zu und meldete mir in einem Tone, als ob ich sein Vorgesetzter sei:
»Wir sind noch einmal oben gewesen, um ganz genau nachzuforschen, haben aber nichts gesehen. Auch im Zimmer von Mr. Watter haben wir nichts entdecken können, was uns auf den Thäter und die Art und Weise, wie der Diebstahl ausgeführt wurde, schließen lassen könnte. Ihr hattet vorhin den Wunsch, einmal hier hinaufzugehen, Mr. Shatterhand?!«
»Diesen Wunsch hatte ich als Mr. Meier, der durch Eure Beschuldigungen dazu gezwungen wurde,« antwortete ich kalt. »Jetzt geht mich die ganze Sache nichts mehr an!« Und in drohendem Tone fügte ich die Frage hinzu: »Oder etwa doch?«
»Nein, nein! Ganz und gar nichts! Eure Unschuld steht über jeden Zweifel erhaben; das ist ja ganz selbstverständlich! Aber ich dachte – – dachte – – hm!«
»Was dachtet Ihr?« half ich ihm aus der Verlegenheit, in welcher er sich befand.
»Da Ihr Old Shatterhand seid und dieser vorzügliche Gentleman Winnetou, der Häuptling der Apatschen ist, und weil man weiß, daß Ihr selbst Spuren, die kein anderer erkennen kann, so meisterhaft zu lesen versteht, so wollte ich, weil ich Euch nun doch einmal hier treffe – – hm!«
»So redet doch weiter!«
»Kurz und gut, ich wollte Euch höflichst bitten, doch einmal da hinaufzugehen und zu versuchen, ob Ihr vielleicht etwas findet, was wir nicht gesehen haben!«
Ich warf einen schnellen Blick auf Winnetou. Sein Gesicht war unbewegt; er war also weder dafür noch dagegen, sondern überließ mir die Entscheidung. Darum antwortete ich und zwar nur ganz kurz:
»Kommt!«
Sie stiegen voran, um uns die Stube zu zeigen. Wir folgten ihnen. Der Wirt, welcher im Hofe gestanden hatte, kam nach, als er sah, wer jetzt das Suchen übernahm. Der Sheriff schloß auf und wollte eintreten.
»Halt!« sagte ich. »Ihr kommt erst hinter uns. Ihr könntet uns die Spur verderben, wenn Ihr sie nicht schon verdorben habt.« Und um Winnetou Gelegenheit zu geben, diesen Leuten zu zeigen, was ein geübter Scharfsinn und Scharfblick zu bedeuten hat, schloß ich die Bemerkung an: »Der Häuptling der Apatschen wird zuerst eintreten!«
Er verstand mich, that einen Schritt hinein und blieb dann stehen. Wir konnten sein Gesicht nicht sehen. Dann ging er bis in die Mitte der Stube, so daß wir folgen konnten. An der rechten Wand stand das Bett, an der linken ein Tisch und ein Stuhl, auf letzterem der Koffer des Prayer-man. Winnetou bückte sich und hob eine Schnur auf, welche unter dem Tische lag.
»Das ist nichts«! sagte der Sheriff wegwerfend.
»Wartet nur!« entgegnete ich.
Der Apatsche ging nach dem offenen Fenster und ließ die Schnur hinab, um zu sehen, wie weit sie draußen hinunterreichte. Dann warf er sie herein, behielt aber den Kopf draußen, um etwas, was wir nicht sahen, zu betrachten. Hierauf schwang er sich auf die Fensterbrüstung und stieg auf die noch anliegende Leiter hinaus. Als er wieder hereinkam, hatte er einen kurzstieligen Hohlbohrer in der Hand.
»Die Bleichgesichter haben keine Augen und keine Gedanken!« sagte er. »Der Prayer-man ist nicht betrunken gewesen und hat nicht geschlafen. Er hatte Werkzeuge und er hatte einen Gehilfen, dem er sie an dieser Schnur hinunterließ. Der Gehilfe ging, um die Nuggets zu stehlen; als das geschehen war, brachte er die Werkzeuge wieder, band sie unten an die Schnur, und der Prayer-man zog sie herauf; sie waren aber nicht fest zusammengebunden, und so fiel eins heraus und blieb draußen im Gezweig des wilden Weines hängen, welcher an der Mauer wächst. Hier ist es. Solche Werkzeuge steckt man nicht in die Taschen des Gewandes; er hatte sie also nicht bei sich, als er floh, zumal seine Flucht sehr schnell geschah; sie sind noch hier. Die Bleichgesichter mögen noch einmal alles aus dem Bette werfen!«
Es fiel ihm nicht ein, das Bett anzurühren. Der Constable warf ein Stück nach dem andern heraus. Es lag nichts drin, was nicht hineingehörte, auch nichts darunter.
»Die Bleichgesichter mögen auch den Koffer leeren!« befahl nun Winnetou.
Der Sheriff erklärte, daß dies bereits einmal geschehen und nichts dabei gefunden worden sei; man mache sich die Mühe also überflüssig. Als die Papiere, welche drin lagen, herausgenommen worden waren, war der Koffer leer. Winnetou nahm ihn in die Hand, behielt ihn einen Augenblick in derselben, lächelte und gab ihn mir. Ich fühlte sofort, daß er schwerer war, als er hätte sein dürfen, wenn er wirklich leer gewesen wäre.
»Mein Bruder Shatterhand messe die Tiefe von außen und von innen!« forderte mich Winnetou auf.
Ich that dies durch die Handspanne und fand, daß er einen hohlen Boden haben müsse. Die Untersuchung ergab, daß er einen bis oben reichenden Einsatz hatte, den wir nun herauszogen; dann schütteten wir den geheimen Inhalt heraus, der aus Nachschlüsseln, Bohrern, Feilen und sonstigen Werkzeugen bestand, welche alle so gearbeitet waren, daß sie möglichst wenig Platz einnahmen. Von einem Meißel, der so schmal war, daß er als Zieher kleiner Schrauben benutzt werden konnte, war die Spitze abgebrochen. Winnetou betrachtete die Bruchstelle aufmerksam und fragte dann:
»Die Bleichgesichter haben auch in der Stube, wo die Nuggets waren, keine Spur gefunden?«
»Nein, nicht die geringste,« antwortete der Sheriff.
»Sie mögen uns hinführen!«
Wir gingen über den Hof in das Vorderhaus und dort nach Watters Zimmer, welches ein Eckzimmer wie das meinige war. Hier standen mehr und bessere Möbel, als drüben. Der Schrank war offen; der leere, noch angeschraubte Kasten stand drin. Winnetou sah und griff hinein und ließ den offenen Deckel in den Scharnieren spielen.
»Das ist alles nutzlos!« erklärte Watter. »Ich selbst erst habe ihn aufgeschlossen, und der Schlüssel ist nicht aus meiner Tasche gekommen!«
Nun langte Winnetou mit der Hand hinter den Kasten und suchte dort.
»Uff!« rief er aus, indem er sich aufrichtete und uns ein kleines, scharfes Eisenstückchen zeigte. »Dieser Schrank steht nicht an einer Mauer, sondern an einer Thür!«
»Das ist richtig!« sagte der Wirt erstaunt, denn der Schrank verdeckte die Thür so vollständig wie in dem Zimmer neben dem meinigen; Winnetou hatte sie also nicht sehen können.
»Man öffne die Stube, zu welcher diese Thür führt,« befahl Winnetou. »Von dort aus ist die hintere Wand des Schrankes aufgemacht worden, und weil der Dieb den Schlüssel zum Kasten nicht gehabt hat, hat er die Gelenke des Deckels aufgeschraubt. Als er sie später wieder zuschraubte, ist diese Spitze des Meißels abgebrochen, welche ich gefunden habe. Er hat die Schrauben nicht ganz, sondern nur halb wieder hineingebracht; das fühlte ich gleich, als ich hingriff!«
Der Schlüssel wurde geholt; wir gingen in das Nebenzimmer und öffneten die Verbindungsthür. Da standen wir vor der Hinterwand des Schrankes und sahen sofort, daß ein Teil derselben weggenommen worden war. Der Schrank war ein leicht gearbeitetes Stück, wie sie in Fremdenzimmern zu stehen pflegen; der Tischler hatte die Bretter der Hinterwand nur aufgenagelt, und die Nagelkuppen waren von dem Diebe mit dem Hohlbohrer freigelegt worden, so daß er zwei Bretter hatte wegnehmen können. Wir thaten das auch, worauf das Innere des Schrankes vor uns lag, und nun sahen wir auch die halb hervorstehenden Scharnierschrauben. Es war genau so, wie Winnetou gesagt hatte: In Ermangelung des Schlüssels hatte der Dieb den Kasten nicht vorn beim Schlosse, sondern hinten bei den Scharnieren geöffnet.
»Das ist erstaunlich, geradezu erstaunlich!« rief der Sheriff.
»Wer hätte das gedacht!« stimmte Watter bei.
Der Wirt versetzte dem letzteren einen gelinden Rippenstoß und sagte mit mir willkommener Anzüglichkeit:
»Was denkt Ihr nun von Eurer großen Weisheit, Mr. Watter? Wer gehört nun zu den ›reinen Garnichtsen‹, mit denen Ihr nur so herumgeworfen habt? Wer ist so albern gewesen, sich von dem Prayer-man so betrunken machen zu lassen, daß er im Schlafe des Rausches das Geräusch nicht gehört hat, welches hier doch ganz unvermeidlich gewesen ist? Ihr wollt wegen Mr. Shatterhand mein Haus verlassen, dessen Ruf nur durch Eure Dummheit blamiert werden konnte. Ihr mögt immer gehen, denn solche Gäste mag ich gar nicht haben. Habt Ihr mich verstanden!«
Der Angerüffelte sagte kein Wort. Winnetou aber fuhr in seiner Erklärung fort:
»Der Dieb hat einem Verbündeten, welcher unten stand, das Gold nach und nach zugereicht, indem er es wahrscheinlich in irgend einem Gefäße an einer Schnur hinunterließ.«
»Eines Gefäßes bedurfte es nicht,« erklärte Watter. »Es waren lauter fest zusammengebundene Pakete. Aber woher kann man wissen, daß es durch das Fenster gegeben wurde?«
Winnetou deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf einige am Boden liegende Nuggets und auf verstreuten Goldstaub hin, welcher nach dem Fenster führte.
»Ah, da ist ein Paket auf gewesen! Ja, das stimmt, das stimmt! Also drei Personen haben mich bestohlen! Dieser Prayer-man, den der Teufel fressen möge, und noch zwei andere, die ich nicht kenne! Ich werde seine Fährte suchen, um ihr zu folgen, und wenn ich ihn erwische, so – –«
Mehr hörte ich nicht, denn Winnetou glaubte, genug gethan zu haben, und ging; ich folgte ihm. Als er unten nach dem Gastzimmer biegen wollte, hielt ich ihn durch eine Handbewegung davon ab und führte ihn wieder nach der Stube des Prayer-man. Er ging schweigend mit. Oben angekommen, erzählte ich ihm nun, da wir allein waren, das Gespräch, welches ich belauscht hatte. Er hörte mir sehr aufmerksam zu, ließ, als ich zu Ende war, jenes beistimmende Lächeln sehen, welches mich stets so sehr befriedigte, und sagte:
»Und nun will mein weißer Bruder wohl diesen Koffer noch einmal untersuchen, ob er vielleicht noch etwas enthält, was wir noch nicht entdeckt haben?«
»Ja, deshalb ging ich noch einmal hierher, ehe der Sheriff kommt und ihn mit Beschlag belegt.«
»Wir wollen suchen!«
Wir suchten schnell aber gründlich die Schriften durch, doch ohne Resultat. Dann wurde der Koffer noch einmal vorgenommen. Eine heimliche Tasche, ein verborgenes Fach gab es nicht mehr; aber an einer Stelle war, wie wir bemerkten, das leinene Futter losgeweicht und ein Schnitt hinein gemacht. Ich griff in den Schnitt und zog drei Papiere heraus; es war weiter nichts darin. Das erste Papier enthielt lauter untereinander gesetzte Namen. Darüber stand: »To the Finding-hole«. Die Namen waren folgende:
Kansas-City, Kansas River, Republican River, Frenchmans River, Fine Bluffs-Pole Creek, Iron Mountain-Chugwater-Creek, Lake Jone-Laramie-River, Grand Medicine Bow Creek, Platte River, Sweetwater River, Pacific Creek, Big Sandy Creek, Fremonts Peak, Finding-hole.
Das zweite Papier war ein Wechsel auf Sicht auf fünftausend Dollars, ausgestellt von Frank Sheppard und angenommen von Emil Reiter.
Das dritte Papier war höchst interessant. Die darauf stehenden Zeilen lauteten folgendermaßen:
»Geständnis .
Ich, Emil Reiter, erkläre hiermit und an Eides Statt, daß ich vorgestern nachmittag 3 Uhr den Farmer Guy Finell mit meinem Gewehre erschossen habe, und verspreche, dem Untersuchungsrichter auf Vorzeigung dieses Zugeständnisses den Mord sofort und ohne Weigerung einzugestehen. – Emil Reiter, Steelsville.«
Das unterzeichnete Datum ging auf nicht ganz ein Jahr zurück. Der Name des Thäters erinnerte mich an meinen Musiklehrer, jenen alten, lieben Kantor, welcher meine Motette hatte drucken lassen. Sein Sohn war nach Amerika gegangen und hieß Emil Reiter. Natürlich war das nur ein Zufall, und es gab keinen einzigen Grund, anzunehmen, daß der Schreiber dieser Zeilen der Sohn jenes Kantors und kein anderer Emil Reiter sei.
Was hatte ihn veranlaßt, dieses schriftliche Geständnis niederzuschreiben? Und was hatte der, für den es geschrieben worden war, für einen Grund, es sich geben zu lassen und es aufzuheben, ohne den Mord zur Anzeige zu bringen? War der jetzige Besitzer, also der Prayer-man, diese Person? Wenn er es war, so war die Absicht wohl keine gute! Vielleicht hatte Emil Reiter den Sichtwechsel acceptieren müssen, um das Schweigen des Zeugen zu erkaufen; dann aber mußte man annehmen, daß der Aussteller Frank Sheppard und der Prayer-man eine und dieselbe Person seien; der Schriftenhändler jedoch hieß anders – – wenigstens jetzt!
Winnetou sah mich forschend an. Als ich die drei Papiere einsteckte, fragte er:
»Wir behalten sie?«
»Ja,« antwortete ich; »das eine enthält die Reiseroute nach dem Finding-hole, ist uns also außerordentlich wichtig, und die beiden andern können uns noch wichtig werden!«
»Diese Orte – – uff! Sie bezeichnen fast ganz genau den Weg, den auch wir mit einander reiten werden!«
Jetzt also, jetzt brach er das Schweigen!
»Müssen wir auch da hinauf?« fragte ich einfach, als ob ich es gewußt hätte, daß wir diesen monatelangen, beschwerlichen und gefährlichen Ritt machen würden.
»Ja,« antwortete er ebenso einfach. »Dein roter Bruder Winnetou hat gar nicht Zeit gefunden, Nuggets zur Reise nach dem Osten zu holen. Er ist unterwegs wieder umgekehrt, weil er erfuhr, daß die Krieger der Crows gegen die Krieger der Schoschonen den Tomahawk des Kampfes ausgegraben haben.«
»Ich dachte es mir, daß sie das thun würden!«
Diese meine Worte mußten ihm ganz unerwartet kommen; er fragte aber ohne das geringste Zeichen des Erstaunens:
»Mein weißer Bruder hat es gewußt?«
»Ja. Es sind von den Schoschonen sechs Crows getötet worden, welche gerächt werden sollen. Ich habe es hier von einer Squaw erfahren, deren Mann dabei gewesen ist und die von Yakonpi-Topa, dem Häuptling der Kikatsa-Crows, einen Brief empfangen hat.«
»Uff! Winnetou und Old Shatterhand müssen schnell fort, um ihre Freunde, die Schoschonen, zu unterstützen! Es sind auch noch andere Feindseligkeiten als diese Tötung zwischen ihnen vorgekommen. Yakonpi-Topa ist diesmal von dem verderblichen Brauch der roten Männer gleich nach geschehener Ursache, ohne gerüstet zu sein, in den Kampf zu ziehen, abgewichen und trifft große Vorbereitungen. Er hat die River- und die Mountain-Crows, die Ahwahaways und die Allakaweahs aufgewiegelt und scheint auch die Krieger der Satsilaa, der Kahnas, Pigans und der Small Robes an sich ziehen zu wollen. Er ist ein alter und erfahrener, listiger Fuchs, während Wagare-Tey, der junge Häuptling der Schoschonen, noch nicht dreißig Winter zählt und mehr Aufrichtigkeit als Klugheit und Erfahrung besitzt.«
»Da müssen wir freilich schleunigst fort und auf dem kürzesten Wege hinauf! Der bequemste führt immer an dem Nord-Platte hin, macht aber so viele Windungen, daß man fast doppelt so lange braucht wie auf dem andern, der allerdings sehr beschwerlich ist und große Ortskenntnis erfordert, die wir aber glücklicherweise besitzen. Es ist das fast ganz genau der Weg, dessen Verzeichnis wir jetzt auf dem Zettel des Prayer-man gelesen haben, und so dürfen wir hoffen, daß wir ihn trotz seiner gelungenen Flucht auf dem Hin- oder Rückweg doch noch treffen. Ich wünsche das sehr! Und ich habe noch einen zweiten Wunsch, der mir durch deine Absicht, zu den Schoschonen zu reiten, leichter und schneller in Erfüllung gehen kann, als ich es bis jetzt für möglich hielt. Die Kikatsa halten nämlich ein Bleichgesicht gefangen, den Mann der Squaw, von welcher ich dir sagte, daß ihr Mann bei der Tötung der sechs Krähen zugegen gewesen sei und daß sie von Yakonpi-Topa einen Brief bekommen habe. Dieser Gefangene wird trotz allen Lösegeldes nicht freigegeben werden, und so muß man ihn entweder durch Gewalt oder mit List den Kikatsa entreißen.«
»Hat mein Bruder Shatterhand einen Grund, sich seiner anzunehmen?«
»Ja; du sollst ihn erfahren.«
Ich erzählte ihm von Frau Hiller und ihrem Sohne, und zwar that ich das, um sein Interesse an diesen beiden Personen zu vergrößern, etwas ausführlicher, als es sonst wohl geschehen wäre. Ich bemerkte zu meiner Genugthuung auch, daß ich die beabsichtigte Wirkung erzielte. Er hörte sehr aufmerksam zu und erkundigte sich dann:
»Mein Bruder Scharlih hat, wie ich höre, diese Squaw und ihren Sohn liebgewonnen?«
»Ja. Sie hat soviel Schlimmes erlebt und erfahren, daß ich ihr die schwere Trübsal, ihren Mann zu verlieren, ersparen möchte.«
»Uff! Sie ist durch großes Elend gegangen, um sich wieder mit ihm zu vereinigen. Ihr Herz ist treu; das muß Belohnung finden! Also sie hat vom Mitleide anderer Menschen leben müssen, obgleich sie vorher wahrscheinlich reich gewesen ist? Konnte mein Bruder denn gar nichts für sie thun, ihr kein Geld für die Reise, für Nahrung und Kleidung geben?«
»Ich war damals noch ein Knabe und selbst sehr arm!«
Daß ich sie dennoch beschenkt hatte, sagte ich nicht, denn das Prahlen mit Wohlthaten liebte er ebensowenig wie ich. Er war gegen seine Mitmenschen, ganz gleichgültig, ob rot oder weiß, von einer Aufopferung und Mildthätigkeit, die selbst den Tod nicht scheute, pflegte aber kein Wort darüber zu verlieren. Ich hörte ihn oft sagen, was man für unglückliche Menschen thue, das thue man für den großen, guten Manitou, und wie man sich mit diesem, dem hoch Erhabenen, stehe, das dürfe man keinem Menschen, der gegen ihn ein Nichts sei, ausplaudern.
»Der Mann dieser Squaw wird also Nana-po genannt; ich muß diesen Namen schon einmal gehört haben. Nana-po – – Nana-po – – ja, jetzt finde ich es! Er nahm sich eines Sambitschekriegers an, welcher vom Felsen gestürzt war, und pflegte ihn so lange, bis er zu den Seinen zurückkehren konnte; dieser Krieger hat es mir selbst erzählt. Wer so an einem Fremden handelt, der ist ein guter Mann und darf nicht am Marterpfahle der Krähen sterben. Wir werden ihn, falls er noch lebt, wenn wir hinaufkommen, ihnen zu entreißen versuchen. Jetzt wollen wir gehen; es braucht niemand zu wissen, daß wir noch einmal gesucht und etwas gefunden haben.«
Als wir hinunter in den Hof kamen, stand dieser voller Menschen. Es hatte sich schnell in der Stadt herumgesprochen, wer hier im Hotel zu sehen sei, und nun waren sie gekommen, die lieben, neugierigen »Sympathievögel«, und wir wußten, daß sie uns nun bis zum Augenblicke unserer Abreise umflattern würden. Winnetou schloß sofort den Stall zu und steckte den Schlüssel ein, um wenigstens unsern Pferden die ihnen gehörige Ruhe zu sichern, denn daß die Wißbegierde sich auch auf sie richten würde, das war mit Sicherheit vorauszusehen.
Wir wollten uns nach dem Gastzimmer begeben, wo Hiller zurückgeblieben war; dieser aber kam jetzt heraus, um uns zu suchen. Er meldete uns, daß seine Mutter einen Boten gesandt habe, er solle sofort nach Hause kommen, es sei etwas Hochwichtiges geschehen; sie lasse auch mich bitten, mitzukommen.
»Sind Leute in der Gaststube?« fragte ich ihn.
»Alles voll!« lachte er. »Es kann fast kein Apfel zu Boden fallen, und vor dem Hause stehen sie auch so dicht. Alles will Winnetou und Old Shatterhand sehen.«
»So gehen wir beide mit Ihnen. Führen Sie uns einen möglichst freien Weg, wo wir nicht gesehen werden! Schaustücke für Jahrmärkte und Vogelschießen sind wir nicht!«
Es war für ihn aber unmöglich, diesen Wunsch zu erfüllen. Man bemühte sich zwar, uns Platz zu machen, aber es waren der Menschen so viele, daß wir nur langsam hindurchkamen. Und als wir die Straße erreicht hatten, standen noch mehr da, durch welche wir uns förmlich drängen mußten; dann kamen sie hinter uns her und blieben, als wir bei Frau Hiller eingetreten waren, dort vor dem Hause stehen.
Sie wußte noch nicht, daß Winnetou gekommen war, und war von seinem Anblicke so überrascht und seelisch ergriffen, daß sie ganz bewegungslos stand und keine Worte zur Begrüßung fand. Ihre innere Bewegung war so tief, daß sie ihr die Thränen in die Augen trieb. Diesen ergreifenden Eindruck seiner Persönlichkeit hatte ich schon oft beobachtet und mich dabei stets selbst auch ergriffen gefühlt. Es kam zu seiner unwiderstehlich wirkenden Erscheinung ja noch das ruhmesreiche Bild, welches die geschäftige Fama allüberall von ihm verbreitet hatte. Er sah ihre Sprachlosigkeit und ihre Augen in Wasser schwimmen, reichte ihr die Hand und sagte:
»Winnetou kommt, um seiner guten, weißen Schwester zu sagen, daß er ihr Freund ist und sich vorgenommen hat, ihr Leid zu stillen, wenn es ihm und seinem Bruder Scharlih möglich ist!«
Er pflegte meinen Vornamen Karl als Scharlih auszusprechen. Sie antwortete auch hierauf nicht und zog, ehe er es hindern konnte, seine Hand an ihre Lippen, um sie zu küssen. Ich hätte ihr die ihrige hundertmal dafür küssen mögen, so freute ich mich über diesen wortlosen, aber umso deutlicheren Beweis der Bewunderung, welcher zu widerstehen, ihr unmöglich war. Noch als wir schon im Zimmer waren und er in der ihm eigenen, unnachahmlichen Weise Platz genommen hatte, konnte sie kaum die Augen von ihm wenden und mußte von ihrem Sohne darauf aufmerksam gemacht werden, daß sie doch nach uns geschickt habe, weil etwas Wichtiges geschehen sei.
Da röteten sich ihre Wangen, und ihre Augen strahlten.
»Ja,« sagte sie, »etwas Hoch-, Hochwichtiges, was allem Leide ein Ende machen und uns das verlorene Glück wahrscheinlich wiederbringen wird. Bitte, lest, Mr. Shatterhand!«
Sie sprach englisch, weil sie annahm, deutsch von Winnetou nicht verstanden zu werden. Dabei gab sie mir eine Zeitung in die Hand und deutete auf die Stelle, die sie meinte. Es war der noch jetzt bestehende, in St. Louis erscheinende »Anzeiger des Westens«, welcher allen deutschen Lesern warm empfohlen werden kann. Er war das erste auf der Westseite des Mississippi herausgegebene deutsche Blatt, wurde stets in vorzüglicher Weise redigiert, hat bis heutigen Tages die Interessen der Deutschen warm vertreten und war das einflußreichste landsmännische Organ im ganzen Westen, wie er sich auch noch jetzt den besten Blättern des Ostens zur Seite stellen kann. Die betreffenden, an in die Augen fallender Stelle sehr groß gedruckten Zeilen lauteten:
»!!! – v.H. – – – v.H. – – – v.H. –!!!
Die Unschuld ist erwiesen! Der Thäter wurde entdeckt und hat alles eingestanden! Sie dürfen offen zurückkehren! Geben Sie, falls Sie nicht gleich kommen können, Ihre genaue Adresse an!
Treuer Nachbar.«
Als sie sah, daß ich fertig war, faltete sie die Hände und sagte vor Freude weinend:
»Endlich, endlich hat Gott sich unser erbarmt; wie danke ich ihm dafür! Wir dürfen in die Heimat zurückkehren, dürfen unsern ehrlichen Namen wieder tragen! Wir bekommen alles, alles wieder, was wir verloren haben! Ja, weine, weine du auch, mein Sohn! Das sind andere, oh, ganz andere Thränen, als die, welche wir bisher vergossen haben. Mit ihnen fließt die ganze Last des Jammers von unserm Herzen, und die Seele wird ebenso frei, wie wir uns in jeder anderen Beziehung nun frei fühlen dürfen. Wenn doch mein alter, lieber Vater noch lebte; wenn er doch das hätte erleben dürfen!«
Der Sohn hatte sich still in eine Ecke gesetzt und verbarg das Gesicht in die Hände. Er wollte das Schluchzen ebenso verbergen, wie er damals in Falkenau als Knabe so wacker mit ihm gekämpft hatte. Niemand konnte ihnen die Freude aufrichtiger gönnen als ich; aber ich war gewöhnt, vorsichtig zu sein. Wenn diese Annonce nicht auf Wahrheit, sondern auf Täuschung beruhte, mußte der Rückschlag später um so tiefer, um so niederschmetternder sein. Darum fragte ich:
»Dürft Ihr diesem Aufrufe auch wirklich Vertrauen schenken? Handelt es sich nicht vielleicht um eine Falle, die man Euch stellen will, um Euch hinüberzulocken?«
»Nein, oh nein! Dieser Nachbar ist treu und aufrichtig wie Gold. Mit ihm von hieraus zu korrespondieren, wagten wir nicht, aber wir machten mit ihm aus, daß er uns sofort Nachricht geben solle, sobald die Verhältnisse, um welche es sich handelt, für uns eine Wendung zum Bessern nehmen sollten. Da wir nicht wußten, wo wir uns befinden würden, wurde für New York, Cincinnati, Chicago und St. Louis je eine Zeitung bestimmt, in welcher die Benachrichtigung erscheinen sollte; auch über die Form dieser Benachrichtigung wurde ein so genaues Abkommen getroffen, daß wir gar nicht in Zweifel sein können, ob sie von diesem Freunde oder von der Heimtücke eines andern stammt. Nein, wir können so fest glauben und vertrauen, als ob die Wahrheit in eigener Person diese Annonce aufgegeben hätte!«
»Well, so stecke ich sie also ein!«
Ich faltete die Zeitung zusammen und schob sie in die Tasche.
»Oh nein!« rief sie da. »Bitte, nehmt mir dieses Blatt nicht! Es ist mir ein Vermögen, ein ganzes Vermögen wert!«
»Davon bin ich überzeugt. Aber Ihr könnt Euch ein anderes Exemplar verschaffen, wozu wir wahrscheinlich keine Zeit haben. Wir brauchen es.«
»Wozu, Mr. Shatterhand?«
»Um es Eurem Manne zu bringen.«
Das hatte sie nicht erwartet. Sie jauchzte förmlich auf vor Freude:
»Herrgott! Das wollt Ihr, das? Wollt Ihr das wirklich thun, ihn aufsuchen und ihm diese frohe Botschaft bringen?«
»Ja. Mein Bruder Winnetou ist einverstanden.«
»Mein Bruder Scharlih sagt die Wahrheit,« bekräftigte der Häuptling. »Meine gute, weiße Schwester ist im Unglück eine starke Heldin gewesen; das hat der große Manitou gesehen und sie heut dafür mit seiner Hilfe belohnt. Er will es, daß wir zu Nana-po gehen, um ihn aus der Gefangenschaft zu holen und mit seiner treuen Squaw zu vereinigen. Wir brechen morgen früh von hier auf und sind bereit, selbst unser Leben daran zu wagen, ihn dir zurückzubringen.«
Da sank sie laut weinend vor ihm in die Kniee, um ihm für diesen Entschluß zu danken. Er ließ sie aber nicht zu Worte kommen, zog sie schnell wieder empor und sprach:
»Winnetou ist ein Mensch, und vor Menschen darf man niemals knieen. Wenn meine weiße Schwester nicht wünscht, daß ich mich gleich entfernen soll, so mag sie ja kein einziges Wort des Dankes sagen!«
»Aber wie kann ich schweigen, wenn das Herz mir überfließt! Welch eine Botschaft für meinen armen Mann, wenn Ihr ihm diese Zeitung gebt! Er kennt Euer Gedicht auswendig, Mr. Shatterhand; er weiß, auf welche Weise ich es bekommen habe. Mir klingt der Anfang desselben heut so deutlich in die Ohren wie damals, als ich sie unter dem Christbaume zum erstenmal vernahm: »Ich verkünde große Freude, die Euch widerfahren ist – –!« Leider aber wird die Freude meines Mannes, wenn auch unendlich groß, doch keine so fromme, zu Gott gerichtete sein, wie die meinige ist. Er ist ungläubig!«
Sie machte eine Pause, betrübt durch den soeben ausgesprochenen Gedanken; dann fuhr sie fort:
»Dieser sein Unglauben hat mich im stillen oft schwer gepeinigt. Ich habe deshalb täglich gebetet und mit Gott um Erhörung gerungen, aber die Erfüllung dieser Bitten ist bis heute ausgeblieben. Der Umstand, daß wir so schwer und doch so unverschuldet leiden mußten, hat meinen Mann um den Glauben gebracht und ihn vollständig von Gott abgewendet. Es ist mein heißes Flehen, daß er durch das Glück, welches uns nun wieder leuchtet, zu ihm zurückgeführt werde!«
»Laßt Eure Hoffnung ja nicht sinken, Mrs. Hiller!« bat ich sie. »Die Wege des Herrn sind wunderbar, aber herrlich ist ihr Ende. Mir dürft Ihr das glauben; ich habe es schon so oft im Leben erfahren. Der Weg des Leidens, auf dem ich Euch begegnet bin, wird Euch zum Segen gereichen.«
»Das ist schon jetzt der Fall, Mr. Shatterhand. Ihr traft mich in einer Zeit, in welcher die Flut der Trübsal am reißendsten und tiefsten war. Ich wollte damals nach Graslitz zu einem Manne, den ich aus Rücksicht auf meine Sicherheit als unsern Verwandten bezeichnete; er war das aber nicht, sondern nur der Verwandte eines unserer Beamten. Ich hielt ihn für wohlhabend, hatte mich aber geirrt; auch war er von Graslitz fort, und wenn Ihr Euch nicht meiner erbarmt und mir Euer ganzes Geld geschenkt hättet, so lebte ich heute wohl nicht mehr.«
»Uff!« sagte da Winnetou, indem er die Hand leicht gegen mich erhob. »Mein Bruder Scharlih hat also doch geholfen, obgleich er es mir vorhin verschwieg! Ich kenne ihn ja!«
Ich richtete, um ihn nicht weiter sprechen zu lassen, die Frage an Frau Hiller:
»Hat Euch der Empfehlungsbrief meines damaligen Gefährten Carpio etwas genützt?«
»Nein. Ich nahm ihn nur, um den jungen Mann nicht zu kränken. Kennt Ihr den Adressaten, an den er gerichtet war?«
»Nein.«
»Es war ein Mr. Lachner in Pittsburg. Mein Weg führte mich dann durch diese Stadt, und ich erkundigte mich nach ihm. Er war wohlhabend geworden durch Gefälligkeiten, für welche man ihm zehnfache Zinsen zu bezahlen hatte. Man bezeichnete ihn als einen der schlimmsten von der Art Menschen, welche der Engländer Cut-purse und der Amerikaner Throat-cutter nennt. Ich hütete mich natürlich, den Brief abzugeben.«
Also ein Gurgelabschneider war jener geheimnisvolle Verwandte meines Carpio! Die drei bekannten Blitze »Eldorado – Millionär – Universalerbe« kamen mir jetzt nicht so leuchtend vor wie in damaliger Zeit, wo ich mich aber auch schon mit stillen Zweifeln über sie herumgetragen hatte.
Was im Laufe der Unterhaltung weiter gesprochen wurde, kann ich übergehen, weil es von keinem Einflusse auf unsere späteren Erlebnisse war. Heute abend noch einmal mit mir herzukommen, mutete ich Winnetou nicht zu, und so bat uns Mrs. Hiller, uns für eine Minute im Hotel aufsuchen zu dürfen, um uns einen Brief für ihren Mann zu bringen. Wir gaben die Zeit an, wann wir da sein würden, und verabschiedeten uns sodann.
Das Hotel war in seinen öffentlichen Räumen förmlich gestopft voll Menschen, als wir dort ankamen. Watter hatte, auf uns wartend, am Fenster gesessen und kam uns entgegen, als er uns sah.
»Mesch'schurs,« sagte er. »Ich gehe fort, um den Prayer-man zu verfolgen, während der Sheriff in anderer Weise versuchen wird, seiner habhaft zu werden. Ich habe nur gewartet, um Mr. Shatterhand noch um Verzeihung zu bitten, daß ich so dumm und grob gewesen bin. Ich erkläre hiermit feierlichst, daß ich den sogenannten Mr. Meier nicht mehr für einen ›reinen Garnichts‹ halte! Seid Ihr damit zufrieden?«
»Yes!« lachte ich.
»Der Teufel selbst wäre nicht klug genug gewesen, in diesem frommen Manne einen solchen Halunken zu vermuten!«
»Oh, was das betrifft, so muß ich Euch fragen, ob Ihr den Zettel gelesen habt, den Euch gestern ein Knabe in das Zimmer brachte. Ihr hattet gesagt, daß Ihr ihn in einem Jahre beantworten wollt.«
»Den – – – den habe ich wohl noch in der Westentasche. Was steht darauf? Wo ist er denn?«
Er brachte ihn heraus, las ihn und sah mich betroffen an.
»Diesen Zettel habe ich geschrieben, um Euch zu warnen,« erklärte ich ihm. »Hättet Ihr ihn gelesen und befolgt! Nun seht Ihr wohl ein, daß es auch gar nicht der Pfiffigkeit des Teufels bedurfte, den Prayer-man zu durchschauen. Nur die Augen muß man offen haben; Ihr aber habt sie mit Gewalt zugedrückt!«
Damit ließ ich ihn stehen.
Man hatte für Winnetou das beste Zimmer des Hauses hergerichtet; dahin begaben wir uns, um der Neugierde der Leute zu entgehen, welche alle uns sehen und sprechen hören wollten. Wir befanden uns kaum dort, so kam der Oberkellner, um uns zu bedienen, doch war seine Hauptabsicht, dem Häuptling seinen Wunsch, uns begleiten zu dürfen, vorzutragen. Er that das unter tiefen Verbeugungen in seiner höflichen Weise. Winnetou hatte keine Lust; ich sprach aber für den jungen Mann, der sich so brav gewehrt hatte, sein Ziel zu erreichen, und so entschied der Apatsche, daß er eine Ausnahme machen und es wagen wolle, einen Fremden, der zudem gar kein Westmann sei, mitzunehmen, nur müsse Rost ein gutes Pferd haben und auch beweisen können, daß er ein leidlicher Reiter sei. Da bat uns der Bittsteller, nur eine Viertelstunde zu warten und dann in den Hof zu blicken.
Nach der angegebenen Zeit erschien er unten auf einem gar nicht üblen Braunen und ritt die Schule in einer Weise durch, daß Winnetou ihn herauf winkte, um ihm zu sagen, daß er sich noch heut mit allem zur Reise Notwendigen versehen und dann morgen frühzeitig zum Aufbruche bereit halten solle. Der gute Mensch war fast außer sich vor Freude und rannte fort, um den Gästen unten sein großes Glück zu verkünden. Schon hatte er die Thür hinter sich zugemacht, da öffnete er sie noch einmal und sagte unter einer tiefer Verneigung:
»Mylords, ich versichere noch einmal, daß heut der schönste Tag meines Lebens ist, und bitte dringend um die Erlaubnis, daß mir eine innere Stimme sagt, Ihr werdet die mir erteilte, ehrenvolle Erlaubnis nie zu bereuen haben!« – –