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Es war eine eigenartige Stimmung, in welcher ich mich befand, als mich der Ustad hinauf nach der mir zugedachten Wohnung führte. Es war nicht Spannung, noch viel weniger Neugierde. Ich hatte das Gefühl, als ob eine schon längst in mir lebende und doch niemals ganz in das Bewußtsein getretene Sehnsucht nun in Erfüllung gehen werde, als ob mir ein Glück bevorstehe, auf welches ich schon längst, aber ohne mein Wissen, vorbereitet worden sei. Warum war ich dabei so ernst, als ob auf jeder der Stufen, welche wir emporstiegen, eine Gestalt aus vergangenen Tagen stehe und stumm mahnend die Hand erhebe?
Als wir oben vor der Wohnung des Ustad angekommen waren, sah ich eine zweite Treppe. Auf ihrer Biegung stand ein brennendes Licht. Er zeigte hinauf und sagte:
»Du wirst da über mir wohnen. Und doch so tief, so tief, wie ich heut nicht mehr wohnen möchte!«
Ich sah ihn fragend an. Da legte er mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort:
»Effendi, fürchtest du dich vor Gespenstern?«
»Nein,« antwortete ich.
»Oder vor Gräbern?«
»Nein.«
»So gehe hinauf, und schaue dich um! Ich lasse dich für kurze Zeit allein, komme dir aber dann nach oben nach. Ich könnte wohl noch besser sagen: nach unten, denn, mein Freund, du wirst bei Leichen wohnen. Du bist der Erste und gewiß auch der Letzte, also der Einzige, der jene Gruft betreten darf, welche ich den Verstorbenen aus den verflossenen Tagen meines Lebens baute. Ich spreche in dunklen Worten; aber grad dieses Dunkel werde dir zum Licht! Das ist mein Herzenswunsch!«
Er öffnete seine Wohnung, nickte mir mit wehmütigem Lächeln zu und verschwand dann hinter der Thür. Ich ging weiter.
Indem ich dies that, kehrte Alles, was ich bisher aus seinem Munde gehört hatte, zu mir zurück. Wie tief, wie bedeutungsvoll war jedes Wort gewesen! Aus welcher Höhe schaute jeder Gedanke dieses Mannes auf die Oberflächlichkeit gewöhnlicher Menschen nieder! »Freund« hatte er mich genannt. Wie alles so ungewöhnlich war, so durfte ich auch dieses Wort nicht in der umgangsüblichen Bedeutung nehmen. Er meinte es ganz zweifellos nicht leer, sondern voll. Ich konnte überzeugt sein, daß ich seinen Inhalt auch in mir selbst zu suchen und zu finden haben werde.
Die zweite Treppe stieg in das Innere des Felsens hinein, an welchen sich die oberste Etage des »hohen Hauses« lehnte. Ich sah nur eine einzige Thür. Sie stand offen. Gedämpfter Lichtschein fiel heraus. Ich trat ein. Welch eine Ueberraschung, diese »Gruft«!
Das war doch allem Anscheine nach das Studierzimmer eines europäischen Gelehrten! Es sah ganz so aus, als ob der letztere soeben erst den Raum verlassen habe, um aber gleich wieder zurückzukehren. War er Geograph? Ethnolog? Den Fußboden bedeckten die Felle wilder Tiere, denen die präparierten Köpfe, Klauen und Krallen gelassen worden waren. An den Wänden hingen neben den Kriegswaffen verschiedener Völker auch allerlei friedliche, aber interessante Gebrauchsgegenstände derselben. Neben einem höchst bequemen persischen Diwan stand ein indischer Perlmuttertisch, auf welchem einige aufgeschlagene Bücher lagen, als ob vor ganz Kurzem noch in ihnen gelesen worden sei. Ich trat hin, um nachzuschauen. Ein geöffnetes neues Testament! Ein mit Tinte unterstrichener Vers: »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten!« Daneben ein beschriebenes, nicht losblätteriges sondern eingebundenes Manuskript. Da, wo der Verfasser aufgehört hatte, lautete der Satz: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr!«
Auf dem Schreibtische brannte eine Lampe, deren Licht durch einen grünen Schirm gemildert wurde. Der letztere war von feinster Seide, von Frauenhand gestickt. Arabische Schriftzeichen, doch wohlbekannte Worte: »Die Liebe hört nimmer auf!« Als ich den Schirm emporhob, um diesen Wahrheitsspruch zu lesen, sah ich, daß es eine sogenannte Astrallampe war. Astral! Das erweckte eigentümlicherweise eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit in mir. Ich hatte in einem alten Buche gelesen, daß es Astralgeister gebe, welche die uns unbekannten Sterne bewohnen. Meine kindliche Phantasie gab sich die größte Mühe, diesen Geistern Gestalt und Farbe zu erteilen, wobei sie natürlich zu den sonderbarsten Resultaten kam. Da hörte ich, daß der Rektor für seine Studierstube eine Astrallampe als Geburtstagsgeschenk bekommen habe. Ich ging augenblicklich hin und bat um die Erlaubnis zu einer Exkursion auf dieses geisterhafte Gebiet. Man kann sich denken, wie enttäuscht ich war, als sich bei der sehr eingehend vorgenommenen Okularinspektion keine einzige meiner sehr hoch gespannten Erwartungen erfüllte! Der Herr Rektor sah mir meine Betrübnis an und fragte nach dem Grunde. Ich teilte ihm denselben aufrichtig mit. Da lachte er und sagte: »Mein lieber Junge, das wirkliche Astrallicht strahlt von Stern zu Stern durch den ganzen Himmelsraum, damit es alle Welt im Geiste des Herrn erleuchte. Der Name dieses irdischen Lämpchens aber wurde vom Himmel herabgestohlen, damit der Klempner die Herrlichkeit Gottes zwingen könne, sich für ihn und seinesgleichen in ein gutes, einträgliches Geschäft zu verwandeln.« Da fiel ihm ein, daß meine Fassungskraft doch nicht der seinigen gleiche. Darum fuhr er fort: »Wenn du im Leben die Augen auch fernerhin so offen hältst wie jetzt, so wirst du das, was ich jetzt sagte, begreifen lernen. Dieser Klempner ist nicht der einzige Mensch, dem der Herrgott ruhig herzuhalten hat. Es giebt noch ganz andere Kostgänger, die von dem wohlgedeckten Tische des Himmels speisen, obgleich ihre Berechtigung dazu nur eine angemaßte ist. Im göttlichen Astrallichte wandeln nur erhabene Geister. Im Lichte dieser Lampen aber sonnen sich meist nur die winzig kleinen Geisterlein, welche sich bei dem Oele des Rübsamens und des Rapses einbilden, von ihrem Tische aus das ganze All ergründen zu können. Und wenn sich ja einmal ein bedeutender Mann an diesem Tische niedergelassen haben sollte, so stehen tausende der Kleinen auf der Lauer, ihm selbst auch diese Lampe auszublasen!«
Ich verstand dieses Letztere ebensowenig wie das Vorhergehende; aber das Leben hat mich dann gelehrt, den alten, erfahrenen Rektor zu begreifen. Und als ich nun hier im hohen Hause vor der Lampe des Ustad stand, da war es mir, als ob es ein vielgestaltiges Weben von lauter, lauter Geisterwinzigkeiten um mich her gebe und als ob eine unsichtbare, hundertstimmige Schadenfreude mir in die Ohren raune: »Da steht sie noch, die wir ihm ausgeblasen haben. Wir dulden Geister, aber keinen Geist!«
Ich nahm sie vom Tische weg, um die beiden Nebenräume anzusehen, welche rechts und links an dieses Zimmer stießen. Der eine war zum Schlafen bestimmt. Ein weiß überzogenes Bett. Ich fühlte das Leinen an und war geneigt, es für europäisches zu halten. Die Wände zeigten keinen andern Schmuck als nur ein einziges, primitiv eingerahmtes Bild von sehr bescheidener Größe. Es hing der Fensterseite gegenüber. Als ich die Lampe hoch hielt, um es zu betrachten, sah ich, daß es eine mit großer Liebe ausgeführte Federzeichnung war und eine auf Bergeshöhe stehende kleine Dorfkirche vorstellte. Es handelte sich hier augenscheinlich nicht um ein Werk der Phantasie, sondern dieses Gotteshäuschen war ohne allen Zweifel hier nach der Wirklichkeit wiedergegeben. Unter dem Bilde standen einige geschriebene Zeilen. Ich las:
»Kirchlein mein, Kirchlein klein,
Könnt so fromm wie du ich sein!
Deine Höhe zu erreichen,
Will ich dir an Demut gleichen.
Kirchlein mein, Kirchlein klein
So wie du will stets ich sein!«
Wer hatte das geschrieben? Und für wen war es geschrieben worden? Wenn der Schreiber ein Dichter war, so hatte es ihm hier sehr fern gelegen, mit seinem Geiste zu prahlen. Wo gäbe es wohl einen Menschen, der einem gottgeweihten Hause gegenüber sich nicht klein zu fühlen hätte! Selbst der größte der Dichter würde wissen, daß er dem prunkenden Reime zu entsagen habe, falls er im Geiste zur Kirche gehen wolle. Der wirklich Größeste wird hier am kleinsten sein.
Der Raum, den ich nun betrat, war die Bibliothek. Ihr Vorhandensein konnte mich nicht überraschen, obgleich nicht anzunehmen war, daß Pekala, die von den Büchern des Ustad gesprochen hatte, hier oben nach Belieben schalten und walten dürfe. An allen vier Wänden gab es hohe Stellagen, welche mit Büchern, Karten und wohlumschnürten Paketen gefüllt waren. Diese letzteren lagen nach Jahren und Monaten geordnet, und ihre Aufschriften sagten mir, daß sie Briefe enthielten. Es gab auch mehrere am Boden stehende, offene Kästen, welche bis an den Rand mit Briefen oder Zeitungen gefüllt waren. In der Mitte des Zimmers stand ein ungewöhnlich großer Tisch. Er war mit Büchern, Karten und Skripturen belegt und sehr bequem für einen geistig arbeitenden Mann, der es liebt, viel Platz zu haben.
Die Fenster der ganzen Wohnung waren hoch und breit, um möglichst viel Licht einzulassen. Aus dem mittelsten Gemache, welches ich zuerst betreten hatte, führte eine Thür hinaus ins Freie. Ich öffnete sie, um mich draußen umzusehen. Wie froh überrascht war ich, als ich sah, daß ich mich auf einem platten Dache befand, unter welchem jedenfalls die Wohnung des Ustad lag. Hier oben gab es nichts als nur die von mir beschriebenen drei Stuben. Sie waren von der Vorderfront des Hauses so weit zurückgesetzt, daß man diesen schönen Vorplatz gewonnen hatte, welcher mir die allerfreieste Aussicht nach Norden, Osten und Süden bot, während auf der Westseite der Weg hinauf nach der Glockenhöhle an mir vorüberführte.
Es ist eine meiner Eigenheiten, so viel wie möglich im Freien zu arbeiten, selbst auch des Abends und des Nachts. Ich kann sagen, daß ich meine glücklichsten, geistig belebtesten und fruchtbarsten Zeiten auf den platten Dächern des Morgenlandes verlebt habe. Wer des Nachts unter funkelndem Sternenhimmel von den Dächern Siuts hinauf nach der Höhe des Stabl Antar, von Jerusalem hinüber nach Mar Eljas, von Tiberias über den Genezareth, vom herrlichen Brummana des Libanon hinunter auf die Lichter und den Hafen von Berut geschaut hat, dem werden diese Stunden lebenslang im Gedächtnisse bleiben. Und nun auch hier vom hohen Hause aus der unbeschreiblich schöne Blick hinaus und hinein in die orientalische Nacht, die nicht so wie die abendländische nur vom Abend nach dem Morgen schreitet, sondern vom Paradiese nach dem Paradiese wandelt!
Da hörte ich ein Geräusch. Ich schaute mich um und sah den Ustad, welcher bei mir eingetreten war. Er bemerkte, daß ich mich auf dem Vorplatze befand, und kam heraus. Ich lehnte an der Brüstung. Er sagte nichts. Die Hände auf die Steine vor uns legend, schaute er still auf den See hinab. Ich hörte seinen Atem leise gehen. Da, nach einer kleinen Weile, wendete er sich mir halb zu und sprach, nach unten deutend:
»Der See denkt jetzt in tiefer Andacht nach,
Was er vom Herrn wohl mit der Sonne sprach.
Sie schaute ihm dabei ins Herz hinein.
Woher mag wohl der Blick gewesen sein?
Und sieht er, daß in seiner klaren Flut
Das Bild des ganzen, ganzen Himmels ruht,
So sendet er der Sonne Blick und Licht
Auch mir ins Herz als Lob- und Dankgedicht!«
Wie seltsam! Soeben waren ganz ähnliche Gedanken in mir aufgestiegen! Doch sagte ich nichts. Ich konnte kein Wort finden, welches wert gewesen wäre, jetzt gesprochen zu werden. Dieses Gedicht war im jetzigen Augenblick in ihm entstanden. Daß er es sofort in laute Worte gefaßt hatte, war mir ganz selbstverständlich. Jeder Dichter pflegt das zu thun. Er wendete sich wieder ab und sagte nach kurzer Pause, an seine letzten Worte anknüpfend:
»Es war ja heut ein Tag des Lobes und des Dankes. Er ist für mich noch nicht vorüber; er hallt noch in mir nach. Du warst dem leiblichen Sterben nahe, bist aber noch vor dem Tode wieder auferstanden. Darum zogen wir hinauf zu unserm Haus des Herrn.«
»So laß mich dafür danken, daß auch du jetzt wieder lebst,« sagte ich.
»Ich?« fragte er schnell.
»Ja. Ich war dem Tode nahe; du aber bist gestorben.«
»Wer hat es gesagt? Wer hat es dir gesagt?«
»Pekala. Durfte sie es nicht?«
»Sie weiß, daß ich vor dir kein Geheimnis haben will. Aber sie hat dich falsch berichtet.«
»Hast du ihr nicht gesagt, daß dein Sterbetag gewesen sei? Hast du nicht auch zu mir vorhin von deiner Gruft gesprochen?«
»Allerdings. Aber ich bin von euch beiden falsch verstanden worden. Meine Gruft ist nicht mein Grab.
Nur das, was in mir abgestorben ist, liegt da begraben. Mein Sterbetag war der, an dem es starb.«
»So wünsche ich dir von ganzem Herzen, daß du recht haben mögest! Ist es schon so traurig, Liebes in sich sterben zu fühlen, so muß es ja entsetzlich sein, sich zwar körperlich noch am Leben, aber als geistig vollendete Individualität bereits gestorben und begraben zu wissen!«
Er schaute mir in das Gesicht, längere Zeit. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, als ob er etwas von dort zu entfernen habe, und sprach:
»Ich kann mir allerdings nichts Furchtbareres denken, als das, was du soeben sagtest. Aber trotz allem, was in mir gestorben ist, ich selbst bin mit dem, was du meine geistige Individualität nennst, noch heut bei vollem Leben.«
»Gott gebe es!«
Der Ton, den ich unwillkürlich diesen drei Worten gab, machte, daß der Ustad sein Gesicht mir abermals zukehrte. Der Ausdruck desselben war fast der eines milden Erstaunens. Dann fragte er:
»Hältst du den Tod einer vollen, vielleicht bedeutenden oder sogar großen geistigen Persönlichkeit überhaupt für möglich?«
»Ja.«
»Woran soll sie sterben?«
»An einem plötzlichen, scheinbar wohlbegründeten Entschlusse. Oder auch an einer selbstverschuldeten, langsamen Verzehrung. In beiden Fällen liegt Selbstmord vor, falls der Geist vorher gesund gewesen ist.«
»Effendi, weißt du, wie hart du sprichst?«
»Wir sprechen vom Geiste. Darum mag der Geist zum Geiste reden. Der Geist aber ist hart, vielleicht härter als alles, was wir hart zu nennen pflegen. Du wolltest meine Ansicht über den Tod hören; diese ist nicht Herzenssache. Sobald du mein Herz fragst, wird es sprechen, und zwar so gern, so gern!«
Da faltete er die Hände, hob die Augen empor und sagte: »Sollte ich ein Selbstmörder sein?! Chodeh, ich bitte dich, verhüte es!«
»Chodeh ist allmächtig; aber selbst seiner Allmacht ist es nicht möglich, etwas zu verhüten, was bereits geschehen ist.«
»So will ich mich prüfen. Ich will wissen, was ich gethan habe und ob ich etwa anders hätte handeln können oder handeln sollen.«
»Hältst du dich für einen unparteiischen Richter über dich?«
»Nein. Aber du sollst mich richten.«
»Ich? Das ist unmöglich, denn ich liebe dich.«
»So wollen wir beide es vereinigt sein. Wir wollen einander beaufsichtigen, damit das Urteil ein gerechtes werde. Ich will anfangs der Dritte sein, der Zeuge, der dir und mir der vollen Wahrheit gemäß erzählt, wie es zugegangen ist, daß die Hand des Todes mir in mein Inneres griff. Ich sage dir aufrichtig, daß ich dich hier heraufgeführt habe, um dir eine Liebe zu erweisen. Vielleicht bist du es, der sie mir erweist. Ich glaubte, dich nicht nur von dem einen, sondern auch noch von dem andern Tode erretten zu müssen. Nun werde ich zu fragen haben, ob nicht im Gegenteile dir die Aufgabe zufällt, mir zu zeigen, daß ein Toter einen noch Lebenden nicht vor dem Tode bewahren kann.«
Unser Gespräch wurde in diesem Augenblicke unterbrochen. Wir hörten Stimmen, welche vom Vorplatze heraufklangen, und die schlürfenden Schritte langsam durch das Thor kommender Kameele. Zwei Männer sprachen miteinander. Der eine war Tifl, der andere ein Fremder. Dann kam der Pedehr dazu. Dieser schien einige Fragen auszusprechen, die wir nicht verstanden; dann hörten wir deutlich, daß er sagte:
»Steigt ab, und seid willkommen! Ich werde deinen Wunsch unserm Ustad melden.«
Da beugte sich der letztere über die Brüstung vor und rief hinab:
»Wer ist es, mit dem du sprichst, Pedehr?«
»Agha Sibil und sein Enkelkind aus Isphahan,« antwortete der Gefragte herauf. »Er ist den Bluträchern begegnet und bringt uns eine wichtige Kunde.«
»Er sei unser Gast. Ich komme sogleich hinab.«
Hierauf entschuldigte er sich in einigen Worten bei mir, daß er sich für kurze Zeit entfernen müsse, und wollte gehen.
»Erlaube nur einen Augenblick,« sagte ich. »Wer ist der Angekommene?«
»Ein Kaufmann aus Isphahan, welcher von dort aus einen bedeutenden Handel nach dem Innern des Landes treibt. Er versorgt viele der freien Stämme mit allem, was sie brauchen, und ist der Hauptabnehmer auch unserer Erzeugnisse. Seine Leute sind fast immerfort mit Waren unterwegs. Zur Abrechnung aber pflegt er selbst zu kommen.«
Als er mir diese Auskunft erteilt hatte, verließ er mich. Er hatte angenommen, daß meine Erkundigung nur deshalb ausgesprochen worden sei, weil es sich um eine Nachricht von dem Multasim handelte. Ich hatte aber auch noch einen zweiten Grund. Nämlich mein Wirt in Bagdad, der nach Halefs Ausdruck »früher Bimbaschi gewesene und dann Mir Alai gewordene« Offizier Dozorca, hatte mir, wie man sich erinnern wirdSiehe Band I pag. 548., die Namen seiner Familienmitglieder genannt und dabei gesagt, daß sein Schwiegervater Mirza Sibil oder auch Agha Sibil heiße und ein persischer Handelsmann gewesen sei. Nun war ein Kaufmann dieses Namens aus Isphahan hier angekommen. Da mußte ich natürlich sofort an die vermeintlichen Toten denken, welche mein armer Wirt so lange Zeit betrauert hatte. Es lag mir fern, gleich etwas Gewisses anzunehmen; aber dieser Agha Sibil hatte einen Enkel mit, nicht etwa einen Sohn, und dieser Umstand machte den Gedanken in mir rege, daß sich hier in diesem wunderbaren »hohen Hause« gar wohl auch noch eine dritte Art von Auferstehung ereignen könne, nämlich eine Wiederkehr aus dem Lande der Totgeglaubten. Ich war darum gewillt, womöglich mit diesem Kaufmann selbst zu sprechen.
Zunächst aber war meine Zeit für den Ustad in Beschlag genommen, über dessen Vergangenheit ich jetzt einen Bericht zu erwarten hatte, der für mich so wichtig werden sollte, wie ich es jetzt, in diesem Augenblicke, gar nicht ahnte. Wir kurzsichtigen, unwissenden Menschen, die wir auf ganz verkehrten anthroposophischen Wegen wandeln, sind vollständig blind und taub gegen die große Wahrheit, daß der eine sich in dem andern zu erkennen habe. Der Gesamtmensch ist jedem einzelnen derart eigen, daß nicht nur die körperlichen und geistigen Gesichtszüge, sondern auch die Lebensführungen von Personen, die uns bei oberflächlicher Betrachtung als sehr verschieden erscheinen, doch mit absoluter Notwendigkeit große innerliche Aehnlichkeiten, ja oft sogar Gleichheiten besitzen müssen, durch welche die Menschenkenntnis ganz unbedingt zur Selbsterkenntnis werden müßte, wenn wir nicht die fatale Eigenheit besäßen, uns mehr nach bösen als nach guten Menschen umzuschauen und den Zusammenhang mit der Menschheit nur in unser eigenes Belieben zu stellen. Wie sich der Kreislauf des Blutes durch Millionen Körper auf ganz dieselbe Weise vollzieht, so pulsiert in diesen Millionen auch der Geist durch gleiche Adern, und wenn diese letzteren sichtbar vor unsern Augen lägen, so würden wir gar wohl bemerken, daß unter tausend auf den Seciertisch gelegten Geistern es nicht einen einzigen gäbe, der sich sowohl anatomisch als auch in Beziehung auf seinen Vitalismus und das, was ich vorhin Lebensführung nannte, derart von den andern unterschiede, daß es dem Professor nicht mehr möglich wäre, an ihm allein in aller Ausführlichkeit zu demonstrieren, warum alle übrigen nun jetzt mit ihm das gleiche Schicksal haben.
Wer hat jetzt noch Lust, dem kühnen oder vielleicht auch staarkranken Sprachgebrauche zu folgen und Geister zu distinguieren? Während der eine Mensch durch eine ebenso mühevolle wie langweilige Addition selbst bei einem achtzigjährigen Leben nicht dazu kommt, die Summe zu erreichen, wird der andere schon in seinem zwanzigsten Jahre durch eine schnelle Multiplikation zu dieser Summe geführt. Aber jeder einzelne der treu und gewissenhaft zusammengestellten Summanden des ersteren wiegt vor den Augen des höchsten und gerechtesten aller Geister mehr als das ganze durch eine bequemere Rechnungsart vollständig mühelos gefundene Produkt des letzteren. Der kleinste Geist kann groß trotz seiner Kleinheit, der größeste aber klein trotz seiner Größe sein. Unter den Geisterlein und sonst noch spukenden Winzigkeiten, welche mich vorhin bei der Lampe des Ustad belästigten, hat sich wahrscheinlich manche Längstvergessenheit befunden, welche damals, als man sie ihm auszublasen begann, zu den Geistesgrößen gerechnet wurde. Jetzt nun haben diese aus dem Leben geschwundenen Größen in der »Gruft« des »hohen Hauses« traurige Wache zu halten, daß die Lampe ja nicht wieder angebrannt werde!
Es ist mir im Vorhergehenden nicht eingefallen, anzudeuten, daß ich nicht an Geistesgrößen glaube. Sie waren da, sie sind da, und sie werden immer vorhanden sein; aber sie waren und sind es nur für die Menschen, doch nicht für den, der alle Nieren prüft. Er sendet die Jahrhunderte, in deren Verlaufe sich ihre Größe zu bewähren hat, und wenn sie vorüber sind, so waren sie wie ein Tag der heut vergangen ist. Für die nie versiechende Fülle der Ewigkeiten hat dann jeder, selbst der berühmteste Menschenname doch nur diesen einen Tag gelebt. Aber der Segen, den ein Menschenkind dem andern brachte, reißt sich vom Namen los, und wohl dereinst dann dem, dem es vergönnt ist, aus seiner irdischen Berühmtheit emporzusteigen, um dort in diesem Sinne namenlos zu werden!
Woher diese Gedanken? Umwehte mich hier auf dem freien Platze vor der »Gruft« eine jener geistigen Atmosphären, welche sich aus solchen namenlos gewordenen Bestandteilen zusammensetzen? Kamen die vom Staube befreiten Gedanken guter, edler, hoher Abgeschiedenen hier zusammen, um sich da oben im Alabasterzelte zur Fahrt gen Himmel zu vereinigen? Ich konnte mich nicht länger mit ihnen beschäftigen, denn der Ustad kam jetzt zurück und bat mich, mit ihm in die Bibliothek zu gehen. Er griff nach der Lampe, um sie mitzunehmen. Als er sah, daß mein Blick an der Schrift des Schirmes hängen blieb, sagte er:
»Die Liebe hört nimmer auf! Jawohl, die göttliche! Aber diese hier, sie ging für mich zu Ende. Oder hatte sie überhaupt niemals bestanden? Waren diese herrlichen Worte nicht mit dem Herzen, sondern nur mit der Hand gestickt worden? Mit dem kleinen, zarten, schönen Händchen, welches für mich zur Kralle wurde, obgleich ich es so oft, so oft an meine wahrheitstreuen Lippen gedrückt hatte?«
Hierauf trat er zu dem Perlmuttertischchen, zeigte auf das Testament und fuhr fort:
»Gott ist ein Geist! Ich suchte diesen Geist. Ich glaubte, daß er, der alles belebt, auch den Körper der Menschheit beseele. Darum forschte ich in ihr nach ihm. Ich beobachtete sie, wenn sie wachte, wenn sie schlief und wenn sie betete. Im Wachen war sie ihr eigener Gott. Im Schlafen träumte sie nur von sich allein. Und im Beten lag sie vor sich selbst auf allen Knieen! Da stand der Geist des Herrn im Morgenlande auf und ging als Hirt, der seine Herde suchte, von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Herz zu Herz. Ueberall, wohin er kam, rief man ihm Hosiannah zu; dann wurde er verworfen und gekreuzigt. Allüberall, auf jedem Golgatha, sah man den Leib des Herrn an seinem Kreuze hängen. Wo aber blieb der Geist? Der Geist, von dem wir uns in alle Wahrheit leiten lassen sollten? Wo wurde dieser Geist in dieser Wahrheit angebetet? Ich fragte hier auf Erden hin und her. Ich fand wohl manchen Stall und manche Krippe, wo Engel lobgesungen und Hirten, Könige und Weise angebetet hatten. Auch fand ich noch den Duft des Weihrauchs und der Myrrhen, die man dem Geist der Liebe dargebracht; er aber selbst, er hatte sich geflüchtet, dem Haß und seiner Waffe zu entgehen. Wohin? Man sagte: nach Egyptenland.«
Nun berührte er das Manuskript mit seiner Hand, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob er etwas Häßliches oder gar Feindliches berührt habe, und sprach:
»Hier liegt der Leib des Geistes, mit dem ich nach dem Geiste suchen ging. Er starb und ward begraben. Er hörte auf, zu leben, als ich dieses letztgeschriebene Wort vernahm, daß des Menschen Gedanken nicht die Gedanken Gottes seien. Warum sollte ich mit den Gedanken meines Geistes noch fernerhin nach jener Wahrheit suchen, die ich mit ihnen niemals finden kann, weil sie ganz andere als die göttlichen sind!«
Er schaute mich an, als ob er eine Zustimmung von mir erwarte. Ich aber schüttelte leise den Kopf und sagte:
»Du hättest mit diesem Worte nicht aufhören, sondern mit ihm beginnen sollen. Es mußte dir sagen, daß nicht mit der Schärfe des Geistes, sondern mit dem vertrauenden Blicke des Glaubens zu suchen sei. Wärest du mit seinen offenen Augen so, wie du sagtest, "hier auf der Erde hin und her gegangen," so hättest du gewiß nicht leere Krippen gefunden, aus denen der Herr vor Herodes geflohen ist, sondern so manches freundliche Bethanien und so manches liebe Emmahus, wo er vor und nach der Kreuzigung bei den Seinen weilte, um mit ihnen das Brot zu brechen. Meinst du, weil du den Geist des Herrn nicht fandest, können auch andere ihn nicht gefunden haben?«
»Ich fand ihn doch! Oeffne diese Leiche, und lies das erste Wort!«
Als ich die vordere Seite des Manuskriptes aufschlug, sah ich die groß geschriebene Ueberschrift: »Der Glaube ist es, der die Welt überwindet!«
»Nun?« fragte er. »Habe ich nicht gethan, was du sagtest? Bin ich nicht mit dem Glauben suchen gegangen? War er nicht das Alpha dieses Buches? Warum bin ich nicht auf diesem Wege, sondern auf einem anderen zum Omega gekommen?«
»Dein Alphaweg war der Hosiannahweg. Du gingst vom Glauben aus, um den Herrn zu finden. Doch da trat jener Geist zu dir, der den Messias einst versuchte. Dieser siegte; du aber bist unterlegen. Es war nicht Gottes Geist, sondern dein eigener, nach dessen Ruhm du fortan suchen gingst. Du fandest ihn, den gleißnerischen, falschen. Man rief dir Hosiannah zu, obgleich es nur ein Esel war, auf welchem du durch die schreiende Menge rittest. Er trat mit seinen Hufen die Palmenzweige deines Ruhmes nieder. Sie waren es auch wert! Denn schon begannen Stimmen hinter dir das »Kreuzige« zu rufen –«
»Effendi!« unterbrach er mich erstaunt. »Du weißt es, was geschah? Wie kannst denn du es wissen?!«
»Nur ich? Das weiß doch jedermann! Wer nach der Wahrheit strebt, hat durch den Jubel sogenannter Freunde hinauf nach Golgatha zu steigen, um von ihnen verlassen, von den Feinden aber gezwungen zu werden, seinen Geist aufzugeben.«
»Seinen – Geist – aufzugeben!« wiederholte er. »Wie wahr, wie wahr das ist! Sage mir: Hat man es zu thun? Muß man es thun?«
»Warum fragst du mich, den Sterblichen? Frage den, der uns noch heut dadurch erlöst, daß er uns vorangestorben ist! "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" so rief er aus, indem er von seinen Leiden Abschied nahm. Sag mir, o Ustad, hast du dieses sein Beispiel befolgt? Hast du, als man dich deines Geistes wegen marterte, ihn so, wie er den seinen, dem Herrn befohlen? Hier liegt die Leiche; so sagtest du. Wohin aber ist ihr Geist gegangen? Hast du dich zwingen lassen, ihn aufzugeben? Hättest du ihn in die Hände seines Herrn gelegt, so würde er in diesem seinem Leibe wieder auferstehen können, wie einst Isa Ben Marryam in ganz demselben Leibe auferstanden ist!«
Da setzte der Herr des »hohen Hauses« die Lampe langsam, langsam wieder auf den Tisch.
»Warte, Effendi!« sagte er.
Dann ging er hinaus ins Freie, Schritt um Schritt, als ob er plötzlich eine schwere Last zu tragen habe. Als er schon draußen war, drehte er sich noch einmal um.
»Glaubst du an eine Auferstehung solcher Toten?« fragte er.
»Ja!« antwortete ich.
»Wirklich?«
»Ich glaube nicht nur an sie, sondern ich kenne sie sogar!«
»Du?«
»Ja, ich!«
»So wollte ich, ich wäre du!«
»Du kannst und darfst es sein; du brauchst es nur zu wollen!«
»Effendi, Effendi! Für wen wurde hier diese Lampe wieder angebrannt? Für dich? Für mich? Für uns beide? Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr! Warte! Laß mir Zeit!«
Während er nun draußen vor der Thür verschwand, nahm ich das noch offen vor mir liegende Manuskript, um es zuzuschlagen. Es fiel mir der Titel in die Augen. »Geist und Wahrheit« lautete er. Da setzte ich mich nieder, das Buch in der Hand behaltend. Es war mir, als sei ich plötzlich müd, sehr müd geworden. War es eine wirkliche, körperliche Schwäche, die mich überkommen hatte, oder mußte ich mich unter der intellektuellen Wucht dieser beiden Worte niedersetzen? Wer ist der Mensch, daß er es wagt, trotz allem, was ihm dazu fehlt, an eine solche Arbeit zu treten?! Dieses Buch war ganz gewiß in jener Zeit der Jugend begonnen worden, für welche das Land der Möglichkeit fast ohne Grenzen ist. Wenn dann das Alter alles, was unter größter Kraftanstrengung für die Unmöglichkeit geleistet wurde, als unbrauchbar vernichten soll, so geschieht dies fast nie, sondern es wird in allen Winkeln aufgestapelt, um dann irgendeinem infallibeln Pessimisten als Beweis dafür zu dienen, daß auf der Erde alles, alles eitel sei.
Es verlangte mich, dieses Manuskript lesen zu dürfen, und doch wäre ich wohl kaum mit Lust an diese Arbeit gegangen, weil ich mir ja sagen mußte, daß ich nicht damit einverstanden sein könne. So saß ich lange Zeit in beinahe trüben Gedanken da, bis der Ustad wieder hereinkam und mich abermals bat, mit ihm in die Bibliothek zu gehen.
Ich stand auf und ließ unwillkürlich einen forschenden Blick an seiner Gestalt niedergleiten. War er ein anderer geworden? Es hatte sich weder an seiner Figur noch überhaupt an seinem sichtbaren Menschen etwas verändert. Und doch war es mir, als ob er nicht mehr so vor mir stehe, wie er mir unten an meinem Lager erschienen war. Es wollte mich eine Art von Beschämung über diese meine Undankbarkeit beschleichen; aber gegen dieses Gefühl stand in mir etwas auf, was mächtiger und, wie ich jetzt weiß, auch richtiger und gerechter war und mich aufforderte: »Schmeichle nicht dir selbst, indem du ihn zu schonen scheinst. Die Sonde, welche du an ihn legst, muß dich so wie ihn schmerzen!« Er sah diesen meinen Blick auf sich ruhen und fragte mich:
»Du schaust mich an. Du hast mein Werk da in der Hand. Lasest du vielleicht darin.«
»Und darum dieser dein Blick?«
»Ja.«
»Ich verstehe dich. Geist und Wahrheit! Vielleicht hätte es besser geheißen: Geist oder Wahrheit!«
»Auch das nicht.«
»Also weder "und" noch "oder"!«
»Glaubtest du, dem Geiste, der Wahrheit durch Konjunktionen oder zufällige Konjunkturen nahetreten zu können? Indem du diesen Titel schriebst, hattest du das Werk geschrieben. Du brauchtest es gar nicht zu beginnen. Es mußte unvollendet bleiben. Aber der Geist, der sich an diese Aufgabe wagte, durfte trotz Kaiphas und Pilatus nicht von dir aufgegeben werden. Ich bin überzeugt, daß er Besseres, Edleres und Höheres erreicht hätte als alles, alles das, was hier auf diesen beschriebenen Blättern zu lesen ist. Möchte er doch nicht gestorben sein, sondern nur schlafen, um wieder erwachen zu können!«
»Ob er tot ist oder nur schläft, das wünsche ich, jetzt mit dir erfahren zu können. Ich will dir erzählen, wie er entstand und wie er von mir ging. Es wird keine lustige Geschichte sein.«
»Geschichte? Auf keinen Fall! Ist er tot, so hältst du seine Leichenrede. Gleicht er aber jenem Nichtverstorbenen, von welchem Christus sagte: unser Freund schläft, so wird es keine Erzählung, sondern eine Auferweckung sein. Da stehen wir vor der Thür des Raumes, in welchem du erzählen willst. Mir ist, als ob in mir jene Stimme klinge, welcher im Besitze des Höchsten, der da lebte, die Macht über den Tod gegeben war: Lazare, komm heraus!«
Da legte er seinen linken Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. Ich schlang meinen rechten warm um ihn, und so traten wir beide hinein, innig vereint, als ob wir eine und dieselbe Person bedeuteten.
Er stellte die Lampe auf den großen Tisch, führte mich zu einem Sitze, auf den ich mich niederließ, schob die beiden Hände in die Gürtelschnur und ging dann eine ganze Weile schweigend auf und ab. Hierauf lehnte er sich mit dem Rücken an den Tisch, so daß der Lichtschein sein Gesicht nicht traf, und sagte:
»Höre meine Einleitung, Effendi!«
Ich nickte. Da begann er:
»Die Geschichte einer jeden Anbetungsform hat eine Zeit des Martyriums, der Verfolgung um des Glaubens willen, aufzuweisen. Ich meine hier die Verfolgung mit der Todeswaffe. Wenn dem Religionshasse diese Waffe entzogen worden ist, zieht er sich, rachsüchtig grollend, in den Schutz seiner Lehrsätze zurück, um aus ihnen heraus, die er für uneinnehmbare Mauern hält, auch fernerhin die Andersgläubigen nach Möglichkeit zu schädigen. Es giebt wohl nur wenige Breitengrade der festen Gotteserde, welche nicht die Spuren davon tragen, daß der Mensch keine andere Verehrung Gottes, als nur die seinige dulden will, obgleich es doch wohl allein Gottes Sache wäre, zu bestimmen, in welcher Weise der Mensch zu ihm zu sprechen habe. Dieser aber ist so verwegen, dem Herrn vorzuschreiben, was er zu dulden oder nicht zu dulden habe, und wenn die Berechtigung zu dieser Vorschrift von irgend einem andern angezweifelt wird, so ist man schleunigst mit der Behauptung da, daß sie ja Gottes eigene Offenbarung sei. Im Besitze dieser Offenbarung gebärdet man sich, als ob man den Himmel mit seiner ganzen Seligkeit in Pacht genommen habe und nun ganz nach eigenem Gutdünken am Eingange zu demselben eine Warnungstafel anbringen müsse, auf welcher in den drohendsten Worten zu lesen ist: "Der Zutritt ist nur solchen bevorzugten Personen gestattet, welche mit einer eigenhändig unterschriebenen Erlaubniskarte seiner Pächterlichen Hochgnaden versehen sind. Wer ohne diese Bescheinigung hier einzudringen wagt, der wird augenblicklich mit dem leiblichen, geistlichen und ewigen Tode bestraft!" – Hast du gegen diese meine Ausführung etwas einzuwenden, Effendi?«
»Soll ich aufrichtig sein?« fragte ich.
»Ich fordere es von dir!«
»So wisse: Du stehst als Personifikation deines Lebens, von dem du jetzt erzählen willst, vor mir. Es ist ein individuelles Leben. Deine Ansichten sind die Ergebnisse desselben. Ich habe sie also als individuelle Meinungen zu betrachten, nicht aber als Gottesbotschaften, die für mich maßgebend sein sollen. Ich bin, wie ich hoffe, ein vernünftiger Mensch. Als solcher habe ich nicht nur den ernsten Fleiß zu achten, mit welchem du nach Erkenntnis strebtest, sondern auch die Früchte dieses Fleißes, die du so aufrichtig bist, mir vorzulegen. Ich weiß, daß du mich nicht zwingen willst, sie zu genießen, und habe also nicht den geringsten Grund zu einem Lobe oder Tadel. Sprich also ruhig weiter!«
Wahrscheinlich hatte er eine andere Antwort erwartet. Er sagte es aber nicht, sondern fuhr gleich fort:
»Hast du vielleicht einen solchen angeblich von Gott gepachteten Himmel kennen gelernt? Ich nicht nur mehrere, sondern viele. Wie sonderbar, daß sie einander alle so außerordentlich ähnlich sind! Und weißt du, was so ein allgewaltiger Vertreter Gottes für den Pacht bezahlt? Was von dem ihm gebrachten Weihrauche übrig bleibt, das schickt er dem Herrn hinauf. Weiter nichts! Und nachdem er sämtliche Verneigungen und Verbeugungen für sich hingenommen hat, ist er so gütig, nun auch seinerseits Gott einen Knicks zu machen. Weiter nichts! Denn dieser Gott ist so ganz ewige Liebe, Gnade, Geduld und Gutmütigkeit, daß der Usurpator seines Himmels gar nicht an einen Tag der Abrechnung zu denken hat, an welchem er sicher der erste aller derer ist, die hinausgeworfen werden! Da wirst du mich fragen, wie es sich mit der ewigen Gerechtigkeit verträgt, solchen übermütigen Himmelspächter so lange, lange Zeit im Paradiese sitzen zu lassen. Mein Freund, es ist ja gar nicht der Himmel, in dem er sich festgesetzt hat, sondern jene einstige, herrliche, nun aber zur Wüste gewordene Gedankenwelt, in welcher jedes folgende Kameel genau in die Stapfen des vorangehenden zu treten hat, wenn es nicht von dem Führer gezwungen werden will, auf die Vorderbeine zu fallen, um die Peitsche zu bekommen.«
Ich wollte hier eine berichtigende oder wenigstens mildernde Bemerkung machen. Er wies sie aber durch eine rasche und energische Bewegung seiner Hand zurück und sprach weiter:
»Ich weiß alles, was du sagen willst, alles! Du hast gemeint, ich wolle als Personifikation meines Lebens vor dir stehen, als Individuum. Nun lasse es mich auch sein! Ich hatte die Absicht, anders zu sprechen. Ich wollte mit der Stimme der Menschheit reden. Du aber hast mich darauf gebracht, als Einzelwesen mich jener Zunge zu bedienen, mit welcher mich Haß und Neid aus den Straßen des Lebens hierher in diese meine Einsamkeit verwiesen. Ich danke dir, daß du mir dies ermöglicht hast! Ich werde nicht die Unwahrheit sagen, auch nicht übertreiben, sondern alles bei dem rechten Namen nennen. Aber fordere nicht von mir, zu schweigen oder gar zu beschönigen und mißzuloben, wo man gegen mich nicht einmal Nachsicht hatte. Der Gemarterte hat keine andern Töne als die, welche ihm der Schmerz erpreßt. Und wenn ich jetzt in der Erinnerung von meinen Bergen aus zurück nach jenen Gegenden steige, in denen ich die größten Qualen erduldete, die ein Mensch erleiden kann, so wundere dich nicht, daß ich nicht im Tone eines Mannes erzähle, der seine Feinde vergessen hat!«
»Ich würde es dennoch thun!« warf ich ein.
»Du? Wirklich?«
»Ja.«
»Ich glaube es dir. Christus sprach ja: Liebet eure Feinde! Aber er war der Gottmensch, und du hast mich auf das Individuum, auf meine spezielle Persönlichkeit zurückgeführt, und so soll sie es sein, welche ich jetzt sprechen lasse. Ich fordere dich auf, dich als die Gesamtheit meiner Feinde zu betrachten. Zu ihr will ich weiter reden, nicht zu dir, dem das Leben nur Sonnenschein und die Menschheit gewiß nur freundschaftliche Anerkennung gegeben hat!«
Da war ich still! Ich sagte kein Wort, kein einziges! Aber mein Gesicht schien nicht ganz so verschwiegen zu sein, wie ich es wünschte, denn er fragte:
»Was hast du für ein eigenartiges Lächeln, Effendi? Gilt es mir?«
»Nein. Bitte, sprich weiter! Du sagtest, daß du viele jener gepachteten Himmel kennen gelernt habest?«
»Ja. Indem ich dir einen von ihnen beschreibe, lernst du mit ihm auch alle anderen kennen. Also höre! Ich kam auf meinem Pferde Imtichat vom Dschebel Din herab in ebenliegendes Menschenland. Da kehrte ich ein und erfuhr, daß hier der Weg zum nahen Paradiese sei. Ich ließ mir diesen Weg zeigen und folgte ihm. Die Leute, welche mir begegneten, schienen alle sehr fromm zu sein. Sie hielten die Hände gefaltet und schlugen die Augen ganz anders auf, als man für gewöhnlich thut. Bewohnte Zelte und Häuser gab es gar nicht mehr, dafür aber lauter Gebäude, welche Allah geweiht waren, wenn auch unter anderen Namen. Ich sah Moscheen neben hochfensterigen Bauten, an denen Türme standen, indische Tempel und chinesische Pagoden, malayische Götterhäuser und amerikanische Medizinzelte, hottentottische Götzenhütten und die in die Erde gegrabenen Andachtslöcher der Australen. Viele, viele Menschen strömten vor mir her. Sie alle wollten in den Himmel. Aber fast ebenso viele kamen traurig zurück, weil sie nicht hineingedurft hatten. Ich fragte sie, warum, und erfuhr, daß sie nicht im Besitze von Erlaubnisscheinen gewesen seien. Da ritt ich weiter. Das Gewühl wurde immer größer, bis ich das Thor des Himmels vor mir sah. Da hielt die Menge an, weil sich quer über den Weg das Chabl el Milal spannte. Ich war nicht da, um schon jetzt in den Himmel zu kommen und dort zu bleiben, sondern nur, um ihn zu prüfen. Darum ging mich dieses Seil nichts an. Ich spornte mein Pferd, und es sprang darüber weg. Nun befand ich mich auf dem freien Platze vor dem Thore des Paradieses. An der sehr, sehr hohen Mauer standen herrliche Palmen, Bäume und Sträucher, welche prächtig zu blühen schienen. Aber da ich keinen Duft bemerkte, schaute ich schärfer hin, und da sah ich denn, daß es keine wirklichen, sondern nur gemalte waren. Nur ein einziger von allen war ein wirklicher Baum, aber ein höchst sonderbarer. Er war sehr niedrig, doch unendlich breit. Blüten und Früchte trug er nicht, aber Tausende von eigentümlichen Blättern, welche die Form menschlicher Köpfe hatten, die lebendig zu sein schienen, denn sie bewegten die Augen immerfort, wobei sie mit den nie schweigenden Lippen plapperten. Ich drehte mich um und fragte einen der Dastehenden, was das für eine seltsame Pflanze sei.
"Das ist der Baum El Dscharanil," wurde mir geantwortet. "Kennst du ihn nicht? Er wurde hierher gepflanzt, weil der Baum der Erkenntnis, der einst mitten im Paradiese stand, abgestorben ist. Seitdem muß man die Blätter des El Dscharanil fragen, wenn man wissen will, ob man das Wohlgefallen Allahs besitze oder nicht. Denn nur sie allein sind es, denen er alle Geheimnisse seines Ratschlusses anvertraut, sonst niemandem weiter auf der ganzen Erde."
Kaum hatte ich dies erfahren, so wurde ich von einigen der Blätter gesehen. Es erhob sich erst ein unverständliches Flüstern. Dieses wurde immer lauter, je mehr Augen sich auf mich richteten, bis sich endlich alle Lippen bewegten und meinen Namen riefen. Infolge dieses vereinten Geschreies thaten sich alle in der Nähe liegenden Thüren auf, und über mich ergoß sich eine Menge von Gestalten, von denen ich erdrückt worden wäre, wenn ich nicht hoch auf dem Pferde gesessen hätte. Ich spornte es zu einigen Seitensprüngen an, so daß ich freien Raum gewann, und fragte, was man wolle. Die Antwort erklang in allen Sprachen, die es auf der Erde giebt. Die mich Umringenden waren ja auch in die Trachten aller Völker gekleidet. Jeder von ihnen hatte etwas in der Hand, was er sein "heiliges Buch" nannte, und jeder von ihnen versicherte, daß er der einzig und allein berechtigte Aussteller der hier vorzuzeigenden Erlaubniskarte sei. Ich aber machte kurzen Prozeß mit ihnen allen und verlangte die Unterschrift dessen zu sehen, von dem man diesen Himmel gepachtet habe. Das hatte noch niemand gethan, und darum waren sie von dieser meiner Forderung so verblüfft, daß sie alle wieder in ihren Thüren verschwanden. Ich konnte also ungehindert durch das Thor des Paradieses reiten. Doch als ich an dem Baum der Neugierde und Geschwätzigkeit El Dscharanil vorüberkam, riefen alle seine Köpfe in einem und demselben Tone:
"Er kommt zwar hinein, doch niemals wieder heraus. Wer dieses Himmelreich betritt, der ist verloren. Dafür haben wir gesorgt, wir, die Gottesstimmen!"«
Hier machte der Ustad eine Pause. Welch ein Bild er mir da vor die Augen stellte! Fremdartig, aber nicht ganz unwahr. Was ich als gerecht denkender Beobachter dagegen zu sagen hatte, das hob ich mir für später auf, weil sein Gedankengang zu interessant war, als daß ich ihn in demselben hätte stören mögen. Er sprach auch sehr bald weiter:
»Sobald ich das Thor hinter mir hatte, blieb ich, mich umschauend, halten. Wie groß war mein Erstaunen, als ich nichts, aber auch gar nichts zu entdecken vermochte, was ich hätte himmlisch oder paradiesisch nennen können! Ich befand mich in einer unbeschreiblich kahlen, öden, leblosen Traurigkeit. Man hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, die Innenseite der Mauer ebenso zu bemalen wie die äußere. Die Malereien da draußen waren angebracht worden, durch die mit ihnen bezweckte Täuschung die kurzsichtigen und vertrauensseligen Gläubigen anzulocken. Da man aber keinen, der das Chabl el Milal hinter sich hatte, wieder zurückkehren ließ, so hielt man es nicht für nötig, diese Beschönigungen dann im Paradiese fortzusetzen. Ich sah weder Baum noch Strauch. Kein Wasser floß. Kein Weg war zu erkennen. Nichts als verwehte Spuren im ausgetrockneten, unfruchtbaren Sande, so lag vor meinen Augen das sogenannte Eden, von welchem die "Erleuchteten des Herrn" in hundert Zungen der Verzückung sprachen! Es mußte jedem Fuße grauen, einen Vorwärtsschritt in diese wüste Hoffnungslosigkeit zu wagen. Und doch schien man es für ganz selbstverständlich zu halten, daß jeder Angekommene diese ihn ganz unvermeidlich packende Angst zu überwinden habe. Es war dafür gesorgt, daß kein am Eingang Stehengebliebener den Nachfolgenden diese seine Bangigkeit verraten konnte. Es gab hier schnellbereite Wesen, welche ihn sofort wegzuschaffen hatten. Sie standen zu beiden Seiten des Thores, um, hinter der Mauer versteckt, bei jeder neuen Ankunft als vorzüglich auf den Mann dressierte Kameele und Esel schnell herbeizueilen, damit niemand Zeit finde, bedenklich zu werden. Auch als ich erschien, rührten sie augenblicklich die Beine. Da aber sahen sie mein Pferd. Das war genug für sie, mir fern zu bleiben. Wie bei den Menschen alles Unedle von dem Edlen abgestoßen wird, so auch hier bei diesen Tieren. Ich nahm mir Zeit, sie zu betrachten. Die Esel waren alle von tiefdunkelster Farbe, klein, fast winzig, doch mit so hochgehendem Sattelgestell, daß der Hinaufgekletterte sich wohl sehr erhaben vorkommen konnte. Anstatt des gebräuchlichen Riemenzeuges gab es nur eine kurze Aufsatzleine, welche das Maul des Esels so in die Höhe zog, daß die Augen nichts mehr von der Erde, sondern nur noch den Himmel sehen konnten. Das war so tierquälerisch, daß ich den Kopf über den Unverstand schütteln mußte, der zu dem Naturzwange, zu allem immer nur "Ja" sagen zu müssen, auch noch diese "Köpfe-hoch-Dressur" zu fügen weiß! Aber dieses Zuviel für das Tier hatte man durch ein Zuwenig für den Reiter ausgleichen zu müssen gemeint: Es gab für ihn keinen Zügel, um den Esel zu lenken. Er mußte einfach dorthin, wohin der letztere abgerichtet worden war.«
Der Ustad hatte während dieser Beschreibung mit gebeugtem Kopfe nur in sich hineingeschaut. Jetzt sah er mich an und fragte:
»Hast du mich verstanden, Effendi?«
»Ja,« nickte ich.
»Willst du etwas dazu bemerken?«
»Jetzt nicht, sondern später, wenn du fertig bist. Ich könnte ja nicht ganz und voll antworten, wenn ich dich nur halb sprechen ließe. Also bitte, weiter!«
»Ja weiter: die Kamele! Du kennst die edlen, herrlichen Bischarihn-Hedschihn, welche für Geld fast nie zu haben sind. Ihre Vornehmheit wird durch Stammbäume nachgewiesen. Du kennst auch das unvergleichlich nützliche bucharische oder turkistanische Kamel, ohne welches es in jenen Gegenden der Erde weder Leben noch Bewegung geben könnte. Doch kennst du auch jene tief verkommene Art des Kameles, welche bei euch in ungesunden, lichtlosen Ställen gezogen wird, um in Gesellschaft von Bären, Stachelschweinen und Murmeltieren dressierte Affen durch die Welt zu tragen? Als ich noch Knabe war, fand ich sie sehr belustigend. Seitdem ich aber edle Rasse kenne, thut mir der Anblick solcher Tiere wehe. Man sagt, daß diese Zucht vorzugsweise von Italien ausgehe. Wenigstens pflegen die Führer solcher Sehenswürdigkeiten, welche fast immer Virtuosen auf der Sackpfeife sind, nach welcher Bär und Affe tanzen müssen, meist italienischen Geblütes zu sein. Nun denke dir ein solches, im tiefsten Schmutze geborenes und mit der Peitsche erzogenes Kamel, mit Dornen und Disteln gefüttert und mit schmutzigem Wasser getränkt, nie vom Ungeziefer gereinigt, ein vom Hunger und Elend gefügig gemachtes Skelett mit haarlos geschundener Haut und wundem Gehufe, so hast du ein Bild der Kamele, die hier in dem Himmelreich standen, von fettreichen Pächtern entmagert, für die sie die Qualen zu dulden und sich schweigend zu opfern hatten! Ihre tiefhängenden Köpfe waren mit Doppelstricken an beide Kniee gefesselt, so daß sie nie den Himmel, sondern nur die Erde in den Augen hatten. Zum Kniebeugen reichten diese Stricke aus, doch nicht dazu, das Haupt emporzuheben. Und einen weiten, freien Schritt zu thun, auch das litt diese ihre Fessel nicht. Sie konnten nur behutsam vorwärtsschleichen und hatten nichts zu thun als das, was die Dressur befahl. An ihren Mäulern hingen Lippenkörbe, damit sie gegen Züchtigungen sich ja nicht wehren könnten und ja nicht von den giftigen Kräutern fräßen, an denen zwar sogar Kameele sterben, die aber für die Zwecke solcher Paradiese besonders wertvoll sind. Die Sättel waren hohe Throngestelle, mit farbenreichem Teppichwerk belegt, mit Fransen- und mit Federschmuck behangen, so daß der Reiter, falls es ihm gelang, sich auf der stolzen Höhe festzusetzen, und wenn er jene Phantasie besaß, die leidenschaftlich gern auf Höckern reitet, sich leicht als Allahs Liebling dünken konnte. – Hast du auch dieses Bild verstanden, Sihdi?«
»Ja,« antwortete ich. »Es ist ja deutlicher, als ich es geben möchte. Ich bitte dich, dein Pferd nun abzuwenden!«
»Ich habe es gethan. Ich ritt davon, mit offenem Auge in dieses vielgerühmte Himmelreich hinein. Fragst du mich vielleicht, wie lange es dauerte, bis ich es kennen gelernt hatte? Ein ganzes, ganzes Menschenelend lang! Soll ich beschreiben, was ich sah, was ich entdeckte? Wer kann Unbeschreibliches beschreiben! Schon gleich am ersten Tage blieb ich nicht allein. Der Menschheitsjammer kam zu mir und weinte mir aus tiefen Augenhöhlen zu. Er hat mich nicht verlassen bis zum letzten Schritt. Das Erdenweh gesellte sich zu mir. Es kroch zu mir aufs Pferd und schlang die Arme fest um meine Hüften. Des Lebens Elend faßte meinen Bügel und schleppte sich an meiner Seite weiter. Es kam die Not gerannt und griff in die Kanthare, um mich in meiner Richtung zu beirren. Wenn sich die Dämmerung senkte, tanzten die Schatten des Verbrechens vor mir her, und in der stillen Nacht begannen Schuld und Strafe hinter mir zu heulen. Ich ritt wochenlang durch Trümmerstätten, in denen mich der hohnlachende Menschenwahn als Gespenst der Vernichtung begrüßte. Ich kam über schier endlose Gräberfelder, aus deren Höhlen das irre Gekicher der Unduldsamkeit schrillte. Ich sah Tempelruinen, in denen der Unverstand im tiefsten Stumpfsinne hockte. Um die zerbrochenen Säulen einstiger Heiligtümer schlug die Narrheit ihre widerlichen Capriolen. An ausgetrockneten Quellen träumte die Gleichgültigkeit in Lumpen, die ihre Blöße kaum bedecken konnten. Die Scheinheiligkeit andächtelte vor eingestürzten Kapellen, für deren Erhaltung sie keine Hand gerührt hatte. Zuweilen tauchte am Horizonte einer jener Reiter auf, welche Einlaßkarten besessen hatten; aber sein Tier wendete sich sofort zur Flucht, sobald es sah, daß ich kein Kamel und keinen Esel ritt. Und wenn sich irgendwo noch ein anderes Wesen in diesem starren Himmelreiche zeigte, so hatte ich entweder einen listigen Fennek gesehen, der mit Lammesaugenaufschlag schnell verschwand, oder es war ein fraßgieriger Dibb, welcher mit eingezogenem Schwanze und heuchlerisch gesenktem Kopfe von weitem an mir vorüberschlich.«
Hier ließ der Ustad eine weitere Pause eintreten. Ich war ihm mit großem Interesse gefolgt. Nun fühlte ich eine Lücke in seiner Darstellung. Darum fragte ich:
»Aber alle die Unzähligen, welche Einlaß bekommen haben? Sie können dir doch nicht so einzeln erschienen und gleich wieder verschwunden sein!«
»Nein,« antwortete er. »Ich kann sie dir leider nicht ersparen. Meinst du vielleicht, dieses Paradies sei von einer himmlisch friedfertigen, sich gegenseitig liebenden und stützenden Bevölkerung bewohnt? Glaubst du, dort einen Hirten und eine Herde zu finden? Ich kenne so gut wie du das verheißende Wort: "Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das wird von Gott bereitet denen, die ihn lieben." Welche unbeschreiblichen Glückseligkeiten aber waren es, welche ich zu sehen und zu hören bekam? Höre und staune! Hast du schon einmal vernommen, daß es unter den wilden Tieren welche giebt, die sich von ihresgleichen zurückgezogen haben und sie so grimmig hassen, daß sie jedes, welches in ihren Bereich kommt, sofort zerreißen oder sonst vernichten?«
»Ja. Dies ist besonders bei den Elefanten, Nashörnern, Löwen, Tigern und andern Raubtieren der Fall. Man pflegt solche Exemplare "Einsiedler" zu nennen.«
»Nun, so wisse, daß es in diesem Himmel keine andern Bewohner als nur solche "Exemplare" giebt! Sie wohnen nicht zusammen, sondern als Einsiedler, weil keiner dem andern traut. Jeder ist an einer besondern Kluft oder Höhle von seinem Esel oder Kamele gestiegen. Dort wohnt er nun und verteidigt sie bis auf das Blut gegen jeden, der nicht seiner Meinung über den Himmel ist. Da es aber der Meinungen so viele und so verschiedene giebt, wie Individuen vorhanden sind, so herrscht zwischen ihnen allen eine Feindseligkeit, vor welcher wir selbst im Erdenleben erzittern würden. Jede Kluft und jede Höhle ist ein Götzentempel, in welcher der Bewohner sich selbst als seinen eigenen Fetisch verehrt. Er behauptet zwar, Gott anzubeten, zwingt aber diesem Gott seine eigenen Gedanken auf und setzt sich also über ihn. Die Folge dieser Selbstübergötterung ist, daß sich keiner dieser Götter an den andern wagt, weil er sonst von ihm herausgebissen wird. Das, Effendi, das ist dieser Himmel! Ueber ihm brennt die ewig glühende Sonne der alles verdorrenden Selbstgerechtigkeit, die auf Raub ausgeht wie jener listige Fuchs und jene heimtückische Hyäne, welche selbst hier im Paradiese nur niedere Lurche oder erdfarbige Kerbtiere zum Fressen finden. Wie froh war ich, als ich meine Wanderung vollendet hatte! Ich fühlte mich wahrhaft selig, diese falsche Seligkeit verlassen zu können. Als ich das Thor wieder erreichte, warfen uns die dort stehenden Esel und Kamele Blicke des unendlichsten Neides zu, daß wir es uns gestatten durften, dieses entsetzliche Elend zu verlassen. Die Pächter aber strömten herbei, um mich ihr Paradies preisen zu hören. Ich teilte ihnen aber mit, daß ich den Menschen die volle Wahrheit sagen werde. Da erhoben sie ein lautes Wutgeschrei. Im Baume El Dscharanil begann es zu rauschen. Alle seine Augen waren drohend auf mich gerichtet. Die Köpfe schüttelten sich, und von den Lippen ertönte ein Geheul, daß das Seil El Milal vor mir zersprang. Die Esel und Kamele jenseits des Thores stimmten jammernd ein. Ich aber ritt davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen, gleichviel, ob ich für feig gehalten wurde oder nicht. Wer sich aus einem solchen Himmel herauszuretten weiß, der muß wohl Mut besitzen!«
Er schlug bei diesen Worten die Hände zusammen, als ob er jetzt noch froh über diesen glücklichen Ausgang sei. Hierauf ging er einige Male in langsamen Schritten durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und fragte:
»Hast du jemals geahnt, daß es so ein Paradies giebt, Effendi?«
»Es giebt dieser Paradiese viele,« antwortete ich, mein Auge zu ihm erhebend. »Warum hast du damals nach keinem anderen gesucht?«
»Welche Frage! Ich verstehe dich nicht!«
»Du erzähltest mir ja, daß du vom Dschebel Din herab in ebenes Menschenland gekommen seist. Warum hast du deinen "Berg des Glaubens" überhaupt verlassen? Mußtest du das? Und wenn du es mußtest oder wolltest, was bewog dich da, das geistige Tiefland, die Ebene, die Wüste aufzusuchen, wo kein Gedanke in die Höhe strebt, sondern nur darnach, sich über die Fläche auszubreiten?«
»Maschallah!« rief er erstaunt aus. »So, also so betrachtest du das, was ich erzählte?«
»Natürlich! Wie anders denn?«
»Ich habe von Menschen gesprochen!«
»Gewiß! Aber besteht der Mensch nur aus seinem Körper? Sprechen wir einmal nicht von der Seele, sondern sagen wir, daß der Mensch aus Leib und Geist bestehe. Der Leib wird sterben, der Geist aber nicht. So lange wir sowohl auf den Körper als auch auf den Geist Rücksicht nehmen, leben wir das wohlbekannte Erdenleben, welches ich als "das erste" bezeichnen will. Wer aber so stark gewesen ist, alle Rücksicht auf den Leib und seinen Zusammenhang mit dem Menschheitskörper zu überwinden und hinter sich zu werfen und sich nur noch als Geist zu betrachten, während der Leib für ihn gestorben ist, der lebt schon hier vor der Auflösung dieses letzteren ein anderes, neues, höheres Leben, welches ich einstweilen, aber auch nur einstweilen "das zweite" nennen will. Denn es giebt Menschen, deren Geist sich nicht zur Individualität gestaltet. Wenn diese Stufe für mich auch ein Leben ist, so muß ich sie das "erste" Leben nennen und die vorhin erwähnten beiden Stufen als "zweites" und "drittes Leben" bezeichnen. Nun sage mir, o Ustad, von welcher dieser Stufen aus, auf der du dich befindest, hast du mir jetzt soeben den allerniedrigsten Himmel beschrieben, den ich mir nur denken kann? Ich wollte, ich dürfte dir einmal einen andern Himmel, vielleicht den meinigen, beschreiben!«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja. Ganz so, wie du den von dir beschriebenen! Vor meinem Himmel giebt es kein Seil El Milal, keinen Baum El Dscharanil und keine Wandmalereien. Ihn hat sich auch kein Pächter angemaßt, und an der Straße, die zu ihm führt, stehen keine Götzenhäuser. Auch giebt es keine Mauer und kein Thor. Es führen so viel Wege hinein, wie es Menschen giebt. Er steht ihnen allen offen, wenn sie nur kommen wollen. In diesem meinem Gedankenparadiese ist nichts versunken, vernichtet und vergessen. Da ragen die Gottesideen vergangener Jahrtausende noch so hoch wie damals im Morgenrot empor. Und in der Abendröte erglänzen die neuen, hohen Ideale zukünftiger Jahrhunderte, um zu Wirklichkeiten zu werden, wenn die Menschheit morgen oder übermorgen sagt:
Was sprachst du von Ruinen und Gräberfeldern? Dem Geiste sind sie unbekannt! Was er einst mit der Hand des Körpers baute, war für den Körper, aber nicht für ihn. Es war ja nur das Erdenabbild dessen, was er für sich im Geisterreich gebaut. Und dieser hochgelegene Bau ist ewig. Sein Abbild mag zerfallen, das Urbild aber trifft kein Zahn der Erdenzeit. Wenn du mit deinen körperlichen Augen dein Paradies in Trümmern und im Tode liegen sahst, so breitet sich in Himmelshöhe über ihm das meine aus, und alles, was bei dir in Schutt zerfallen ist, das blieb im Originale des Meisters mir erhalten. Und so, wie jedes Werk in meinem Himmel edler ist als in dem deinigen, so sind auch alle Menschen besser als die deinen. Du richtest sie. Ich habe nichts zu richten. Vielleicht verzeihst du ihnen. Doch ich verzeihe nicht. Warum? Man hat mir nichts gethan! Vor meinem Paradiese steht jede Feindschaft still. Sie wagt sich nicht herein. Und weil sie mich also nicht treffen kann, so giebt es für mich nichts, was ich verzeihen dürfte, so gern ich es auch möchte.«
»So hat es ganz gewiß den Baum El Dscharanil für dich niemals gegeben!«
»Ich kenne ihn! Du hast ihn an das Paradies der Selbstgerechtigkeit gesetzt; das heißt, an seine rechte Stelle. Auch ich habe ihn dort stehen sehen, diesen Baum der sehenden und sprechenden Blätter, der Zeitungen, der öffentlichen Presse. Doch schaute ich ihn anders an als du. Das Reich des Geistes hat die größte Aehnlichkeit mit dem Reiche der sichtbaren Natur. Es giebt hier wie dort keine Entwicklung, die nicht von unten nach oben zu gehen hätte. Ihre Aufgabe ist die Trennung von der niederen Materie und die Gestaltung zum selbständigen, sich frei bewegenden Einzelwesen. Lächle nicht, wenn ich dir sage, daß jedes, aber auch jedes geistige Gebiet sein Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich besitzt! – Du wirst das sofort und überall erkennen, wenn du nur die richtigen Augen dafür öffnest.«
»Also auch das Gebiet der öffentlichen Presse?« fragte er schnell, indem sein Gesicht den Ausdruck gespannter Erwartung annahm.
»Ja, auch dieses! Der Boden, also die Materie ist gegeben. Es existiert keine Felsen- oder Gesteinsformation und keine Erdbeschaffenheit, die nicht auch hier in diesem geistigen Reiche vorhanden wäre. Oder hörst du nicht die sogenannte öffentliche Stimme von den Spitzen hoher Berge, aus den tiefsten Thälern, aus finstern Schluchten, aus sandiger Oede, auf sonniger Flur und aber auch aus häßlichen Sümpfen erklingen? Giebt es nicht zahllose Blätter, in denen nur die Materie zu sprechen hat und nur der Stoff zum Worte kommt? Aber bald regt sich das Leben, zunächst das niedrige, welches durch sämtliche Ordnungen zu steigen hat, um sich von dem Stoffe zu erlösen. Du siehst geistige Flechten und Moose erscheinen, dann Farne, deren Gestalt auf spätere Palmen hoffen läßt, freundliche Gräser und Kräuter, duftend blühende Sträucher und früchtetragende Bäume. Diese alle aber, so lieb, so gut, so nützlich sie auch sein mögen, sie haben es doch nicht vermocht, den Boden zu verlassen, auf dem das Blatt, die Zeitung, gegründet worden war. Sie klammern sich mit ihren Wurzeln in ihm fest und müssen das ja auch thun, weil es die Absicht des Verlegers ist, grad diesen Boden für sich zu kultivieren.«
»Und aber die Zoologie der Presse?« fragte der Ustad.
»Sie kann und darf nicht fehlen, denn nur in ihren Erscheinungen schreitet die Befreiung von der Materie in rapider Weise fort. Auch hier beginnt die Entwicklung mit den niederen Lebewesen. Ich sehe winzige Goldkäferchen ihre geistige Nahrung aus Blumenkelchen ziehen und leuchtende Glühflügler um urweltliche Gedanken schwirren. Freundliche Schmetterlinge gaukeln von Leserin zu Leserin. Ein niemals ruhender Ameisenfluß trägt Wort um Wort und Satz um Satz zusammen, und Bienen summen überall, um Honig heimzutragen. In den Quellen und Bächen der Tagesereignisse schießen schnelle Flossenträger hin und her. Und wenn nun gar beim Morgen- oder Abendsonnenschein des Frühlings Odem durch die Blätter weht, da erzählen tausend süße, frohe Stimmen, daß grad die liebsten und die besten Sänger zur oft verkannten "Feder"-Welt gehören! Ich kenne manchen edlen Geist, der wie in Adlersferne hoch über der Gemeinheit horstet, und manchen scharfen Denker, der, gleich dem Albatros, den Staub der Erde nie berührt. Ist dir der Ackergaul bekannt, der für wenig Hafer, aber viel Häcksel täglich seine Furchenzeilen zu ziehen und sich am Ende jeder Reihe wieder umzudrehen hat, damit er ja nicht etwa auf fremde Gedanken komme?«
»Ich habe ihn gesehen, wie oft, wie oft!« antwortete er. »Aber du hast deine Beispiele nur von der einen, von der guten Seite genommen; der Ackergaul bringt mich auf die andere hinüber. Du warst so aufrichtig, auch von Sümpfen zu sprechen. Warum hast du die Giftpflanzen, die Dornen, Quecken und anderen Wucherungen nicht erwähnt? Das Ungeziefer unter den Insekten? Die Raubfische? – Die täglich auf den Blättern ihrer Schlammpflanzen nur von ihrer eigenen Weisheit quakenden Frösche? Die Giftschlangen? Die lästigen Sperlinge? Die Käuze und Eulen, deren lichtscheuer Mordhunger nur des Nachts auf Beute ausgeht? Die aaslüsternen Geier? Die Neuntöter, welche ihre Opfer erst am Stachel quälen, ehe sie verschlungen werden? Die Falken und Stößer, die sich selbst am hellen Tag nicht scheuen, auf Fraß auszugehen. Die Mäuse, Ratten, Hamster und anderen Schmarotzer auf geistigem Gebiet? Die kläffenden oder gar bissigen Hunde, die jedem in die Waden fahren, der es wagt, an einem ihrer Gedanken auch nur vorüberzugehen? Die ganze Unzahl der reißenden Fleischfresser, die Jeden, der nicht ganz vollständig ihresgleichen ist, mit ihren Klauen packen? Die große Schar der kreischenden Quadrumanen, von der zänkischen und rachsüchtigen Meerkatze bis zum menschengefährlichen Gorilla hinauf? Warum hast du nicht von ihnen gesprochen? Soll ich dir zutrauen, daß du beschönigen willst?«
»Das liegt mir fern. Wir sprechen ja von deinem und von meinem Gedankenparadiese. Das deinige ist traurig, das meine ideal. Die gegenwärtige Wahrheit wird zwischen beiden liegen, muß aber nach ewig geltenden Gesetzen nicht deiner Wüste, sondern meinem Eden immer näher kommen. Wir addieren leider auf ganz verschiedene Weise. Dein Pessimismus zieht nach altem Brauche die Summe, indem er abwärts rechnet. Mein Optimismus aber hat gefunden, daß es besser sei, aufwärts zu gehen. Du bist, unten angekommen, mit deinem Leben fertig. Du machst den großen Strich und schreibst als die so erreichte Summe deine kahle Geisteswüste hin. Bei mir aber giebt es oben keinen Strich, denn mein Paradies sendet mir ununterbrochen neue Summanden hinzu. Sie wachsen in die Ewigkeit hinauf.
Und wenn mein Körper dieser Rechnungsweise nicht mehr folgen kann, so wird mein Geist dort einst gewiß die Summe finden.«
Er trat an das offene Fenster und schaute hinaus.
»– – dort einst gewiß die Summe finden!« wiederholte er meine Worte.
Es war für einige Zeit still zwischen uns. Ich störte ihn nicht. Dann drehte er sich zu mir um und fragte:
»Bist du mit deinen geistigen Naturreichen der Presse schon zu Ende, Effendi?«
»Nein,« sagte ich.
»Du gingst auch hier von unten nach oben. Das scheint bei dir in allen Dingen der Fall zu sein! Kommt jetzt nun noch der Mensch?«
»Ja. Im Tiere hat sich die Befreiung vom geistigen Erdboden vollzogen, und das Streben nach der Individualität tritt immer mehr hervor. Doch erreicht kann diese letztere nur vom Menschen werden.«
»Von allen?«
»Nein. Sie sollte es, wird es aber leider nicht. Es giebt so viele, welche entweder durch tausend Rücksichten aller Art noch mit dem Boden in Verbindung bleiben, oder sich durch ganz dieselben und ähnliche Bedenken derart von andern beeinflussen lassen, daß sie es nicht zur intellektuellen Selbständigkeit, zur geistigen Freiheit, zur vollen Selbstbestimmung und Selbstbewegung bringen. Tritt in die Redaktionen, und frage, welche Rücksichten die dort bestimmenden und doch so angefesselten Geister zu nehmen haben! Aber ich habe auch vollendete Persönlichkeiten gefunden, zuweilen da, wo ich es gar nicht erwartete. Wie groß war da meine Freude! Und wie gern und aufrichtig habe ich ihnen meine Anerkennung gezollt! Ein solcher Geist weiß nichts von materiellen Banden. Er hat alle Fesseln zerrissen und sie der menschlichen Selbstsucht und geistigen Kurzsichtigkeit vor die Füße geworfen. Er kennt weder Parteiinteressen noch gesellschaftliche Sondergefälligkeiten. Für ihn giebt es keine Körper, sondern nur noch Geister. Darum wird er nie ein Urteil fällen, welches aus niedrigen Erwägungen gezogen ist und mit den auf ihn gerichteten Blicken der Körperwelt liebäugelt. Es kann ihm niemals beikommen, auch nur einen einzigen Menschen zu verdammen, denn er weiß, daß dieser Mensch, geistig betrachtet, ein ganz anderer ist, als ihn die gehässigen Augen der Fama sehen, die ihre Richtersprüche nur im Erdenschmutze züchtet. Er hat den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen begriffen und weiß, daß der Erstere nicht aus dem Letzteren gerissen werden kann, um ausgestoßen und von der geistigen Feindseligkeit abgethan zu werden. Er kennt die Strömungen und Gegenströmungen der übersinnlichen Atmosphäre, die frei von den Ausdünstungen egokranker Menschenkörper sind, und hebt jeden seiner Nächsten, bevor er ihn betrachtet, zu dieser durchsichtig klaren, reinen, keine Mißgunst kennenden Höhe empor.«
»Aber was dann, wenn es geschieht, daß er selbst einmal angegriffen, befeindet, verleumdet und verurteilt wird?« fragte der Ustad.
»So thut er eben das, was ich jetzt sagte: Er hebt die Angreifer aus ihrer Tiefe zu sich empor, um sie zu durchschauen. Da fällt der ganze Schmutz und alles, was sie sonst noch gewichtig gemacht hat, von ihnen ab. Sie werden leicht, so über oder vielmehr unter alle Maßen leicht, daß sie vor seinen Augen nach und nach in nichts zerfließen. Sie sind ja ganz nur Schmutz und ohne jede Spur von Geist gewesen, und so versteht es sich ja ganz von selbst, daß, sobald der Unflat abgefallen ist, für ihn von ihrer ganzen Existenz nichts mehr vorhanden sein kann.«
»Aber er wird doch antworten? Sich verteidigen?«
»Welch eine Frage! Ich habe dir doch soeben gesagt, daß sie für ihn in Nichts zerflossen seien. Wem soll er antworten? Diesem Nichts? Das wäre ja doch Widersinn! Oder dem Schmutze? Der geht ihn gar nichts an. Er ist der ihrige! Dem Geiste, den es bei ihnen gar nicht giebt? Ich begreife dich nicht! Würdest etwa du antworten?«
Da that er einige rasche Schritte auf mich zu und rief aus:
»Effendi, ich habe es gethan. Ich habe geantwortet – leider, leider, leider!«
»Dem Schmutze?«
»Ja.«
»Dem Nichts?«
»Nein. Ich stand ja, wie ich jetzt, erst jetzt einsehe, nicht so hoch über meinen Feinden, daß sie mir in ein Nichts zerfließen mußten. Und nun erkenne ich, daß auch ich nicht frei von Schmutz gewesen sein kann. Denn hätte er nicht auch an mir gehaftet, so wäre mein Verhalten ganz das jenes hohen, freien Geistes gewesen, von welchem du gesprochen hast. Mir scheint, ich habe Fehler einzugestehen, die mir bis zur gegenwärtigen Stunde keinesweges als Fehler erschienen sind. Du hast heut da drüben bei unserm Beit-y-Chodeh dem Pedehr gebeichtet. Ich war tief im Herzen gerührt davon. Deine mutvolle Aufrichtigkeit imponierte mir. Nun bist du rein und frei von allem, was dir angehangen hat. Ich glaubte nicht, daß auch ich mich zu reinigen haben werde. Jetzt aber weiß ich, daß es doch so ist. Ich werde denselben Mut besitzen, den du besessen hast. Auch ich werde beichten, dir, wie du dem Pedehr. Und wenn ich dann aus deinem Munde höre, daß mir verziehen werden könne, so werde ich mich für berechtigt halten dürfen, diese Verzeihung als ausgesprochen, als geschehen anzunehmen. Ich war über das hinaus, was du das "erste Leben" nanntest. Ich stand im "zweiten Leben", denn ich fühlte, daß sich meine geistige Individualität in mir gestalten wollte. Aber es gelang mir nicht, das "dritte" zu erreichen. Warum? Wir werden nach den Gründen suchen, du und ich. Und ich ahne, daß ich in diesen Gründen meine mir bisher unbekannten Fehler entdecken werde.«
Als er bis hierher gekommen war, hörten wir, daß unten auf dem Vorplatze jemand dreimal in die Hände klatschte.
»Das gilt mir,« sagte er. »Der Pedehr weiß, wo ich bin und daß niemand zu uns kommen darf. Ich habe mit ihm, falls man meiner bedürfen sollte, dieses Zeichen verabredet!«
Er begab sich durch das Mittelzimmer auf das Vordach. Ich hörte ihn hinuntersprechen. Dann kehrte er zu mir zurück und sagte:
»Ich soll zum Pedehr hinabkommen und auch dich mitbringen. Es scheint sich um etwas Wichtiges zu handeln.«
»Was es ist, hat man dir nicht gesagt?«
»Nein. Ich fragte zwar, doch der Pedehr antwortete, er dürfe es mir nicht laut heraufrufen. Komm!«
Wir gingen hinunter. Der Pedehr befand sich in der Halle, in welcher ich gelegen hatte. Tifl und ein zweiter Dschamiki waren bei ihm. In dem letzteren erkannte ich den Wächter, welcher heut am Nachmittage über Stock und Stein geritten war, um uns die Ankunft der Perser zu melden. Halef schlief fest. Hanneh war auch schlafen gegangen. Sein Sohn saß bei ihm. Der Scheik der Dschamikun empfing uns mit der des Kranken wegen nur halblaut gesprochenen, aber sehr wichtigen Kunde:
»Der Bluträcher ist wieder da!«
»Wo?« fragte der Ustad im Tone der Ueberraschung.
»Das wissen wir nicht.«
»Wer hat ihn gesehen?«
»Mein Sohn,« antwortete der Wächter.
»Hat er sich nicht etwa getäuscht?«
»Nein. Er kennt ihn ja. Er hat ihn doch heute am Nachmittage durch den ganzen Duar bis an unser Gotteshaus geführt und ihn also genau betrachten können.«
»Wo ist dein Sohn?«
»Ich habe ihn mitgebracht. Er wartet draußen vor den Stufen.«
»Hole ihn!«
Ich ahnte natürlich sofort, daß irgendeine Teufelei geplant werde, und war höchst gespannt darauf, ob es uns wohl gelingen werde, zu erfahren, welcher Art sie sei. Natürlich durfte ich mir nicht erlauben, den beiden Oberhäuptern des Stammes in Beziehung auf die einzuziehenden Erkundigungen vorzugreifen. Der Sohn des Wächters hatte ein intelligentes Gesicht. Er sah sogar etwas wie pfiffig aus. Er kam mit seinem Vater bis vor den Ustad hin.
»Du hast den Bluträcher gesehen?« frage ihn dieser.
»Ja,« bestätigte der Gefragte.
»War er allein?«
»Nein. Es befanden sich noch zwei andere bei ihm.«
»Woher kamen sie?«
»Von draußen.«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch wohl hierher?«
»Wahrscheinlich.«
»Geritten?«
»Nein. Sie waren abgestiegen.«
Da sah der Ustad den Pedehr an, und dieser mich. Dabei sagte der letztere:
»Das ist eine ebenso unerwartete wie geheimnisvolle und bedenkliche Kunde! Was meinst du dazu, Effendi?«
»Erlaubt Ihr mir, einige Fragen auszusprechen?« erwiderte ich ihm.
»Natürlich!«
»Ich hörte, daß ein Handelsmann aus Isphahan hier angekommen sei und eine Botschaft von dem Bluträcher ausgerichtet habe. Wo ist dieser Mann?«
»Er wird nun wohl schon schlafen,« antwortete der Pedehr. »Soll ich ihn vielleicht wecken lassen?«
»Das ist nur dann nötig, wenn Ihr mir nicht sagen könnt, was ich von ihm wissen will. Woher kam er?«
»Von den nördlichen Dschamikun. Er traf mit den Persern auf der Höhe des Passes zusammen.«
»Wie verhielten sie sich zu ihm?«
»Weder freundlich noch feindlich. Sie kennen ihn. Sie fragten ihn, woher er käme und wohin er wolle. Er antwortete, daß er nach Süden zu den Kalhuran wolle. Da sagten sie ihm, daß er hierher reiten solle, um ein gutes Geschäft zu machen. Es sei ein großes Wettrennen geplant, zu welchem sich viele Menschen einstellen würden. Wenn er da sein Handelszelt aufschlage, werde er wohl viele Käufer finden. Er war ihnen für diese Mitteilung sehr dankbar und sagte ihnen, daß er ihrem Rate folgen und hierherreiten werde. Da bekam er von dem Multasim den Auftrag, den er uns ausgerichtet hat.«
»Wie lautete diese Botschaft?«
»Sie war höchst eigentümlich, uns allen unverständlich. Nämlich zwei Zeilen aus dem heute von uns gesungenen Liede: "Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, in der sich alle Düfte regen!" Und hinzugefügt hatte der Bluträcher: "Sage im Duar, daß die Rose noch heut aufbrechen werde!" Ist das nicht sonderbar, Effendi?«
»Allerdings, aber nur in dem Sinne, daß überhaupt jede Unvorsichtigkeit sonderbar genannt werden muß.«
»Unvorsichtigkeit?« fragte er erstaunt.
»Ja.«
»Das begreife ich nicht. Wir haben diese Worte als einen nachträglichen Hohn gedeutet und uns dabei beruhigt.«
»Ich wollte, Ihr hättet sie mir eher mitgeteilt als jetzt! Es liegt wahrscheinlich ein Mordanschlag vor.«
»Chodeh!« fuhr der Pedehr auf, und auch die andern zeigten sich durch diese meine Deutung erschreckt. »Gegen wen?«
»Gegen mich.«
»Unmöglich!«
»Ich habe gesagt, wahrscheinlich. Und ich pflege zu wissen, was ich sage. Das betreffende Lied vergleicht Rose und Herz. Mit diesem Herzen aber ist das meinige gemeint. Wörtlich mein Herz! Es soll aufgebrochen werden! Mit dem scharfen, spitzen Stahle!«
»Aus welchem Grunde kommst grad du auf diese Idee?«
»Davon vielleicht später! Ich habe jetzt zu fragen und zu handeln. Der Bluträcher hat uns nicht für klug genug gehalten, ihn zu durchschauen. In ihm wohnt der Haß, und dieser ist bekanntlich der Bruder der Unvorsichtigkeit und Ueberhebung. Er hat später damit prahlen wollen, daß sein blutiges Werk gelungen sei, obgleich er uns vorher gewarnt habe.«
Hierauf wendete ich mich zu dem jungen Dschamiki und fragte ihn:
»Wo warst du, als du den Multasim sahst?«
»Draußen vor dem Duar,« antwortete er. »Ich hatte die Schafe in den Pferch gebracht und mich hinter einem Steine niedergelegt, um nach dem Alabasterzelte hinaufzuschauen. Man konnte mich vom Wege aus nicht sehen. Da kamen vier Reiter von Osten her. Sie blieben in der Nähe stehen und stiegen ab.«
»Drei waren es doch!«
»Diese drei, welche ich meinte, schlichen nach dem Duar. Der vierte blieb bei den Pferden.«
»Du erkanntest den Multasim?«
»Ganz deutlich. Er war einer von den dreien.«
»Was für Waffen hatten diese letzteren?«
»Sie gaben ihre langen Gewehre dem vierten, ehe sie sich entfernten. Alles andere aber haben sie noch bei sich.«
»Hast du dich sehen lassen?«
»Nein.«
»Was thatest du?«
»Ich schlich mich auf dem Boden hin, den dreien nach. Sie verließen den Weg. Sie huschten quer hinüber, um hinter den Duar zu kommen. Ich konnte ihnen nicht so schnell folgen, denn wenn ich mich aufgerichtet hätte, so wäre ich von ihnen gesehen worden. Darum verlor ich sie aus den Augen.«
»Und bist dann nicht weiter gefolgt?«
»Nein. Ich ging zum Vater und erzählte es ihm.
Hierauf sind wir sofort zum "hohen Hause" gekommen, um es zu melden.«
»Welche Zeit ist vergangen, seit du sie von ihren Pferden steigen sahst?«
»Bis jetzt kaum eine halbe Stunde.«
Da klopfte ich ihm auf die Schulter und sagte:
»Du hast deine Sache gut gemacht. Ich muß dich loben!«
Dann fuhr ich, zu den andern gewendet, fort:
»Wir haben Zeit. Der Multasim wartet hinter dem Duar, bis hier oben bei uns kein Licht mehr brennt. Für mich steht es fest, daß er sich nicht eher heranwagt. Was er vorhat, ist verwegen, so verwegen, daß ich ihn bemitleiden muß. Ist dieser Mensch denn ein im Wildnisleben so erfahrener und gewandter Mann, daß er, ohne einen Wahnsinn zu begehen, sich zumuten kann, mit seinem Dolche hier im "hohen Hause" ganz unentdeckt und unbestraft mein Herz zu finden?«
»Dein Herz!« sagte der Ustad. »Ich halte es noch immer für eine Unglaublichkeit!«
»Und dennoch ist es wahr!«
»Du mußt dich täuschen!«
»Nein. Ich wollte diese Angelegenheit als Geheimnis behandeln; aber da der Bluträcher nicht wartet, bis ich dich verlassen habe, sondern dein Haus zum Schauplatze dieses Mordes machen will, schon heut, gleich an demselben Tage, so halte ich es für meine Pflicht, dir mitzuteilen, was zwischen ihm und mir vorgekommen und gesprochen worden ist.«
Ich erzählte es so kurz, wie ich es für geraten hielt, legte ihnen jedes Für und jedes Wider in Beziehung auf meine Ansicht vor und überzeugte sie derart, daß der Pedehr, als ich geendet hatte, ganz entrüstet sagte:
»Du hast recht, Effendi: Es gilt einen Mord, und zwar nur dir, nur dir! Ich werde sofort die Warnungsglocke erklingen lassen und alle Bewohner des Duar zusammen –«
»Halt!« unterbrach ich ihn. »Das wirst du nicht!«
»Ja, ich werde es!«
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Soll der Blutgierige ohne Strafe bleiben?«
»Nein! Das freilich nicht!«
»Er wird es aber. Denn sobald er den Lärm hört, den er auf sich beziehen muß, versteht es sich ganz von selbst, daß er die Flucht ergreift. Dann ist er fort und lacht uns später wegen unserer Unbedachtsamkeit aus, weil wir ihm nicht einmal die Absicht des Mordes nachzuweisen vermögen.«
»Das ist wahr; das ist richtig, Effendi! Aber was können wir anderes thun?«
»Ihn fangen!«
»Maschallah!«
»Mit der Waffe in der Hand!«
»Du meinst also, daß wir ihn kommen lassen?«
»Ja.«
»Das ist zu gefährlich!«
»Hast du nicht auch die Soldaten herankommen lassen und gefangen genommen? Ihrer waren so viele; jetzt aber sind es nur drei!«
»Auch das ist wahr!«
»Und gewiß kommt er nur allein herein; die andern beiden sind seine Wachen.«
»Herein? Hier herein, meinst du?«
»Ja.«
»Wie kommst du auf diesen Gedanken?«
»Auf die leichteste und zugleich sicherste Weise. Er will mich töten. Wann? Des Nachts. Was thue ich des Nachts? Ich schlafe. Wo? Droben in meiner neuen Wohnung, allerdings. Aber das weiß er nicht. Der heutige Wechsel ist ihm unbekannt. Er glaubt, daß ich noch hier schlafe, in der offenen Halle, in welche man sich des Nachts so leicht schleichen kann.«
»Was weiß er von deinem bisherigen Lager in dieser Halle?«
»Gewiß genug. Er hat heut am Nachmittage da drüben auf dem Berge mit mehreren Dschamikun gesprochen, doch wahrscheinlich hiervon nicht, denn seine Absicht gegen mich kann erst entstanden sein, nachdem ich die letzten Worte mit ihm gesprochen hatte. Tifl hat die Perser begleitet. Ich denke, daß er mir gar wohl eine Mitteilung machen kann, die sich hierauf bezieht.«
»Jawohl; das kann ich; das kann ich!« antwortete der Genannte.
»Nun?« fragte ich ihn.
»Ich ritt voran. Ich hatte mir vorgenommen, mit diesen Persern gar nicht zu sprechen. Das habe ich auch gehalten. Meine Leute ritten hinterher. An diese hat sich Ahriman Mirza gemacht und sich mit ihnen unterhalten. Erst über den Duar; hierauf über das "hohe Haus", und dann über die jetzigen Gäste desselben. Als ich das später erfuhr, war ich sehr zornig darüber, daß man ihm Auskunft gegeben hat.«
»Was hat er erfahren?«
»Wo Hadschi Halef liegt; wo du schläfst; wann du dich niederlegst, und wer des Nachts noch außerdem sich in der Halle befindet. Die, welche es sagten, wußten nicht, daß du vom heutigen Abend an bei unserm Ustad wohnen werdest. Darum ist zu Ahriman Mirza gesagt worden, daß du in der Ecke rechter Hand in der Halle schläfst.«
»Was wohl noch?«
»Ob du im Schlafe Waffen in der Nähe habest.«
»Ah! Also! Was hat man geantwortet?«
»Daß sie am Fußende deines Lagers aufgehängt seien.«
»Wo sind sie jetzt? Ich habe sie in meiner neuen Wohnung nicht gesehen.«
»Erlaube, daß ich dir das später selbst mitteile!« fiel da der Ustad ein.
Ich nickte ihm zu und fuhr, zu Tifl gewendet, fort:
»Gab es noch weitere Erkundigungen?«
»Nein,« erklärte er.
»So ist das ganze Material beisammen, welches nötig war, mich zu überzeugen, daß ich mich nicht geirrt habe. Wer soll nun bestimmen, was zu geschehen hat?«
»Du,« antwortete der Ustad.
»Ja, du,« stimmte der Pedehr ein.
»So ist meine Ansicht die folgende: Der Bluträcher wird gefangen genommen, und zwar auf eine für uns möglichst ungefährliche Weise. Werden die gefangenen Soldaten bewacht?«
»Ja,« sagte der Pedehr.
»Von wieviel Personen?«
»Es sind zwei, welche vor dem verschlossenen Thore stehen. Das genügt vollständig.«
»Für heut genügt es nicht.«
»Warum?«
»Weil der Multasim jedenfalls die Absicht hat, diese Gefangenen zu befreien. Er kann mit zwei Begleitern die beiden Wachen, da sie so etwas nicht erwarten, leicht überraschen und überwältigen. Wir stellen also jetzt mehr Leute hin, damit er sich gar nicht nach dieser Seite wagen kann. Um so sicherer wendet er sich dann der Halle zu. Es wird an der Stelle, wo ich schlief, ein Lager errichtet. Doch niemand liegt darauf. Selbst wenn jemand so mutig wäre, diese Rolle zu übernehmen, so ist so ein Dolch oder Messer selbst für den stärksten Mann ein immerhin gefährliches Ding.«
Kara Ben Halef war von dem Lager seines Vaters herbeigekommen, um zuzuhören. Jetzt, bei diesen Worten, sagte er:
»Aber wenn du nicht so angegriffen von der Krankheit wärest, da wüßte ich, was geschähe, Effendi!«
»Nun, was?«
»Du würdest dich ruhig hinlegen, um die aufgehobene Hand des Mörders, wenn er zustoßen will, zu ergreifen und festzuhalten, damit er vollständig zu überführen sei.«
»Hm! Vielleicht thäte ich es! Davon kann aber jetzt keine Rede sein. Der Bluträcher darf nicht ahnen, daß er sich vollständig verraten hat. Es muß alles sorgfältig vermieden werden, was den Gedanken in ihm erwecken könnte, daß man seine Anwesenheit kenne und auf ihn vorbereitet sei. Darum dürfen wir nur so viel Personen in das Vertrauen ziehen, wie unumgänglich nötig sind. Kein weiterer darf etwas erfahren. Wie viele Wege giebt es nach hier herauf?«
»Nur den einen durch das Thor,« antwortete der Pedehr.
»Keinen verborgenen Schleichweg?«
»Keinen. Niemand kann über die Riesenmauer.«
»Also ist es auch für niemand möglich, anders als durch das Thor zu entfliehen?«
»Für keinen Menschen. Und das Thor wird ja geschlossen.«
»Man lasse es heut offen, damit der Multasim nicht darüberzuklettern braucht. Wir wollen ihm und seinen Begleitern das Kommen möglichst erleichtern, damit sie dann um so sicherer nicht ohne unsern Willen wieder fortgehen können. Ich meine, daß sie sich alle drei durch das Thor schleichen werden. Die beiden andern verstecken sich an einem passenden Orte, dem Multasim erforderlichen Falles beispringen zu können. Dieser setzt seinen Weg allein fort. Am Thore müssen sich handfeste Leute verbergen, welche die Perser zwar herein, aber nicht wieder hinaus lassen dürfen. Doch haben sie alles so still zu unternehmen, daß sie es uns nicht etwa verderben, hier oben den Multasim zu ergreifen. Hier bei uns genügen fünf bis sechs Personen, welche sich in den dunkeln Hintergrund der Halle zurückziehen, um den Mörder, sobald er sich hereingeschlichen und das Lager erreicht hat, zu packen. Wir haben schon um des Hadschi Halef willen das Geräusch zu vermeiden. Ich möchte gern haben, daß der Multasim in lautloser Stille überwältigt wird. Ich bin natürlich auch da, wenn ich auch nicht mit zugreifen werde. Wollt Ihr dabei sein, so ist es recht, denn da werden Eure Leute sich doppelte Mühe geben, alles richtig zu machen. Dort hinter der Thür müssen im Hausgange einige Personen mit brennenden Lichtern postiert sein, damit die Halle im gegebenen Augenblick sofort erleuchtet werden kann. Das ist es, was ich zu sagen habe. Hat jemand einen andern Wunsch?«
»Nein,« antwortete der Pedehr. »Denkst du, daß der Bluträcher uns lange warten lassen wird?«
»Gewiß nicht. Seine heutigen Begleiter kennen sicher alle seine Unternehmungen. Sie warten mit größter Neugierde auf seine Rückkehr. Auch den Mann mit den vier Pferden läßt er wohl nicht gern lange Zeit allein, weil jeden Augenblick sich eine Störung oder gar Entdeckung ereignen kann. Wie ich schon gesagt habe, so denke ich auch noch jetzt: Wenn kein Licht mehr hier oben brennt, wird der Multasim annehmen, daß wir schlafen, und sich unverzüglich an das Werk machen.«
»Wohlan, so wollen wir uns beeilen. In zehn Minuten soll alles zu seinem Empfange bereit sein. Gehst du einstweilen wieder hinauf in deine Wohnung, Effendi?«
»Nein. Ich bleibe hier.«
»So erlaubt, daß ich euch verlasse, die Vorbereitungen zu treffen!«
Er entfernte sich. Der Ustad ließ zwei Kissen bringen, auf welche wir uns an der Hinterwand niedersetzten, doch so, daß ich die drei Bogenöffnungen an den Säulen im Auge hatte und den Multasim, wenn er kam, sehen konnte. Kara war wieder zum Bette seines Vaters gegangen. Der Bote und sein Sohn hockten sich in unserer Nähe nieder, um im gegebenen Augenblicke mit zuzufassen. Dann kam der Pedehr mit noch vier kräftigen Männern, die sich in der hintern Ecke versteckten. Jenseits der Thür hielten einige Personen brennende Lichter. Dann wurden die unsern alle ausgelöscht. Da dachte ich an meine Lampe oben. Sie brannte ja, und ihr Schein mußte unten im Duar gesehen werden. Ich sagte das dem Ustad, der sich sofort erhob, um hinaufzugehen und sie selbst auszulöschen. Als er dann wieder kam, war alles bereit, denn der Pedehr hatte dafür gesorgt, daß sogar in der Küche alles finster war. Es schien sich jedermann im »hohen Hause« niedergelegt zu haben. Der Bluträcher konnte erscheinen!
War es nicht vielleicht sonderbar, daß ich herzlich wünschte, daß er kommen möge? Man soll doch nicht das Verlangen in sich tragen, daß sich einem das Verbrechen nahe! Aber nicht bloß das Denkvermögen, sondern auch das Gefühl hat seine Erwägungen, wenn man die logische Folgerichtigkeit derselben auch nicht so deutlich nachzuweisen vermag. Und wenn ich die Empfindung in mir trug, daß ich den Multasim herbeiwünschen müsse, so hatte sie jedenfalls ihren guten Grund. Der Bluträcher lebte; er war vorhanden. Seine Absichten richteten sich gegen mich. Sie konnten mir nur dann gefährlich werden, wenn ich auf seinen Angriff nicht gefaßt war. Ich hatte nicht ihn selbst, sondern nur die plötzliche Ueberrumpelung zu fürchten. Heut nun, jetzt, war ich auf ihn vorbereitet. Führte er seinen gegenwärtigen Plan nicht aus, so entwand er sich der Gewißheit, festgenommen zu werden, und zog alle meine Vorsicht, welche ich zu üben hatte, mit sich in die Ungewißheit hinaus. Darum mußte ich wünschen, daß nichts eintreten möge, was ihn verhindern könne, jetzt bei seinem Vorhaben zu bleiben.
Es war still in der Halle, und so dunkel, daß keiner den andern sehen konnte, obgleich wir uns so nahe waren. Der leise Schimmer der Nacht lag draußen auf den Stufen. Er konnte nicht bis zu den Säulen heran, weil er von dem Vordache über ihnen aufgefangen wurde. Darum hoben sich die drei Bogenöffnungen des Einganges zwar ganz bemerklich von dem Dunkel ab, aber der Fußboden war dem Sternenlichte so entzogen, daß ich mir sagen mußte, der Perser wäre sicher ganz unbemerkt hereingekommen, wenn wir seinen Anschlag nicht erfahren hätten. Bemerken muß ich da freilich, daß ich keinen Grund hatte, ihm diejenige Fertigkeit im Anschleichen zuzutrauen, welche zwar auch der geübte Beduine besitzt, in der aber nur die Indianer und Jäger des »fernen Westens« von Nordamerika wirklich Meister waren. Ich sollte bald erfahren, daß ich mich da geirrt hatte. Der Haß ist auf dem Schleichwege immer Meister. Er kann sich da in Beziehung auf seine Arglist und Ausdauer rühmen, unübertrefflich zu sein.
Der neben mir sitzende Ustad hatte zu mir herübergegriffen und meine Hand in die seinige genommen. Er hielt sie fest.
»Wie lieb ich dich habe, Effendi!« flüsterte er mir zu. »Ich habe es gar nicht gewußt. Aber als ich hörte, daß es sich um einen Angriff gegen dein Leben handle, erhob sich ein Gefühl in mir, als ob wir leiblich und geistig so eng verbunden seien, daß wir miteinander eine gleich denkende und gleich empfindende, vollständig unzertrennliche Einheit bilden.«
»War es wirklich ein Gefühl? Oder doch vielleicht etwas anderes?« fragte ich. »Wenn sich verwandte Geister küssen, fließen die Pulse ihrer körperlichen Herzen zu einem einzigen zusammen. Das Wort Geisterliebe klingt gespensterhaft, aber sie ist die höchste und die mächtigste, welche das Hier mit dem Dort verbindet. Indem sie das Eine zu dem Anderen emporhebt, bringt sie die Seligkeit.«
Vielleicht hätte ich noch etwas hinzugefügt, da ich mit diesem Gedanken mein Lieblingsthema berührte, aber ich verzichtete darauf, denn es war mir, als ob ich soeben etwas gehört und auch etwas gesehen habe. Es war nichts Bestimmtes, nichts für die Augen und Ohren fest Greifbares, sondern nur ein leises Rauschen oder Wehen wie von einem leichten Gewande, das schnelle Vorüberhuschen von etwas sich Bewegendem, aber gestaltlos und haltlos, von keinem wirklich existierenden Wesen rührend.
»Sahst du etwas? Hörtest du etwas?« fragte ich den Ustad.
»Es war, als ob ein halbsichtbarer Gedanke quer durch die Halle gehuscht sei.«
»Wohin?«
»Nach der Ecke, wohin der Multasim kommen wird.«
»Den haben wir von draußen zu erwarten. Der ist nicht hier in dem Raume versteckt. Es wird eben, wie du sagtest, ein Gedanke gewesen sein.«
Das schien mir so richtig, daß ich annahm, mich wirklich getäuscht zu haben. Der, den wir erwarteten, konnte doch jedenfalls nicht aus der Ecke kommen, in welcher mein Hadschi Halef schlief. Wir hatten unsere Aufmerksamkeit nur nach dem Eingange zu richten, und das thaten wir in einer Weise, welche erwarten ließ, daß wir den Bluträcher trotz des allervorsichtigsten Anschleichens ganz gewiß und sofort sehen würden.
Es verging aber Zeit um Zeit, Viertelstunde um Viertelstunde, ohne daß wir etwas bemerkten. Da – es mochte wohl nach einer Stunde sein – gab es irgendwo ein leises Kratzen oder Scharren und hierauf ein ziemlich lautes, hastiges Atemholen, welches fast wie Röcheln klang. Der Ort, woher es kam, war nicht zu bestimmen. Ich nahm an, daß einer der versteckten Dschamikun so unvorsichtig gewesen sei, diesen lauten Atemzug zu thun, der uns sehr leicht verraten konnte; da aber erklang Kara Ben Halefs helle Stimme:
»Sihdi, laß die Lichter hereinbringen!«
Ich war natürlich außerordentlich überrascht, zumal dieser Ruf nicht von dem Bette seines Vaters her, wo er sich doch befunden hatte, erschollen war.
»Wo befindest du dich?« fragte ich ihn, selbstverständlich ebenso laut.
»Hier an deinem angeblichen Lager.«
»Sag lieber, welche Pfiffigkeit! Denn wenn ich nicht vorsichtiger gewesen wäre als ihr, so hätte er sich wieder fortgeschlichen. Ich habe ihn!«
»Maschallah! Ist das wahr?«
»Würde ich es sagen, wenn es anders wäre? Bringt Licht!«
Wir sprangen alle auf. Die Thür zum Hausgange wurde geöffnet, und die da draußen stehenden Leute kamen mit ihren brennenden Kerzen und Oellampen herein. Was wir nun sahen, das war allerdings verwunderlich. Ganz nahe an dem Bette, welches als das meinige gegolten hatte, lag ein Mensch, mit dem Rücken nach oben, vollständig bewegungslos. Er war nur mit der Hose bekleidet, sonst aber nackt, und hatte den Oberkörper und die Arme mit Oel eingerieben. Das ist eine Gepflogenheit der beduinischen Anschleicher, welche sich dadurch so schlüpfrig machen, daß sie, falls man sie entdeckt, nicht festgehalten werden können, weil das Oel oder Fett dem Körper eine Glätte verleiht, die jeden festen, ehrlichen Griff vergeblich macht. Bei ihm kniete Kara, welcher ihm beide Hände so fest um den Hals gelegt hatte, daß dem Ertappten die Möglichkeit der Gegenwehr vollständig genommen worden war.
»Schnell, bindet ihn!« sagte ich, alle Fragen auf später verschiebend. »Hinaus mit ihm und den Lichtern, die seinen Begleitern verraten, daß sein Vorhaben schlecht abgelaufen ist!«
Aber noch ehe man dieser Weisung nachgekommen war, traten die Folgen dieser plötzlichen Erleuchtung der Halle ein: Auf dem Vorplatze ließen sich laute Schritte hören, hierauf einige unterdrückte Rufe. Nun wurde es wieder still. Dann kam einer der dortigen Dschamikun die Stufen herauf und meldete:
»Sie sind ergriffen worden. Als sie die Lichter sahen, wollten sie schnell fort. Da nahmen wir sie fest!«
»Bringt sie uns!« sagte ich. »Ihr findet uns im Gange dort hinter der Thür.«
»Dürfen wir nicht hier bleiben, da wir sie nun doch haben?« fragte der Pedehr.
»Nein,« antwortete ich. »Die plötzliche Helligkeit dieses Raumes, auf den es abgesehen war, muß dem Perser, der sich bei den Pferden befindet, auffallen und ihn warnen. Schicke schnell deine Leute hinab, um auch ihn festnehmen zu lassen! Der junge Dschamiki, welcher weiß, wo der Ort liegt, mag sie führen!«
Während der Pedehr dieser Weisung folgte, wurde der Gefesselte hinausgetragen und die Thür hinter uns allen zugemacht, so daß es in der Halle nun wieder finster war. Erst jetzt fand ich Zeit, das Gesicht des Gefangenen zu betrachten. Wir hatten den Richtigen – Ghulam el Multasim. Er lag mit geschlossenen Augen da. War er besinnungslos, oder stellte er sich nur so? Es giebt Menschen, welche zwar den Mut des gehässigen Angriffes besitzen, weil sie zu thöricht sind, die Folgen zu bedenken, und dann, wenn diese eintreten, die Augen zumachen, als ob das genüge, die wohlverdiente und unvermeidliche Strafe von sich abzuwenden. Was äußerlich dem Mute ähnlich war, ist dann in seiner eigentlichen Gestalt als Feigheit zu erkennen.
Jetzt brachte man seine beiden Genossen zu uns; auch sie waren gebunden. Sie hatten die abgelegten Kleider des Bluträchers bei sich gehabt, auch seine Pistolen. Er war nur mit dem Messer versehen gewesen. Dieses war ihm aus der Hand entfallen, als er von Kara beim Halse genommen worden war. Der Pedehr hatte es aufgehoben und zeigte es mir.
»Das ist die Klinge, mit welcher die Rose aufgebrochen werden sollte,« sagte er. »Was soll mit diesen drei Menschen geschehen, Effendi?«
»Wer hat darüber zu bestimmen?« erkundigte ich mich.
»Natürlich du. Der Angriff war ja gegen dich geplant.«
»Wird man das auch wirklich ausführen, was ich bestimme?«
»Gewiß!«
Als ich auch dem Ustad einen fragenden Blick zuwarf, erklärte dieser, seinem Scheike beistimmend:
»Es ist uns jeder verfallen, der sich ohne unsere Erlaubnis hier mit der Waffe treffen läßt. Aber wir pflegen nicht zu töten. Es ist zwischen uns und dem Multasim ausgemacht worden, daß die Frage der Rache, welche ihn hiehergeführt hat, durch das Wettrennen beantwortet werden soll. Hast du mit ihm ein heimliches Abkommen getroffen, so geht das uns nichts an. Er erhalte die Folgen davon aus deiner Hand. Ich könnte ihn zwar dafür bestrafen, daß er sich mit dem Messer trotz unserer Vereinbarung in mein Haus geschlichen hat, trete aber dieses Recht hiermit an dich ab, Effendi. Thue mit ihm und seinen Helfershelfern, was dir beliebt. Er sei ganz nur in deine Hand gegeben!«
»So schafft diese drei Menschen einstweilen so, wie sie hier sind, zu den andern Gefangenen hinüber in das Gewölbe, und laßt sie dort bewachen! Morgen, wenn es Tag geworden ist, werden sie erfahren, was ich über sie beschlossen habe. Sie kamen bei Nacht; ich aber erwarte den Tag, denn ich will auf heimliche Anschläge keine lichtscheuen Antworten geben!«
Man kam dieser Weisung unverweilt nach. Als die Perser hinausgebracht worden waren, lagen die Kleider des Multasim noch am Boden. Der Pedehr forderte Tifl auf, nachzusehen, was sich in den Taschen befinde. Sie enthielten, wie es schien, nur die gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände, und nur zuletzt entdeckte »das Kind« an einer verborgenen Stelle noch ein kleines Täschchen, aus dem er einen noch kleineren Lederumschlag hervorzog, in welchem einige beschriebene Papierblätter festgeheftet waren. Er gab das Büchelchen dem Pedehr, der es aufmerksam betrachtete und dann dem Ustad kopfschüttelnd mit den Worten hinreichte:
»Sonderbar! Das scheinen nur einzelne Buchstaben zu sein. Worte sind es nicht. Schau du zu, was es ist!«
Der Ustad nahm es in die Hand, sah es durch und sagte:
»Das ist das Täliq-Alphabet mit einer vorwärts gerückten Wiederholung. Ich würde glauben, es sei eine sogenannte Eselsbrücke für irgend einen Anfänger im Schreiben. Aber da auf der ersten Seite steht in derselben runden, stark nach links hängenden Schrift zu lesen: "Für Ghulam, den Dschellad". Es ist also für Ghulam ganz besonders bestimmt. Er wird "Henker" genannt. Weshalb? War es vielleicht ein Scherz? Dann hätte er es nicht so sorgfältig aufgehoben. Hat er es vielleicht selbst geschrieben? Was sagst du dazu, Effendi?«
»Ich kann nicht eher etwas sagen, als bis ich es gesehen habe,« antwortete ich ihm. »Ist es nur das Alphabet?«
»Dieses und die Ueberschrift, die ich vorgelesen habe. Denn die paar Buchstaben, die dann noch unter ihr stehen, können wohl kaum etwas zu bedeuten haben. Es ist ein Sa und ein Lam.«
»Weiter nichts?« fragte ich schnell.
»Noch das Verdoppelungszeichen dazwischen,« antwortete er. »Da, siehe selbst!«
Er gab es mir. Ja, das war das mir so wohlbekannte Erkennungszeichen der Sillan! Ich wußte sofort, daß dieses scheinbar ganz bedeutungslose Doppelalphabet gewiß von großer Wichtigkeit sei. Aber in welcher Weise wichtig, das war die Frage! Es enthielt zweimal alle persischen Buchstaben vom Aelyf bis zum Jäj und sogar Lam-Aelyf. Aber die gleichen Buchstaben standen nicht beieinander, sondern die zweite Reihe war weiter fortgeschoben, so daß die letzten sieben Buchstaben nicht hinten, sondern vorn ihr Ende fanden. Wenn ich versuchen will, dies durch das deutsche Alphabet zu verdeutlichen, so bekommt diese Probe folgendes Aussehen:
A b c d e f g h i k l m n o p q r s t u v w x y z –
t u v w x y z A b c d e f g h i k l m n o p q r s –
Es war mit Gewißheit anzunehmen, daß die bereits erwähnte Wichtigkeit dieser Zusammenstellung für die Sillan eine allgemeine, für den Multasim aber außerdem eine noch besondere sei. Ich wünschte sehr, hierüber Aufklärung zu erhalten. Aber von wem? Sie konnte mir nur durch eigenes Nachdenken werden. Jetzt aber gab es keine Zeit hierzu. Ich steckte also das Heftchen zu mir und sagte:
»Die Buchstaben sind wahrscheinlich das, wofür du sie hieltest, nämlich eine Eselsbrücke. Der Esel ist ohne Zweifel Ghulam selbst. Jetzt interessiert mich nur der Umstand, daß er "Henker" genannt wird. Ihr kennt ihn besser als ich. Habt Ihr vielleicht schon einmal diese oder eine ähnliche Bezeichnung seiner Person gehört?«
»Nein, nie;« antwortete der Pedehr. »Aber dadurch, daß er als Multasim sich mit seiner unersättlichen Habsucht an die Stelle des gütigen Beherrschers setzt, ist er wohl schon Unzähligen in Wirklichkeit zum Henker geworden.«
»Hier fällt mir eine Aehnlichkeit auf,« fügte der Ustad hinzu. »Steuerpächter des Schah-in-Schah und Paradiesespächter! Hier leibliches und dort seelisches und geistiges Henkertum! Wie manchen solchen Geist- und Seelenhenker mag es geben, der seines traurigen Amtes dadurch waltet, daß er an Stelle des einfachen und ehrlichen Alphabetes, welches uns der Herr gegeben hat, ein gefälschtes setzt! Was thun wir mit den Kleidern des Gefangenen?«
»Sie mögen hier liegen bleiben, bis er sie morgen wieder bekommt. Das geschieht nicht eher, als bis ich ihm dieses Alphabet wieder in die Tasche gesteckt habe. Ich wünsche, daß er denken möge, es sei unentdeckt geblieben. Wenn eure Leute später den vierten Perser mit den Pferden bringen, so steckt ihn in ein besonderes Verließ. Der Multasim soll jetzt noch nicht wissen, daß wir auch noch diesen festgenommen haben. Und noch eins: Ich habe euch etwas zu sagen und zu zeigen. Das steckt in meiner Satteltasche. Wo befindet sich das alles, meine Sachen und die Waffen?«
»In meiner Wohnung,« antwortete der Ustad.
»Also bei dir? Ich danke dir! Das zeigt mir ja, wie wert du das Eigentum deines Gastes hältst.«
Da ging ein ganz eigenartiges Lächeln über sein Gesicht. Er machte eine den Sinn meiner Worte abwehrende Handbewegung und sagte:
»Es ist ein anderer Grund. Wenn du es erlaubst, werde ich dir ihn oben sagen. Soll auch der Pedehr mitgehen?«
»Ja.«
Der Genannte erteilte Tifl einige Weisungen in Beziehung auf den vierten Perser; dann begaben wir uns hinauf in die Wohnung des Ustad. Er führte uns nicht in die Balkonstube, sondern, nachdem er ein Licht angezündet hatte, in eine kleine, fensterlose Kammer, welche, wie es schien, für weggesetzte, unbrauchbar gewordene Gegenstände bestimmt war. Da hingen alle meine Sachen. Außer ihnen war nichts zu sehen als ein alter Kasten, dem man es ansah, daß er von Ur-Urgroßvaters Zeit herstammte. Indem der Ustad auf dieses Gerätstück zeigte, sagte er uns folgende, mir damals unverständliche Worte, die ich aber bald darauf sehr wohl begriffen habe:
»Wenn der Mensch wüßte, wie sehr ihm solche alte, anererbte Sachen schaden, die er in falscher Pietät mit sich durchs Leben schleppt! Für solche "erbliche Belastung" ist die "Rumpelkammer" noch viel zu gut! In solchen alten Gegenständen steckt ein ganzes Heer von geistig überkommenen Motten, Bohr- und Rüsselwürmern, welche, wenn man den Kasten öffnet, herausgekrochen und herausgeflogen kommen, um alles, was da Lebenswert besitzt, in zerfressenes Gerümpel und zernagte Lumpen zu verwandeln. Für solche Mottengeister giebt es nichts Heiliges, nichts unantastbar Hohes. Sie zerstören den königlichen Purpurmantel mit derselben Sicherheit, mit welcher sie den Hermelin der Wissenschaft zum kahlen Felle machen. Sie suchen das geistliche Gewand des Emir el Muminin ebenso heim, wie sie sich in der Filzmütze der tanzenden oder heulenden Derwische eingenistet haben. Sie sitzen im Kaftan des Näbi, im Turban des Sahibi Scheriat und in den Pantoffeln aller derer, die im Schatten solcher Vorschrift wandeln. Ganz außerordentliche Anziehungskraft aber hat auf sie das Papier, besonders das aus Lumpen fabrizierte. Man behauptet zwar, daß der Geruch der Druckerschwärze sie vertreibe, doch fand ich oft auch Druckpapier, aus welchem, wenn ich es zum Lesen auseinanderschlug, gleich eine ganze Wolke mich umnachten wollte!«
»Du sprichst in Rätseln,« sagte der Pedehr.
»Wohl dir, daß es für dich Rätsel, aber keine Erfahrungen sind! Du hast es glücklicherweise wohl nur mit materiellen, nicht aber mit solchen geistigen Schädlingen zu thun gehabt, welche es trotz ihrer Mottenarmseligkeit wagen, sich selbst allein für nützlich zu halten, jeden edlen, freien Geist aber zum Ungeziefer zu rechnen! Und an diese Verdrehung der wirklichen Verhältnisse glaubt der ganze, ganze Pelz, in dem die Motten sitzen!«
Sich hierauf mir zuwendend, sprach er weiter:
»Aus diesem Kasten war das Gedeck, von welchem du oben im Walde gespeist hast. Das wurde von dir vielleicht für eine besondere Ehrung gehalten; aber es war etwas anderes. Es ist mein Leichengedeck. Ich ließ es dir zu deinem eigenen Todesmahle vorlegen. So dachte ich! Vielleicht ist es durch dich mein Auferstehungsmahl geworden, zu welchem ich dich, ohne es zu ahnen, eingeladen habe. Und schau hierher! Da hängen deine Gewehre und alle deine Sachen. Warum ? Ich habe dich für gleich mit mir, für meinen geistigen Doppelgänger gehalten. Ich glaubte, du seist ganz denselben Weg gewandelt, den auch ich gegangen bin, und lebest jetzt in deiner "Hosiannazeit". Ich sah für dich die Zeit kommen, in der du hinaufgeschleppt wirst nach Golgatha, wo die Kriegsknechte sich in dein Gewand und in deine Waffen teilen. Darum trug ich sie herauf und in diese meine Rumpelkammer, um dich zu bitten, ihnen hier freiwillig zu entsagen. Vor solchen Feinden ist's um jede Waffe schade! Tritt völlig ungerüstet vor sie hin! Des Geistes Harnisch ist zwar unsichtbar, doch keine Motte und kein Rüsselwurm wird sich an ihn wagen! Dies Ungeziefer sucht sich nur an solchem Kram zu ätzen, der wohl auch ohne Mottenfraß von keiner Dauer wäre. – So dachte ich! Doch als ich zu dir kam, hinauf in meine "Gruft", damit du dich in mir erkennen möchtest, da hörte ich aus deinem Munde Worte, die mir aus jener Welt herüberklangen, in welche ich mich gern mit dir hinüberretten wollte. Bist du vielleicht schon drüben? Hast du den Weg, den unbeschreiblich schweren, auch ohne mich gesehen und erkannt? Hast du nichts von der Menschenfurcht und feigen Scheu gewußt, die einst mich zwang, vor ihm zurückzubeben? Du sprachst so fest, so sicher, so bewußt, als hättest du schon längst erreicht, was ich erreichen wollte und dann doch fallen ließ. Sag mir auch jetzt ein festes, sicheres Wort! Du wirst wohl meine Frage kaum verstehen, doch krallt sich ihre Faust so tief in dich hinein, daß du vor Schmerzen dich zu winden hättest, wenn du in Wirklichkeit mein Doppelgänger wärest.«
Er stand hochaufgerichtet vor mir, das Licht in der Hand, und sah mir mit tief ernstem, forschendem Blicke in die Augen. So, ungefähr so muß das Gericht dem Menschen in die Augen schauen, wenn es einst von ihm sein früheres Leben fordert.
»Sprich deine Frage aus!« sagte ich.
»Du wirst erschrecken!« rief er aus.
Wir standen Mann gegen Mann einander gegenüber. Oder war es Seele gegen Seele, Geist gegen Geist?
»Du bist Old Shatterhand?« fragte er. »Ich habe diesen Namen von meinem Freunde Dschafar gehört.«
»Ich war es,« antwortete ich ruhig aber bestimmt.
Er machte, als er hörte, daß ich sein Präsens in das Imperfectum verwandelte, eine Bewegung der Ueberraschung. Dann fuhr er fort:
»Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?«
»Ich war es,« erwiderte ich abermals.
»Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?«
Bei diesen Worten leuchteten mir seine Augen vor erwartungsvoller Erregung förmlich entgegen.
»Beides nicht mehr!« nickte ich.
»Seit wann? Sage es mir!«
»Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat. Dieses so viel verachtete und so grimmig angefeindete "Ich" in meinen Büchern hat allen denen, welche Ohren haben, von einer neuen, ungeahnten Welt zu erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele nicht ineinander gekästelt und ineinander geschachtelt sind, sondern Hand in Hand nebeneinander stehen und miteinander wirken. Dieses so oft verspottete und so leidenschaftlich verhöhnte "Ich" in meinen Werken war nicht die ruhmeslüsterne Erfindung eines wahnwitzigen Ego-Erzählers, welcher "unglaubliche Indianer- und Beduinengeschichten" schrieb, um sich von den Unmündigen und Unverständigen beweihräuchern zu lassen, sondern unglaublich, über alle Maßen unglaublich ist nur die Blindheit derer gewesen, die einen solchen Wahnsinn für möglich hielten, weil sie sich in den ihnen sehr erwünschten Irrtum hineinlogen, daß diese meine Bücher nur zur vagen Unterhaltung der unerwachsenen Jugend, nicht aber ganz im Gegenteile für die geistigen Augen klar und ruhig denkender Leser geschrieben seien. Diesem so kraftvollen und selbstbewußten "Ich" ist es nicht eingefallen, in den Gassen des geistigen Unvermögens bettelnd an die Thüren zu klopfen, denn von dieser geistigen Armut leben ja grad diejenigen "Ichs", welche die Lösung meines Rätsels zu fürchten haben. Dieses mein "Ich" vermied ganz im Gegenteile alle Straßen und Häuserreihen menschenwimmelnder Städte und ging hinaus in alle Welt –«
Da unterbrach mich der Ustad, indem er meinen Arm ergriff und im Tone größter Ueberraschung ausrief:
»Hinaus in alle Welt, um aller Welt zu sagen, daß alle Welt ihr "Ich" verloren habe? Effendi, Effendi, was höre ich aus diesem deinem Munde! Wer hätte das gedacht! Auch ich war ein "Ich"-Erzähler. Auch ich sandte meine Gedanken hinaus in alle Welt, um – doch nein; davon später! Ich kannte dich nicht. Ich ahnte nur von dir. Es war, als ob ich einem innern Befehle folgen müsse. Und nun sind wir einander gleich, so gleich, so außerordentlich gleich! Wirklich? Wenn in allem, so doch in einem nicht! Ich bin ja noch nicht fertig, dich zu fragen! Mache dich bereit, jetzt die Hauptfrage zu hören! Sie ist fast unglaublich! Soll ich sprechen?«
»Ja!«
»Hier hängt das Eigentum von Kara Ben Nemsi. Willst du mir das alles schenken? So schenken, daß ich es behalten kann? Es ist dann nicht mehr dein. Du bekommst es nie im Leben wieder in die Hände. Es bleibt für alle Zeit in dieser Rumpelkammer, und keinem Menschen wird es je gezeigt!«
Was war das für ein Blick, den er in mein Gesicht förmlich bohrte? Ich mußte an Ahriman Mirza denken, den Teuflischen! Schaute etwa dieser Verführer mich jetzt aus den funkelnden Augen des Ustad an! So höllisch erwartungsvoll! Ja, es war eine große, eine hochbedeutende Frage, welcher ich da gegenüberstand. Ich begriff den Ustad. Die ganze Hölle, gegen welche er einst vergeblich gekämpft hatte, schaute mich jetzt mit diesem seinem Blicke an. Aber ich konnte ruhig sein. Mich sollte sie nicht hindern, den Weg zu gehen, den ich mir ja schon längst vorgezeichnet hatte. Es wurde mir nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich hielt dem Ustad meine Rechte hin, schaute ihm ruhig lächelnd ins Gesicht und sagte:
»Gieb mir deine Hand!«
»Nun?« fragte er schnell, indem er sie mir reichte. »Was hast du beschlossen?«
»Wie gern erfülle ich dir deinen Wunsch! Nimm alles hin! Es sei dein Eigentum!«
»Alles – alles?« rief er in unbeschreiblicher Verwunderung.
»Alles!«
»Aber weißt du, was du thust?! Du hörst auf, zu sein, was du warst und was du bist! Du kannst nie wieder solche Bücher schreiben, wie du geschrieben hast! Du stirbst! Du mußt ein völlig andrer werden! Hältst du trotzdem dein Wort?«
»Ich halte es!«
»Unglaublich! Ich erinnere dich noch einmal an die Folgen, Effendi! – Bist du berühmt?«
»Pah! Man spricht von mir. So lange man mich aber nicht begreift, muß es mir gleichgültig sein, was man redet. Wenn man mich falsch versteht, spricht man von einem Falschen, doch aber nicht von mir!«
»Das klingt so wahr, doch aber auch so kühl! Fast möchte ich es verächtlich nennen! Bedenke aber, Effendi: Wenn du nicht mehr in dieser deiner bekannten Weise schreibst, wird man gar, gar nicht mehr von dir sprechen! Dann bist du tot, tot, tot!«
»Du armer, armer Ustad! Was hast du doch für irrige Begriffe von dieser Art von Leben und dieser Art von Tod! Ich habe mich dir geschenkt, so, wie ich da an diesen Nägeln hänge. Diese Embleme meiner bisherigen Tätigkeit, sie sind – ich! Das Ich, welches ich war! Bin ich nun tot?«
»Ja!«
»Du irrst! Ich ging in diesem Augenblicke in ein anderes Leben über, und dieses andere wird ein höheres, schöneres, edleres, unendlich wertvolleres sein. Ich schrieb eine Menge Bücher. Ich ließ mein "Ich" in ihnen sprechen. Ich wurde nicht verstanden. Ich gab das Köstlichste, was es auf Erden giebt, in irdenem Gefäße. Ich füllte diese Schalen mit einem Rätsel an und ließ die Menschheit trinken. Es tranken Hunderttausende daraus, doch allen war der Trank nichts als nur Wasser. Die Schale täuschte alle! Ich hatte es den Menschen zu bequem gemacht. Man trank gedankenlos und lachte mich dann aus. Das ist der große Fehler, den ich mir vorzuwerfen habe, weiter nichts! Der Sterbliche trinkt lieber Sumpfwasser aus goldenen Gefäßen, als Himmelsnektar aus nur irdenen. Da stieg in mir ein heißes Wallen auf. Es griff ein heiliger, wenn auch stiller Zorn in meine Seele. Nicht daß ich diese irdenen Gefäße nun zertrümmerte, o nein! Ich nahm mir vor, nun goldene zu geben, doch mit demselben Trank, den man für Wasser hielt. Ich habe mir das Gold dazu auf diesem Ritt geholt, der mich zum geistigen Haupt der Dschamikun geführt. Du ahnst wohl nicht, wo ich hier suchte und wo ich es fand. Von heute an werde ich im "hohen Hause" schreiben – ganz anders als bisher. Und hat man es erkannt, wie thöricht man einst war, so wird man dann zurück nach jenen Schalen greifen, die man zur Seite stellte. Dann leben meine alten Werke auf. Man wird sie mit ganz andern Augen lesen; die Seele tritt hervor, die tief in ihnen lebt. Und wenn man erst den Geist erkennt, der mir die Feder gab, dann wird sie dieser Geist in alle Häuser tragen, in denen sie bisher noch nicht zu sehen waren. – Nun sage mir, o Ustad, ob ich mich für gestorben halten muß!«
Da streckte er mir beide Hände entgegen. Ich sah, daß seine Augen feucht waren, indem er zu mir sprach:
»Sihdi, nicht hier will ich dir sagen, was ich erkennen muß! Wir gehn hinauf zu dir. Doch sage vorher, was mit dem Briefe war, den du uns zeigen wolltest!«
»Er ist nun dein,« antwortete ich.
»Mein?« fragte er verwundert.
»Ja. Er steckt ja dort in deiner Satteltasche.«
»In – meiner – meiner – Satteltasche!« wiederholte er lächelnd meine Worte. »Also du hast mit diesem Geschenke gewiß und wirklich Ernst gemacht?«
»Ja! Es war Ernst. Ich habe dir nichts geschenkt. Du hast mich nur befreit. Soll vielleicht ich nach diesem Briefe suchen?«
»Thue es! – Dann gehen wir hinüber in mein Zimmer.«
Ich fand das Schreiben, dessen sich der Leser wohl noch erinnern wird. Ich gab es dem Ustad und ging dann hinaus, ohne mein bisheriges Eigentum noch einmal anzusehen. Da sagte der Ustad, indem sie mir beide folgten:
»Effendi, du lässest deine Berühmtheit hier zurück. Willst du fortgehen, ohne auch nur noch einen einzigen Blick auf sie zu werfen?«
»Ja,« antwortete ich. »Berühmt! Kennst du diese Art von Berühmtheit? Sie ist dämonischer Natur. Soll sie deine Freundin sein, so verzichte auf dich selbst, und gieb ihr deinen Geist und deine ganze Seele hin!«
»Wie wahr, wie wahr du sprichst!« stimmte er mir bei. »Ich kenne sie. Sie war nicht nur meine Freundin; sie war mir mehr, viel mehr. Und was hat sie von mir gefordert! Welche Opfer habe ich ihr gebracht! Jedem Laffen hatte ich mich vor die Füße zu werfen und vor jedem hohlen Kopfe mich zu verbeugen! Jedem Narren mußte ich gefällig sein, um sie nur nicht zu schädigen, und jeden Dünkel mir gefallen lassen, damit er ihr ja nicht gefährlich werden könne. Meine Tasche mußte für jede Thorheit offen sein, und wenn der Unverstand mich auch mit tausend Albernheiten plagte, ich hatte stillzuhalten nur um ihretwillen. Der Neid stand Tag und Nacht vor mir mit seinen Argusaugen; die Mißgunst schlich mir nach auf allen Wegen, und wo ich mich zur Ruhe setzen wollte, saß schon die Scheelsucht da und jagte mich von dannen. Ich durfte nicht so sprechen, wie ich wollte, und was ich schrieb, das wurde von der Feindschaft falsch gedeutet. Ich habe viel verloren, was ich jetzt schwer beklage, doch daß ich zu dem allen auch sie verlor, nach der ich einst gestrebt mit einer Gier, die ich fast Sünde nenne, das ist mir ein Gewinn, der den Verlust mich gern ertragen läßt. Doch schweigen wir hiervon! Kommt jetzt herein zu mir!«
Als wir in seine Stube traten, hörten wir durch die offenstehende Balkonthür den Hufschritt von Pferden. Die Gefangennahme des vierten Persers war also gelungen. Der Ustad stellte das Licht auf den Tisch und betrachtete den Brief.
»Keine Adresse!« sagte er. »Nur die Zeichen, welche wir vorhin auf der Vorderseite des Alphabetes sahen. An wen ist dieses Schreiben gerichtet?«
»An Ghulam el Multasim,« antwortete ich.
»Woher weißt du das?«
»Ich werde es dir erzählen.«
Wir setzten uns nieder, und ich berichtete in möglichst kurzer Weise über unsere eigentümliche Bekanntschaft mit den Sillan, von unserer Begegnung auf dem Tigris an bis auf den Kaffeewirt in Basra. Hierauf sagte ich auch noch, wen ich hier bei den Dschamikun als zu dieser geheimen Gesellschaft gehörig entdeckt hatte. Die beiden Zuhörer folgten meiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit. Als ich geendet hatte, sah der Ustad eine Zeitlang sinnend vor sich nieder. Dann hob er den Kopf und sagte:
»Effendi, weißt du, was du uns berichtet hast?«
»Nun, was?«
»Ereignisse aus einem Fabellande.«
»Glaubst du, daß ich dichtete?«
»O nein! Der Brief ist ja Beweis. Er liegt als ein Gegenstand, welcher unserer Körperwelt angehört, in meiner Hand. Du hast wirkliche Thatsachen erzählt, nichts hinzugefügt, sondern ganz im Gegenteile sehr viel weggelassen, wie ich vermute. Und doch sprach ich von einem Fabellande. Warum?«
Er sann wieder eine Weile nach. Dann fuhr er fort:
»Fabel und Märchen! Ich frage nicht, was andere Leute sich bei diesen Worten denken. Ich sage, was für Vorstellungen diese Begriffe in mir selbst erwecken. Was Gott den Klugen und Weisen verschweigt, weil sie es ihm nicht glauben, das läßt er den Kindern und Unmündigen erzählen, damit der widerstrebende Verstand von dem ungetrübten Glauben lernen möge. Es schweben zwischen Himmel und Erde Wahrheiten, denen der Zweifel des geräuschvollen Tages verbietet, sich zu der Menschheit herniederzulassen. Aber in der verschwiegenen Nacht, wenn die Zweifel schlafen, gleiten diese Wahrheiten an den freundlichen Strahlen der Sterne herab, um, wie alles Himmlische, wenn es die Erde berührt, sichtbare Gestalten anzunehmen, sobald sie das ihnen verbotene Land erreicht haben. Sie hoffen, in diesen Körperformen vor ihren Feinden sicher zu sein. Sie trennen sich. Die eine Wahrheit geht in Tiergestalt als Fabelwesen durch Wald und Feld, kommt vielleicht auch in Haus und Hof des Menschen, um ihm im Bilde mitzuteilen, was ihm in anderer Weise zu sagen ein Wagnis ist. Die andere ist kühner. Sie nimmt die Form des bekannten Körpers an, der als das Ebenbild Gottes so berühmt geworden ist, und sucht die Städte und Dörfer auf, wo sie sich für ein bescheidenes Märchen ausgiebt, welches man passieren lassen kann. Sie hat scheinbar so gar nicht viel zu sagen, daß man sie gern hier und da zu Worte kommen läßt. Sobald sie spricht, denkt man sich zunächst nichts dabei. Doch wenn sie fortgegangen ist, beginnt man unwillkürlich nachzusinnen. Dann kommt es freilich an den Tag, daß dieses sogenannte Märchen ein Himmelskind gewesen ist, welches, wenn man dies gewußt hätte, fortgewiesen worden wäre. Nun hat es aber doch gesprochen, und was es sprach, sitzt fest! – Du lächelst, Effendi! Warum?«
»Weil du ein Freund dieser himmlisch reinen und irdisch doch so pfiffigen Wahrheiten zu sein scheinst,« antwortete ich. »Auch ich habe sie sehr lieb. Sprich weiter!«
»Kennst du,« fuhr er fort, »das Märchen von dem Sonnenstrahl, der hier auf Erden König wurde und so mild und gut regierte, daß alle seine Unterthanen, sobald sie starben, sich in helle Sonnenstrahlen verwandelten und zum Himmel stiegen?«
»Ich kenne es.«
»Auch das andere Märchen, von dem Schatten des Strahles?«
»Nein.«
»Der Schatten wollte es dem Lichte gleichthun. Er fiel in ein tieferliegendes Land und nahm dort ganz genau die Gestalt des andern Herrschers an. Auch er machte sich zum Könige und ahmte alles wörtlich nach, was der gute Herrscher da oben that und sprach. Aber er war leider nur der Schatten dieses Herrn. Weißt du, Effendi, was ein Schatten ist?«
»Er ist das dunkle Kehrseitenbild derjenigen irdischen Wesen, welche im Lichte des Himmels stehen,« antwortete ich.
Das war freilich keine physikalisch genaue Definition, sollte das aber auch gar nicht sein. Ich ahnte, was der Ustad sagen wollte, und gab ihm die Erklärung, die er dazu brauchte.
»Richtig, sehr richtig!« stimmte er bei. »Der Schatten setzt das Licht voraus. Er ahmt die Gestalt nach, welche in diesem Lichte steht. Aber die Nachahmung ist dunkel, so treu und so genau sie im übrigen auch ausfallen mag. Die Farbenbrechungen des himmlischen Lichtes entgehen dem Schatten ganz und gar. Er ist der finstere, herz- und gewissenlose Doppelgänger von allem Lebenden, was es auf Erden giebt. Ob es wohl in der Geistes- oder Seelenwelt ebenso Schatten giebt wie in der Welt der Körper? Was meinst du wohl, Effendi?«
»Natürlich giebt es sie.«
»Wie denkst du dir das?«
»Stelle etwas Geistiges oder Seelisches an das Licht, um es zu sehen, so wird sich sofort der betreffende Schatten einfinden. Hinter jeder Tugend steht dann das betreffende Laster, welches eine ganz genaue, aber kehrseitige Nachahmung aller ihrer Vorzüge ist. Hinter der weisen Sparsamkeit erscheint dann der Geiz, hinter der Freigebigkeit die Verschwendung, hinter der Wahrheitsliebe die grobe Rücksichtslosigkeit, hinter dem edlen Erwerbsinne der ordinäre Betrug und Diebstahl, hinter der Vorsicht die Feigheit, hinter dem Mute die Unbedachtsamkeit, hinter der Beredsamkeit das Schwätzertum, hinter der Verschwiegenheit die Starrköpfigkeit. Aber ich sehe auch noch andere Schatten stehen: Die rücksichtslose Tyrannei hinter der segensreichen Macht, das Schmeichlertum hinter dem Gehorsam, die Empörung hinter der Freiheit, den Mord hinter der Notwehr, die Scheinheiligkeit hinter der Frömmigkeit, die Schleicherei hinter der Demut, die Prahlsucht hinter der Selbsterkenntnis, den Völler hinter dem Esser, den Säufer hinter dem Trinkenden, den Vagabunden hinter dem Wanderer, den Verleumder hinter dem Richter. Soll ich noch weiter fortfahren, Ustad?«
»Nein; es ist genug,« antwortete er. »Deine Aufstellung war sehr interessant, wahrscheinlich ohne daß du weißt, warum ich dies meine. Du brachtest Tugenden und Untugenden, Zustände und Regungen. Wie kommt es, daß du hieran dann Personen geschlossen hast? Ist das absichtlich geschehen? Wolltest du etwa hiermit aus dem Gebiete "des Geistes" hinüber nach dem Reiche "der Geister" deuten? Hast du an das für uns unsichtbare Land gedacht, an dessen Pforte die sterbende Unwissenheit ihre letzten Worte "Von hier giebt es keine Wiederkehr" ruft? Stand dir jenes Reich vor Augen, welches der Aberglaube mit Gespenstern bevölkert, obgleich er, er, er das allereinzigste Gespenst ist, welches existiert?«
»Ich gab Beispiele,« erwiderte ich. »Eine Unterscheidung lag mir fern.«
»Wohl! Schauen wir also nicht hinüber, sondern bleiben wir bei den Menschen! Jeder, der in der Sonne steht, kann, wenn er sich von ihr abwendet, seinen Schatten sehen. Das ist physikalisch. Aber es giebt auch noch andere Schatten. Ich will ihre Arten nicht aufzählen. Aber eine von ihnen, welche ich die mythologische nenne, möchte ich dir doch zeigen. Sie wurden im alten Griechenland entdeckt und als Erinnyen oder Furien bezeichnet. Sind dir diese Schemen bekannt, Effendi, die höllischer sind, als die Hölle selbst?«
»Nur aus der Mythologie,« sagte ich.
»Du irrst dich. Du hast sie auch im wirklichen Leben gesehen. Sie laufen da allüberall herum! Du hast sie nur nicht durchschaut, nicht definiert. Wenn die Sonne genau in deinem Zenite steht, so hast du keinen Schatten. Der, den du giebst, liegt unter deinen Füßen; man sieht ihn nicht. Aber sobald sie den Gipfelpunkt verläßt, kommt der Schatten unter dir hervorgekrochen und wird umso größer, je weiter sie sich von dir entfernt. In dem Augenblicke, an welchem dein Tag dahinzusterben und die Sonne für immer von dir zu gehen scheint, ist dieser dein Schatten so weit "über alles Menschliche hinausgestiegen"Siehe Schiller, Die Kraniche des Ibykus: »So schreiten keine irdischen Weiber....«, daß er die ganze hinter dir liegende Fläche bedeckt und so vollständig verdunkelt, als ob es hier niemals in deinem Leben Licht gegeben habe. Das kannst du bei jedem Sonnenuntergange beobachten. Es giebt aber auch noch andere Sonnenuntergänge. Soll ich dir einen beschreiben? Den meinigen? Und den Riesenschatten, der da hinter mir entstand?«
Er schaute in die kleine, leise hin und her wehende Flamme des brennenden Lichtes, dann schloß er die Augen, als ob er selbst den nur matten Schein desselben jetzt nicht ersehen könne, und sprach dann weiter:
»Mein Morgen war vergangen. Ich hatte Mittagszeit. Die Sonne stand grad über mir. Rund um mich her lag Helligkeit. Es wurde mir zu heiß, so schattenlos in solchem Licht zu stehen. Ich sah mich um. Meine ganze Welt schien Glück und Frieden auszustrahlen. Nur Freundesaugen sahen mich an. Nur Freundeshände griffen nach meiner Rechten. Nur Freundesworte drangen an mein Ohr. Aber es war mir unmöglich, dieses so gänzlich ungetrübten Sonnenscheines in meinem Innern froh zu werden. Ich kannte die alte Sage von jenem neidischen "Erdengotte", der es nicht duldet, daß der Sterbliche sich glücklich fühle. Ich schaute besorgt empor zur Spenderin all dieses grellen Lichtes. Sie lächelte mir, wie eben noch, in heller Wonne zu. Aber ich sah, daß sie ihre Stellung zu mir aufgegeben hatte. Die Linie von ihr zu mir war schief geworden. Und da begann der "Erdengott", sich unter mir zu regen. Er hatte sich zu meiner Mittagszeit mit meiner Person so vollständig einverstanden erklärt, daß er seine Dunkelheit gänzlich aufgegeben zu haben schien. Da bemerkte ich, daß die freundlichen Blicke mich verließen und nach unten glitten. Sie schauten hinter mich. Ich blickte an mir herab, bis tief zu meinen Füßen. Was sah ich da?! Einen Kopf, der unter mir hervorgekrochen kam! Er ahmte die Bewegung des meinen nach. Wollte er mich verspotten? Oder haben die Köpfe der Schatten so gar keine Spur von eigenem Gehirn, daß sie, um existieren zu können, auf die Nachäffung lichtdenkender Menschen angewiesen sind? Werden sie, die vollständig gedanken- und urteilslosen, von jenem "Erdengotte" gezwungen, diesen Menschen jede geistige Form und jede intellektuelle Bewegung abzustehlen und sie im Bodenschmutze zu verzerren, um selbst auch einmal für "Etwas" gehalten zu werden? Der Kopf kam immer weiter und immer deutlicher hinter mir hervor. Er bemühte sich, dem meinen möglichst ähnlich zu werden. Es war sogar das Bestreben zu erkennen, meine Gesichtszüge wiederzugeben. Aber so oft ich ihm das Gesicht auch zukehrte, ich sah doch nur, daß ihm dies nicht gelang. Diese Schemen haben ja ein- für allemal darauf verzichtet, ein menschenwürdiges Antlitz zu besitzen! Je mehr die Sonne sich von mir entfernte, um so dreister zeigte sich das Phantom. Die Schultern, der Leib, die Arme kamen zum Vorschein, sogar auch die Beine, aber nicht als wirkliche, greifbare, lebendige Gestalt, sondern als wesenloses Trugbild, welches nur so lange stand hielt, als man sich selbst nicht bewegte. Sobald man ihm aber nähertreten oder die Hand ausstrecken wollte, um es zu prüfen, wich es sofort zurück. Dabei war zu bemerken, daß die erst vorhandene Aehnlichkeit der Umrisse sich in ganz genau demselben Verhältnisse verringerte, in welchem das Zerrbild sich vergrößerte. Es verschwanden nicht nur sehr bald diejenigen Konturen, welche möglicherweise hätten auf mich schließen lassen können, sondern die Mißgestalt wurde allmählich so unförmlich und ging nach und nach derart in das Ungeheuerliche über, daß es mir fast wie ein Wahnsinn vorkam, die Stelle, an welcher ich stand, als den Entstehungspunkt derselben zu betrachten. Freilich waren ihre Füße grad da zu sehen, wo ich mit den meinen stand; außer diesem allereinzigen Umstand aber gab es keinen zweiten Grund, anzunehmen, daß diese ultramonströse Ausgeburt in irgend einer Beziehung zu mir stehe. Ich stand auf dieser Stelle aufrecht, selbstbewußt, eine kraftvoll und unabhängig sich bewegende Persönlichkeit! Wie aber der Schatten? Er hatte sich aus dem Schmutze entwickelt, den ich mit Füßen trat! Aus ihm war er unter diesen meinen Füßen hervorgekrochen! Aus ihm hatte er versucht, sich an mir emporzurichten, wohl gar über mich hinaus ins Sonnenlicht zu ragen! Aber es giebt keinen Schatten, der nicht fallen muß! Auch dieser mein ultramonströser Schatten fiel! Er konnte und durfte nichts als fallen – fallen – fallen! Das ist das furchtbare Schicksal jedes Schattens – jeder Dunkelheit – jeder Finsternis! – Und das Selbstbewußtsein? Konnte der Kopf meines Schattens überhaupt Etwas enthalten? Ja? Nun dann aber ganz gewiß nicht ein eigenes Selbstbewußtsein, sondern nur die schattenhafte Verzerrung des meinigen! Infolge dieser Verzerrung glaubte er wahrscheinlich, mich zu haben; aber ich, ich hatte ihn! Er war Schatten; er ist Schatten, und er wird Schatten bleiben! Er braucht volle Menschheitspersonen, um durch sie zu existieren. Finden sie sich nicht ein, um ihn zu werfen, wie man eben Schatten wirft, so kann er es nicht einmal zum bloßen Schemen bringen; er ist ein – Nichts! – Und die kraftvoll und unabhängig sich bewegende Persönlichkeit?
Jeder Schatten bedeutet fehlendes Licht. Ein Mensch, der sich zum Schatten anderer macht, hat seinem Geiste und seinem freien Eigenleben entsagt. Er ist eine unselbständige Dunkelexistenz geworden, die überall, wo Licht vorhanden ist, nach Trübem, Düsterem und Finsterem hascht. Diese Lichtscheu wirkt genau so, wie die Wasserscheu. Sie giebt sich ganz und gar der Tollheit hin und folgt von Schritt zu Schritt, nur um zu – beißen!«
Der Ustad hielt nach dieser längeren Gedankenfolge inne. Man sah es ihm an, daß er keine Bemerkung von uns erwartete. Ich hätte wohl manches einzuwenden gehabt, sah aber keinen zwingenden Grund, dies augenblicklich zu thun. Gegen derartige Ansichten und Anschauungen hat man vorsichtig zu verfahren. Es giebt Meinungsverschiedenheiten, die nicht im Handumdrehen, sondern nur mit Hilfe der Zeit zu beseitigen sind, und hier schien es mir, als ob grad diese Zeit es sei, die solche bittere Gedanken in ihm befestigt hatte. Er fuhr nach dieser Pause fort:
»Hast du, Effendi, einen Mann gekannt, Hadschi Halef Omar, den Scheik der Hadeddhin vom Stamme der Schammar, der bereit war, mit seinem deutschen Sihdi alle Qualen der Erde und der Hölle zu erdulden und tausend-, tausendmal für ihn zu sterben?«
Ich nickte nur.
»Du Glücklicher! Ich hatte keinen, keinen Halef! Ich besaß nicht einen einzigen Freund, der deinem Hadschi auch nur einigermaßen ähnlich gewesen wäre! Und doch gab es so viele, viele, die sich meine Freunde nannten, als ich in der Mitte meines Sonnentages stand! Sie wollten nichts von mir; sie verlangten nichts von mir; sie forderten nichts von mir; aber sie liebten mich alle, alle, alle so wahr, so treu, so innig! Nur eins sollte ich ihnen bringen, weiter nichts, weiter gar nichts: Nämlich Opfer, wieder Opfer und immer wieder Opfer! Und ich brachte sie! Wie gern! Ich liebte ja die Menschen alle, alle! Ich glaubte, daß sie meiner Liebe wert seien. Ich wußte nicht, daß es klug sei, nicht den Einzelnen an sich, sondern die Menschheit in ihm zu lieben. Meine Freunde aber überschüttete ich mit doppelter Liebe! Da kam der Augenblick, an welchem ich bemerkte, daß meine Sonne sich schief zu mir gestellt hatte. Welche unerwartete Wirkung fand sich da ein! Auch an meinen Freunden und sonstigen Bekannten begann jetzt so vieles schief zu werden! Sie dachten schief über mich; sie sprachen schief von mir; sie sahen mich schief an! Die Sonne wich mehr und mehr von mir zurück; mein Schatten wuchs; meine Freunde wurden immer schiefer! Gegen Abend ging es schneller mit der Sonne; mein Schatten füllte hinter mir schon die ganze Strecke bis zum Horizonte aus; meine Freunde waren jetzt so sehr schief geworden, daß gar nicht ausbleiben konnte, was nun geschehen mußte: Sie verloren das Gleichgewicht; sie begannen, auch zu fallen, einer nach dem andern, ganz genau so, wie mein großer Schemen fiel! Wohin fielen sie? Natürlich hinter mich, als meine Schatten, Schatten, Schatten! Ich warf sie fort nach rückwärts, hinweg zu ihm, der sich als "Erdengott" gebärdete. Er verschluckte sie mit wahrer Orkusgier. Sein Nichts blähte sich nach dem Fraße dieser vielen tausend Nichtse zu einem so undenkbaren Nichtse auf, daß er dünner und immer dünner und endlich ganz unmöglich werden mußte! Es kostete mich schon Mühe, ihn, den Ultradimensionalen, nur noch zu erkennen. Da wendete ich meine Augen von der ebenso still wie unvermeidlich vor sich gehenden, schattenhaften Katastrophe ab. Ich schaute empor. Soeben verschwand die Sonne. Und da geschah das, was an jedem Tag geschieht und was wir doch bis heut noch nicht mit unserm Geist ergriffen haben: Es flammte der Westen in goldener Glut. Sie sprühte gen Himmel in zuckenden Blitzen. Ich tauchte den Blick in die feurige Flut und sah sie die Berge mit Funken umspritzen. Da, als sie mir so das Geheime erschloß, da mußten die Erdenphantome verschwinden: Sie wurden zu nichts; auch das meine zerfloß, und ich ging um "das Licht ohne Schatten" zu finden!«
Er war da, wo die Sätze sich zu reimen begannen, aufgestanden und hatte stehend gesprochen. Jetzt ging er hinaus auf den Balkon, wohl um die Gestalten, welche in ihm erwacht waren, wieder zur Ruhe zu bringen. Als er dann wieder hereinkam, fragte er mich, indem er vor mir stehen blieb:
»Hast du verstanden, wen und was ich mit diesen meinen Schatten meinte?«
»Ja,« antwortete ich.
»So wirst du durch mich vielleicht die deinen sehen lernen!«
Ich saß ruhig da. Ich antwortete nicht. Aber ich lächelte ihn an.
»Warum bleibst du still?« fragte er.
»Sind Schatten es wert, daß man von ihnen spricht?« antwortete ich.
Er sah mich erstaunt, ja fast betroffen an. Da fuhr ich fort:
»Wenn sie Nichtse sind, wie du behauptest, warum so viele Worte über sie? Für Nichtse giebt es eben nichts. Sie scheinen dir also doch mehr als nichts gewesen zu sein !«
»Das war in der Vergangenheit. Das ist vorüber!« behauptete er.
»Vorüber? – Wirklich?«
»Ja!«
»Und doch erregt dich der Gedanke an sie noch heut in einer solchen Weise, daß du soeben an der Luft gewesen bist, um dich zu beruhigen! Ustad, Ustad! Du sagtest: "Und ich ging, um das Licht ohne Schatten zu finden"! Hast du es gefunden?«
Er trat einige Schritte zurück, schüttelte leise den Kopf, warf ihn dann schnell zurück und fragte mich:
»Etwa du, Effendi?«
»Von mir ist jetzt nicht die Rede, sondern von dir!«
»Es war von dir die Rede, von deinen Schatten! Du hast jedenfalls gar nicht gewußt, daß du welche hattest!«
Da stand nun auch ich auf.
»Mein Freund,« sagte ich, »mein armer Freund! Mir scheint, du hast das Leben ganz verkehrt genommen. Die Nichtse waren bestimmend für dich, nicht aber die inhaltsvolle Wirklichkeit. Du wolltest diese Wirklichkeit beherrschen, wurdest aber leider selbst nur von leeren Schatten regiert. Darum standest du machtlos vor dem Leben, als es sein Turnier mit dir begann, und wurdest von ihm in den Sand gestreckt! Du hattest es vielleicht wohl gar herausgefordert. Du dünktest dich, ein starker Geist zu sein, und wolltest kämpfen gegen andre Geister. Weißt du, was da das Leben that, das riesenstarke, mitleidskluge Leben?«
Er schaute mich fragend an, antwortete aber nicht.
»Es kannte dich. Was wäre wohl geworden, wenn es deine Forderung für Ernst genommen hätte! Es fiel ihm gar nicht ein, sich vor dir im Harnisch aufzustellen.
Es schob dir einen seiner Schatten hin, die du ja selbst jetzt nur Phantome nennst. Was thatest du? Du warfst dein Leben, deinen Geist und deine ganze Rüstung hin, ergriffst die Flucht und gingst in diese Berge, um dich hier in der "Gruft", in diesem Grabe deines Jugendmutes, und hinter einem fremden Namen zu verstecken! Vor wem? Etwa vor dem Leben, welches dich gar nicht angegriffen hat? Nein, sondern vor jenem Nichtse, das für dich bald ein "Erdengott" und bald ein nichtiges Phantasma ist!«
Ich hatte in wohl ernstem Tone gesprochen. Da griff er sich mit den Händen nach dem Kopfe, schaute vor sich nieder, ließ die Arme wieder sinken, holte tief, tief Atem und sagte:
»Effendi, du schonst mich wahrlich nicht! Ich sehe und ich höre, du bist mein Freund, mein wirklicher! Solche Klarheit, wie du mir giebst, ist mir noch nie geworden! Willst du mich vernichten, um mich als einen anderen wieder aufzurichten? Wohlan, thue es! Doch erlaube mir, mich in deine Klarheit hineinzufinden! Sie kommt zu plötzlich über mich! Ein Nichts und doch ein "Erdengott"! Ja, ich habe Beides gesagt und mit Beidem dieselbe Person gemeint. Konnte sie beides sein, beides?«
»Ja; sie konnte es. Aber ich bitte dich: Denke nicht an konkrete Personen, niemals, nie! Sondern abstrahiere! Der Bauer reißt die Giftpflanzen aus der Erde und wirft sie auf den Dünger. Der Chemiker aber zieht auch aus ihnen wohlthätige Extrakte. Auch ich kenne sogenannte "Erdengötter". Ich meine da nicht etwa die wirklich großen Menschen, sondern eben die "Götter" der Denkfaulheit und Urteilslosigkeit. Für mich aber sind sie nur wie jene Pflanzen: Ich koche ihre Seelen für mich aus, damit die meinige an diesem Trank sich stärke. Andere Gründe ihrer Existenz kenne ich nicht. Sie gedeihen nie im geistigen Sonnenscheine, sondern immer nur da, wo das Reich der Schatten eine seiner Provinzen errichtet hat. Dort sind sie Herr und Meister! Dort giebt es keine Persönlichkeit, kein Wollen und kein Dürfen. Die kleinen Schattlein haben ja alle in den großen zu fallen, um zu huschen und zu schleichen, so, wie er schleicht und huscht. Und wenn er einmal den Mund öffnet, weil dort im Sonnenscheine eine wirkliche Existenz den Mund geöffnet hat, so schau nur hin, was da erscheinen wird! Was dort der lebendige Odem des Geistes war, das ist hier nur der Dunst des lichtlos dunklen Bodens, auf dem der Schatten liegt und kriecht. – Ich spreche im allgemeinen, denn geistige Personen giebt es hier ja nicht. Wie ich auf die Schatten anderer sehr ruhig meine Füße setze, so mögen die andern auch ganz getrost auf den meinigen treten. Sie verletzen damit keinen wirklichen Menschen. Wer ihn aber mit Fußtritten strafen wollte, der wäre ein Thor, weil bei diesen Schemen ja überhaupt kein Stapfen haftet! So lange die Erde steht, haben diese Zerrgebilde sich unter den Füßen des menschlichen Verstandes und der denkenden Vernunft herumgetrieben, aber ich habe noch nicht gehört, daß ein Schatten durch diese Fußtritte nicht Schatten geblieben, sondern Mensch geworden sei. Darum begreife ich, o Ustad, nicht, daß die deinen eine so große Macht über dich besessen haben und heut noch zu besitzen scheinen!«
»Effendi, es waren die mythologischen Schatten, die Furien!« rief er aus.
»Wenn zehnmal und wenn tausendmal! Wer sind die Furien? Giebt es welche, oder leben sie nur in unserer Einbildung? Im letzteren Falle sind sie Geschöpfe meiner Phantasie, und ich kann sie vernichten, wann, wo und wie es mir beliebt. Im ersteren Falle aber frage ich: Wer steht höher, sie oder ich? Sie, die von meinen Fehlern und Sünden leben, oder ich, der ich sie ihnen hinwerfe, um rein oder gut zu werden? Welche Furie darf sich an mich wagen eines Fehlers wegen, den ich nicht mehr habe, weil nun sie ihn zwischen ihren Krallen hält, um sich an ihm zu mästen? Sie lebt von dem, was mir widerlich geworden ist. Sie steht so unendlich tief unter mir, daß ich es gar nicht hören oder sehen kann, wenn die Knochen meiner Sünden unter ihrem Raubgebisse krachen!«
»Aber andere hören es!« warf er ein.
»Wer?« fragte ich schnell und kurz. »Doch nur solche, die ebenso tief da unten wohnen. Die werden allerdings einen zähnefletschenden Jubel erheben, darüber, daß ihresgleichen sich abermals am Sündenaase laben kann. Aber jeder Brave, dem es bekannt würde, müßte es anerkennen, daß du nichts mehr von deinen Fehlern wissen willst. Dies letztere müßtest du ihm aber dadurch beweisen, daß du sie nicht etwa verteidigst, sondern sie den Furienkrallen schweigend überlässest. Nun sag, wie hast du dich verhalten?!«
Da setzte er sich hin, senkte den Kopf, legte die Hände zusammen und antwortete:
»Effendi, ich habe mich gewehrt, gegen diese Furien gewehrt, fast bis zum letzten Reste meiner Kraft!«
»So wundere dich nicht darüber, daß sie sogar noch heute Macht über dich besitzen! Du hast ihnen nicht erlaubt, reine Arbeit zu machen. Ich sage dir: Diese Eumeniden ruhen nicht. Sie werden nicht ohne Ursache mit kralligen Fingern, gifttriefendem Munde und hervorgestreckter Zunge abgebildet. Ihr Gift wird so lange triefen und ihre Zungen werden so lange heraushängen, bis dir der letzte und auch der allerletzte Rest von dem, was nicht hineingehört, aus dem Leibe und aus der Seele gerissen worden ist!«
Da stand er rasch wieder auf, faßte mich am Arme und sagte:
»Wie richtig Effendi! Oh, du scheinst sie doch zu kennen! Weißt du, was so eine Furie tat? Nein, du kannst es nicht wissen, nicht einmal ahnen! Du wirst es für unmöglich halten, aber es ist die volle Wahrheit; du kannst es mir glauben! Als diese Eumenide meine sogenannten öffentlichen Fehler öffentlich verzehrt hatte, war sie noch nicht satt. Sie begann nun auch nach heimlichen Sünden zu suchen. Sie war so unvorsichtig Briefe zu schreiben, in denen sie fragte, ob man vielleicht etwas gegen mich wisse. Man brachte mir solche Briefe. Wenn ich sie nicht gesehen und gelesen hätte, so würde ich heute wahrscheinlich glauben, daß es gar keine Furien gebe. Du siehst also, daß sie nicht bloß mythologische Gestalten, sondern noch jetzt lebende Wesen sind! Schatten, die unhörbar leise hinter meinem Rücken schleichen, um sogar die verborgensten Bewegungen meines Lebens aufzufangen, damit man sie selbst trotz ihrer Dunkelheit für reine, lichte Wesen halte! Glaubst du, was ich dir da erzählte, Effendi?«
Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort:
»Du hast gelächelt, und jetzt lachst du gar! Und zwar so eigentümlich! Warum? Du machst mich aufmerksam! Solltest vielleicht auch du – du – du –? Doch nein! In deinem frommen Christenlande kann es ja niemals solche Furien geben! Denn, würde eine entdeckt, so müßte sich die ganze Christenheit, die volle Priesterschaft an ihrer Spitze, erheben, um entrüstet nachzuweisen, daß ihre Liebes-, Gnaden- und Verzeihungsreligion unmöglich Eumeniden dulden kann! Verzeihe mir! Verzeihe mir im Namen deiner Christenheit, daß mir auch nur der Gedanke hieran kommen konnte! Ich sehe zu meinem Erstaunen, daß ich noch Schatten werfe, sogar auf dein geliebtes Abendland hinüber!«
»Beruhige dich!« bat ich ihn. »Der König des Schattenlandes, von welchem dein Märchen erzählte, hat Unterthanen überall. Auch bei uns! Doch will ein solcher Schatten einmal zur Furie werden, so behandeln wir ihn anders, als du deine Eumeniden behandelt hast. Wir lassen ihn sein trauriges Werk vollenden. Wir stören ihn nicht. Es ist ja doch wohl mehr als Strafe genug für ihn, daß er es thut! Wir sagen ihm sogar noch Dank dafür, jedoch nur öffentlich, selbst wenn er heimlich wirkt. Du siehst, wir haben sogar für die Furien nur Liebe und Verstand! Wir Christen wissen nur zu gut: Es kommt die Zeit, in der die Schatten schwinden. Was dann aus ihnen wird, das wissen wir zwar nicht, doch sagt das heilige Buch: "Ihre Werke folgen ihnen nach!" Und ich, ich möchte dereinst mit solchen Werken nichts zu thun haben. Ich habe mit den Menschen, selbst mit solchen Furien, nachsichtig zu sein, weil ich wünsche, daß Gott dann, wenn es sich um meine Abrechnung handelt, auch gnädig mit mir sein möge!«
Da sagte er in plötzlich ganz anderem Tone:
»Du sprichst von einem "Wir". Etwa mit Ueberzeugung, Effendi? Spielen wir Komödie miteinander? Denken und handeln wirklich alle Christen so, wie du mit diesem "Wir" mich glauben machen willst?«
»Komödie?« fragte ich. »Wer hat damit begonnen, ich oder du?«
Jetzt war er es, welcher bei diesen zwei Worten lächelte. Dieses Lächeln verriet mir, daß es ihm ganz lieb sei, von mir verstanden worden zu sein. Doch drängte ich ihn noch weiter, indem ich sprach:
»Wie war deine Bitte um Verzeihung gemeint, Ustad?«
»Ganz so, wie du willst; ganz so, wie du sie betonst. Man kann mit genau denselben Worten Glauben oder Zweifel, Vertrauen oder Mißtrauen, Lob oder Tadel aussprechen. Es kommt auf den Ton an und auf den Willen dessen, zu dem man redet. Du bist kein Kind. Ich weiß, daß ich nicht nötig habe, gegen dich auch noch in der Betonung deutlich zu sein, wenn ich es schon in den Worten, welche ich wähle, bin. Ich könnte dir eine große Ueberraschung bereiten, wenn ich dir sagte, wer und was meine Schatten, meine Furien waren. Denke jetzt einstweilen nicht an ein bestimmtes Land! Thue das nun selbst, was du mir angeraten hast: Abstrahiere einmal! Ich werde erst später hierüber sprechen. Nur eine Mitteilung, eine einzige, will ich dir heut schon machen. Sie betrifft – doch nein! Auch hierzu bist du noch nicht vorbereitet! Es muß ja alles kommen, wie es kommen soll, aber scheinbar ganz von selbst. Jede Entwickelung, welche Sprünge macht, ist eine falsche. – Bitte, kehren wir lieber und endlich, endlich wieder zu dem Briefe des Multasim zurück!«
Er hatte ihn vorhin fortgelegt. Jetzt nahm er ihn wieder in die Hand, um nun auch die Rückseite zu betrachten.
»Kein besonderes Petschaft!« sagte er. »Man hat den Brief mit einem goldenen Tuman versiegelt. Das kann ein jeder thun, der ein Goldstück besitzt, ist also gleichgültig für uns.«
»Nein,« sagte ich. »In solchen Dingen hat auch der geringste Nebenumstand Wert. Ich pflege darum alles, auch das scheinbar Unbedeutende in Betracht zu ziehen.«
»Meinst du, daß dieser Tumanabdruck uns auf irgend einen Gedanken bringen könnte?«
»Er kann es nicht nur, sondern er hat es bereits gethan.«
»Bei dir?«
»Ja. Denke an die Ringe! Silberne und goldene. Das bessere Metall bedeutet einen höhern Rang. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß es in Beziehung auf den Siegelverschluß ebenso ist?«
»Das ist allerdings nicht unmöglich. Hieran hätte ich nicht gedacht!«
»Je höher der Rang des Schreibenden, ein desto wertvolleres Geldstück hat er zu nehmen. Und weiter! Warum nimmt man keine Petschaft, sondern Münzen?«
»Durch das Petschaft würde man sich unter Umständen verraten. Münzen aber können keinen Anhalt geben.«
»Sehr richtig! Hieraus aber ist darauf zu schließen, daß der Inhalt dieser Art von Briefen, falls sie in falsche Hände kommen, für den Schreiber selbst gefährlich ist. Der Tuman ist die höchste Münze. Der Verfasser dieses Schreibens steht also hoch im Range. Sie ist ferner eine persische Münze. Der Brief aber wurde unten im Irak Arabi aufgegeben, wo türkisches Geld kursiert. Was ist hieraus zu folgern?«
»Daß der Schreiber ein Perser ist, und daß er dieses Goldstück als Petschaft bei sich trägt. Oder nicht?«
»Ja. Schau, wie nun auch dir Gedanken kommen!
Der Tuman wollte dir erst als gleichgültig erscheinen, und jetzt hat er dir schon so viel gesagt!«
»Aber doch ohne Erfolg! Tuman ist Tuman. Es kann nicht ein jeder, der so ein Goldstück besitzt, der Schreiber dieses Briefes sein!«
»Allerdings. Aber bei wem man dieses findet, grad dieses, den darf man doch wohl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit für den hohen Sill halten, der ihn abgeschickt hat?«
»Gewiß! Aber von wem könnte man erfahren, daß es grad dieser Tuman, also derselbe und kein anderer sei?«
»Von dem Tuman selbst.«
»Wieso?«
»Betrachte die Siegel genau, so wirst du es wohl finden!«
Er that es, doch, wie es schien, vergeblich.
»Ich sehe nichts Besonderes an diesem Abdrucke,« sagte er dann.
»Gehe über den Rand des Goldstückes hinaus,« unterwies ich ihn. »Was siehst du da?«
»Der Lack ist dick, der Abdruck also tief. An den Rändern giebt es auch Eindrücke, kleine, die wohl zufällige sind.«
»Nein, nicht zufällig. Schau sie genau an, und zwar nicht einzeln, sondern denke sie dir zusammen! Der Tuman hängt an einem dünnen Kettchen, dessen Glieder aus den Buchstaben Sa und Lam zusammengesetzt sind. Weil bei dem Siegeln zu viel Lack genommen worden ist, haben sich einige dieser Glieder mit abgedrückt. Nun ich dir dies gesagt habe, wirst du sie wohl deutlich als die genannten Buchstaben erkennen.«
»Allerdings, allerdings,« bestätigte er. »Nun ich es weiß, sehe ich es auch. Der Tuman hängt an einem Kettchen. Er wird also getragen, um immer bei der Hand zu sein. Aber wo?«
»Suche es! Die Antwort liegt schon bereit.«
»An welchem Orte?«
»Dort auf dem Briefe.«
»Ich sehe nichts!«
»So will ich es dir sagen, damit du auch das dann siehst. Der Tuman hänge am Ringe einer Geldbörse. Das andere Ende des Kettchens ist an diesen Ring befestigt. Das Goldstück steckt stets in der Börse. Wenn er sie durch das Aufschieben des Ringes öffnet, zieht er dadurch zu gleicher Zeit den Tuman hervor. Er braucht ihn auf diese Weise nicht erst unter den andern Geldstücken hervorzusuchen und kann ihn auch nicht irrtümlicherweise ausgeben oder gar verlieren, falls er nicht etwa die Börse selbst verliert.«
»Bist du allwissend, Effendi? Ich sehe nichts von allem, was du sagst!«
»Man sieht es aber doch sofort! Wieviel Siegel hat der Brief?«
»Fünf.«
»Er wurde von rechts unten nach links oben gesiegelt. Der Lack ist ein sehr guter, weicher. Er wird nicht sofort hart. Das Kettchen ist nicht so lang wie der Brief breit ist. Als der Absender links oben das letzte Siegel machte, kam infolgedessen die Börse quer auf die drei ersten Siegel zu liegen. Indem er mit den Fingern den Tuman da oben in den Lack drückte, drückte er zu gleicher Zeit, natürlich aber ohne es zu wollen, mit dem Handballen auf die Börse. Die drei Siegel waren noch nicht ganz kalt und hart geworden, und so kam es, daß von den Maschen des Geldbeutels und von dem untern Teile des Ringes Spuren entstanden, die gar nicht schwer zu bemerken sind. Du darfst nur nicht bloß nach den Abdrücken des Tuman sehen, welche tief liegen, sondern auch die hohen, breiten Ränder des Lackes betrachten; dann wirst du ganz dasselbe bemerken wie ich.«
Er sah genauer nach, gab dann den Brief dem Pedehr und sagte:
»Schau auch du ihn an! Würdest du etwas finden, wenn du nicht gehört hättest, was der Effendi sagte? Und nun sieht man die Maschen ganz deutlich und auch die Stelle, wo der Ring gelegen hat. Und da habe ich geglaubt, sehen zu können!«
»Du konntest auch sehen, aber du dachtest und kombiniertest nicht dabei,« erklärte ich. »Es ist gar nicht so leicht, wie ihr nun vielleicht denken werdet, mit dem körperlichen Auge diese Eindrücke, mit dem geistigen dann aber auch sofort das Kettchen, die Börse und den Ring zu sehen. Nachdem ich vorwärts geschlossen und die Sache gefunden habe, ist es nun für euch nicht schwer, auf diesem meinem Wege rückwärts zu gehen und mir zu bestätigen, daß ich mich nicht geirrt habe. Dein Wunsch, Ustad, ist also erfüllt: Du weißt, wo der Tuman getragen wird.«
»Ja,« lächelte er. »Wenn ich einen Menschen sehe, an dessen Geldbeutelringe, wenn er ihn aus der Tasche zieht und öffnet, an einem Sa- und Lam-Kettchen ein persischer Goldtuman hängt, so habe ich den Verfasser dieses Briefes entdeckt! Mein lieber Effendi, habe doch die Güte, ihn mir so schnell und so sicher zu bringen, wie du uns gelehrt hast, diese Siegel zu verstehen! Kannst du zaubern?«
»Nein. Es giebt überhaupt keine Zauberei. Aber wer zur rechten Zeit und an der rechten Stelle zuzugreifen versteht, dem wird vieles gelingen, worüber andere sich dann laut verwundern. Der Schreiber dieses Briefes ist ein Perser. Wir sind in Persien. Ist es eine Unmöglichkeit, daß er uns irgendwo und irgendwann begegne? Aber ihn dann auch wirklich sehen, ihn erkennen und – dann rasch zugreifen! Das ist es, was wir dann zu thun hätten! Würden wir das?«
»Ich hoffe es!« antwortete der Ustad, indem er den Brief von dem Pedehr zurücknahm. »Aber das Schreiben ist ja noch gar nicht geöffnet! Warum nicht?«
»Weil ich nicht der Adressat bin. Verschlossene Briefe sind mir heilig.«
»Was bist du für ein Mann! War den Schatten vielleicht an dir etwas heilig? Sogar ermordet solltet ihr von ihnen werden! Und nun wagst du dich nicht an dieses armselige Papier, obwohl du weißt, daß ein Schatten es beschrieben hat und daß es höchst wahrscheinlich Dinge enthält, welche guten, ehrlichen Menschen Schaden bringen müssen! Ich werde ihn sofort öffnen!«
Er nahm ihn derart in seine beiden Hände, daß ich sah, er wolle die Siegel erbrechen.
»Halt!« rief ich ihm zu. »Nicht so!«
»Wie denn?«
»Verletze die Siegel nicht!«
»Du meinst, ich solle ihn aufschneiden?«
»Auch nicht!«
»Aber was sonst? Warum diese Einwände?«
»Weil wir Grund haben, bedachtsam zu sein! Es ist möglich, daß wir diesen Brief zu unserem Vorteile brauchen können, entweder gegen den Verfasser selbst oder gegen Ghulam, an den er gerichtet ist, vielleicht auch gegen beide.«
»Um dies zu wissen, müssen wir ihn eben öffnen und lesen!«
»Aber mit Vorsicht! Wie nun, wenn wir nach dem Oeffnen guten Grund fänden, die Schatten glauben zu machen, daß er noch unverletzt sei?«
»Maschallah! Hältst du das für möglich?«
»Gewiß! Wir haben ihn so zu öffnen, daß wir ihn genau wieder so verschließen können, wie er jetzt verschlossen ist.«
»Wer kann das thun! Ich habe kein Geschick zu solchen Dingen!«
Bei diesen Worten reichte er das Schreiben mir. Nun untersuchte ich es sorgfältiger, als ich es früher gethan hatte. Ich war der Meinung gewesen, daß es ein zusammengefaltetes Blatt sei, aus nur einem Stücke bestehend. Als ich den Brief nun gegen das Licht hielt, bemerkte ich, daß er aus zwei Teilen bestand, dem Umschlage und dem eigentlichen Schreiben, welches innen lag. Der Umschlag war kein Couvert in unserm Sinne, mit vier auf die Rückseite geschlagenen und dort zusammengeleimten Ecken, sondern einfach ein zusammengelegtes und mit den Enden ineinander gestecktes Papier, ungefähr so, wie unsere Apotheker die Papierumschläge fertigen, in denen sie ihre Pulver verkaufen. Es gab also auf der Rückseite nicht vier zusammenstoßende Ränder, sondern nur einen, der quer über die Mitte ging. Er war durch das mittelste Siegel verschlossen worden. Die andern vier Siegel erschienen also als vollständig überflüssig, obgleich anzunehmen war, daß man auch sie nicht ohne Grund angebracht hatte.
Es handelte sich also nur darum, den Mittelverschluß zu öffnen, ohne daß dies später zu entdecken war. Als ich das den beiden andern mitteilte, bat der Pedehr mich um den Brief. Er bekam ihn, hielt ihn auch gegen das Licht, griff mit dem Zeigefinger erst rechts, dann links in den Umschlag und sagte lachend:
»Wo sich Gelehrte vergeblich die Köpfe zerbrechen, da findet der ungelehrte Mutterwitz sofort das Richtige. Ich mache auf, ohne ein Siegel anzurühren!«
Er zog auf der einen Seite den nach innen geschlagenen Teil des Umschlages heraus, schob hierauf zwei Finger hinein und brachte das Schreiben hervor. Der Ustad lachte, und ich stimmte ein. Der Pedehr aber sagte ernst:
»Hier zeigt sich wieder einmal, wie wenig sich der Böse auf den Bösen verlassen kann. Und wenn der Ungerechte seine Absichten sogar fünfmal versiegelt, sie kommen trotzdem an den Tag und zwar infolge seines eigenen Leichtsinnes und seiner Unvorsichtigkeit!«
Wir schlugen das Schreiben auf. Wir waren fast begierig, es zu lesen. Wir thaten das zu gleicher Zeit, ich mit meinem Kopfe ganz neben dem des Ustad. Aber schon nach kurzer Zeit erhob er den seinen, ich den meinen. Wir sahen einander verwundert an.
»Kannst du es lesen?« fragte er mich.
»Nein,« antwortete ich.
»Ich auch nicht! Ist dir diese Sprache bekannt?«
»Nein.«
»Auch mir nicht! So können nur ganz wilde Geschöpfe sprechen. Aber die schreiben doch nicht!«
»Es ist Täliq-Schrift!«
»Ganz wohl! Dieselbe Schrift, von welcher wir vorhin –«
Er hielt mitten in der Rede inne, sprang auf, machte eine Gebärde der Ueberraschung und fuhr dann fort:
»Effendi, welch ein Gedanke! Wenn er richtig wäre!«
»So sprich ihn aus!«
»Diesen Brief hat ein Sill geschrieben. Du behauptest, der Multasim sei auch ein Sill und hältst ihn für den Adressaten. Wir haben vorhin bei ihm ein Täliq-Alphabet gefunden. Sollte dieses Alphabet sich etwa auf diesen Briefwechsel beziehen?«
Dieser Gedanke war zwar frappierend, aber ganz natürlich. Wir nahmen das kleine Heftchen vor, schlugen es auf und begannen zu vergleichen. Wie freuten wir uns, schon gleich bei den ersten Buchstaben zu sehen, daß der Ustad mit seiner Vermutung das Richtige getroffen hatte! Es stand in dem Heftchen ganz deutlich, wie das Schreiben, welches wir geöffnet hatten, zu lesen war. Wir hatten sehr einfach die Buchstaben so zu verwechseln, wie es dort angegeben wurde. Indem ich auf meine Umschreibung in das deutsche Alphabet auf Seite 62 dieses Buches zurückgreife, ist dies so zu verdeutlichen, daß t statt a, u statt b, v statt c, w statt d u. s. w. zu lesen war.
Der Ustad holte zwei Papierblätter, für sich eines und für mich das andere. Dann setzten wir uns hin, um die vorgeschobenen Buchstaben in die richtigen zu verwandeln. Als wir damit fertig waren, stellte es sich heraus, daß zwischen den beiden Schreiben nicht der geringste Unterschied bestand.
Nun hatten wir mit dem Sinne der Worte zugleich den Inhalt des Briefes kennen gelernt. Für den Uneingeweihten wäre er selbst jetzt nach der Entzifferung ein Rätsel geblieben. Aber so wenig wir über die Sillan wußten, so war es doch genug für uns, diesen Inhalt zu verstehen. Der Brief lautete folgendermaßen:
»An Ghulam el Multasim, meinen Henker!
Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul- ï-Sch ïraz auf der Brust von Rafadsch Azrim zu erblühen hat. Das soll am fünften Tage des Monates Schaban geschehen, zur Zeit des Abendgebetes, keine Stunde früher, keine später. Du brauchst ihn nicht zu suchen. Er wird dir zugeführt, wo es auch immer sei. Du weißt, daß ich zwar unsichtbar, doch auch allmächtig und allgegenwärtig bin! Blüht sie nicht ihm, so blüht sie sicher dir!
Der Aemir-i-Sillan.«
»Welch eine wichtige Entdeckung wir da machen!« rief der Ustad aus, als diese Zeilen laut vorgelesen worden waren. »Wenn man doch wüßte, wer dieser Aemir-i-Sillan ist!«
»Greif nicht sofort zu hoch!« forderte ich ihn auf.
»Wie meinst du das?« fragte er.
»Laß uns, ehe wir Fragen aufwerfen, den Brief erst geistig anschauen! Der Inhalt ist uns verständlich; aber das, worauf er sich bezieht, kennen wir noch nicht. Wir haben es uns zu suchen, auf dem Wege des Nachdenkens. Auf den "Obersten der Schatten" können wir nur am Ende dieses Weges stoßen. Du aber willst, um ihn sofort zu finden, den ganzen Weg überspringen und machst also einen Salto mortale in das Ungewisse hinein. Jugendlicher Stürmer!«
Da lachte er vergnügt, was ihn bei seinem hohen Alter unendlich rührend machte, und sprach die heitere Bitte aus:
»So führe mich auf diesem Wege an deiner Hand so Schritt für Schritt spazieren, wie es für schwache Greise, wie wir sind, sich geziemt!«
»Ja, komm, und hänge bei mir ein! Wir wollen nach dem Gewaltigen suchen gehen, dem Mord und Rosenduft gleichbedeutend sind, weil sich in ihm, dem schon von weitem nur nach intellektuellem Dünger Riechenden, die Empörung gegen die geheiligte Lebensordnung verkörpert.« »Ob wir ihn aber auch finden werden?«
»Wenn nicht heut, so doch wahrscheinlich morgen. Wir brauchen uns keine Zeit zu nehmen, denn wir haben ja Zeit; es drängt uns nichts! Beginnen wir also von vorn, ganz vorn bei dem Anfang unserer Kenntnis von den Schatten!«
»Das wäre also in jener Tigrisbucht, in welcher die ersten Sillan zu euch kamen?«
»Ja. Welcher Nationalität waren sie?«
»Perser.«
»Gut! Merke dir das! Welchen Titel hatte ihr Anführer?«
»Pädär-i-Baharat, Vater der Gewürze. Er klagte aber darüber, daß er jetzt nur als Sill-i-Safaran, als Schatten des Safrans zu betrachten sei. Auch das war also ein Titel.«
»Bitte, merke dir auch dieses, bis ich darauf zurückkomme! Was hatte er für einen Ring?«
»Einen goldenen. Er bekleidete also eine hohe Charge.«
»Welcher Sill war dann der nächste, den wir trafen?«
»Der Bettler, welcher mit seinem Weibe zu euch auf das Floß kam.«
»Ein Perser?«
»Nein. Er hatte einen silbernen Ring war also ein ganz gewöhnlicher Sill.«
»Weiter! Dann?«
»Der Säfir. Er war Perser und hatte einen goldenen Ring.«
»Bitte, fahre fort!«
»Ghulam el Multasim mit dem goldenen Ringe und Ahriman Mirza mit seiner noch höheren Auszeichnung ,beide aber Perser.« »Du hast die Pascher vergessen, welche wir am Birs Nimrud gefangen nahmen. Hältst du sie für Perser!«
»Nein. Denn sie wurden begnadigt, türkische Zollbeamte zu werden, was wohl nicht hätte geschehen können, wenn sie persische Unterthanen gewesen wären. Warum fragst du bei diesen allen nach der Nationalität?«
»Weil dies der Weg ist, auf dem wir jetzt miteinander spazieren gehen. Die höheren Sillan waren Perser, die niedrigen aber nicht. Du suchst aber nach dem Aemir-i-Sillan. Wenn alle höheren aus Persien kamen, wo ist da wohl mit fast untrüglicher Sicherheit der allerhöchste erst recht zu finden?«
»Natürlich auch in Persien! Das würde für mich sogar eine ganz unumstößliche Gewißheit sein, wenn es nicht einen Umstand gäbe, der gegen diese Annahme spricht.«
»Ich errate, was du meinst.«
»Nun, was?«
»Daß der Brief unten in Korna aufgegeben worden ist, so weit von hier, auf türkischem Gebiete.«
»Ja, das ist es, Effendi. Es folgt daraus, daß der Schreiber desselben entweder da unten im osmanischen Irak Arabi wohnt, oder sich zur Zeit, als der Brief geschrieben wurde, dort aufgehalten hat. Du siehst, daß auch ich mit meinen Gedanken spazieren zu gehen verstehe!«
»Allerdings! Aber man thut das doch nicht mit zugemachten Augen!«
»Höre, ich glaube, sie ganz gewiß offen zu haben! Oder nicht?«
»Nein. Wenn du sie offen hättest, müßtest du doch wohl den Säfir sehen!«
»Den Säfir? Den sehe ich ja, sogar sehr deutlich.
Er befindet sich in den Ruinen von Babylon und hat mit Esara el Awar in Korna, dem das Schreiben übergeben wurde, nichts zu thun.«
»Um so wichtiger aber ist er für die Frage, welche wir beantworten wollen. Sage mir, Ustad, was man unter einem Säfir versteht!«
»Einen Gesandten. Einen Vertrauensmann, welchen man schickt, damit er eine wichtige Angelegenheit erledige.«
»Vollständig richtig! Wer hat diesen Säfir abgeschickt?"«
»Natürlich der Aemir-i-Sillan.«
»Wohin?«
»Hinab nach Babylon.«
»Also nach dem Irak, wo auch Korna liegt und wo der Brief aufgegeben worden ist. Ich habe den letzteren in Basra bekommen. Dort aber hat er wer weiß wie lange bei dem Kaffeewirte gelegen, und von Korna ist er wohl auch nicht sofort abgegangen. Nun bitte ich dich, nachzurechnen! Du kennst unsere Erlebnisse. Frage dich: Wann erschien der Säfir in Babylon? Vergleiche hiermit die Zeit, in welcher der Brief in Korna abgegeben worden sein muß. Was findest du dann?«
»Daß diese Zeiten stimmen, daß sie dieselben sind! Effendi, es scheint, du hast die Augen offener als ich!«
»Warte nur; ich bin noch gar nicht fertig. Ich sehe noch mehr! Wann wurde der Säfir zum erstenmal erwähnt?«
»Bei der Gefangennahme des alten polnischen Bimbaschi in den Ruinen. Da war er auch schon da.«
»Sehr richtig! Er ist also schon vor Jahren und wiederholt im Irak gewesen. Er kennt die dortigen Sillan. Er mußte also auch Esara el Awar kennen, an den der Brief abgegeben wurde. Und nun kommt der Hauptpunkt: Schickt man einen Gesandten dahin, wo man sich selbst befindet?«
»Nein; gewiß nicht!«
»Ist also anzunehmen, daß der Aemir-i-Sillan zu derselben Zeit im Irak war, als sein Stellvertreter sich dort befand?«
»Schwerlich!«
»Hierzu kommt, daß es sich um höchst wichtige Dinge handelte. Die Vernichtung der Karawane des Kammerherrn, die Bestechung des Sandschaki von Hilleh und noch so manches andere erscheint mir jetzt in einem ganz andern Lichte als damals. Ich werde später hierauf kommen. Aber das alles war so wichtig, daß der Aemir-i-Sillan ganz gewiß persönlich gekommen wäre, wenn er sich zu derselben Zeit in dieser Gegend befunden hätte. Ich bin also aus diesen und noch andern Gründen vollständig überzeugt, daß er es nicht selbst war, der diesen Brief in Korna abgegeben hat. Ich nehme vielmehr an, daß dies von dem Säfir besorgt worden ist.«
»Wenn du das in dieser Weise darlegst, muß ich dir recht geben. Aber Ghulam, der Henker, welcher das Schreiben erhalten sollte, war doch in Persien. Warum wurde es ihm nicht direkt geschickt? Warum mußte es einen so weiten Weg über das Ausland machen? Ich begreife das nicht. Etwa du?«
»Ja. Ich glaube, den Grund zu kennen.«
»So bin ich wohl begierig, ihn zu erfahren.«
»Er heißt: Vorsicht! Der Aemir-i-Sillan hat sich zu verstecken. Er hüllt sich in das tiefste Geheimnis ein. Seine persönliche Sicherheit erfordert das. Du hast doch gehört, daß der Pädär-i-Baharat Empörungsgedanken gegen ihn hatte; er sprach von noch anderen, welche ganz derselben Gesinnung seien. Der "Oberste der Schatten" hat sich also nicht nur vor dem öffentlichen Gesetze, sondern sogar vor seinen eigenen Leuten sehr in acht zu nehmen. Niemand darf erraten, wer er eigentlich ist. Wir wissen ja, daß er stets einen Kettenpanzer trägt, wenn er am "Montag des Soldes" in die Versammlung seiner sogenannten Pädärahn tritt. Je größere Macht er einem seiner Untergebenen anvertraut, desto mehr hat er selbst ihn dann zu fürchten. Vor wem hat er sich wohl am meisten in acht zu nehmen?«
»Das weiß ich nicht!«
»Nicht? Es ist aber doch so leicht, es sich zu denken! Die Macht liegt nicht im Besitze, sondern in der Ausführung der Gewalt. Die Gewalt über Leben und Tod aber ist die höchste. Kennst du den nicht, der die hierauf bezüglichen Befehle auszuführen hat?«
»Maschallah! Jetzt weiß ich es! Ghulam el Multasim. Er ist ja der Henker! Du dachtest doch an ihn, Effendi?«
»Gewiß! Der Aemir-i-Sillan hat sich vor niemand so zu hüten wie vor seinem Henker, weil dieser der blutige Schatten seiner eigenen Verbrechen ist. Er hat sich unausgesetzt und so sorgfältig vor ihm zu verstecken, daß nicht die geringste Ahnung aufkommen kann, wer der "Fürst" ist und wo er sich befindet. Und doch hat er ihn ebenso unausgesetzt und sorgfältig im Auge zu behalten, um stets über die Gesinnungen des Henkers genau unterrichtet zu sein. Darum schreibt er ihm hier in dem Briefe: "Du weißt, daß ich zwar unsichtbar, doch auch allmächtig und allgegenwärtig bin!" Er wird sich also fast immer in der Nähe des Henkers befinden, teils aus Vorsicht und teils, um ihn stets zur Ausführung seiner Befehle an der Hand zu haben und dabei beaufsichtigen zu können. Wer den "Fürsten der Schatten" finden will, muß zu Ghulam el Multasim suchen gehen!« Da klatschte der Pedehr seine Hände laut zusammen und rief aus:
»Effendi, ich war zwar still bisher, aber ich bin auch mit spazieren gegangen. Es ist ja ganz erstaunlich, was du alles siehst und zusammenholst, wenn man so mit dir geht! Doch sobald man es dann in die Hände nimmt und ganz genau betrachtet, möchte man sich fast vorwerfen, blind gewesen zu sein. Jetzt aber sind auch mir einige Gedanken gekommen, welche ich dir mitteilen möchte. Erlaubst du es?«
»Von Erlaubnis kann keine Rede sein. Ich bitte dich darum,« antwortete ich.
»Ihr habt vorhin noch einige Sillan vergessen. Nämlich die zwei Männer im Khan Iskenderijeh, wo ihr eure Pferde tränktet und von den beiden hörtet, daß die Karawane des Kammerherrn kommen werde. Sie waren keine Perser und hatten nur silberne Ringe. Auch das deutet darauf hin, daß die hohen Sillan sich nur hier in Persien befinden. Ich habe aber einen noch viel besseren Beweis hierfür. Nämlich der Pädär-i-Baharat erwähnte eine Synagoge, in welcher diese Hohen am Montage des Soldes zusammenkommen. Läge diese Synagoge da, wo man arabisch oder türkisch spricht, so hätte er sie ganz gewiß Sinawon, Chawra oder Jähudi Chawrasy genannt. Da er sie aber als Mäjmä-i-Yähud bezeichnete, so ist anzunehmen, daß sie hier in Persien liegt. Ebenso vermute ich, daß die Pädärahn ihren Wohnsitz nicht in großer Ferne von ihr haben können, weil es ihnen sonst nicht möglich sein würde, sich an dem Versammlungstage regelmäßig einzufinden. Giebst du mir da recht?«
»Ja. Grad hierauf wollte ich euch später aus ganz besondern Gründen aufmerksam machen.«
»Und nun die Gewürze,« fuhr der Pedehr fort.
»Die sind mir aufgefallen. Es wurde von einem "Vater der Gewürze" gesprochen, von einem "Schatten des Safrans". Auch der Saflor wurde genannt. Der Pädär-i-Baharat sagte: "Warum bin ich für alle Gewürze bestimmt und habe doch nur den Safran bekommen. Muß ich das alles dulden?" Es scheint, daß die Pflichten und Obliegenheiten eines jeden Pädär mit dem Geruche eines bestimmten Gewürzes bezeichnet werden, und daß der Pädär-i-Baharat die Erfüllung dieser Pflichten zu überwachen habe und dafür besser bezahlt werde als die anderen. Wenn du mir doch erlaubtest, auf diesen "Wohlgerüchen" bis zum "Rosenduft" emporzusteigen, Effendi!«
»Thue es!« antwortete ich rasch. »Ich höre, daß du auf dem richtigen Wege bist.«
Er fuhr fort:
»Was die Sillan thun, ist Sünde, ist Verbrechen. Sie beginnen mit dem Schmuggel, den man kaum für ein Vergehen hält, und steigen bis zum Mord hinauf, der schwersten aller strafbaren Thaten. Zwischen diesen beiden liegt gewiß die ganze Reihe der Verbrechen, deren jedes mit einem besondern Geruche bezeichnet wird. Nicht?«
»Jawohl,« nickte ich. »Es giebt wohl keinen Sill, von dem man sagen könnte, daß er "in einem guten Geruche" stehe! Sprich weiter!«
»Der Duft der Rose bedeutet den Mord. Das wissen wir, seit heute die deine aufgebrochen werden sollte. Der des Safran scheint die Schmuggelei zu sein. Habe ich recht, wenn ich annehme, daß der Brief an den Multasim den Befehl zur Ermordung eines Menschen enthält?«
»Ja.«
»So ist es doch auffällig, daß nicht von der Rose im allgemeinen, sondern von der köstlichen Gul-i-Schiraz die Rede ist!«
»Mir fällt das gar nicht auf. Es ist das einfach eine Steigerung.«
»Eine Steigerung des Mordes? Kann ich, wenn ich jemand totschlage, dies noch steigern?«
»Ich meinte es anders. Der Duft der gewöhnlichen Rose bedeutet die Ermordung einer gewöhnlichen Person. Was für eine Person wird da wohl gemeint sein, wenn man nach der herrlichsten aller Rosen greift?«
»Ah, das ist die Lösung? Es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen, sondern um einen wahrscheinlich sehr hochstehenden Menschen!«
»So ist es; ich wenigstens denke es mir so. Du hast unsern Gedankengang mit deiner Erwähnung der Gewürze unterbrochen. Wir waren bei der Ueberzeugung angekommen, daß der Aemir-i-Sillan in der Nähe des Multasim zu suchen sei. Er traut ihm nicht. Er will ihm nicht wissen lassen, daß er nur seine Hand auszustrecken brauche, um ihn zu vernichten. Er will ganz im Gegenteile die Meinung in ihm erwecken, daß er sich persönlich sehr weit von ihm befinde, womöglich gar jenseits der persischen Grenze. Darum hat er diesen Brief durch den Säfir hinunter nach dem Irak Arabi bringen lassen, von wo er dann zurück nach Persien und zu dem Multasim zu kommen hatte.«
Da fiel der Ustad ein:
»Das klingt zwar sehr richtig, doch stößt mir dabei ein Bedenken auf!«
»Welches?« fragte ich.
»Errätst du es nicht?«
»Doch! Wenn meine Ansicht die richtige ist, so muß der Multasim jedenfalls zu erfahren haben, von welchem Orte der Brief kommt?«
»Ja, so dachte ich. Es steht aber nichts davon im Briefe!«
»Sehen wir genau nach. Vielleicht finden wir etwas. Und wenn es auch weiter nichts als nur irgend ein Zeichen wäre. Ein Personenname wird freilich nicht angegeben sein, weil dies zum Verrate führen könnte.«
Wir untersuchten hierauf beide Seiten des Briefes, konnten aber nichts entdecken, selbst gegen das Licht gehalten nicht. Darum nahmen wir hierauf den Umschlag her. Wir hatten bisher nur seiner äußern Seite Beachtung geschenkt. Als wir nun auch die innere betrachteten, da sahen wir allerdings, mit einer feinen Feder ganz an den äußersten Rand geschrieben, in kleinsten Buchstaben einige Worte gekritzelt, die jedem andern als dem Eingeweihten unbedingt entgehen mußten. Sie lauteten: »Durch den Dartschin in Korna von dem Aemir.« Dartschin ist das persische Wort für Zimt.
»Nun?« fragte ich, über diese Entdeckung erfreut.
»Ja; es scheint sich alles, was du schließest, bestätigen zu sollen,« antwortete der Ustad. »Ich habe nicht geahnt, daß man bei einem Spaziergange auf solchem Wege, an welchem fast nichts zu stehen scheint, so schöne und so wichtige Blumen sammeln könne. Es giebt jedenfalls bei den Sillan eine Vorschrift darüber, wo und wie solche Auskünfte beizufügen sind. Aber nun kommt die Hauptsache: Wer ist der, welcher ermordet werden soll?«
»Ich hoffe, daß wir auch das finden werden.«
»Mir scheint es unmöglich!«
»Mir nicht. Es handelt sich jedenfalls um einen hochstehenden Herrn. Du bist am Hofe bekannt. Du wirst die Namen aller hervorragenden Männer Persiens wissen.«
»Die weiß ich allerdings. Aber einen Rafadsch Azrim kenne ich nicht. Dieser Name klingt so arabisch und so persisch, aber einen mir bekannten Mann, der ihn trägt, giebt es nicht.«
»Vielleicht heißt er gar nicht so, sondern anders,« fiel da der Pedehr ein. »Auf dem Umschlage wurde doch auch Dartschin anstatt Esara el Awar gesagt!«
»Aber Rafadsch Azrim ist kein Gewürz!« erwiderte der Ustad.
»Sollte da das Alphabet nicht helfen können?«
Wir versuchten es; aber auch das war vergeblich. Da aber schien den Ustad ein plötzlicher Gedanke zu überkommen. Er nahm den Brief in beide Hände, las und rief dann aus:
»Ich habe es! Wie leicht, und wie aber auch wie gräßlich!«
»Nun, wer ist's?« fragte ich gespannt.
»Lies selbst! Lies den Namen rückwärts! So leicht! Wie konnten wir nicht hierauf kommen!«
Er wollte mir das Schreiben geben; ich nahm es aber gar nicht, denn man brauchte die geschriebenen Worte nicht zu sehen, um zu wissen, daß der Name Rafadsch Azrim, wenn man ihn von rückwärts liest, Dschafar Mirza lautet.
Da sahen wir uns alle drei nicht nur erstaunt, sondern höchst betroffen an.
»Das ist doch nicht etwa Mirza Dschafar, mein Bekannter?« fragte ich.
»Doch!« versicherte der Ustad.
»Aber dieser war ja nicht Prinz!«
»Er war es. Aber er setzte während seiner großen, mehrjährigen Studienreise den Mirza nicht hinter, sondern vor seinen Namen. Er glaubte Grund zu haben, jedes Aufsehen zu vermeiden. Er reiste im Namen des Schah-in-Schah, und das sollte niemand wissen.«
»Was ist er jetzt?«
»Er hat kein besonderes Amt. Er verzichtet auf alle Ehren und Würden. Er will sich nicht unter Die reihen lassen, welche angeben, die Diener des Beherrschers zu sein, und in Wirklichkeit nur seine Gegner sind. Aber er hat ihm sein ganzes Leben und seine ganze Kraft geweiht, und wo es gilt, das Volk von der Güte und von der Gerechtigkeit seines Herrn zu überzeugen, da ist er stets vorhanden.
»So muß ihn Ahriman Mirza hassen, wenn er ihn kennt!«
»Ob er ihn kennt! Sie stehen einander gegenüber wie Feuer und Eis, wie Licht und Finsternis, wie Liebe und Haß, wie Tugend und Verbrechen.«
»Wo ist Dschafar Mirza jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Kürzlich war er in Teheran beim Schah, der sich jetzt in Isphahan befindet. Vielleicht ist er auch dort. Ich will dir nur sagen: Er ist mein Freund! Das ist genug! Ich muß ihn warnen! Sofort warnen!«
Da legte ich ihm die Hand auf den Arm und sagte:
»Nein! Du wirst ihn nicht warnen!«
»Höre ich recht? Verlange von mir alles, nur das nicht!«
»Ich verlange es!«
Da trat er von mir zurück, sah mir mit ungewissen, fast zornigen Augen in das Gesicht und fragte:
»Soll ich irr werden an dir, Effendi?«
»Werde irr! Doch sei nicht unbedachtsam!«
»Unbedachtsam? Es giebt hier nur eine einzige Bedachtsamkeit, einen einzigen Gedanken, einen einzigen Entschluß und eine einzige Pflicht für mich: meinen Freund zu retten!«
»Das sollst du auch!«
»Ohne ihn zu warnen?«
»Ja. Denn wenn du ihn warnst, so ist er zwar für jetzt zu retten, für später aber wahrscheinlich verloren!«
»Beweise es!«
Da schüttelte ich bedauernd den Kopf und sagte:
»Ich hörte aus deinem eigenen Munde, daß du mich liebest, daß du dich Eins mit mir fühlest. Das war, als ich mich in Todesgefahr befand. Da sagte ich dir, daß, wenn Geister sich küssen, es für sie fortan nur noch einen vereinten Pulsschlag gebe. Und nun? Jetzt? Ist es wirklich Liebe gewesen? Ein Kuß der Geister? Kaum eine Stunde später tritt schon eine andere Gestalt zwischen dich und mich! Die Einheit schwindet, und des Lebens Zwiespalt schiebt uns auseinander! Du willst Beweise! Kannst du nicht vertrauen? Soeben noch gingst du an meiner Hand "spazieren". Ich zeigte dir, daß ich viel besser und viel weiter sah als du. Da kommt ein Bild aus vergangenen Tagen. Es steigt aus deiner "Gruft" zu uns empor. Es ist der Schatten, der dich einst regierte. Kannst du ihn bannen? Ja? Versuche es!«
Er stand gesenkten Hauptes vor mir und sagte nichts. Da ließ der Pedehr seine begütigende Stimme hören:
»Zürne nicht, Effendi! Wir vertrauen dir! Wenn du willst, daß Dschafar Mirza nicht gewarnt werden solle, so wird er nicht gewarnt. Du hast deine Gründe!«
»Ja; ich habe sie und will sie euch nun sagen. Wann ist der Tag des Wettrennens, Pedehr?«
»Es ist der fünfte des Schaban,« antwortete er.
»Wann soll Dschafar Mirza ermordet werden?«
»Am fünften des Monats Scha –«
Er kam nur bis zu dieser Silbe, denn da fiel der Ustad schnell und verwundert ein:
»Maschallah! An – an ganz demselben Tage!«
»Merkst du etwas, Ustad?« fragte ich ihn.
»Nein!« gestand er.
»Noch nichts? Sein Blut wird hier bei euch vergossen werden sollen!«
»Effendi!« fuhr er auf.
»Effendi!« rief vor Schreck auch der Pedehr.
»Ich bitte euch, nicht zu erschrecken!« fuhr ich fort. »Es war das anders wohl vorherbestimmt. Als der Aemir-i-Sillan befahl, daß Dschafar Mirza am fünften Tage des Monates Schaban sterben solle, wußte er noch nicht, daß er diesen Tag hier bei euch verbringen werde.«
»Hier bei uns – hier bei uns? fragten beide wie mit einer Stimme.
»Ja, hier im Duar der Dschamikun!«
»Der Aemir-i-Sillan?« rief der Ustad.
»Er selbst?« stimmte der Pedehr ein.
»Er selbst!« bestätigte ich. »Er kommt mit seinem Henker.«
»Der ist doch hier! Den haben wir ja schon!« warf der Ustad ein. »Hast du vergessen, daß der Multasim der Henker ist? Unser Gefangener, oder vielmehr dein Gefangener, dem du es wohl verleiden wirst, jemals wieder hierher zu kommen!«
»Verleiden? Das würde der größte Fehler sein, den ich als euer Freund begehen könnte! Wenn ich mich heut oder morgen an ihm vergreifen wollte, so käme vielleicht schon übermorgen ein ganzes Heer von "Schatten" über euch, die ich mit dieser meiner That geschaffen hätte! Wir wollen Feinde vernichten, aber keine neuen hervorrufen!«
»Willst du ihn etwa laufen lassen?« fragte der Pedehr.
»Ja,« gestand ich ein.
»Unmöglich!«
»Doch!«
»Den Henker freigeben, welcher Dschafar Mirza ermorden soll! Bedenke, Effendi!« rief er warnend aus.
»Ich habe es bedacht!«
Da sagte der Ustad in beruhigendem Tone zum Pedehr:
»Du vergissest eins: Der Multasim hat den Brief ja nicht erhalten. Er weiß also gar nicht, was der Aemir-i-Sillan von ihm verlangt, und kann es folglich auch nicht thun.«
»Du irrst!« warf ich ein. »Er wird den Brief bekommen.«
»Von wem?«
»Von uns. Wenn auch nicht direkt.«
Da waren sie beide still. Darum hob ich freundlich mahnend den Finger und sagte:
»Pedehr, Pedehr! Noch soeben hast du dich verständig meiner angenommen, und jetzt schaust du mich an, als ob du ganz und gar vergessen hättest, daß "ich wohl meine Gründe haben werde"! Ihr seid mit mir fast durch den ganzen Brief gegangen und habt die Augen immer noch nicht offen. Ich sah euch bei dem Gedanken, daß der Aemir-i-Sillan hierherkommen könne, förmlich erschrecken. Warum doch nur? Er ist ja schon hier gewesen!«
»Wann?« fragte der Ustad im Tone des Unglaubens.
»Vielleicht schon oft, nämlich heimlich. Ganz offen aber heut.«
»Mit den Persern. Er ist ja Perser!«
»Effendi, ich weiß nicht, was ich sagen soll!«
»Sage nichts, sondern suche!«
»Wo?«
»Hier in diesem Briefe und in den Reden, welche uns gehalten worden sind. Man soll nicht nur körperlich, sondern auch geistig sehen und hören lernen!«
»Ich sehe nichts, und ich höre nichts!«
»Und doch meine ich grad den Ton, in welchem dieser Brief verfaßt und jene Rede gehalten worden ist. Du sollst ihn jetzt noch einmal hören. Ich bin überzeugt, daß du mir dann sofort den Namen des Aemir-i-Sillan sagen wirst.«
Ich nahm das Schreiben mit der linken Hand hoch, las es in der beabsichtigten Weise vor und ahmte mit der Rechten die heut beobachteten, unendlich selbstbewußten Gesten nach. Kaum war das letzte Wort von meinen Lippen, so rief der Pedehr:
»Der Mirza, der Mirza, wie er leibt und wie er lebt!«
Der Ustad aber holte tief Atem. Seine Augen schienen größer zu werden. Sie schauten durch die offene Thür in die Nacht hinaus, genau mit jenem Blicke, den er in die unsichtbare Ferne gerichtet hatte, als er heut vor der Dschemma unter dem Baume stand.
»Ah – ri – man – Mir – za –!« seufzte er dann. »Wer ist von uns beiden der Hellsehende, Effendi? Als ich heut vor euch stand und diese Stimme hörte, deren Nachahmung dir jetzt so täuschend gelungen ist, da stiegen alte, ferne, ferne Bilder in mir auf. Es ging ein Schatten von mir aus, weit über diese meine geliebten Berge hinüber. Im Westen angekommen, richtete er sich auf, um Gestalt, um Farbe und um Leben anzunehmen. Ich erkannte diese Gestalt und dieses Gesicht: ich war es selbst; es war das meine! Da aber begann es, sich zu verwandeln. Es nahm andere Konturen und andere Züge an, und als sich das vollzogen hatte, als wer stand ich dann da? Als Ahriman, als Ahriman Mirza, der jetzt, in diesem Augenblick, zu meiner Dschemma sprach. Hatte dieser aus meiner Vergangenheit auftauchende Schatten hier in der Gegenwart menschliches Wesen angenommen, damit mir endlich, endlich die Erleuchtung komme, wem ich den raschen Absturz meines Lebensweges zu verdanken habe? Wer warf mich damals nieder? Wer gab mir den Gedanken ein, zu fliehen? Du sagtest, Effendi, daß es nicht das Leben, sondern mein eigener Schatten gewesen sei. Ich hatte ihn so oft, so oft gesehen, doch nie erkannt. Heut zeigte er mir endlich sein Gesicht. Heut war er Ahriman, der geistige "Weltzerstörer", der mit dem niedern Sinn der blinden Masse kost, um alles ihm Verhaßte zu vernichten.«
»Wohl dir,« sagte ich. »Du hast den Richtigen gesehen!«
»Meinst du es auch? Den Mirza mit dem falschen Prunkgeschmeide? Den Geist der nachgemachten Edelsteine, mit deren Flimmern er der Menge imponiert? Den wohlgesinnten Schmeicheldemokraten, in Wahrheit aber grasser Demagog? Den treuen Förderer des öffentlichen Wohles, der aber nur sein eigenes erstrebt? Den immer hilfsbereiten Volkserbarmer, der aber dieses seines Volkes Seele mit egoistischer Berechnung niedertritt? Den anerkannten Feind und Richter jeder Lüge, der aber doch, sobald sie ihm nur paßt, grad vorzugsweise sie in seinem Stalle züchtet? Ich hätte ihn schon längst erkennen sollen, und bitte dich, Effendi, merk ihn dir!«
Ich machte, ohne zu antworten, ganz unwillkürlich eine Handbewegung, welche ihn zu der Frage veranlaßte:
»Wie meinst du das? Was wolltest du mit dieser Geste sagen? Ich glaubte zwar, du habest ihn bei mir zum erstenmal gesehen, doch da du schon so oft im Morgenlande warst, so ist es möglich, daß du ihm auch früher schon begegnet bist.«
»Im Morgenlande?« lachte ich. »Nein, nein! Doch kenne ich ihn auch; mehr habe ich nicht zu sagen. Du hast ihn gut gezeichnet. Wenn man dich sprechen hört, kann man sich gar nicht irren. Nun aber muß ich dich nach einem fragen: Du hast ihm heut verziehen. Aus welchem Grunde wohl?«
»Verziehen? Ich? Wieso?«
»Du gabst ihm jenes Märchen aus "Tausend und ein Tag", in welchem selbst der Teufel selig wird. Woher nahmst du die Dichtung, daß die Hölle schon vor der Menschheit auf zum Himmel steige?«
»Verzeihung ist edler als Rache. Weißt du das nicht, Effendi?«
»Ich weiß es. Aber der Verzeihung muß die Reue vorangehen. Das ist Gottes Ordnung! Auch ich habe gefehlt, viel gefehlt. Als ich das erkannte, habe ich bereut und habe gebüßt. Ich war nur ein Mensch, also zu entschuldigen. Ich verzeihe gern, unendlich gern, weil auch mir verziehen wurde. Aber ich bin nicht Gott, der seine Ordnung ändern kann. Soll ich allein bereuen, mein Schatten aber nicht? Ich sage dir, ich hätte ihm ein ganz anderes Märchen erzählt, nicht aus "Tausend und einer Nacht" und nicht aus "Tausend und einem Tag", sondern jenen wunderbaren Schluß aus "Tausend und ein Narr", in welchem der Sultan sie alle zu den heulenden und tanzenden Derwischen sperren läßt!«
Da sah er vor sich nieder, sinnend, längere Zeit. Dann sagte er, wie um sich zu entschuldigen:
»Und die Liebe, Effendi, deine christliche Liebe?!«
»Sei still, Ustad! Wende dich nicht an die meinige; du meinst ja doch die deinige! Die wahre christliche Liebe weiß nichts von Charakterlosigkeit und zweckloser Gefühlsduselei! Sie wirft sich nicht wie ein feiles Weib jedem unwürdigen Leichtsinn in die Arme. Sie lacht und lächelt nicht den ganzen Tag. Sie ist ein ernstes Himmelskind. Sie hat den Ratschluß Gottes auszuführen. Sie weiß gar wohl das, was sie soll und will. Sie trägt das Buch der Gnade in der einen, das Buch der Strafe in der andern Hand. Nun hat der Mensch zu wählen. Die Reue jubelt; die Teufel zittern. Für Narren aber hat sie weder Lohn noch Strafe. Sie läßt sie ohne jede Antwort schwatzen und giebt dem Sultan recht, der sie ermächtigte, in ihren "Tausend und ein Märchen" vor aller Welt zu heulen und zu tanzen!«
»So, so sieht deine Liebe aus?« fragte er. »Ich denke, Gott läßt seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte!«
»Die Sonne da oben, den Himmelskörper, ja. Er giebt sogar dem Ungerechten alles, was er zum irdischen Leben braucht. Aber wenn er das in seiner Güte thut, so hütet er sich in seiner Gerechtigkeit, dies auch auf das andere Leben anzuwenden. Er weiß, daß dann alle Ungerechten den Himmel füllen würden, um die Gerechten nicht hereinzulassen! Nach dieser deiner Liebestheorie würde der Himmel schnell zur Hölle werden, nicht aber die Hölle zum Himmel. Ihre letzte logische Folge ist, daß alles Gute verschwinden und Gott zum Teufel werden müßte. Unsere Bibel spricht nicht ohne Grund von dem Wurme, der nie stirbt, von dem Feuer, welches nie verlischt, und von dem Orte, an welchem Heulen und Zähneklappern ist. Indem du in deinem Märchen die Hölle selig werden ließest, hast du alle diese Qualen für die armen Geschöpfe aufgehoben, die von ihr verführt worden sind. – War das etwa der Inhalt deiner Bücher, die du schriebst? Hast du jene angebliche Gottes- oder Christusliebe gelehrt, welche jedem Schuldigen die Strafe erläßt, nur damit Gott seinen Himmel nicht leer stehen zu lassen brauche? Bist du ein Verkünder jener unüberlegten Barmherzigkeit gewesen, welche die Bösen schont, damit sie gegen die Guten um so unbarmherziger verfahren können? Hast du jene pseudogöttliche Langmut gepredigt, welche das Unkraut ungehindert emporschießen läßt, bis der Weizen erstickt worden ist? Wenn du mir diese Fragen mit ja beantworten mußt, so hast du die Sünde und das Laster, die Selbstgerechtigkeit und die Heuchelei großgezogen und darfst dich nicht darüber wundern, daß diese deine Schatten schließlich dich auch selbst noch überwältigt haben! Du bist für die christliche Schwäche eingetreten, aber nicht für die christliche Liebe! Du hast diese Schwäche durch dein eigenes Leben in das Praktische übertragen und bist durch sie zum Rohre geworden, welches brechen mußte, als es sich nicht mehr tiefer beugen konnte! Du glaubtest, berufen zu sein, dich –«
»Halt ein, Effendi, halt ein!« rief er aus, indem er die Hände abwehrend gegen mich bewegte. »Du hast recht, recht, o wie so recht! Du hast vorhin von Liebesduselei gesprochen. Es war richtig! Ich dusele noch, jetzt noch, heute noch! Als du den Multasim vorhin laufen lassen wolltest, wohl um dann später seinen ganzen Anhang in die Hände zu bekommen, war ich dagegen. Ich wollte seine sofortige Bestrafung, aber mild, schonend. Ich gab ihn scheinbar ganz in deine Hände, aber wenn es deine Absicht gewesen wäre, ihn vollständig unschädlich zu machen, ihn zu vernichten, so hätte ich mich dagegen gewehrt mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen!«
»Wirklich? Das ahnte ich freilich nicht!«
»Es ist so, ganz gewiß! Du siehst, daß ich ehrlich bekenne. Du hast mich in diesen letzten fünf Minuten kuriert. Gefühlsduselei! Wie wahr, wie wahr, wie wahr! In dieser Duselei habe ich mir mein eigenes Mark aus Leib und Geist gesogen. Nun aber soll es anders, anders, anders werden! Ich bin zwar alt, sehr alt, aber noch habe ich Knochen, und noch habe ich Muskeln, nicht nur am Körper, sondern auch am Geiste. Erlaube mir, daß ich mich an dir stähle! Ich richte mich auf. Jawohl! Ich weiß, daß ich es werde! An dir will ich mich heben. Sei du die Hand, an der ich Kraft erlange! Sei du es jetzt, von dieser Stunde an! Ich gehe morgen fort, für eine ganze Woche. Ich bitte dich, an meine Statt zu treten! Du sollst der Herr im "hohen Hause" sein. In deiner Hand weiß ich mein kleines Reich am besten aufgehoben. Hier mein Pedehr hört, was ich dir jetzt sage. Er wird, was du befiehlst, so auszuführen wissen, als ob ich selbst es ihm befohlen hätte.«
»Du willst verreisen?« fragte ich erstaunt.
»Ja,« antwortete er.
»Darf ich wissen, wohin?«
»Natürlich! Du bist ja nun der Herr, von dieser Stunde an! Ich gehe nach Isphahan, zum Schah-in-Schah. Infolge dessen, was ich heut von meinen Feinden hörte.«
»Vortrefflicher Gedanke!« stimmte ich ihm bei.
»Es freut mich sehr, daß du derselben Ansicht bist. Ich hab es ihnen ehrlich mitgeteilt, daß ich mir an der rechten Stelle Hilfe suchen werde. Sie höhnten wohl darüber. Wer sich allein auf seinen Schah verläßt und dieses ohne Furcht und offen sagt, den wird man zwar verspotten und zum Gelächter machen; doch wenn die Zeit des Schah gekommen ist, dann regt die Schar der Amdschaspands die Schwingen, und Geist um Geist fährt mit dem Schwert darein, dem Kindesglauben Himmelssieg zu bringen!«
Er hatte meine Hand ergriffen und schaute mit einem Blicke aufwärts, in welchem allerdings ein Vertrauen glänzte, dem keines Spötters Worte je imponieren konnte.
»Du willst den Herrscher selbst sprechen?« fragte ich.
»Nur ihn! Zwischen ihm und mir giebt es keine Mittelsperson. Ich sage ihm alles, alles, so wie ein Kind zu seinem Vater spricht. Es ist wie ein Gebet, bei dem ein Dritter doch nur stören würde.«
»Um was willst du ihn bitten?«
»Um nichts. Ich sage ihm, was ich zu sagen habe. Dann thut er selbst, was er für richtig hält. Ich stehe vor ihm aufrecht wie vor Gott. Ich meide jene kriecherische Weise, die auf gebeugten Knieen sich bis zum Throne schiebt, um dort den eignen Vorteil zu erschleichen und dann, wenn sie den Schah verlassen hat, die um ihr Recht Gebrachten zu verachten. Es ist mir also völlig unbekannt, was er für mich und uns bestimmen wird. Doch bin ich überzeugt, daß es weit über alle Wünsche geht, die du für mich im Herzen tragen könntest.«
»Aber der weite Weg! Fürchtest du ihn nicht?«
»Fürchten? Den Weg zu meinem Schah? Wie weit ist doch der Himmel von der Erde! Und täglich steig ich auf, um mit Chodeh zu sprechen! Dem Glauben, dem Vertrauen ist nie ein Weg zu weit und nie ein Herrscher fern! Auch mache ich diese Reise nicht allein. Ich habe Dschamikun an meiner Seite, die mich begleiten werden. Auch geht der Kaufmann mit, der heute bei uns schläft.«
»Agha Sibil?«
»Ja.«
»Sibil heißt Schnurrbart. Ist dieses Wort sein richtiger Name, oder nennt man ihn vielleicht nur seines Bartes wegen so?«
»Wahrscheinlich ist dies letztere der Fall, denn einen Bart, wie er ihn trägt, hab ich noch nie gesehen. Ich halte mich von Kaufgeschäften fern. Ich lasse das gern dem Pedehr hier über. Er kann dir Auskunft geben, wenn du willst.«
Es verstand sich ganz von selbst, daß mir erwünscht war, wo möglich Bestimmtes über den Handelsmann zu erfahren; darum fragte ich den Scheik:
»Kennst du die Verhältnisse dieses Agha Sibil?«
»Ich pflege nicht mit Leuten Geschäfte zu machen, die ich nicht kenne. Er ist reich, sehr reich, aber ehrlich und bescheiden.«
»Hat er Kinder?«
»Eine Tochter und zwei Enkel.«
»Sind die Enkel die Kinder dieser Tochter?«
»Sie sind es.«
»Wenn du die Namen wüßtest!«
»Ich kenne sie, denn wenn ich nach Isphahan komme, pflege ich sein Gast zu sein. Die Tochter heißt Aelmas. Ihr Mann war ein türkischer Offizier, der in Damaskus erschossen worden ist. Ihr Sohn, welcher heut mit seinem Großvater hier bei uns ist, heißt Ikbal, ihre Tochter Sefa.«
»Ist die Tochter verheiratet?«
»Nein. Sie will im Hause Agha Sibils bleiben.«
»Wie kommt es, daß die Tochter eines persischen Kaufmannes in Isphahan die Frau eines türkischen Offiziers in Damaskus geworden ist. Dieser letztere ist doch wahrscheinlich Sunnit gewesen, während sie Schiitin war!«
»Ich glaube, im Kreise der Familie sogar gehört zu haben, daß er vordem Christ gewesen ist. Wenn ich mich nicht irre, stammte er aus dem Lande, welches man Lehistan nennt. Er lernte den Kaufmann in Palästina kennen, wo dieser damals wohnte. Als die Tochter desselben seine Frau geworden war, kam er nach Damaskus. Agha Sibil zog mit. Bei der großen Christenverfolgung dort ereignete sich das schwere Unglück, welches die Familie traf. Der Offizier wurde wegen Ungehorsam erschossen. Agha Sibil wurde vollständig ausgeplündert und mußte als Schiit fliehen. Es gelang ihm, mit der Tochter und deren Kindern nach Persien zu entkommen, wo er ein neues Geschäft begann und es durch Fleiß und Ehrlichkeit zu seinem jetzigen Vermögen brachte. Deine Augen leuchten, Effendi. Warum? War dir von dem, was ich erzähle, vielleicht schon etwas bekannt?«
»Ja,« antwortete ich, indem ich vor freudiger Erregung im Zimmer hin und her zu gehen begann.
»Was? Oder wer?«
»Wer? Der Offizier.«
»Kanntest du ihn, ehe er erschossen worden ist?«
»Nein, sondern als er erschossen worden war.«
»So hast du seine Leiche gesehen.«
»Leiche? Hm! Ja! Denn er war eigentlich eine Leiche. Aber ich habe mit dem Erschossenen gesprochen.« »Maschallah! Tote reden doch nicht mehr!«
»Zuweilen doch! Besonders Erschossene, welche keine Kugel bekommen haben!«
»Keine – Kugel –? Effendi, du scherzest wohl!«
»Ich spreche im größten Ernste. Ich habe mit dem Toten gesprochen, und ihr beide kennt ihn auch.«
»Wir –? Daß ich nicht wüßte!«
»Ich habe euch doch von jenem alten Bimbaschi in Bagdad erzählt, welcher dann Mir Alai geworden ist!«
»Allerdings. Bei dem du wohntest, und der von dem Säfir gefangen genommen wurde?«
»Derselbe! Er ist nun ein doppelter Bekannter von euch, denn ihr kennt ihn erstens durch mich und zweitens durch den Kaufmann Agha Sibil. Ich bin sogar nun überzeugt, daß ihr ihn auch noch persönlich kennen lernen werdet. Er ist nämlich der Offizier, welcher damals in Damaskus erschossen wurde.«
Da fuhr der Pedehr von seinem Sitze auf, als ob er von einer gewaltigen, unsichtbaren Spannfeder emporgeschnellt worden sei.
»Der Christ, um den so viel geweint worden ist?« rief er aus. »Der Sunnit, dem die Schiiten treu geblieben sind, obgleich er starb? Der Mann, der von seinem Weibe angebetet wurde? Der Vater, den seine Kinder heut noch lieben, obwohl sie sich seiner Person nicht erinnern können? Der ist nicht tot? Der lebt noch? Der ist ihnen allen, allen auch ehrlich treu geblieben, trotzdem er in ein anderes Land gegangen war? Effendi, ist das wohl zu glauben! Ich weiß, daß du nicht lügst, doch bitte ich, erzähle uns, wie das gekommen ist!«
»Ja. Ich will und muß es euch erzählen. Ich will euch nicht warten lassen, bis er selbst erscheint, um euch zu beweisen, daß, wenn Gott will, der Tod nur eine leere Sage ist. Setzt euch hier vor mir nieder, und hört, was ich berichte!«
Da sie über den alten Zoll-Bimbaschi schon alles Uebrige von mir erfahren hatten, so brauchte ich jetzt nur über das zu sprechen, was mir von ihm über seine Familienverhältnisse mitgeteilt worden war. Ich schilderte hierauf seine Trauer über die scheinbar Verlorenen und erwähnte schließlich meine Bemühung, die Hoffnung in ihm zu erwecken, daß sie doch vielleicht noch leben könnten. Da stand der Ustad von seinem Sitze auf, legte die Hände langsam ineinander und sagte, indem ein tiefer Atemzug seine Brust schwellte:
»Du hast zu diesem deinem Freunde von einer Auferstehung der "Totgesagten" gesprochen, und wir sind berufen, diese Auferstehung in das Werk zu setzen. Auch ich kenne einen Totgesagten. Er wird von Vielen, Vielen für tot gehalten. Sie glauben jetzt, daß er in ein anderes Land gegangen sei. Wie denkst du über ihn, Effendi? Du weißt ja, wen ich meine!«
Da fühlte ich, daß ein ganz seltenes Licht in meine Augen kam. Es wallte mir heiß vom Herzen nach dem Kopfe. Ich ging zu ihm hin, schlang meinen Arm um seine Schulter, legte meine Wange an die seine und fragte ihn:
»Wünschest du, daß er von diesem aufgezwungenen Tode auferstehe?«
Er nickte nur, sagte aber nichts. Doch legte er seine Hand an meinen Kopf, um ihn fest an den seinigen zu drücken.
»Wohlan!« fuhr ich fort. »Da wir einmal im Begriffe stehen, die "Auferweckung der Totgesagten" in das Werk zu setzen, so wollen wir bei dieser Gelegenheit auch ihn mit auferstehen lassen! Ist dir das recht?«
Seine mir jetzt so nahen Augen schauten mit unendlicher Liebe in die meinen.
»Kannst du es? Willst du es?« fragte er.
»Für dich so gern!« antwortete ich.
»Denkst du, daß es geschehen kann?«
»Da wir uns lieben, ist es leicht, so leicht!«
»Wie aber wird es wohl zu machen sein?«
»Ich bitte dich, das mir zu überlassen! Leg deine Hand getrost hier in die meine! Und nun höre, was ich sage: Fühlst du den Mut, den Heldenmut in dir, mir deine Seele, deinen Geist zu schenken, so feiern wir die Auferstehung hier, indem wir ineinander uns versenken!«
Da schlug er beide Arme um mich, zog mich so fest, so fest an sich, als ob unsere Körper nur einen einzigen Leib zu bilden hätten, und antwortete:
»Ich habe den Mut; ich bin dein; nimm mich hin!«
Da verlöschte plötzlich das Licht. Es war vollständig herabgebrannt gewesen. Der Pedehr ging fort, dem abzuhelfen. Als er wiederkam, standen wir mit einander draußen auf dem Söller. Der Ustad hatte soeben mit der Hand auf die vor uns liegende, vom Himmel bestrahlte, kleine Welt gedeutet und gesagt:
»Es ist, als hätte ich das alles für dich vorbereitet, damit den Seelen meiner Dschamikun nun auch der rechte Geist gegeben werde, jener Geist der liebenden Unerbittlichkeit, der mir die Augen öffnete und uns in diesem "Schattenland" so nötig ist! Du hast mich heut verdoppelt, und dadurch auch die Hoffnung auf den Erfolg. Zwei Ustawat, und doch ein einziger nur! Stelle zwei Kerzen nebeneinander.
Geben sie zwei Scheine? Nein. Es ist nun Doppelkerzenlicht!«
Da trat der Pedehr an die Thür und forderte uns auf:
»Ihr könnt wieder hereinkommen. Es ist nun heller als vorher.«
Wir folgten diesen Worten. Er zeigte nach dem Tische. Da standen jetzt zwei Kerzen statt der einen. Sonderbar! Der Ustad lächelte.
»Siehst du?« scherzte er mir zu. »Seien wir Autoren oder nur Autor, wir liefern die Gedanken, und er als praktischer Pedehr der Dschamikun ist schnell bereit, sie in Gestalt zu fassen. So soll es immer sein. Dann wird es im Duar bald ein bewegtes, frohes Leben geben!«
Er liebte es, in Bildern zu sprechen. Wer ihn verstehen wollte, hatte nachzudenken. So auch hier. Wen oder was meinte er mit den Dschamikun, denen sein ganzes Herz gehörte? Wo lag oder liegt wohl der Duar, über den die "Glocken des Gebetes" für jeden Wunsch erklangen? In Persien? Ich will es nicht verraten. Die Folge wird es zeigen!
Wir waren mit unserer Besprechung noch nicht fertig, und doch mahnte der Scheik:
»Es ist jetzt wohl schon Mitternacht. Willst du nicht vor der Reise schlafen, Ustad? Und der Effendi steht noch im Genesen. Durchwachte Nächte sind ihm untersagt.«
Da antwortete der erstere: »Ich habe weder Zeit noch Lust zum Ruhen. Was in mir lebt, kennt keine Mitternacht.«
Und ich fügte hinzu:
»Mein Körper ist gewöhnt, dem Willen zu gehorchen. Ich fühle jetzt noch keine Müdigkeit. Die Seele hat die Macht, ihm, dem Geschwächten, ihre Kraft zu leihen. Ich halte aus, bis wir zu Ende sind.«
Da griff der Ustad nach meiner Hand, fühlte den Puls und sagte verwundert:
»Wie ruhig und kräftig! Genau so, wie der meine! Jawohl, ich glaube, daß wir weitersprechen können. Wo waren wir stehengeblieben? Doch wohl bei Ahriman. Der wieder erstandene Offizier brachte uns auf ihn. Willst du hier fortfahren, Effendi?«
»Ja,« antwortete ich. »Ich werde dem alten Mir Alai einen Brief nach Bagdad schreiben. Er bekommt ihn durch einige Dschamikun, welche zu ihm reiten, um ihn mit samt seinem dicken Kepek zu holen. Er hat schon vor dem Tag des Wettrennens einzutreffen. Du erlaubst seinem Schwiegervater, an diesem Tage sein Verkaufszelt hier aufzuschlagen. Ich spreche mit ihm, noch ehe du mit ihm abreisest. Er wird seine Tochter und deren Kinder mitbringen. Das giebt ein Wiedersehen, auf welches ich mich unendlich freue. Ist dir diese Anordnung recht?«
»Was du bestimmst, das ist mir immer recht! Soll Agha Sibil am Tage des Wettrennens überrascht werden, oder willst du ihm schon jetzt alles sagen?«
»Schon jetzt, alles! Es ist Grausamkeit, einem Menschen eine Freude vorzuenthalten, die man ihm sofort bereiten kann. Und so große seelische Erregungen, wie man hier zu erwarten hat, sollen möglichst vorbereitet sein.«
»Ich gebe dir recht. Ist das erledigt?«
»Ja. Nehmen wir also nun Ahriman Mirza wieder vor! Ich habe zu versuchen, den Beweis zu führen, daß er der Aemir-y-Sillan ist.«
»Den hast du schon geführt. Wenigstens für mich ist es so gut wie bewiesen.«
»Wodurch?« »Durch den Ton, in welchem du uns seinen Brief vorlasest. Dieser Ton ist nur der seine. So spricht und schreibt kein anderer. Auch hat er das höchste Sillan-Zeichen, welches wir kennen.«
»Wissen wir denn genau, daß es das höchste ist?«
»Freilich nicht. Es ist ja möglich, daß es ein noch höheres giebt.«
»Nicht nur möglich, sondern ganz gewiß!«
»Effendi! Da widersprichst du dir doch selbst!«
»Nein!«
»Gewiß! Wenn es ein höheres Zeichen giebt, so ist auch ein höherer Sill da. Der es trägt, steht also über dem Mirza!«
»Das ist ein logisch richtiger, aber ein praktisch falscher Schluß. Er trägt sie nämlich beide!«
»Beide? Das sagst du mit solcher Sicherheit? Woher weißt du es?«
»Ich bitte dich, nachzudenken. Als Oberster ist er im Besitze sämtlicher Zeichen, die es giebt. Er hat ja auch den Tuman an der Kette. Ich bin überzeugt, daß er, falls er es für nötig hält, auch den silbernen Ring ansteckt, um sich für einen gewöhnlichen Sill auszugeben. Wenn er dagegen als Aemir in der Versammlung seiner Pädärahn erscheint, wird er das höchste Zeichen tragen. Du hast aber gehört, daß er sich zu fürchten hat. Er wird in dieser Versammlung ganz gewiß sein Gesicht maskieren. Außerhalb derselben, im gewöhnlichen Leben, kann er es nicht verbergen. Wird er sich da durch das Tragen des höchsten Zeichens verraten?«
»Nein, gewiß nicht. Ein Zeichen muß er aber auch da tragen. Warum nimmt er da nicht einen gewöhnlichen Ring?«
»Alter Psycholog!« scherzte ich da. »Weißt du denn noch nicht, daß das Laster selbstgefälliger als die Tugend, die Häßlichkeit eitler als die Schönheit ist? Und grad dieser Mann besitzt eine Gefallsucht, die ihresgleichen wohl kaum wiederfindet. Du hast ja seinen Anzug und sein Pferdegeschirr gesehen. Alles an ihm ist Prunk, Flitter, Prahlerei und Flunkerei! Einen gewöhnlichen Ring wird er nur aus Hinterlist anstecken. Wenn sich solche Leute einmal herablassen, haben sie stets die Bosheit im Nacken sitzen. Für einen seiner Pädärahn gehalten zu werden, das giebt sein Hochmut, sein Eigendünkel nicht zu. Dieser Dünkel läßt sogar die Vorsicht außer Acht. Er steigt bis an die letzte Grenze der Gefahr hinauf. Wenn er sich nicht als "Fürst der Schatten" zu erkennen geben darf, so soll man ihn aber doch für eine hervorragende Charge halten. Hast du noch nicht gehört, daß sich das Verbrechen unter seinesgleichen größer zu machen strebt, als es in Wahrheit ist? Die Sorge um sein Leben und seine Sicherheit gebietet ihm, sich kleiner zu machen; aber mehrere Schritte tiefer zu steigen, das fällt ihm gar nicht ein. Er thut wahrscheinlich nur einen einzigen. Er ersinnt ein Zeichen, welches scheinbar tiefer weist, aber auch nur scheinbar, denn ich bin überzeugt, daß nur er allein, aber kein anderer ein solches Gürtelschloß besitzt. Wer es sieht, wird ihn für einen hohen Sill halten, wenn auch nicht für den höchsten. Auf diese Weise wird er beiden gerecht, seiner Vorsicht und auch seiner Eitelkeit. Nun aber habe ich eins zu fragen: Er sagte heut vor der Dschemma: "Ihr seht mich jetzt zum ersten Male. Auch mein Name war euch bisher unbekannt. Ihr wißt also nicht, wer und was ich bin." Wie konnte er in dieser Weise sprechen? Waren seine Person und sein Name euch wirklich so unbekannt, wie er glaubte?«
»Nein,« antwortete der Ustad. »Er glaubte es auch nicht. Er weiß vielmehr sehr genau, daß besonders ich ihn kenne, weil ich ihn schon öfters getroffen und auch mit ihm gesprochen habe.«
»Das ist es, was ich wissen wollte! Sein Hochmut hat ihn verleitet, mehr zu sagen, als er beabsichtigte. Ihr kennt seine Person und seinen Namen. Das weiß er. Er behauptete trotzdem, ihr wisset nicht, wer und was er sei. Er muß also Jemand und Etwas sein, was außerhalb des Namens Ahriman Mirza liegt. Was ist das nun? Etwas Gewöhnliches oder etwas Bedeutendes. Ich meine das Letztere, denn er sagte in Beziehung hierauf: "Meine Freundschaft kann selig machen, und meine Feindschaft kann verdammen." Wer das sagen kann, muß sich für den Höchsten im ganzen Reiche halten! In welcher Beziehung aber ist er dies? In gutem oder in bösem Sinne? Im guten, in gesetzlichem Sinne ist es der Schah. Es bleibt also nur die Kehrseite des Guten, also das Böse. Wer da sagt: "Meine Feindschah kann verdammen", ist unmöglich ein guter Mensch. Hierzu kommt die Erwägung, daß er das, was ihm seine Macht verleiht, heimlich halten muß. Es ist also etwas Verbotenes, etwas Ungesetzliches. Das sind die einzelnen Posten. Ziehen wir nun die Summe!«
»Laß mich es thun!« bat der Pedehr. »Ich will doch auch mitsprechen!«
»Gut! Thue es!« antwortete ich, weil ich mich über sein Bemühen freute, mir mit Aufmerksamkeit zu folgen.
»Das Ergebnis ist überraschend,« sagte er. »Es giebt zwei Gewalten im Reiche, eine gute und eine böse. Die gute ruht in den Händen des Schah-in-Schah; die böse übt Ahriman Mirza aus. Da aber, wie wir wissen, der Aemir-i-Sillan diese Macht in den Händen hat, so muß Ahriman Mirza der "Fürst der Schatten" sein. Ist es so richtig Effendi?«
»So ungefähr. Sag, Ustad, bist auch du mit dieser Summe einverstanden?«
»Vollständig! Sie ist richtig!« erklärte er.
»So will ich darauf verzichten, euch weitere Beweisesgründe zu bringen, obgleich ich noch mehrere habe. Für mich sind Ahriman Mirza und der Aemir-i-Sillan eine und dieselbe Person! Auch das stimmt, daß er und sein Henker nahe beisammen sind. Er läßt ihn nicht aus den Augen. Nachdem wir uns hierüber klar geworden sind, kommt ein anderes. Nämlich die Frage: Was will der Mirza hier bei den Dschamikun? Welche heimlichen Gründe und Absichten haben ihn hierher geführt? Diese Frage giebt mir zu denken; ja, sie könnte mir sogar, wie ich fühle, Kopfschmerzen machen!«
»Warum?« fragte der Ustad. »Du siehst etwas zu schwarz!«
»Sag lieber: Ich sehe in das Schwarze! Es ist nicht zu leugnen, daß er direkt hat hierherkommen wollen. Daß er auf diesem seinem Wege auch die Kalhuran aufsuchte, geschah seinem Henker zuliebe. Was wollte er hier?«
»Die Blutrache!« warf der Pedehr ein.
»Die berührte ihn nicht, sondern nur den Multasim. Auch war er schon unterwegs nach hier, ehe es eine Veranlassung zur Blutrache gab.«
»So war es, um die Rede zu halten, die wir von ihm gehört haben!«
»Damit schießest du zwar nicht daneben, aber auch nicht in den Mittelpunkt! Er wollte euch einen andern Scheik geben. Wißt ihr, was das heißt? Er kam zu den Dschamikun, um den segensreichen, geistigen Einfluß ihres Ustad zu vernichten. Und wie glaubte er, dies am besten anfangen zu müssen? Indem er vor allen Dingen den Pedehr beseitigte, dessen Beruf es ist, den Dschamikun die geistigen Erzeugnisse ihres Ustad auf materiellem Wege zu übermitteln. Er sollte durch irgend einen Tifl ersetzt werden, der sich zwar nur einer Kerbelsuppen-Erziehung rühmen kann und einiger Pflaumen wegen die ganze Welt in Aufruhr schreit, aber doch die hochwillkommene Eigenschaft besitzt, für jeden bockbeinigen Gaul und für jede abgetriebene Mähre, die man ihm bringt, ein sattelfester Reiter zu sein! Der Mirza war überzeugt, er brauche den Dschamikun nur solche alte, hartmäulige Gäule und spatkranke Mähren vorreiten zu lassen, um aus ihnen gefügige MassabanSiehe Band III S. 229. zu machen!«
»Du weißt, wie er mit diesem seinem Vorschlage von uns abgewiesen worden ist,« versetzte der Pedehr. »Kopfschmerzen würden also überflüssig sein!«
»Denkst du? Er hat sich aber nicht abweisen lassen, sondern er will ihn am Tage des Wettrennens wiederholen und wird da wohl versuchen, seinen Worten in irgend einer Weise Nachdruck zu geben.«
»Es wird aber denselben Mißerfolg haben. In dieser Beziehung braucht es dir nicht bange zu sein!«
»Gewiß nicht! Als ich von dem Mittelpunkte sprach, den du nicht getroffen hast, schwebte mir etwas anderes vor. Ich erwähnte es schon einmal, als ich meine Vermutung aussprach, daß der Aemir-i-Sillan wahrscheinlich schon hier gewesen sei, wenn auch nur heimlich.«
»Solltest du dich nicht wenigstens diesmal irren?«
»Möglich! Denn ich habe keinen Beweis. Es ist nur Vermutung. Aber es giebt Vermutungen, die schon durch den Umstand, daß sie einem überhaupt kommen können, bestätigt werden! Ich habe euch auf den Umstand aufmerksam zu machen, daß euer Duar den Sillan nicht so ganz unbekannt ist, wie ihr zu glauben scheint.«
»Das wäre uns allerdings neu!«
»Mir nicht! Wie hat es der Multasim heut gemacht? Er hat die Pferde nicht weit draußen vom Duar gelassen, wie man doch thut, wenn man die Verhältnisse nicht kennt, sondern er ist erst ganz in der Nähe desselben abgestiegen.«
»Er kannte die Oertlichkeit, weil er heut am Tage zweimal dort vorübergeritten ist!«
»Das macht mich um so bedenklicher! Er traf grad dort auf den Wächter, welcher dann schnell kam, uns zu warnen. Warum hat er nicht angenommen, daß am Abende erst recht ein Wächter da sein werde? Hätte der Sohn desselben nicht zufälligerweise an seine Schafe gedacht, so wäre der Multasim nicht entdeckt worden! Dann schlich er sich quer nach der hinteren Seite des Duar. Er kannte also die Lage desselben genau. Die Häuser und Zelte liegen in zwei Reihen nach dem Aufgange zum "hohen Hause" hin. Es war kein Mondenschein. Kann da ein vollständig Fremder unbemerkt durchkommen? Sodann der vielgekrümmte Weg herauf zum Hause! Ich kenne ihn. Rechne ich die Länge des Duar hinzu, so hätte ein im Anschleichen geschulter Indianer gewiß wenigstens zwei volle Stunden gebraucht, um bis herauf an das Thor zu kommen. Vom Verlöschen unserer Lichter an bis zum Erscheinen des Multasim war aber nur die Hälfte dieser Zeit vergangen. Der Weg scheint ihm also nicht unbekannt gewesen zu sein.«
»Er hat aber bewiesen, daß er im Anschleichen außerordentlich geschickt ist!«
»Das ändert nichts, denn ich habe einen wenigstens ebenso geschickten Indianer angenommen, und der Henker war ja nicht allein. Es befanden sich zwei Begleiter bei ihm, die durch ihre so prompt besorgte Gefangennahme bewiesen haben, daß sie es nicht einmal verstanden, sich genügend zu verstecken! Nein, nein! Dieser nächtliche Besuch kann unmöglich der erste sein! Ich werde mir den Multasim vornehmen, ehe ich ihn früh entlasse. Vielleicht gelingt es mir, etwas aus ihm herauszufragen.«
Die erwähnten Einwürfe waren mir von dem Pedehr gemacht worden. Jetzt schien der Ustad sich auf etwas zu besinnen. Er richtete die Frage an ihn:
»Wie war es doch mit jenem fremden Perser, den wir hier pflegten, bis sein verstauchter Fuß heil geworden war? Aus welchem Grunde hatte er das Mauerwerk erstiegen?«
»Um nach Altertümern zu suchen,« antwortete der Gefragte. »Er war aus Teheran und hatte dort einen Laden, in welchem solche Sachen verkauft werden. Es war an einem Dienstag früh, als wir ihn fanden.«
»Und da denke ich auch noch an jenen Arzt aus Hamadan, der an einem Montage sich so lange weigerte, bei uns zu bleiben.«
»Der hatte sich verirrt. Man traf ihn, als es schon dunkel war, und führte ihn zu uns herauf. Er wollte sich gar nicht halten lassen, obwohl er keinen wirklich triftigen Grund dazu angeben konnte. Diese beiden Personen kommen hier gar nicht in Betracht. Sie waren ehrliche Leute, aber keine Sillan. Dagegen fiel mir soeben etwas anderes ein. Erinnerst du dich der Peitsche, welche Tifl fand, als er hinüber auf die Mauern stieg um nach wildem Kekik otu für seine Küche zu suchen?«
»Natürlich weiß ich das. Es ist noch gar nicht lange her, und die Peitsche liegt dort hinter meinen Büchern. Ich schrieb den Tag, an welchem sie gefunden wurde, auf einen Zettel dazu, um dadurch vielleicht auf den Verlierer zu kommen. Sie gehörte keinem Dschamiki. Das fiel mir damals nicht auf. Jetzt aber beginne ich, bedenklich zu werden. Fällt dir sonst noch etwas ein?«
»Nein.«
»Mir auch nicht.«
Da rief ich aus:
»Es ist auch genug vollständig genug! Was seid ihr doch für liebe, gute, unbefangene Menschen!«
»Siehst du auch hier einen Grund, Verdacht zu hegen?« fragte der Ustad.
»Einen nur? Zehn, zwanzig Gründe habe ich! Bitte, zeige mir zunächst die Peitsche!«
Er holte sie. Es war eine Reitpeitsche. Am Griffe hing ein Zettel. Darauf stand: Dienstag den 9ten Ssäfär. Dieser Griff war schwarz lakiert. An einer Stelle, wo der Lack abgesprungen war, sah ich helles Blech. Er war also hohl. Der ebenso schwarze Knauf war dick und schwer, jedenfalls mit Blei ausgegossen. Ich versuchte, ihn zu drehen. Es gelang. Als ich ihn heruntergeschraubt hatte, war die Höhlung offen. Es steckte etwas Dunkles darin. Ich zog es heraus. Es war ein Stück schwarzer, dichter, zusammengerollter Seidenstoff, den ich auseinanderzog. Drei Löcher! Für Mund und Augen! Vier Schnuren, um über den Ohren und hinten am Halse zusammengebunden zu werden.
»Was ist das?« fragte ich, indem ich mir die Seide vor das Gesicht hielt.
»Eine Larve!« rief der Pedehr.
»Ja, eine Larve!« bestätigte der Ustad.
»Und von wem habe ich vermutet, daß er jedenfalls maskiert vor die Pädärahn trete?«
»Von dem Aemir-i-Sillan,« antwortete der letztere.
»Am Dienstag gefunden! Wann aber ist der "Tag des Soldes", von welchem der Pädär-i-Baharat sprach?«
»Des Montags.«
»An was für einem Tage wollte sich der Arzt aus Hamadan nicht bei euch halten lassen?«
»Eines Montag abends.«
»An was für einem Tage wurde der Altertümerhändler mit verstauchtem Fuße angetroffen?«
»Dienstags früh.«
»Ustad! Pedehr! Seid ihr auch jetzt noch blind?«
Sie antworteten nicht. Sie sahen mir, vor Erstaunen starr, in das Gesicht.
»Glaubt ihr noch immer, daß kein Sill bei euch gewesen sei?« fuhr ich fort. »O, es ist sogar noch schlimmer, als ich dachte!«
»Noch, noch schlimmer?!« wiederholte der Ustad meine Worte.
»Ja! Leider! Drei Montage, drei Montage! Bedenkt es doch!«
»Sprich deutlicher!« forderte er mich auf.
»Noch deutlicher? Der Montag ist doch der Versammlungstag der Pädärahn!«
»Chodeh! Chodeh!« rief er da fast schreiend aus. »Auf was für einen Gedanken willst du mich bringen! Es ist unmöglich, ihn zu fassen, und es wäre Wahnsinn, ihn auszusprechen!«
»Und er muß, muß, und muß aber dennoch ausgesprochen werden! Wenn ihr es nicht wagt, so werde ich es thun: Es sind nicht nur Sillan bei euch gewesen, sondern sie verkehren ganz regelmäßig hier. Ja, die Obersten der Sillan, die man Pädärahn nennt, halten an den "Montagen des Soldes" ihre Zusammenkünfte hier auf euerem Gebiete, wahrscheinlich in den Ruinen, in denen diese Peitsche gefunden worden ist!«
Der Eindruck dieser meiner Worte ist gar nicht zu beschreiben! Es war, als ob die beiden, zu denen ich sie gesagt hatte, vollständig sprachlos geworden seien.
»Und in diesen Versammlungen pflegt der "Fürst der Schatten" persönlich zu erscheinen!« fuhr ich fort. »Er ist hier gewesen. Er läßt sein Gesicht niemals sehen. Er hat diese Larve getragen. Diese Reitpeitsche ist die seinige. Ob er sie verloren oder vergessen hat, das ist mir gleich. Er fand sie der Dunkelheit wegen nicht wieder, und bis zum hellen Tage konnte er nicht verweilen, weil er sonst von euch gesehen worden wäre. Kam denn der Arzt aus Hamadan zu euch geritten?«
»Nein. Als er getroffen wurde, war er zu Fuße,« antwortete der Pedehr kleinlaut.
»Aber er kann doch nicht den weiten Weg von Hamadan hierher gelaufen sein!«
»Freilich nicht. Er hatte ein Pferd.«
»Wo?«
»Es war weit draußen vor dem Duar am Ufer des Sees angepflockt.«
»Ich vermute, daß der Altertümler auch eines gehabt hat?«
»Ja.«
»Wo?
»An derselben Stelle.«
»Habe es mir gedacht! Und das ist euch nicht aufgefallen?«
»Mußten wir es nicht für einen Zufall halten?«
»Zufall! Es giebt ja überhaupt keinen Zufall.
Alles, was sich ereignet, geschieht aus gewissen Gründen oder nach einem bestimmten Willen. Wille und Gründe aber schließen jeden Zufall aus. Das sollte man doch endlich einmal einsehen! Und selbst wenn du an das Vorhandensein des Zufalles im allgemeinen glaubtest, so konnte doch in diesen beiden besonderen Fällen von ihm keine Rede sein. Man hatte die Pferde doch nicht aus Zufall zurückgelassen, sondern jedenfalls in der ganz bestimmten Absicht, sie zu verstecken, damit sie nicht gesehen werden sollten. Wenn die Pädärahn kommen, so müssen sie nach einem solchen Ritte vor allen Dingen ihre Pferde tränken. Darum steigen sie am See ab, wahrscheinlich immer an derselben Stelle. Ich werde sie mir zeigen lassen.«
»Darf ich dich hinbegleiten?« fragte er.
»Ja. Doch sage keinem Menschen etwas davon!«
»Nicht? – Warum?«
»Die Sillan, welche hier im Duar wohnen, könnten es erfahren.«
»Effendi, du bist – toll, hätte ich beinahe gesagt! Du glaubst an das geradezu Unmögliche!«
Er sagte das in größter Aufregung. Doch um so ruhiger sprach ich weiter:
»Ich bin überzeugt, daß das, was ich vermute, nicht stattfinden könnte, wenn die Feinde hier keine Helfershelfer hätten.«
»Wenn das wahr wäre, so hätten diese sich doch des am Fuße verletzten und auch des in der Nacht verirrten Sill angenommen!«
»Hatte sich der Letztere wirklich verirrt? Als er ertappt wurde, sagte er dies als Ausrede. Wer so nahe am Duar vom Pferde steigt und es an den See zur Tränke führt, der will erstens den Duar überhaupt vermeiden und könnte sich zweitens auf keinen Fall verirren, weil er die Zelte und Häuser grad vor der Nase liegen hat. Und wer in den Ruinen herumkriechen will, um nach Altertümern zu suchen, der thut dies doch wohl nicht des Nachts, nachdem er sein Pferd so sorgfältig versteckt hat. Er kommt des Tages, um sich als Fremder Auskunft, Erlaubnis und einen Führer zu erbitten! Ihr seid von einer Arglosigkeit gewesen, die geradezu kindlich ist. Du meinst, die hiesigen Sillan würden sich des Altertümerhändlers angenommen haben. Ich aber denke mir, daß sie von seinem Unfalle nichts wußten.«
»Ich kann dennoch deinen Verdacht nicht zu dem meinigen machen. Es giebt bei uns keinen Menschen, der den Ring der Sillan trägt.«
»Weißt du das so genau?«
»Beschwören freilich könnte ich es nicht. Ich weiß nur, daß ich nie einen Ring mit diesem Zeichen gesehen habe.«
»Das halte ich ja gar nicht für erforderlich. Es trägt ganz bestimmt nicht jeder Sill einen Ring. Wer einen hat, ist gewiß ein Sill. Ebenso gewiß aber ist es, daß nicht jeder Soldat, dem die Tapferkeitsmedaille fehlt, nicht als Soldat zu gelten habe.«
»Das ist ja ein neuer Gedanke! Du hältst den Ring also nicht für ein Erkennungs-, sondern für ein Anerkennungszeichen?«
»Ja. Der Fürst der Schatten wird sich hüten, jedem seiner Sillan, also auch denen, die sich noch gar nicht bewährt haben, einen Ring zu geben! Wenn du bei einem Menschen das Kainszeichen gewahrst, so darfst du getrost annehmen, daß er kein Anfänger im Bösen ist! Hat bei euch noch niemand es zu diesem Zeichen gebracht, so ist das noch kein Beweis, daß es unter euch gar keine Sillan gebe! Bei der Arglist, mit welcher der Aemir verfährt, ist es sogar möglich, daß man Sill sein kann, ohne es bestimmt zu wissen. Ja, du darfst nicht einmal von dir selbst behaupten, daß du noch nie in irgend einer Weise in seinem Dienst gestanden habest! Du hörst, daß ich keinen deiner Dschamikun direkt verdächtigen will; aber ich frage dich, ob du vielleicht behaupten willst, daß in eurem kleinen Reiche nichts als nur Licht vorhanden sei!«
»Leider ist dies nicht der Fall. Diese ganze Gegend war früher von den Massaban besetzt, jenen "Unglücklichen", welche verführt worden waren, auf allen möglichen Irrwegen für ihre "Unterhaltung" zu sorgen. Sie stürzten sich vollständig skrupellos über alles her, was ihnen in die Hände kam, und selbst der edle Lumpenhändler, der hier des Weges fürbaß zog, war ihnen noch willkommen und konnte dann mit leeren Händen weitergehen.«
Als der Pedehr bis hierher gekommen war, ergriff der Ustad, der zuletzt geschwiegen hatte, mit neu erwachter Lebendigkeit das Wort:
»Es war die schlimmste Wegelagerei, die man sich unter Menschen denken kann, und niemand war hier seines Eigentums sicher. Es gab bei dem Gesindel kein Bedenken und keinen Unterschied. Heute fiel man über einen Reichen her, und morgen wurde dann in ganz derselben Weise ein armer Schelm bis auf das letzte ausgeplündert. Ich glaube fast, man hätte nicht einmal das geistige Eigentum geachtet und selbst die Manen eines Schiller, Goethe um ihre "Jungfrau", ihren "Faust" beraubt! Am liebsten hielten sich die Massaban da drüben in den alten Mauern auf, in denen einst die Frömmigkeit verschwundener Völker wohnte. In diesem Schutze wußten sie sich sicher. Und wie sie dort gehaust, das kannst du sehen, wenn du hinüber gehst, um Heiliges zu suchen. Du findest nichts, als nur die Ueberbleibsel der Zerstörung, die alles einst Erhabene vernichtet hat!«
Jetzt warf er einen forschenden Blick auf mich und fragte:
»Hast du verstanden, was ich sprach, Effendi?«
»Ja,« antwortete ich. »Ich habe ja nach diesen Massaban nicht weit zu suchen, grad ich! Sie haben ja auch mich bis auf die Stiefel ausgezogen, obgleich ich doch kein Schiller und kein Goethe bin. Ich traute ihrem scheinbar ehrenhaften Dinarun-Gebaren. Dann aber sah ich freilich ein, daß es ihnen nur daran lag, sich meine Person und meine Waffen gegen brave Menschen dienstbar zu machen. Da begleitete ich sie denn in ihre eigene Falle, den Todessprung nicht scheuend, der über ihren Abgrund mich zu bringen hatte. Jetzt hörst du wohl, daß ich begriffen habe, wen du meintest? Sie hatten noch die Blödigkeit, mich vor diesem Sprung zu warnen, ich aber that ihn doch und ließ sie in dem "Tal des Sackes" stecken.«
»Und rettetest dich grad in jene Gegend, von welcher aus sie einst ihr lichtscheues Rittertum betrieben hatten!« fügte der Ustad hinzu. »Könntest du den Haß ermessen, den sie auf mich warfen, als sie sich von mir aus dieser Gegend verdrängt sahen! Sie, die sich unter einander selbst nie etwas gönnten, sich unaufhörlich mit einander herumbissen und gegenseitig stets die Zähne fletschten, sie fühlten sich sofort als liebe Herzensfreunde, sobald es galt, sich gegen mich zu wenden. Du kennst ja ihren allerletzten Zug, den sie, mich zu verderben, unternahmen! Da waren alle schnell bereit, und keiner wollte fehlen! Sogar die Weiber schlossen sich mit an! Und alles, was man sonst "Bagage" heißt, das wurde mit den Ochsen und mit den Eseln hintendrein geschleppt, um an dem leicht erhofften Siege teilzunehmen! Das ist so ganz, so recht die Weise dieser Leute, die ich zwar nur als Massaban, als "Unglückselige" bezeichnen lasse, weil ich auch noch im Feind den Menschen sehe, doch dürften auf sie wohl auch noch ganz andre Namen passen, die weniger als dieser den Klang der milden Nachsicht haben! – Es war kein leichtes Werk, ihr einstiges Gebiet von ihnen ganz zu säubern. Sie gaben es ja nicht freiwillig auf. Wir hatten schwere Kämpfe zu bestehen. Und als sie mit Gewalt nichts mehr erreichen konnten, da griffen sie zur List. Ich bin nie den Gedanken los geworden, daß hier in den Ruinen noch etwas steckt, wovon sie angezogen werden. Vielleicht so etwas Aehnliches wie unten im Birs Nimrud, was dort von euch gefunden und an das Tageslicht gezogen wurde. Wir haben noch nach langer Zeit die Spuren fremder Füße im alten Bau gesehen, und noch bis in die Gegenwart kam es zuweilen vor, daß sich hier Leute niederlassen wollten, die ich nach stiller Prüfung wieder gehen hieß. Es waren auch Verwandte von einigen der Dschamikun dabei, die mir es, wie es scheint, nicht ganz vergessen können, daß ich den fremden Anhang nicht geduldet habe. Und das wird es wohl sein, was der Pedehr mit der Bemerkung meinte, daß auch bei uns nicht lauter Licht vorhanden sei.«
Als er dieses sein Geständnis ausgesprochen hatte, knüpfte ich schnell an dasselbe an:
»Was du jetzt gesagt hast, führt mich auf die Frage zurück: Was will der Mirza eigentlich hier? Warum ist ihm grad diese Gegend so wichtig, daß er alle seine sonstige Vorsicht vernachlässigt, nur um den früheren Einfluß wieder zu gewinnen?«
»Ich weiß es nicht. Kannst du es dir wohl denken? Vermuten kann ich auch, doch klar zu sehen ist mir noch nicht möglich.«
»Vergegenwärtige dir seine Reden! Er hat uns ja in Dreistigkeit sein bisher stets verschwiegenes Programm entwickelt. Daß er, der Schlaue, heut zu dieser Dummheit förmlich hingerissen wurde, das muß uns doch verraten, wieviel für ihn hier auf dem Spiele steht! Ihm widerstrebt die geistige und sittliche Kultur. Wo sie erblüht, hat er die Macht verloren. Er muß den Stumpfsinn pflegen, der weder sieht noch hört, und mit ihm jene Unzufriedenheit, die stets nach Hilfe schreit, weil sie zu faul und unerfahren ist, sich selbst zu helfen. Er muß den wahren, unverfälschten Gottesglauben töten, der Kraft und Mut zum Lebenskampf verleiht, dagegen aber jene Schwachkopf-Frömmigkeit beschützen, die jeden, der sie an den Wangen streichelt, sofort für einen Engel ihres Himmels hält. Da darf es auf der Erde keinen Frühling geben, der alles, was veraltet, von den Fluren fegt. Der Staub hat meterdick auf Stadt und Land zu liegen, und wo ein Wasser fließt, da muß es trüb und schleichend sein! Dann kommen jene nächtlichen Gespenster, die alles, doch nur keine Geister sind. Sie flattern überall, mit leisem Vampyrflügelschlage. Und wo sie sich aufs Volk herniederlassen, da saugen sie ihm bald die vollen Adern leer. Dann sieht man nicht mehr frohe Menschenkinder, die sich in Gottes reinem Lichte sonnen. Der Blick fällt nur auf geistge Mummelgreise, und alles ringsum wird zum – Schattenland!«
»So war es hier; so war es, wie du sagst!« stimmte der Ustad bei. »Es war die Geisteswüste, genau wie jenes Paradies, von dem ich dir erzählte, ein flaches, ödes, wüstes Schemenland! Der Stumpfsinn kroch im tiefen Bodenstaube. Der Groll schlich zähneknirschend nachts umher. Der arbeitsscheue Müßiggang schlug frömmelnd sich die Brust und schnappte gierig nach der Dummheit Brocken. Stumm lag der ausgenutzte Fleiß in dürrem Sande. Und über diesen und noch tausend andern Schatten gab es ein unhörbares Flattern dunkler Flederhäuter, für welche du den rechten Namen, Vampyr, hattest. – So, so war es um die Bewohner dieses traurigen Gebietes und also auch um meine jetzigen Dschamikun beschaffen, als ich zu ihnen kam. Ich hatte zwar schon oft von "Menschheitsjammer" sprechen gehört und manches "Erdenleid" an andern und auch an mir selbst erfahren, doch daß dies Elend nicht von dem Geschick bestimmt, sondern nur der Sauggier dieser Flügelhäuter zuzuschreiben sei, das war mir völlig unbekannt gewesen. Ich fragte mich, ob wohl noch Hilfe möglich sei. Wenn ich die unzählbaren Scharen sah, die es von ihnen gab, da hörte ich zu meinen eigenen Füßen die Verzagtheit stöhnen. Ich schob sie fort von mir und dachte nach. Ein Mensch, ein einzelner, war nicht zu helfen fähig, auch viele Tausend nicht. Dies nächtliche Getier stand unter einem Schutze, der mächtiger als Menschenschwachheit ist, dem Schutz der Dunkelheit. Jedoch noch mächtiger als diese ist das Licht. Gelang es mir, es dort hinüber in den Bau zu tragen, der ihm seit langer Zeit fast ganz verschlossen war, so mußten diese Sauger an die Helligkeit des Tages fliehen, wo sie von jedermann erkannt und dann gemieden werden konnten.«
Als der Ustad hier eine Pause machte, nahm der Pedehr das Wort.
»Was du jetzt sagtest, führtest du auch aus. Wir kannten dich noch nicht; du hattest keine Hilfe und wagtest dich allein in die Ruinen. Jedoch grad diese Kühnheit hat uns für dich gewonnen!«
»Es war viel leichter, als man denken sollte!« lächelte der Ustad. »Ich habe mich nicht etwa eingeschlichen. Ich kam im vollen, hellen Licht des Tages und sagte ehrlich, wer und was ich sei. Da hielt man mich erst recht für einen Schatten, der aus der Welt des Lichtes hierher in ihre Dunkelheit geworfen worden sei. Auch dies vermochte nicht, zum Trug mich zu bewegen. Ich nahm mein Licht heraus und zündete es an. Sie hatten nichts dagegen. Das kleine Flämmchen schien sogar hier Freude zu bereiten. Es konnte diese große Finsternis ja doch nur tiefer machen, und für die Menschen draußen brauchte man es als Beweis, daß man in den Ruinen das Licht zu schätzen wisse.«
Da fiel der Pedehr ein:
»Wir sahen dieses Licht. Es zog uns an. Wir kamen nach dem Bau. Erst einzeln nur, doch bald in größern Scharen. Wir drangen in den Bau. Es wurde hell in ihm, weil wir nicht ohne unsere Lichter kamen. Da ging ein schrillendes Gekreisch durch alle seine Gänge. Es flatterte und huschte überall. Wir leuchteten in alle Ecken und stöberten die Flederwesen auf. Sie flohen vor uns her auf jede Oeffnung zu. Und wer da draußen stand, der sah sie wie verscheuchte Irrgedanken aus dem Gemäuer kommen und, um die Ecken biegend, schnell verschwinden. Ob vielleicht welche, tief versteckt, sich noch im Bau befanden, das kümmerte uns nicht, weil wir doch nicht die Absicht haben konnten, ihn für uns zu benutzen. Wir bauten uns im Sonnenlichte an und haben bis zum heutigen Tag noch keinen Grund gehabt, es zu bereuen.«
»Ihr werdet auch fernerhin keinen solchen Grund finden,« sagte ich. »Für jetzt scheint es mir beachtenswert, daß du nicht genau weißt, ob damals vielleicht welche von den Massaban unentdeckt geblieben sind. Habt ihr denn die Ruinen nicht genau untersucht?«
»Doch! So weit sie nämlich zugängig waren. Es giebt auch alte, ganz oder halbverschüttete Gänge, in welche wir nicht vorgedrungen sind, weil wir keine zwingenden Gründe dazu hatten. Der Bau des Duar nahm uns so in Anspruch, daß wir keine Zeit fanden, alte Löcher neu auszugraben.«
»Wohl! Lassen wir das einstweilen ruhen! Wir haben es mit dem Aemir-i-Sillan zu thun. Er brüstete sich schamlos damit, daß die Massaban seine Beschützten seien. Er hat gesagt, daß es in seiner Macht stehe, euch das frühere Gebiet dieser Leute mit der Hilfe von Soldaten wieder abzunehmen. Er will dies aber nicht thun, falls ihr euch bewegen lasset, ihm einen bestimmenden Einfluß über euch einzuräumen. Warum das? Er muß doch Gründe haben! Sollten diese auf den Umstand deuten, daß ihr gewisse Teile der Ruinen noch nicht kennt? Wir werden diese Frage weiter verfolgen, sobald wir Zeit dazu finden. Es giebt für ihn noch eine andere, allgemeinere und noch wichtigere Ursache, euch zu stören. Ich habe sie bereits angedeutet. Er haßt die Kultur, weil sie ihn seiner Macht beraubt. Es liegt in seinem Interesse, sie zu vernichten und nicht wieder aufkommen zu lassen. Das ist ganz derselbe Geist, welcher Etage um Etage eurer Steinpyramide ihrem ursprünglichen Zwecke entzog, um sie schließlich mit gesindelhaften Menschen zu bevölkern. Grad eben, als er dies erreicht hatte und nun damit beginnen konnte, das, was ich vermute, in das Werk zu setzen, kam der Ustad, um mit Hilfe seiner Dschamikun dieses Gesindel wieder zu vertreiben –.«
»Was vermutest du?« fragte mich der Ustad.
»Davon später!« antwortete ich. »Für meinen jetzigen Gedankengang genügt die Bemerkung daß der Aemir-i-Sillan euer Gebiet als Stützpunkt seiner Pläne nicht nur betrachtet hat, sondern selbst auch heute noch betrachtet. Es ist sogar möglich, daß eure Ruinen für ihn von noch größerer Bedeutung als diejenigen des Birs Nimrud sind. Seine Pläne scheinen ihrer Ausführung entgegen zu treiben. Wäre dies nicht der Fall, so wäre er nicht in eigener Person und öffentlich gekommen und hätte es noch viel weniger gewagt, mit seinen Reden und Forderungen so aus sich herauszutreten.«
»Vielleicht giebst du dem allem eine größere Bedeutung, als es verdient,« warf der Ustad ein.
»Das glaube ich nicht. Ich überlege kalt und objektiv. Der Mirza hat heut Dinge gesagt, von denen man nur dann so deutlich redet, wenn man sie als letzte und höchste Trümpfe ausspielen will. Warum zum Beispiele dieses auffällige Eingehen auf das Wettrennen? Welchen Zweck hat dieses Rennen für ihn? Etwa euch einige Pferde oder Kamele abzugewinnen? Wirst du ihm das glauben? Ist es vielleicht deshalb, weil er dadurch eine unauffällige Gelegenheit findet, sich für einige Zeit hier aufzuhalten und herumzutreiben? Wir werden aufpassen, und ich hoffe, daß es uns gelingt, seinen Absichten auf die Spur zu kommen! Du glaubtest, Ustad, daß ich übertreibe. Bedenke doch, um was für einen Mann es sich handelt! Es ist ein großer Unterschied, ob ein gewöhnlicher Soldat oder ein hoher General geheime Pläne hegt. Wenn ein Prinz von der Bedeutung Ahriman Mirza's euch hinter dem Rücken des Schah-in-Schah mit Vernichtung droht, mit seinen geheimen Gewalten prahlt und es unternimmt, euch verrückt klingende Anschläge zu machen, die kein vernünftiger Mensch begreifen kann, so kann es sich nicht um die bedeutungslose Subordination eines Soldaten gegen sein Korporälchen handeln, sondern die Angelegenheit muß eine höchst wichtige sein, und zwar nicht nur für dich und deine Dschamikun!«
»Willst du mich bange machen, Effendi?« fragte er besorgt.
»Nein! Ich will nur beweisen, daß wir vorsichtig zu sein haben. Wenn der Mirza fortfährt, so schwatzhaft zu sein, wie er heut gewesen ist, so denke wenigstens ich an keine Bangigkeit. Nur darf er nicht vermuten, daß wir ihn zu durchschauen beginnen. Darum dürfen wir ihn in seinem Anschlage gegen Dschafar Mirza nicht eher stören, als bis die rechte Zeit dazu gekommen ist. Wir machen also seinen Brief an den "Henker" wieder zu. Der Multasim muß ihn auf jeden Fall bekommen.«
»Aber wie?«
»Auf irgend eine Weise, die ihn im Zweifel darüber läßt, wer der Bote gewesen ist.«
»Das kann ich jetzt in Isphahan sehr leicht besorgen. Er wohnt ja da!«
»Ja; thue das! Ich aber werde mir den Brief sofort abschreiben, und auch das Alphabet. Es kann später von großem Vorteile sein, eine Kopie zu besitzen.«
Ich machte die beiden Abschriften in mein Taschenbuch. Als ich damit fertig war, erkundigte sich der Ustad:
»Es ist möglich, daß ich Dschafar Mirza in Isphahan treffe. Ich soll ihm also nichts sagen?«
»Nein. Ich wünsche, daß er vollständig unbefangen sei, damit Ahriman Mirza gar nichts merke. Dieser wird ihn auf irgend eine Weise veranlassen, mit hierher zu reiten. Das giebt eine vortreffliche Gelegenheit, den Mord dann auf uns zu schieben, welche Ahriman sich ganz gewiß nicht wird entgehen lassen wollen. Du sagst Dschafar nur das eine, daß ich hier bin. Wenn er das hört, wird er sicher kommen. Dann sind wir wahrscheinlich genauer unterrichtet als jetzt und können ihm gleich Bestimmtes mitteilen, während er jetzt fast nur Vermutungen hören würde.«
»Durch die Erwähnung, daß man versuchen wird, Dschafar zum Wettrennen herbeizulocken, erinnerst du mich daran, daß er das edelste und beste Pferd in ganz Persien besitzt.«
»Das ist viel gesagt, sehr viel!« bemerkte ich.
»Es ist aber wahr!«
»Jedenfalls hat er es nicht selbst gezüchtet?«
»Nein. Es ist ein Geschenk des Schah-in-Schah.«
»So wird es bei Dschafar verdorben. Er ist kein Reiter und wird es auch nie werden. Das habe ich gesehen, als ich ihn kennen lernte.«
»Du bist Kenner, und doch hast du Unrecht. Dieses Pferd ist bisher weder von Dschafar selbst, noch von irgend einem andern verdorben worden. Niemand hat es noch je geritten.«
»Warum?«
»Der Grund ist eben so einfach wie unglaublich. Dieses herrlichste aller Vollblute läßt sich nämlich nicht reiten, absolut nicht!«
»Das wäre!« rief ich ungläubig aus. »Persien hat doch Reiter!«
»Allerdings! Aber die besten, die kühnsten und auch die geduldigsten haben es vergeblich versucht.«
Läßt es niemand aufsteigen, oder wirft es jeden ab?«
»Keines von beiden. Es läßt jeden hinauf und wirft keinen herunter. Es steht wie ein Lamm; aber es bleibt eben stehen. Es thut keinen Schritt, keinen einzigen! Es ist durch keine Lockung und aber auch durch keine Peitsche zu bewegen, sich von der Stelle zu rühren.«
»Aber wenn man es führt, während jemand daraufsitzt?«
»So thut es grad soviel Schritte, wie es geführt wird, doch keinen einzigen weiter. Ich habe mich schon gefragt, ob das Natur oder Dressur ist.«
»Natur – Dressur? Es kann durch keine Dressur erzwungen werden, was die Natur überhaupt verbietet. Es ist dem, was man Dressur nennt, möglich, die Grenzen des Wollens und Könnens um ein weniges zu verrücken; weiter kann sie nichts. Wenn das Tier aus Liebe zu seinem Herrn etwas thut, was gegen seine sogenannte Natur verstößt, oder wenn es sogar nach und nach selbst Freude an einem ihm angewöhnten Vorgang findet, der keine Folge seiner ursprünglichen Instinkte ist, so kann man doch wohl nicht mehr von Dressur sprechen. Es ist ein Unterschied, ob der Dresseur mit der Peitsche dasteht, oder ob das Tier etwas früher Gelerntes später ganz aus freiem Willen thut. Bei Dschafars Pferd steht niemand, der es durch heimliche Winke oder offene Drohungen zwingt, etwas zu leisten, was ihm eigentlich widerstrebt. Es denkt; es will; es folgt einem eigenen Entschlusse und führt ihn sogar mit einer so ausdauernden Energie aus, daß sich mancher Mensch ein Beispiel an ihm nehmen könnte. Es läßt sich weder durch freundliche Verführung noch durch Drohung oder gar Roheit irre machen. Das ist höchster Pferdeadel! Ein gewöhnlicher Gaul würde nur aus Angst gehorchen, so lange er die Peitsche sieht. Was der Schah-in-Schah in dieses Pferd gelegt hat, ist keine tote Angewöhnung, keine stumpfsinnige Zwangesgehorsamkeit. Es ist eine sehr liebe und sehr gütige Hand gewesen, von welcher das edle Tier dieses "Syrr" empfangen hat, und es wird auch nur derselben Gesinnung gelingen, es zu lösen.«
»Syrr, hast du gesagt? – Sonderbar!« rief er aus.
»Warum?« fragte ich.
»Das ist der Name des Pferdes. Es heißt Syrr. Hast du vielleicht schon von ihm gehört, oder war es Zufall, daß du dieses Wort brauchtest?«
»Zufall? Du weißt doch, daß es für mich keinen Zufall giebt! Ich wußte übrigens nichts von diesem Pferde.«
»Aber du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, diesen Namen infolge einer Fügung oder Schickung gefunden zu haben! Das wäre doch wohl lächerlich! Verzeihe mir dieses Wort!«
»Ich behaupte nichts, und ich vermute und ich folgere nichts. Ich wiederhole nur, daß es für mich diesen Freund der Oberflächlichkeit, den Zufall, nicht mehr giebt. Man nennt ihn auch das "blinde Ungefähr". Es scheint nur "ungefähr" zu sein, und ist auch keineswegs blind. Wer ruhig wartet und die Augen offen hält, der lernt dann ganz gewiß die verborgenen Fäden kennen.«
»Verborgene Fäden zwischen dir und diesem Syrr?« lachte er. »Effendi, Effendi, welcher Wunderglaube!«
»Wer hat sie angeknüpft? Du selbst?« antwortete ich ebenso heiter. »Du hast ein Wort betont, bei dem ich mir gar nichts dachte. Ob dieser Ton nur von dir stammt und also bedeutungslos ist, das wird sich finden. Hat denn Dschafar nicht irgend einmal wegen dieses Geheimnisses mit dem Schah-in-Schah gesprochen?«
»Doch! Er erzählte es mir. Der Beherrscher erkundigte sich einst bei ihm, wie sich das Pferd befinde. Da klagte er ihm seine Not und erzählte von den vielen vergeblichen Versuchen, welche angestellt worden waren. Hierauf lächelte der Schah wie in stiller Freude vor sich hin und sagte: "Sobald der Rechte kommt, wird es sofort und stets gehorchen, aber nur ihm allein. Es ist mein Syrr. Kein Mensch wird es ergründen!" Dschafar verstand diese Worte nicht. Auch mir sind sie dunkel. Was denkst du dir wohl dabei, Effendi?«
»Nichts! Syrr heißt "Geheimnis", sogar "Mysterium". Achten wir es, indem wir nicht versuchen, an ihm herumzutasten. Das ist der Wille des Beherrschers!«
»So wollen wir für jetzt schließen. Ich bitte um die Erlaubnis, dich hinauf in deine Wohnung führen zu dürfen.«
Und indem er sich an den Pedehr wendete, fügte er für ihn hinzu:
»Bereite es vor, daß, sobald der Brief an den Offizier fertig ist, einige Boten sofort nach Bagdad reiten, um ihn und seinen Diener zu holen. Er wird sich nicht entschließen können, ohne diesen zu reisen. Für Kepek, den Gewichtigen, werden sie eine Kamelsänfte mitnehmen müssen, weil ein anderes Transportmittel für ihn gewiß zur Marter werden würde.«
Nun trennten wir uns vom Scheik. Dieser stieg in das Erdgeschoß hinab. Der Ustad aber nahm eines der beiden Lichter, um mit mir nach oben zu gehen.
Als wir aus seiner Stube traten und die Thür der Rumpelkammer vor uns hatten, machte er sie zu meiner Verwunderung auf und ging hinein.
»Komm, Effendi!« sagte er. »Tritt näher!«
»Warum?« fragte ich.
»Du hast diese Sachen mir geschenkt; aber du weißt gar wohl: Was mein ist, ist auch dein! Ich hatte vielleicht kein Recht dazu, doch folgte ich der Regung, dich zu prüfen. Du hast bestanden! Besser, viel besser, als ich erwarten konnte! Indem du mir diese Dinge alle schenktest, hast du etwas abgelegt. Was es ist, das überlege dir! Und indem ich, so bald und so oft du willst, sie dir alle wieder zur Verfügung stelle, thue ich etwas, was dich unendlich freuen muß. Was es ist, überlege dir auch das! Kamst du zu mir aus einem Land, auf dem es keine festen Wege giebt? Willst du dein Ziel von hier nur noch im Flug erreichen? Ich weiß, dir ist die Angst vollständig unbekannt. Du fühlst dich an der Hand, die keinen je verläßt, der sich ihr anvertraut. Doch, hebe deinen Fuß nicht von dem sichern Boden! Noch bist du nicht daheim! Kannst Waffen nicht entbehren! Nimm diese Warnung an! Nachdem ich dich geprüft, hab ich das Recht erworben und auch die Pflicht dazu, in diesem ernsten Ton mit dir zu reden!«
Er hob die Hand und drohte mir in liebevoller Weise mit dem Finger. Da kam es wie ein plötzliches Glück über mich, aber nicht wie ein unverstandenes, sondern wie eins, welches klar und deutlich vor einem steht und voll begriffen wird. Ich nahm ihn bei der erhobenen Hand, zog ihn heraus, machte die Thür zu und sagte:
»Komm hervor aus dieser unserer Kammer und schnell herauf zu mir! Ich muß dir etwas sagen!«
»Was?« fragte er.
»Ein Geständnis. Komm nur, komm! Ich freue mich so sehr!«
»Ein Geständnis? Und doch Freude?«
»Ja! Es ist ein Sieg, ein innerlicher Sieg, den du soeben über dich und mich, über uns beide also, errungen hast!«
Er folgte mir so schnell, wie ich ihm voranstieg. Oben bei mir angekommen, nahm ich ihm das Licht aus der Hand und brannte zunächst die Lampe wieder an, welche er der Perser wegen hatte auslöschen müssen. Als dies geschehen war, bat ich ihn, sich aufrecht vor mich hinzustellen. Ich nahm ihn mit frohem Blicke von oben bis unten in die Augen und sagte dann:
»Es ist mir mit dir grad so ergangen, wie es so manchem Menschenkind mit seinem Geist ergeht. Es kennt ihn nicht, bis ihn der Feind ihm zeigt. Ich wußte nichts von dir, bis mich die Massaban auf jene Spuren führten, an denen ich zum erstenmal den Namen Ustad hörte. Man sprach von dir als dem "Geheimnisvollen", von dem man ja "nichts Schlechtes sagen dürfe". Sie schienen dich nicht bloß zu achten, sondern auch zu fürchten, und dennoch hegten sie nur Feindschaft gegen dich, weil sie als "Unglückselige" dich ja doch hassen mußten. Dann traf ich den Pedehr, der mir nicht trauen wollte. Er nahm die Flucht vor mir, doch holte ich auf meinem Pferd das deinige schnell ein. Es war fast wie bei jenem Morgenritt im Märchen Danyseh, wo das schnellste Pferd des Menschengeistes von dem silberweißen Roß der Menschenseele überholt wird. Als ich hierauf mit ihm sprach, hörte ich zum zweitenmal von dir. Ich begann, in meiner Phantasie nach einem Bild von dir zu suchen. Dann warf mich jene schwere Krankheit nieder, von der ich hier bei dir erstanden bin. Ich lag bewußtlos, ohne Thätigkeit des Geistes. Da begann ich, zu erwachen. Es legte sich eine Hand auf meine Stirn, und dabei war es mir, als ob von ihr eine gütig reine, immaterielle Kraft ausströme und dann durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe Stimme sprach die Worte: "Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!"«
»Das war ich,« sagte der Ustad.
»Ja, du warst es. Du kamst noch oft, wenn ich nicht wachte. Dann hatte ich einen Traum. Oder war es ein Gesicht? Ich befand mich im Haine Mamre, bei der Eiche Abrahams. Da trat die hohe Gestalt des Erzvaters leuchtenden Auges vor mich hin und grüßte mich: "Friede sei mit dir!" Und als ich das meinige öffnete, standest du vor mir, breitetest deine Hand wie segnend über mich aus und sprachst ganz dieselben Worte. Darum wuchsest du in meinen Fieber- und dann auch in den Genesungsträumen dich in mir zum Ebenbilde jenes ausgewanderten Chaldäers aus, welchem der Herr einst die Verheißung gab: "Ich werde dich zum großen Volke machen!" Als ich mich dann so weit erholt hatte, daß ich mich erheben und draußen vor der Halle sitzen konnte, da kamst du zu mir, und was und wie du da sprachst, das war im Geist des ersten Testaments gesprochen, der sich im zweiten die Verklärung holte. Nun kam das Heut, der Dankestag. Hättest du in mir noch höher wachsen können, so wäre das da drüben bei eurem "Gotteshaus" gewiß geschehen. Du zeigtest dich dort Ahriman nicht nur gewachsen, sondern überlegen. Ich schaute zu dir auf, fast staunend, möcht ich sagen! Es stieg der Wunsch in meinem Herzen auf, so groß zu sein und auch so rein wie du. Das war wohl auch der mir nicht klar bewußte Grund, daß ich dann jene Beichte sprach, die mich befreien sollte. Ich wollte deiner würdig sein, ganz still, in meinem Innern!«
»Mein Freund, mein lieber, lieber Freund!« rief er gerührt aus.
»Warte,« bat ich, »und höre weiter! Es wurde Abend. Da stellten sich die finstern Schatten ein. Du zogst sie aus der früheren Zeit herbei und warfst sie leider über deine Gegenwart. Das Licht verschwand.
Du wurdest mir fast dunkel. Du ließest diese deine Schatten wachsen. Sie nahmen jene Riesengröße an, von welcher du bei deinem "Sonnentage" sprachst! Du aber wurdest kleiner, in meinen Augen immer, immer kleiner! Ich sträubte mich dagegen, doch vergeblich. Ich wollte dich, die Hochgestalt, nicht lassen. Und dennoch thatst und sprachst du alles, was dich gering und winzig machen mußte. Du warst für mich nicht mehr der "Abraham von Erz", an dem kein Schatten fressen, kein Schemen rütteln kann. Du hattest dich in jenen schnellen Hasenfuß verwandelt, der, wenn das dunkle Abbild eines Baumes, die Sonne fliehend, auf sein Lager fällt, rasch auch die Flucht ergreift und, blind vor Angst, im allerschnellsten Lauf von dannen jagt, um seine Feigheit in den Busch zu retten.«
»Maschallah!« verwunderte er sich jetzt. »Diesen Eindruck habe ich auf dich gemacht, nur diesen?«
»Ja!« antwortete ich.
»Wie war das möglich?!«
»Möglich? Sag unvermeidlich! Du sprachst soeben davon, daß ich die Angst nicht kenne. Sie ist mir fast verächtlich. Ich kann sie nicht begreifen. Da plötzlich seh ich die Gestalt, die ehern mir erscheint, als sei sie von des Schicksals eigener Hand gegossen und auf den rechten Platz auf festestem Granit gestellt, von diesem sichern Felsen niederspringen und wie besinnungslos die Flucht ergreifen! Vor wem? Vor nichts als nur vor ihrem eigenen Schatten! Fühlst du mir denn nicht nach, was ich empfinden mußte? Ahnst du denn nicht, daß du dich da in mir zerstören mußtest? Der Ritt durch dein Gedankenparadies, wie war er doch so traurig! Nicht dieser Thoren wegen, die es verfallen ließen, nein, deiner heiligen Einfalt wegen, in welcher du aus der Erhabenheit der Berge niederstiegst, um dich in Wüsteneien durchzuhungern und dann sogar den "Baum des Schwatzes" zu beachten! Du warst mir fast so ideal geworden wie jenes Bild von "Akhal, den Durchschauenden", den nie ein Mensch bethört. Was aber war aus diesem Geiste der Untrüglichkeit geworden, als ich ihn, "blind vor Angst", die Flucht ergreifen sah, gehetzt von den Phantomen, die ihn auch heut noch nicht verlassen haben!«
Da ließ er den Kopf sinken und war eine kleine Weile still. Dann warf er ihn mit einer energischen Bewegung wieder empor und sagte:
»Das war eine böse, böse Sonde, Effendi! Aber du weißt nicht, wie ich dir dafür danke! Ich fühle, daß es in mir licht werden will. Siehst du die Schatten, welche von mir weichen und da, zur Thür hinaus, die Flucht ergreifen? Nicht? Ich auch nicht. Aber ich fühle, daß sie es thun, daß sie von dir aufgestöbert worden sind und mich verlassen müssen. Du hast mir nichts gesagt als nur die Wahrheit. Nun sage mir noch eins: Glaubst du, daß ich die innere Kraft besitze, dir wieder das zu werden, was ich dir vor dem heutigen Abend war?«
»Ja! Fast bist du es schon wieder! Ich sprach von dem Geständnis und auch zugleich von meiner Freude, bevor wir hier heraufgegangen sind. Das erstere hab ich dir nun gemacht. Die letztere sollst du jetzt mit mir teilen.«
»Freude? Worüber?«
»Ueber dich! Erinnere dich der Strenge, mit welcher du da unten in der Kammer zu mir sprachst! Das war der Mann von Erz! Nicht mehr der Schattenflüchtling! Du wuchsest plötzlich wieder empor. Du setztest deinen Fuß zurück auf den Granit. Ich bitte dich: Steig wieder auf die alte, gute Stelle! Ich gebe dir mein Wort: Kein Schatten ist es wert, und wenn es selbst der allergrößte wäre, daß man um seinetwillen auch nur ein einzig Mal den Kopf nach hinten wendet!«
»Nach hinten wendet!« wiederholte er. »Nach hinten! In die Vergangenheiten! Und grad dir, dir, der du es nicht einmal der Mühe für wert hältst, auch nur den Kopf zu wenden, dir wollte ich jetzt alle, alle meine Schatten bringen! Komm heraus! Ich will dir zeigen, wo sie stecken! Ich sehe es dir an: du ahnest, was ich will. Du bist glücklich darüber. Dein Auge leuchtet! Du hast von einem Sieg gesprochen, den ich über dich und mich errungen habe. Jetzt aber ist dir ein noch viel, viel größerer gelungen: Der Sieg über die, denen ich einst unterlag, über sie alle, alle, alle! Ich bitte dich noch einmal: Komm heraus!«
Er nahm die Lampe und führte mich hinaus in seine Bücherei. Dort stellte er sie auf den Tisch.
»Hier wollte ich dir erzählen, wohl stunden-, stundenlang«, sagte er. »Vielleicht wäre ich am Morgen noch nicht zu Ende damit gewesen. Nun aber wird es kurz gemacht, so kurz, wie diese Schatten es verdienen!«
Er deutete auf eine Reihe von Büchern, welche ganz gleich eingebunden waren, und sprach weiter:
»Hier steht mein Geist, in Bände wohlzerspalten und richtig numeriert, wie das so Sitte bei den Menschen ist. Schau du hinein, und sage mir sodann, ob diese Bücher wohl auch eine Seele haben!«
Ich griff hin, um eines vom Gestell zu nehmen. Da bat er:
»Nicht jetzt! Du hast ja dazu Zeit, wenn ich verreist bin und dich niemand stört. Ich habe dir noch weiteres zu zeigen. Ich wollte dir erzählen und erklären, zu welchem Zweck ich diese Werke schrieb. Ich unterlasse es, weil ich jetzt anders denke als noch vor einer Stunde. Du wirst sie lesen. Das heißt bei dir genau so viel, als ob ich sagte: du wirst sie und auch mich verstehen und begreifen. Sie sind Skizzen, Vorarbeiten, fließende Etuden, um mich und meine Leser einzuüben. Auf was sie vorbereiten sollten, darüber schweige ich. Man sagt das durch die That! Glaubst du, daß es Menschen giebt, welche so unerfahren sind, daß sie die flüchtigen Uebungsskizzen eines Malers für vollbeendete, fertige Werke halten können? Nein? Nicht? Unmöglich? So scheine ich ein Künstler allerersten Ranges zu sein, denn es hat keinen einzigen Kritiker gegeben, welcher die meinigen als leicht bewegliche Schwalben erkannte, die "meinem Freund, dem Frühling" voranzufliegen hatten, wie ein bekannter Dichter sagt.«
»Ein Künstler allerersten Ranges!« lächelte ich. »Wozu denn hier die Ironie, die gänzlich überflüssig ist? Man hat das Zwitschern deiner Schwalben nicht verstanden, weil man noch in dem Eis des Winters steckte und weil sie nicht nach jenen Noten sangen, die auf fünf parallelen Linien stehn! Das konnte dich verbittern?«
Er sah mich an. Erst erstaunt, dann nachdenklich; endlich lächelte er auch.
»Wenn ich doch auch das heitere Gold besäße, das jetzt im Lichte deines Auges liegt!« rief er aus. Dann fügte er, nach den Wänden deutend, hinzu: »Schau hier die Briefe! Große Kisten voll! So schrieb man mir! Es war nur Liebe drin! Doch hier die Kästen mit den Zeitungsblättern, sie sind des Hasses voll, der mich vernichten sollte. Ich bin ihm gewichen, diesem Hasse. Er wurde mir zum Ekel! Aber ich habe ihn gekennzeichnet!
Ich habe seine Gründe nachgewiesen! Ich habe mich gewehrt, gewehrt, gewehrt!«
»Mit welchem Erfolge?« fragte ich.
»Ich mußte gehen, doch, doch und doch! Mein letztes Wort an die, denen ich weichen mußte, war folgendes.«
Er trat zu einem der Kästen, nahm die obenauf liegende Zeitung heraus, faltete sie auseinander und las:
»Ich bin ein Mensch. Ihr wollt das nicht begreifen,
Weil ihr wohl schon ganz übermenschlich seid.
Wenn solche Götter mich zum Richtplatz schleifen,
So trag ich stumm mein Armesünderkleid.
Ich steig getrost auf meinen Scheiterhaufen,
Den ihr mir bautet mit selbsteigner Hand,
Und laß mich von dem Flammengeiste taufen,
Für den ihr schon so manchen Leib verbrannt.
Doch wenn ihr mir nicht folgt, wohin ich gehe,
Hab ich mit eurer Gottheit nichts zu thun,
Denn während ich im Fegefeuer stehe,
Seh ich euch stolz auf meinem Lorbeer ruhn.
Ich lasse gern die Flammen um mich schlagen,
Denn mein Metall wird nur im Feuer rein,
Doch meinen Henkern habe ich zu sagen:
Ich möchte nicht an eurer Stelle sein!«
Hierauf legte er die Zeitung wieder zusammen und an ihre Stelle zurück. Dann fragte er mich:
»Weißt du, an wen ich bei diesen letzten Zeilen jetzt unwillkürlich denken muß? An Ghulam el Multasim, den "Henker" des Mirza! So nackt wie er liegen jetzt auch die meinigen vor meinem geistigen Auge. Auch sie waren mit der glatten Salbe eingerieben, die jeden Leib zum Aal, zur Schlange macht. Du wirst sie kennen lernen, alle, alle! Da liegen sie. Du hast ja Zeit zum Lesen!«
»Ich? Lesen? Was soll ich lesen?« fragte ich.
»Diese Zeitungsartikel über mich!«
Da mußte ich denn aber doch so laut und so herzlich lachen, daß er sichtlich in Verlegenheit geriet.
»Woher so plötzlich diese Heiterkeit?« erkundigte er sich.
»Woher? Das fragst du noch?! Wenn ich mir das sonderbare Bild ausmale, welches dir soeben vorschwebte, so muß ich unwillkürlich an gewisse "lustige Blätter" denken, welche geistige Gebrechen persiflieren! Und es wäre eine Persiflage meiner selbst, falls ich in jenen Sumpf zurückkehren wollte, über den ich mich schon längst, schon längst hinübergerettet habe. Einst brachte eines jener lustigen Journale eine heitere Abbildung dieses Sumpfes. Er war voller Amphibien, deren Mäuler weit offenstanden. Ein Mensch schritt durch den aufspritzenden Tümpel. Darunter war zu lesen:
»Wir müssen durch den Sumpf des Lebens waten,
Und wenn dabei die trüben Wasser spritzen,
So jammern über unsre Missethaten
Die Frösche alle, die im Schlamme sitzen!«
Nun sage mir ehrlich, mein Freund! Verlangst du im Ernst von mir, diese Musik, welche ich gar wohl kennen gelernt habe, noch einmal anzuhören? Als ich damals aus dem Sumpfe stieg, drehte ich mich um und lachte herzlich über die Batrachier, die sich zum Platzen quälten, mir zu zeigen, wer und was sie seien. Dieses komische Bild schwebte mir vor, als du vom Lesen dieser deiner Makulaturen sprachst. Begreifst du mich jetzt nun?«
»Ja,« antwortete er. »Ich begreife sogar noch mehr, als du ahnst!«
»So laß sehen, ob das wahr ist. Ich habe eine Bitte.«
»Welche?«
»Schenke mir diese Zeitungen!«
»Was willst du mit ihnen thun?«
»Verbrennen! Ich pflege solche Dinge niemals aufzuheben, noch weniger zu lesen. Sie fliegen stets, sobald ich sie erhalte, in das Feuer. So kommt kein Schatten bei mir auf. Ich will dich von den deinigen befreien. Erfüllst du meinen Wunsch?«
Da ging er von Kasten zu Kasten, stieß mit dem Fuß an sie und sagte:
»Das sind die Furien, die Erinnyen, die ich dir ja beschrieben habe. Sie lügen, wie gedruckt! – Hier die schadenfrohen oder gedankenlosen Nachbeter und Nachtreter, welche bei Gott schwören, daß sie schuldlos seien, weil sie doch bloß nachgedruckt und nichts erfunden hätten! – Und da die sogenannten guten Freunde, die stets behaupten, daß sie retten wollen, und doch so ungeschickt dabei verfahren, daß sie mehr schaden, als die andern alle. – Ich schenke sie dir. Nimm sie hin! Verbrenne sie! Du hast so recht: Ich will hier reine Arbeit machen!«
»Aber ich verbrenne sie wirklich!« versicherte ich. »Ich gebe sie dir nicht zurück!«
»Das weiß ich. Es ist dir ernst! Aber auch mir! Ich will nun endlich, endlich einmal freien Geistes sein.«
»Ich danke dir! "Endlich einmal freien Geistes sein" willst du. Weißt du, was du mit diesen Worten gesagt hast? Unfreie Geister gibt es nicht. Wer in Fesseln liegt, ist vielleicht eine Intelligenz, doch niemals Geist! Du willst also nicht mehr bloß ein denkendes, ein nach Regeln, welche von Menschen vorgeschrieben sind, denkendes Wesen sein, sondern ein Geist, für den diese Regeln nur in so weit vorhanden sind, als sie mit seinen eigenen Wegen zusammenfallen. Du willst eine jener über sich selbst bestimmenden Personen werden, welche, wie ich unten ausführte, dem "dritten Leben" angehören. Das ist ein großer Entschluß, den du nur dann auszuführen vermagst, wenn du den Körper, deinen bisherigen Gebieter, zum gehorsamsten aller deiner Diener zu machen weißt, und wenn du deine bisherige Sklavin, die krank in dir darniederliegende Seele, zu deiner Freundin, deiner allereinzigen Freundin erhebst. Denn wisse: der Geist wird ohne Seele nie den Weg empor zum Geiste aller Geister finden! Nun also: Sei fortan nur Geist, und – such' dir deine Seele!«
Wir standen einander gegenüber, ich ihm erwartungsvoll in das Gesicht schauend, ob er mich begreifen werde, er aber sinnend nach seinen Büchern hinüberblickend, als ob nur dort das zu finden sei, was ich jetzt bei ihm suchte.
»Meine Seele!« sagte er. »Ich habe dich gebeten, in meinen Werken nachzuschauen, ob sie darin vorhanden sei. Seele ist darin; das weiß ich ganz genau!«
»Seele? Nur Seele? Das ist so viel wie nichts! Oder vielmehr, es ist so wenig wie "nur Geist"! Du sollst nicht Geist und sollst nicht Seele haben! Sondern du sollst Geist sein und sollst auch Seele sein! Die Person "Geist" sollst du sein, und die Person "Seele" sollst du sein! Eine vollständige Persönlichkeit im Reiche der Geister und eine vollständige Persönlichkeit im Reiche der Seelen, beides zu Einem vereint in dir, wie Licht und Wärme in der brennenden Flamme, das sollst du sein. Der Körper sei – der Docht!«
»Der Docht!« wiederholte er nachdenklich. »Licht und Wärme wie in der Flamme. Das ist Seele und Geist! Der Körper des Menschen ist nichts, nichts, nichts, als nur der Docht! Und das Oel, Effendi? Vielleicht erfahre ich auch dieses noch! Was alles hast du mir doch schon gesagt! Es ist so viel dabei, was ich noch nicht ganz oder noch nicht recht begreife. Vielleicht grad deshalb, weil es gar so einfach klingt. Warum? Wer hat es dem Menschengeiste vorgelogen, daß nur das seines Strebens und seines Fleißes wert sei, was ihm durch die konvuse Ausdrucksweise des Pseudo-Gelehrtentums unverständlich gemacht worden ist? Auch in mir lebt noch ein Rest jenes alten Stolzes, der sich einer eigenen Kaste und auch einer eigenen Sprache rühmt. Aber gleich daneben habe ich das heilige Buch der Bücher liegen, in dem der Geist durch Welten und durch Himmel forschen geht und doch dabei in einer Sprache redet, die jedes Kind versteht. Ist diese kindliche Einfachheit, diese Klarheit jetzt plötzlich aus mir herausgetreten, um deine Gestalt anzunehmen? Ich sehe dich vor mir stehen, als seist du jener Teil von mir, welcher durch keine dialektischen Kunstsprünge irr zu machen ist, weil er die reine, wahrheitskeusche Sprache redet, die jeden Dialekt vermeidet. Wenn ich dich in dieser Weise sprechen höre, so bist du ich selbst, nur jünger, weicher, tiefer, nur scheinbar hart und doch von einem Willen, den selbst das andere Ich von mir wohl nicht erschüttern könnte. Mir ist, als hättest du nur immer jung zu bleiben, als könnte von uns beiden nur ich zu altern haben. Ich mochte schwören, daß ich durch dich schaue, als wärest du Kristall. Und dennoch kenne ich dich noch lange, lange nicht. Du bist mir ein Geheimnis und wirst's vielleicht auch bleiben. Kannst du mir das erklären?«
»Werde dir klar, dann kann ich es; eher nicht!« antwortete ich. »Indem du dir klar wirst, erkläre ich mich dir. Du lobtest mich jetzt; aber dieses Lob ist ein Tadel, sowohl für dich als auch für mich!«
»Klingt das nicht auch schon wieder so geheimnisvoll?!«
Da griff ich nach seinen beiden Händen und forderte ihn auf:
»Schau mir in das Gesicht!«
Er that es.
»Wer bin ich?« fragte ich.
»Mein Freund,« antwortete er.
»Nein, denn ich bin mehr, viel mehr! Ich will anders fragen: Was bin ich? Was bin ich dir?«
Er sann, doch vergeblich. Dann sagte er:
»Ich weiß es nicht. Es kommen mir zwar Worte, doch keines trifft das Richtige, und keines sagt genug!«
»Und doch giebt es eins! Ein kleines, kleines Wörtchen. Und das ist richtig! Und das sagt genug, mehr als genug!«
»Welches?«
»Du hörst es nicht von mir. Du hast es selbst zu finden. Denn sagte ich es dir, so würdest du es nicht begreifen. Aber indem du es findest, hast du es verstanden.«
»Denkst du, daß ich es finde?«
»Ja, gewiß. Ich führe dich darauf.«
»Wann?«
»Bald. Vielleicht noch heut, noch jetzt, noch ehe wir uns trennen. Ich sprach vom Licht und von der Wärme in der Flamme. Ich gab dir auch das Gleichnis von dem Docht. Du fragtest mich sogar dann nach dem Oele. Wir redeten vom Geist und von der Seele. Bist du der Geist, für welchen ich dich halte, so mußt du ganz bestimmt das kleine Wörtchen finden!«
Jetzt war ich noch deutlicher gewesen als vorher, doch schien er sich nicht von dem einmal gefaßten Gedanken losreißen zu können. Er ging hinüber nach dem Fache, in welchem seine Werke standen, nahm ein Buch heraus, brachte es mir und sagte:
»Wenn sich mein Geist und meine Seele irgendwo so zusammengefunden haben, wie du sagtest, so ist es hier in diesen Blättern geschehen. Sie sind Flamme, vollständig Flamme! Schau es dir an!«
Ich öffnete es. Der Band war nicht gedruckt, sondern geschrieben, also Manuskript. Auf dem Titelblatte las ich: »Mein Leidensweg«. Ich war enttäuscht, ja sogar sehr enttäuscht!
»Deine Biographie?« fragte ich.
»Ja,« antwortete er.
»Vielleicht gar deine Rechtfertigung?«
»Gewiß! Das war ich mir doch schuldig!«
»Wehe dir, Ustad, wenn du dir noch etwas schuldig bist!«
»Wie streng das klingt! Und wie ernst du mich dabei anschaust, Effendi! So will ich mich anders ausdrücken: das war ich meinen Feinden schuldig, der Welt, die mich von sich gestoßen hat!«
Da hob ich warnend die Hand und sprach:
»Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,
So gehe ruhig fort, und laß das Klagen,
Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst
Und darum deine ganze Schuld zu tragen!
Wenn du Geist bist, wirklich Geist, so wirst du diese Worte verstehen und ihre Wahrheit so in dich atmen, daß sie dir zur Auferstehung werden muß und werden wird. Lazare, ich sage dir, komm heraus!«
Da wurden seine Augen groß und immer größer. Er hob seine beiden Hände empor, bis in die Nähe der Stirn, als ob er dort einen Gedanken fassen und festhalten wolle, und sagte:
»Was tritt jetzt an mich heran? Wer ist das? Wen giebst du mir? Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Und doch sehe, höre und fühle ich etwas Wunderbares, etwas unendlich Beglückendes! Ich empfinde es deutlich, daß ich frei werde! Ist es etwas Geistiges? Etwas Seelisches?«
Da antwortete ich:
»Gieb mir dein Herz! Ich will's zum Himmel tragen.
Von Gott gesegnet, bring ich dir's zurück.
Dann soll's nur noch im Himmelspulse schlagen,
Zu deinem und wohl auch zu meinem Glück!
Ustad, halte diese Worte fest! Laß sie dir nicht entweichen!«
Er schloß die Augen, als ob das, was in ihm vorging von außen nicht gestört werden solle, trat langsamen Schrittes, ohne etwas zu sagen, zum offenen Fenster und lehnte sich hinaus. Ich hatte das Buch »Mein Leidensweg« noch in der Hand und begann, darin zu blättern, doch ohne eigentlich zu lesen. Verschiedene Sätze, welche unterstrichen waren, fielen mir auf. Bei diesen verweilte ich. Ja, sie waren »Flamme«. Es glühte und flackerte in ihnen ein Zorn, welcher versengend war. Das Buch schloß auf der vorletzten Seite mit einem Gedichte. Dieses lautete:
»Ich kam zu dir am Hosiannatag
Und sah dich im Triumph durch Salem reiten,
Doch auch schon alles, was noch vor dir lag,
Sah hinter dir ich im Gefolge schreiten.
Da wendete ich mich zur Klagemauer
Und stand mit heißer Stirn am kalten Stein.
In deinen Jubel warf ich meine Trauer,
Denn mit dir zog ja auch dein Judas ein.
Ich kam zu dir am Eli-lama-Tag
Und sah dein Haupt im Todesschmerz sich senken.
Doch als dein Mund das Asabthani sprach,
Mußt schon ich an das nahe Ostern denken.
Du warst ja einst auf jenen Berg gestiegen,
Den man als Stätte der Verklärung preist,
Und mußtest beide, Grab und Tod, besiegen
In deiner Kraft als erdenfreier Geist.
Nun komme ich zum Auferstehungstag
Und sage dir: die Steine sind verschwunden.
Die Jünger sahen früh im Grabe nach
Und haben deinen Leichnam nicht gefunden.
Soll wohl der Geist hier in der Gruft verbleiben,
Wo doch der Körper längst schon auferstand?
Steh auf, steh auf! Es giebt noch viel zu schreiben,
Jedoch von jetzt nur mit – der Geisterhand!«
Ich las es noch einmal und dann zum dritten Male. Welch ein Gedicht! Ich meine nicht etwa den künstlerischen Wert desselben. Der ging und geht mich gar nichts an. Es war nicht die Form, sondern es war der Geist, der vor mir stand. Ich sah ihn deutlich, mit allem, was ich loben konnte, und auch mit allem, was ich an ihm tadeln mußte. Der Mann, der diese Zeilen geschrieben hatte, war aber unbedingt auch körperlich in Jersualem gewesen. Ich sah ihn durch das Jaffator kommen und geradeaus auf jenem Stufenwege schreiten, welcher hinab nach dem »Heiligtume« führt. Aber dorthin wollte er gar nicht, sondern er bog nach links, in die engen Bazare, die auf das Thor von Damaskus münden. Dort wendete er sich rechts, dem »Leidenswege« zu, hinauf nach Golgatha, dessen Stätte ein Gegenstand der Phantasie geworden ist, weil man die rechte Stelle nicht mehr kennt. Im tiefen Winkel liegt die »Klagemauer«. Hier hörte man die wahre Sehnsucht einst nach der Erlösung rufen. Jetzt aber kratzt man sich dort am Gestein die Finger blutig wund, nur um ein karges Bakschisch zu erhalten. So geht überall, nicht bloß im heiligen Jerusalem, die Menschheitsseele betteln, wenn sie den Geist verlor, der hier ihr Führer ist, damit dann sie ihn fort, nach oben, leite! Er aber, dieser Geist, schleicht forschend durch den Sukh des niederen Lebens, an Kesselflickern, Krämern und Wechsel-Habichten vorbei, nach dieser Seele suchend, die er verlieren mußte, weil er sein Herz an eitle Dinge hing! Und wenn er sie nicht findet, geht er hinaus vor Salems alte Mauern, steigt hin und her in jenen öden Thälern, wohin die Stadt das Aas gefallener Tiere sendet, am Oelberg dann hinauf, wo an dem Weg nach Jericho das Volk der Hammel abgeschlachtet wird. Und wenn er oben angekommen ist und von der höchsten Stelle des einstigen Jebus sein Morijah liegen sieht, so wallt es tief entrüstet in ihm auf. Er schüttelt seine Hände, in denen doch nichts ist, streng über Salem aus und klagt im Tone schmerzlicher Enttäuschung: »Ich kam zu dir – was habe ich gefunden?!«
Jetzt stand er dort am Fenster, den Rücken mir zugekehrt. Er achtete nicht auf mich, war nur in sich versunken. Die letzte Seite seines »Leidensweges« war noch leer. Tinte und Feder gab es hier auf dem Tische.
Wer war's, der in mir sprach? Der mir befahl, zu schreiben, was ich hörte ? Ich that es! Ich hielt mich ganz an seine eigene Weise. Dasselbe Metrum und dieselbe Zahl der Verse. Drei Strophen, so wie er, genau auch so beginnend: »Ich kam –«; »Ich kam –«, und dann: »Nun komme ich –«! Er sah nicht, daß ich schrieb. Ich wurde fertig, schloß das Buch und ging vom Tische weg. Da drehte er sich um, verließ das Fenster und ging dorthin, wo ich geschrieben hatte. Dort blieb er stehen. Es war ein tiefer Ton, in dem er langsam sprach:
»Wo habe ich's gelesen? Vielleicht auch las ich's nicht. Erzählte man es mir? Hat mirs ein Traum gebracht? Ich weiß es nicht, doch ist es in mir da. Ich will es dir jetzt sagen.«
Nun hob er den Blick und sah mich an. Da glitt es wie etwas Helles über sein Gesicht, und er rief aus:
»Es hatte deine Augen! Ganz dieselben Augen, die jetzt im Schatten liegen und doch so hell erscheinen! Sonderbar!«
Er sann ein kleines Weilchen. Dann fuhr er fort:
»Es war an einem Tag, an dem der Himmel offen stand. Da sprach der Herr: "Geht hin, um zu erlösen!" Sie folgten dem Befehl, sie alle, alle, viele Tausende. Bei ihnen die für mich bestimmte auch. Es war Dschanneh, der Gottessonnenstrahl!«
Welch ein Wort! Dschanneh! Sein Geist begann, klar, bestimmt und rein zu denken. Ich hörte, und ich sah, daß er den richtigen Weg gefunden hatte. Er sprach weiter:
»Sie suchte mich. Wie schwer war ich zu finden! Ich lag im tiefsten, fernsten Erdenwinkel, bei meiner bleichen Ahne, der Entbehrung, von den zerrissenen Fetzen ihres Mantels vollständig zugedeckt. Mich hungerte. Es war so dumpf, so dunkel unter meiner armen Decke. Da griff ein kleines, kleines Händchen unter sie herein, hob sie ein wenig auf. Ein Sonnenstrahlchen kroch zu mir heran, und da, wo innerlich die Nerven des Gehöres enden, erklangen mir die leisen, lieben Worte: "Jetzt hab ich dich! Ich bin ein Gruß aus Gottes Himmelreich und soll als Seele immer bei dir bleiben. Doch, halt mich fest! Und komm aus diesem Winkel zu uns hinaus ans Licht! Willst du mich nicht verlieren, so richte deinen Geist nach oben, nicht nach unten! Ich brauche Gottesodem; den kranken Hauch der Tiefe aber muß ich meiden!" Da warf ich meine Fetzen von mir ab und ging ans Licht des Tages, an die Wärme. Nun sah ich erst, wieviel die Huld des Herrn dem Menschen spendet, und griff mit fester Hand in diese Fülle, der Ahne denkend, der dies nötig war. Da eilten sie herbei, die Lebensprasser, die sich so wenig um die bleiche Armut kümmern, daß sie ihr selbst die Fetzen kaum noch gönnen. Da packten fette, goldgeschmückte Fäuste die hagre Armutshand, ihr zu entreißen, was sie in schwerer Arbeit sich errungen. Es kam der Kampf! In seinen kurzen Pausen sah ich in mir zwei klare, milde Augen, die aber trüber, immer trüber wurden, und jene Seelenstimme flüsterte mir zu: "Ich warne deinen Geist! Er konnte es nicht sehen: die Fetzen waren Flügel!" Doch dieser Geist stieg zornig vor mir auf und machte seine "heilgen Rechte" geltend. Ich folgte ihm, und in des Kampfes Tagen, die nimmer enden wollten, verklang die Seelenbitte in weite, weite Ferne, bis ich sie nicht mehr hörte. Auch jene Augen sah ich niemals mehr. Ihr trüber Blick war für mich ausgelöscht!«
Hier hielt er inne. Sein Gesicht hatte den Ausdruck einer Wehmut angenommen, die gewiß schon oft in stillen Stunden bei ihm Gast gewesen war. Aber es erheiterte sich wieder, als er fortfuhr:
»Da kamst du! Besinnungslos – krank – schwach – genesend! Ich sah dich in allen diesen Stadien. Dein Auge hatte sie mit dir durchzumachen. Je mehr du dich erholtest, desto bekannter wurde mir dein Blick. Ich sann und sann – und endlich fand ich es: Dschanneh, mein Sonnenstrahl! Kann ein Mensch Seelenaugen haben? Ich frage nicht! Denn ich habe schon gefragt, vorhin, als ich wissen wollte, wer das sei, den du mir gabst! Als ich nun dort am Fenster stand, wurde es heller und immer heller in mir. Noch ist es nicht ganz licht; aber es wird, es wird, es wird! Effendi, ich liege auch heut im fernsten, tiefsten Erdenwinkel. Es ist so kalt, so dumpf unter meinem Mantel. Ich fühle die Nähe meiner Ahne wieder. Wird jemand kommen, wie damals, um die geistigen Fetzen aufzuheben und mir meinen Gottessonnenschein, meine Dschanneh, zurückzubringen, die mir im Kampfe des Lebens verloren gegangen ist, weil ich nicht mehr auf sie achtete?«
»Ja,« antwortete ich. »Es kommt jemand. Er ist schon da!«
»Wer?« fragte er.
»Ich! Ich bin es! Wünschest du wirklich, daß ich deinen Mantel aufhebe?«
»Ja!« nickte er, indem seine Augen leuchteten.
»Und wirst du ihn, wie damals, von dir werfen und an das Licht des Tages gehen?«
»Gewiß, gewiß! – Wie gern!«
Da schob ich ihn vom Tische hinweg, griff nach seinem Manuskripte und sagte:
»Hier liegt er! Das ist er! Dein "Leidensweg", deine Biographie, deine Rechtfertigung, das sind die alten Fetzen, welche ebenso in das Feuer müssen wie dort die Kästen mit den Makulaturen! Ich bitte dich, auch sie mir zu schenken!«
»Das Manuskript, das ganze, ganze Manuskript?« fragte er erstaunt.
»Ja, das ganze!«
»Du kennst es ja nicht! Du hast es ja noch gar nicht gelesen! Lies wenigstens hinten das Gedicht!«
»Ustad, Ustad! Du glaubst, durch dieses Gedicht das Manuskript retten zu können! Ja, es ist wahr: deine Ahne sitzt bei dir, die geistige Armut, die ausgehungerte Denkschwachheit, das kraftlose Unvermögen, sich unter den Lumpen hervorzufinden, die man mit warmer Liebe um sich schlägt, weil man sie doch, und doch, und doch für ungeheuer kostbar hält, obgleich man es nicht wagt, dies einzugestehen! Du glaubst, das Gedicht sei mir unbekannt. Ich kenne es besser als du. Höre zu! Du sollst die Fetzen fliegen sehen!«
Ich schlug die vorletzte Seite auf und las. Freilich keinesweges in dem Tone, den er dabei jedenfalls angeschlagen hätte. Der meinige war ironisch frömmelnd, möglichst salbungsvoll, bei den letzten vier Zeilen sogar sarkastisch. Als ich geendet hatte, sah ich ihn an.
»Effendi, du vernichtest mich!« rief er aus.
»Nein! Nicht dich, sondern deine Ahne! Meinst du, auf solche geistige Vorschatten stolz sein zu können? Ich weiß, was ich thue; aber ich kenne kein Erbarmen für jene feigen Geister, welche den römischen Kriegsknechten die Mantelfetzen des Erlösers entreißen und sich hineinwickeln, weil sie weder die Kraft noch den Mut besitzen, das zu thun, was er von ihnen fordert: "Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!" Du trugst diese Fetzen zu deiner "Hosiannazeit"; das war lächerlich! Du trugst sie an deinem "Eli-lama-Tage"; das war anmaßend! Und nun willst du sie sogar an deinem "Auferstehungstage" tragen! Wie würde das wohl sein?! Diese vermeintliche Auferstehung würde sich in eine Leichenschändung verwandeln! Ich sah hier in deinem Manuskripte angestrichene Stellen. Du sprichst da von dem Himmelreiche, sprichst von der Seligkeit! Wußtest du denn, ob grad dein Himmelreich auch jedem andern wohlgefallen werde? War es dir unbekannt, wer die sind, die von Christus in seiner Bergpredigt seliggepriesen werden? Du aber wolltest Thoren selig machen, die grad das Gegenteil von dem thun, was der Meister fordert! Wie erhaben groß war jener Geist, um den sich nach zweitausend Jahren noch alle hohen, edlen Geister sammeln, um an ihm emporzuschauen. Wo steckt der deinige? Zu Christi Füßen wohl? Ich suche ihn zwar da, finde ihn aber nicht. Steckt er vielleicht in des Erlösers Schatten? Ich warne dich! Er mag zum Lichte kommen! Und nun höre das letzte: Wie hoch, wie hoch denkst du von diesem deinem Geiste! Er, der vor bloßen Schemen voller Angst die Flucht ergriff, er soll jetzt auferstehen, seinen Zufluchtsort verlassen, sich hier aus seiner "Gruft" hervorwagen, und zwar zum Schrecken und Entsetzen derer, vor denen er so ganz besinnungslos entfloh? Du sprichst von deiner "Geisterhand". Du sollst von mir erfahren, was du von dieser Hand zu hoffen hast! Da, schau!«
Ich schlug das letzte Blatt des Buches um und gab es ihm. Er sah die neuen Zeilen.
»Ein Gedicht!« sagte er.
»Meine Antwort auf das deinige,« erklärte ich.
»Wann schriebst du es?«
»Als du am Fenster standest. Laß es mich hören, laut!« Er las:
»Ich kam zu dir mit meinem Sonnenschein;
Du aber wolltest mich und ihn nicht haben,
Du glaubtest ja, ein großer Geist zu sein,
Und warfst um dich mit dieses Geistes Gaben.
Du hieltest für die Ewigkeit geschrieben,
Was Menschenhand für Menschenaugen schreibt,
Und bist doch selbst ein Manuskript geblieben,
Das ungedruckt im Kasten liegen bleibt!
Ich kam zu dir mit meinem Sonnenlicht;
Du aber glaubtest, eignes Licht zu strahlen.
Es glimmte wohl, doch leuchtete es nicht,
Und teuer war die Lampe zu bezahlen.
Du wolltest alle Welt im Nu entflammen
Für dich und deine Thorenseligkeit;
Da aber fiel der Docht in sich zusammen,
Und nun umfängt dich selbst die Dunkelheit!
Nun komme ich mit all dem Sonnenglanz,
In dem vor ihrem Herrn die Geister beten.
Ich will zum allerletztenmal, doch ganz,
In meiner Klarheit Fülle, zu dir treten,
Begreifst du nun auch jetzt das große Wunder,
Das doch so einfach ist, noch immer nicht,
So gehst du wie der Docht im Lämpchen unter,
Denn deinem Geist fehlt jede Spur von Licht!«
Er hatte die Vorlesung in jenem hohen Tone begonnen, den, wie er glaubte, das Metrum mit sich brachte. Dieser Ton war laut und vorwurfsvoll. Aber schon nach den ersten Zeilen begann er zu sinken. Die Sätze folgten sich langsamer, weil der Gedanke sich sträubte, so schnell mitzukommen. Es traten sogar kurze Pausen ein. Das Gesicht des Ustad wurde ernster und immer ernster.
Als er zu Ende war, las er das Gedicht noch einmal leise durch.
Nun war ich hochgespannt auf das, was er jetzt thun werde. Er sah mich gar nicht an. Er sagte nichts, kein Wort. Er drehte sich langsam um und ging wieder nach dem Fenster. Ich blieb stehen, still, erwartungsvoll. Still war es auch in meinem Innern. Kein Gedanke kam; kein Gefühl bewegte sich. Mein Herz klopfte. Ich hörte es. Gab es jemand in mir, der stumm betete?
Da verließ der Ustad das Fenster. Ist es möglich, daß sich ein Gesicht in so kurzer Zeit so sehr verändern kann? Das seinige war wie verklärt. Seine Augen strahlten. Er blieb vor mir stehen und riß das letzte Blatt langsam und sorgfältig um es nicht zu verletzen, aus dem Manuskripte. Dann warf er das letztere weit hinter sich, so daß es an die Wand zu den alten Zeitungen zu liegen kam, und rief im frohesten Tone aus:
»Hier hast du es, Effendi, alles, alles! Den "Leidensweg", die "Biographie" und vor allen Dingen auch die "Rechtfertigung", die ich keinem einzigen Menschen hier auf Erden schuldig bin! Verbrenne es, sobald du kannst, dort mit den Zeitungs-Makulaturen! Ich habe dich endlich, endlich nun begriffen:
»Wenn mich die Menschheit aus den Thoren stößt,
Um mich, den Menschen, an das Kreuz zu schlagen,
So wurde ich von meiner Schuld erlöst;
Sie aber hat die ihre noch zu tragen!«
Nun richtete er seine Gestalt hoch auf. Auf seiner Stirn drohte plötzlich der heiligste, unerbittlichste Ernst. Aus seinen Augen flammten Zornesstrahlen, und seine Stimme klang in ihrer tiefsten Tiefe, als er fortfuhr:
»Hatte ich "meinen Leidensweg" zu gehen, oder hatte ich meine Feinde aufzufordern, sich um ihre eigenen Balken, nicht aber um meine Splitter zu bekümmern? Von welchem Monarchen oder von welchem Herrgott waren sie beauftragt, über mich zu Gericht zu sitzen? Standen sie etwa als erhabene Geister in unermeßlicher Ferne über mir? Nein! Denn dann hätten sie gar nicht auf mich geachtet! Sie waren Dochte, grad wie ich, weiter nichts; ja, sie hatten nicht einmal eigenes Oel, sondern sie zehrten von dem meinigen! Und grad das ist es, was sie kennzeichnet! Wenn sich niemand findet, von dessen Fehlern sie leben können, wird es in ihren Laternen dunkle Nacht. Aber haben sie einmal Einen gefunden, den lassen sie jahrelang nicht los, um ihn so vollständig zu verschlingen, wie einst die sieben magern die sieben fetten Kühe im Traume Pharaos! Wenn dann der Geist im Lande teuer wird, so sind doch wenigstens sie vom Hungertod gerettet – zum ewigen Heil der ganzen Nation! Mußte ich mich von ihnen auf die Hörner nehmen lassen? War ich gezwungen, mich meiner Fehler wegen von den Sünden Anderer aus einer Welt treiben zu lassen, auf welche ich wenigstens ein ebenso großes Anrecht besaß wie sie? Welches innere oder äußere Gesetz kann mich wohl verurteilen, unter Millionen der Einzige zu sein, der seine Fehler willig auf sich nimmt, während die Uebrigen, bis an den Hals tief in den ihrigen steckend, ihre schadenfrohe Augenweide an mir haben? Und nun sie mich für gestorben und begraben halten, ist es da nicht eine beinahe unfaßbare Schande für mich, hier in meinem »Grabe« herumzuwimmern, anstatt mich kräftig zu regen, um die Steine desselben auseinander zu sprengen?«
Er ging einige Male im Zimmer hin und her, blieb dann vor mir stehen und sprach weiter:
»Man sagt, daß Gräber sehr oft die Geburtsstätten von Irrlichtern seien. Also nicht einmal Docht, sondern nur Verwesungsgas! Es irrlichteriert auch auf dem meinigen herum. Effendi, ich stehe auf; ich muß hinaus! Du hast mich gefragt, ob ich wirklich entschlossen sei, wieder an das Licht des Tages zu gehen. Ich gab dir mein Wort, und ich werde es halten. Dort liegt der Mantelfetzen, den du mir weggenommen hast, meine Rechtfertigung, die ich keinem Menschen schuldig war. Noch ehe du ihn ins Feuer wirfst, habe ich meinen Lebensanteil wieder in den Händen. Ich fühle es, die alte Kraft ist wieder da. Ich habe bloß nur Zeit versäumt und werde da beginnen, wo ich einst aufhörte.«
»Bloß nur Zeit!« antwortete ich. »Ustad, Ustad, du kannst nichts Köstlicheres verlieren als die Zeit! Sie kommt nie zurück!«
»Sei versichert, daß ich einholen werde, was einzuholen ist!«
»Aber auch hierzu brauchst du wieder Zeit, die du abermals einzuholen hättest! Und wo willst du wieder anfangen? Wo du aufgehört hast? An der Stelle deiner Arbeit, wo du sie unterbrachst, oder an dem Orte, wo du früher wohntest?«
»Beides. Ich muß; ich muß! Denke an dein Gedicht, mit welchem du das meinige beantwortetest? Alles Andere habe ich weggeworfen; das Blatt mit diesem Gedichte aber hebe ich mir auf. Ich trage es auf meinem Herzen. Wie recht hast du mit dem Vorwurfe der "Torenseligkeit"! Ist Gott wirklich nur Liebe, nichts als Liebe? Ist er nicht auch gerecht? So lange ich glaubte, nur geliebt zu werden, gab es in dem Himmel, den ich lehrte, eben auch nichts, als nur Liebe. Aber als ich mich unter der Faust des Hasses zu krümmen hatte und der giftige Neid an mir emporgekrochen kam, da erkannte ich, daß ich mich geirrt haben mußte. Ist der Himmel so arm, daß er für die Liebe und für den Haß nichts als dieselbe Münze hat? Und soll nur Gott allein das Böse bestrafen dürfen, nicht auch der Mensch, nicht ich? Wenn Tausende mich unter ihre Füße treten, indem sie behaupten, auf dem alleinigen Weg zur Seligkeit zu sein, muß ich da diesen ihren Irrtum als Wahrheit anerkennen, indem ich mich vollends von ihnen zermalmen lasse? Diese Fragen stiegen oftmals zornig in mir auf, ohne daß ich sie zu beantworten wagte. "Liebet eure Feinde!" klang es tief in mir. Da kamst du vorhin mit deiner "Torenseligkeit", und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ja, es ist Christi Gebot "Liebet eure Feinde!", und ich werde es halten, so lange ich lebe und bin. Aber ich weiß nun, daß ich die wahre Liebe zum Feinde ebenso wenig begriffen habe wie die Liebe überhaupt. Wenn der Feind gegen mich auftritt, um mich zu vernichten, so habe ich ebenso streng gegen ihn zu verfahren, doch nur, um ihn zu retten! Das ist die wahre Feindesliebe und nicht mehr kranke Herzensduselei! Die offene Hand für jede offene Hand, doch auch die Faust gegen Jeden, der mir die seine ballt! Die Feinde zu schonen, ging ich aus dem Lande und wurde für sie tot. Was habe ich für mich und was habe ich für sie dadurch erreicht? Nichts! Darum bin ich entschlossen, zu ihnen zurückzukehren und nachzuholen, was ich versäumte. Ich will unter sie treten als ganz derselbe, der ich war, und doch als ein ganz anderer. Ich werde ihnen –«
»– – die Faust zeigen!« unterbrach ich ihn. »Nicht wahr, Ustad?«
»Ja,« nickte er.
»Und deine Dschamikun –? Was wird aus ihnen –?« Ich sah ihm ernst fragend in die Augen. Er senkte sie zu Boden. Es entstand eine Pause, doch nur eine sehr kurze. Dann hob er den Blick wieder empor, reichte mir die Hand und antwortete, heiter lächelnd:
»Welch eine jugendliche Uebereilung bei solchem Alter! Verzeihe mir im Namen dieser meiner Treuen! Wie könnte ich die verlassen, die mich niemals, niemals verlassen würden! Du siehst, der Zorn führt leicht auf falsche Wege, sogar auch mich, den sonst so gern Bedächtigen!«
»Das warst nicht du; es war der alte Schatten. Nur immer groß scheinen, ohne wirklich und wahrhaft groß zu sein! Du wolltest in jenes dir fremd gewordene Land zurück und auch an jene Stelle, wo du zu schreiben aufhörtest. Auf das eine hast du verzichtet. Und das Andere?«
»Fremd geworden, sagst du, und das ist richtig! Das Land – wohl auch die Arbeit!«
»Jawohl! Die Feder ruhte, doch nicht dein Geist, und wahrer Geist kennt nicht das Rückwärtsgehen. Ich will dir zeigen, was du schreiben mußt. Komm mit hinaus, und höre, was ich sage!«
Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch das Mittelzimmer auf das platte Dach. Indem ich mit der Hand einen Bogen über die Einfassung desselben hinaus beschrieb, fuhr ich fort:
»Da liegt dein Reich, das Reich der scheinbar Unmündigen, zu denen du von den scheinbar Mündigen getrieben worden bist. Ihre Augen sahen besser und schärfer als die Augen derer, die sich für weise hielten. Bei diesen letzteren liegt deine Vergangenheit, mit der du abgeschlossen hast. Laß sie mit ihr machen, was ihnen beliebt! Sie sind ja auch weiter nichts als nur die dunkeln, immer mehr verschwindenden Schatten einer Zeit, die hinter jedem von uns liegt, der in die Sonne schaut. Und diese Sonne kommt. Schau gegen Osten hin! Noch liegen die Ruinen hier in tiefer Dunkelheit, doch ballt sich schon der Nebel auf dem See. Er sagt uns, daß zu steigen jetzt beginne, was nicht mehr in der Tiefe bleiben will. Der Erde Sehnsucht ist also vorhanden. Es fehlt nur noch die lichte Kraft von oben, die liebend niederstrahlt, dies Sehnen zu erfüllen. Ein leiser Hauch verkündet schon den Morgen. Glaubst du, daß er uns täusche, daß er nicht kommen werde?«
»Er kommt bestimmt, mit Gottessicherheit!« antwortete er.
»So sag: Ist diese Sicherheit nur in der Zeit vorhanden, die Tag für Tag die gleichen Stunden bringt? Gibt es nicht auch noch andre Morgen, die ebenso gewiß nach andern Nächten folgen? Und andre Nebel, die grad jetzt sich ballen, wie diese hier, am See der Dschamikun? Du brachtest in dies Land den Trieb nach oben. Ich sah es ja, wie kräftig er sich zeigt. Es war hier Nacht, doch spürte ich den Hauch, der stets mit Sicherheit den jungen Tag verkündet. Glaubst du, daß es vermessne Menschen gebe, die ihre Nacht dem Licht entgegenstellen, damit der Tag von ihr vernichtet werde? Und wenn der Wahnsinn wirklich möglich wäre, der sich mit solcher Macht gewappnet denkt, so blase er mit seinem Hauch die Sonne, mit seinem Odem alle Sterne aus und füge zu der so entstandnen Finsternis das grasse Dunkel seines Hirns dazu, so wird es eben nur ein Wahnsinn sein und bleiben! Hetz tausend solche dunkle Aberwitzige auf einen einz'gen lichten, klaren Menschengeist, es wird geschehn, was unausbleiblich ist: Nicht werden diese Irren ihn verdunkeln, nein, sondern er wird ihren Wahn beleuchten und alles das, was hinter diesem liegt. Und schreitet er auf ihre Nebel zu, wird er zum Tag, vor dem die Schatten fallen. Das ist die andere Gottessicherheit, die unerbittlich naht, nach jeder Larve greift und jeden Vorhang hebt und alles an das Licht der Sonne zieht, was sich aus Angst vor diesem Licht versteckte.«
»Wie richtig!« nickte er. »Wir wissen ja, daß jene Schatten kommen, die heute sich hier angemeldet haben. Es gilt den großen Kampf, der zwischen Licht und Finsternis entscheidet. Wer Sieger bleiben wird, sagt das Naturgesetz. Ich ahne, daß sie nicht nur offen kommen werden. Des Dunkels Schwester ist die Heimlichkeit. Und wenn sie meinen, uns zu überwinden, so denken sie auch ganz gewiß daran, den Sieg sofort und schleunigst auszunützen. Drum fürchte ich, man kommt nicht nur zum See; man wird auch draußen unser Land besetzen. So habe ich also dafür zu sorgen, daß wir auch hierauf vorbereitet sind. Du siehst, ich denke schon nicht mehr an meine frühere Welt, zu der ich schleunigst wiederkehren wollte. Ich bleibe hier bei meinen Dschamikun, um zu beenden, was ich einst begann. Ich baute nur für sie das Alabasterzelt und muß sie heben, bis sie oben sind. Was ich von meiner "Geisterhand" gedichtet, das hat Gedicht zu bleiben allezeit. Ich war ja doch kein Abgeschiedener und schaute über jene Grenze nicht, die keiner überschreitet, der noch lebt.«
»So hast du also doch noch nicht begriffen!« sagte ich.
»Was?« fragte er.
»Die Stelle meiner letzten Strophe: "Begreifst du nun auch jetzt das große Wunder, das doch so einfach ist, noch immer nicht" –! Du hältst dich für einen Dichter, denn du dichtest. Und doch weißt du nicht, was ein Gedicht ist und wie es entsteht. Denk noch so tief und schön, und sage es in Reimen, das, was du schreibst, ist dennoch kein Gedicht. Der wahre Dichter denkt und schreibt zwar auch, doch was er schreibt ist Wirklichkeit und Leben, ist niemals nur Erdachtes. Dem Einen fehlt das Selbsterleben des Andern. Der eine "hat" Geist, der Andere aber "ist" Geist. Und dieser Geist kennt jene Grenze nicht, von der du sprachst. Ihm sind die Tore anderer Welten offen. Er geht da aus und ein. Ist er zurückgekehrt, um zu berichten, so kann er das nur in der Sprache tun, die man hier in der Körperwelt versteht. Und dieses Uebersetzen ist nicht leicht; man lernt es nur durch Mühe und Entsagung. Ich kenne keinen einzigen, der hierin Meister wurde; sie alle blieben bei dem Lehrling stehen. Auch ist dies Uebersetzen undankbar; ich meine undankbar im engsten Erdensinne. Wer Geistesleben übertragen will, der findet hier bei uns nicht eine einz'ge Form und keinerlei Begriff für das, was er uns gibt. Er hat sich mit der irdischen Gestalt und mit dem Menschenworte zu begnügen, die aber völlig unzureichend sind für seinen Zweck. Er kann nicht deutlich sagen, was er zu sagen hat, und uns nicht offen zeigen, was wir doch sehen sollen. Und wir, wir stehn dabei, mit vollen Körpersinnen und doch fast blind und taub für seine ganze Mühe. Der Ernste zwar, der logisch denkt und groß und rein empfindet, wird sehr bald ahnen, daß es um Unbeschreibliches, um Heiliges sich handelt, und darum sich befleißigen, sein Auge und sein Ohr dafür zu schärfen. An diesem Fleiße wächst sodann sein eigner Geist empor und lernt den andern nach und nach begreifen.«
»So ungefähr, wie ich zu wachsen habe,« fiel da der Ustad ein.
»Wer aber nicht so lauteren Herzens ist,« fuhr ich fort, »und trift'ge Gründe hat, den reinen Geist zu hassen, der stürzt sich wütend auf das arme Wort und auf die unwillkommene Gestalt und gibt sich Mühe, beide zu vernichten. Gelingt ihm dies, so prahlt er laut, den Geist besiegt zu haben, und wird von seinesgleichen hoch auf den Schild gehoben. Gelingt es aber nicht, so wirft er um die Blöße, die er sich gab, den Mantel frechen Spottes und greift anstatt des Geistes nun auch den Menschen an, um nichts an ihm zu lassen, was ihn zum Menschen machte. Welch ein Jubel nun für alle, die ebenso niedrig denken wie er! Sie fallen mit derselben Gier über den Verhaßten her. Er wird verhöhnt, geächtet, ausgestoßen, und wehe ihm, wenn er nichts Andres wäre als eben nur der Mensch, der an dem Pranger steht! Weißt du nun, Ustad, wie undankbar, ja wie gewagt es ist, mit der "Geisterhand" schreiben zu wollen? Der Spott würde sich sofort deiner bemächtigen. Die raffinierte, rücksichtslose Lüge würde an dich herantreten, um den erhabenen Begriff, welcher dir bei dem Worte "Geist" vorschwebt, zu fälschen und in "Gespenst" zu verwandeln. Man würde höhnisch behaupten, du meinest nicht das Reich der Geister, welche große, edle Menschen sind, sondern das Geisterreich, von dessen Vorhandensein nur der Aberglaube faselt. Und selbst wenn du nicht mit Menschen-, sondern mit Engelzungen sprächest, die Unvernunft würde dich nicht verstehen "können" und die Feindschaft dich nicht begreifen "wollen", sondern dir alle möglichen Eigenschaften und Absichten unterschieben, aber ja nur keine guten!«
»Aber die Vernünftigen, Effendi?«
»Sie können dir keine Hilfe gewähren, denn sie sind machtlos, dem Heere der Andern gegenüber. Du kannst dich nur auf dich selbst verlassen. Du hast alleinzustehen, ganz, ganz allein, in allertiefster Seeleneinsamkeit, fest, stark, unerschütterlich – vollständig gleichgültig gegen jeden Schmutz, mit dem man nach dir wirft, gegen jede Niedertracht und Tücke, die aus vollen Nüstern dir entgegenschnaubt. Selbst die, welche an dir hangen, verstehen dich meist falsch, denn es erfordert Gedankenewigkeiten, bevor sie lernen, durch das Wort und die Gestalt hindurch den Sinn, den Geist, die Seele zu erfassen. Also auch sie stehen nicht bei dir, an deiner Seite. Aber grad diese Einsamkeit, diese Verlassenheit ist es, die dir den allerbesten, den einzigen Schutz gewährt. Bist du stark genug, dich zu dieser Entsagung zu bekennen, so gewinnst du sie lieb, unendlich lieb. Dein Ohr hört weder Lob noch Tadel mehr, und alles, was sich gegen dich aufbäumt, muß ohnmächtig in sich selbst zusammenfallen.«
»Ich begreife dich und begreife dich doch nicht,« gestand er ein. Auch ich habe entsagt, dann aber doch wenigstens meine Dschamikun gefunden. Die Einsamkeit, von der du sprichst, ist mir beinahe undenklich.«
»So schreibe, wie du ja wolltest, mit deiner Geisterhand; dann wirst du sie sofort kennen lernen! Versuche es, deinen Lesern ins Körperliche zu übersetzen, was Geist, was Seele ist, du wirst die Folgen so schnell an dir verspüren, daß es dir grauen möchte! Zeige ihnen einmal ein volles Menschen-Ich, von dessen Wesen sie trotz aller Psychologie noch keine Ahnung haben. Zerlege es vor ihren Augen in deutliche Gestalten, von denen du glaubst, daß sie sofort verstanden werden müssen – was wird die Folge sein? Man sieht das nicht, was du beschreibst, und denkt darum, du redest nur von körperlichen Dingen. Das preßt den Blinden jenes Lachen aus, worüber Sehende am liebsten weinen möchten. Man nennt dich einen Lügner, einen Prahler. Man spricht von Eigenlob, von widerlicher Selbstreklame. Und doch kann nirgendwo die Arroganz so ungeheuer sein wie grad bei diesen Toren, die ihren blinden Willen dem Schöpfer und den Menschen, sogar der sämtlichen Natur als oberstes Gesetz ins Antlitz schleudern. Was thust du dann, wenn diese –«
Ich konnte nicht weitersprechen, denn es fiel unter uns ein Schuß und wieder einer. Gleich hierauf hörte ich Kara Ben Halef, welcher seine Lagerstätte bekanntlich auf dem platten Dache über der Halle hatte, ausrufen:
»Was war das? Warum hat man geschossen?«
»Die Gefangenen brechen aus!« erwiderte eine weibliche Stimme.
»Wallahi! Laß sie nicht in das Haus! Ich packe sie hier von oben!«
Kaum gesagt, tat er es auch: Er schoß vom Dach herunter in den Hof.
»Das war die Stimme meiner wachsamen Schakara!« rief der Ustad. »Eile du hinab zu ihr, Effendi! Ich gebe meinen Dschamikun das Zeichen mit der Glocke; dann folge ich dir nach. Nimm deine Waffen; sie sind aber nicht geladen!«
Um die Lampe stehen lassen zu können, steckte ich eine Talgkerze an und ging schnellen Schrittes hinunter in die »Rumpelkammer«. So lange die Menschheit nicht Frieden hält, darf auch der Friedliche nicht auf die Wehr verzichten. Das wurde uns beiden jetzt bewiesen. Ich nahm den Stutzen nebst Patronen und sprang dann, mehr als ich stieg, die untern Treppen hinab. Da stand Schakara vor der Tür, welche in die Halle führte; sie hatte den Eisenriegel vorgeschoben und eine Pistole in der Hand. Am Boden stand eine brennende Lampe, daneben lagen die Kleider des Bluträchers. Auf dem Hofe brüllten viele Stimmen drohend durcheinander. Kara's Schüsse krachten. Er beschützte von oben herab die Stufen zu der Halle. Ich warf das Licht weg, weil es mich hinderte, lud das Gewehr und erkundigte mich während dieser höchst eiligen Beschäftigung bei der Kurdin:
»Wie kamst du dazu, bewaffnet zu sein und die Flucht der Gefangenen zu entdecken?«
»Frage das später!« antwortete sie. »Horch! Die Glocken klingen! Nun erwachen alle unsere Krieger. Da ist die Gefahr für das hohe Haus vorüber. Die Feinde können jetzt weiter nichts mehr tun, als schleunigst fliehen. Lehre sie die Stimme deines Gewehres kennen!«
Sie schob den Riegel zurück und öffnete die Thür. Grad als ich hinaus in die dunkle Halle trat, kam Hanneh von oben herab.
»Mein Halef, mein Halef!« rief sie aus. »Wenn er die Schüsse hört, so wacht er auf und wird sich tief erregen!«
Sie eilte zu ihm hin. Ich aber bemerkte zu meiner Beruhigung, daß kein Fremder hier eingedrungen war. Sie waren schon fast alle zum Tore hinaus, und ich schickte ihnen mehrere Schüsse nach, doch nur in der Absicht, sie zu beängstigen, nicht aber, sie zu treffen.
»Verteilt euch schnell, schnell!« hörte ich die Stimme des Bluträchers brüllen. »Nur euch nicht wieder ergreifen lassen! Nur rasch zum Dorfe hinaus! Wir kommen ja doch wieder. Dann aber Rache, Rache!«
Die Glocken klangen weiter, in einzelnen, warnenden Schlägen. Im Küchengarten krachten jetzt auch Schüsse. Das war, wie ich später erfuhr, Tifl, der dort hinter den Sträuchern stand. Die übrigen männlichen Bewohner des Hauses erschienen, und unten im Dorfe begannen die Gewehre laute Antwort zu geben. Wo aber war der Pedehr? Und wo waren die Wachen, die drüben am Gefängnistore gestanden hatten? Ich sah sie nicht.
Da hörten die Glocken auf, zu stürmen, und der Ustad kam zu uns herab. Er traf mit dem Händler aus Isphahan und dessen Sohn zusammen, die sich nun auch einfanden. Ich bat, Fackeln anbrennen und vor allen Dingen das Tor wieder verschließen zu lassen. Als das geschehen war, ließ ich die Leute zusammenrufen. Man tat dies mit einer Hast, als ob es nun erst gelte, das zu verhüten, was doch bereits vorüber war. Die Aufregung hatte alle ergriffen, sogar den Ustad auch. Ich aber war gewohnt, mir in jeder Lage meine innere Ruhe zu bewahren, und konnte mich höchstens darüber wundern, daß der Pedehr sich noch immer nicht sehen ließ. Als ich nach ihm fragte, war es Schakara, welche antwortete:
»Ich sah ihn zu den Gefangenen hinübergehen, und er kam nicht wieder,« sagte sie.
»Wo warst du, als du das bemerktest?« erkundigte ich mich.
»Hier in der Halle. Ich wünschte, daß Hanneh und Kara schlafen möchten, und bat darum, bei Hadschi Halef wachen zu dürfen. Das gewährten sie mir.«
»Du immer Gute und stets Opferfertige!« unterbrach ich sie. »Was wollte denn der Pedehr so mitten in der Nacht bei diesen Fremden?«
»Das weiß ich nicht. Er sprach gar nicht mit mir, wohl weil er mich nicht sah. Als er so gar nicht wiederkehrte, wurde ich besorgt um ihn und ging hinaus auf die Stufen. Da sah ich das Tor des Gefängnisses offen, und die Soldaten kamen leise heraus. Ich erschrak so, daß ich kein Wort hervorbrachte, und doch war Hilfe nötig. Darum eilte ich in das Innere des Hauses und holte die Pistole des Pedehr, die stets geladen ist. Die schoß ich ab, alle beide Läufe, und dann verriegelte ich die Tür, damit es keinem Feinde gelingen möge, zu euch hinaufzukommen. Was dann geschah, das weißt du ja, Effendi.«
Wie kam es doch, daß es meine Hand hinüber zu der ihrigen zog, um sie zu drücken? Ich tat es und sprach dabei:
»Wenn der Geist des Hauses von unnützen Dingen träumt oder gar im vollen Wachen sich unvorsichtig erweist, so hat dann freilich die Seele die Augen offen zu halten. Und die bist du für uns gewesen, o Schakara! Ich vermute, der Pedehr steckt drüben im Gewölbe und ist Gefangener an Stelle derer, die er festzuhalten hatte. Schauen wir nach ihm!«
»Wird er nicht tot sein?« fragte höchst besorgt sein Tifl. »Sie können ihn ermordet haben!«
»O nein! Wer zum Wettrennen wiederkommen will wie dieser Multasim, der begeht zwar heimlichen, nicht aber offenbaren Mord. Der Pedehr wird ihm wie in einer Da'wa'l Ihana in die Hände gegangen sein und nicht den richtigen Vergleich zwischen sich und ihm getroffen haben. Da bleibt nun uns nichts Anderes übrig, als daß wir jetzt ganz ruhig sind und später anders als wie er verfahren. Nun kommt!«
Wir gingen mit zwei Fackeln über den Hof hinüber. Die Flüchtigen hatten infolge der Alarmschüsse gar nicht Zeit gefunden, die Tür fest zuzumachen; sie war nur angelehnt. Im Innern herrschte tiefe Dunkelheit! Durch unsere Fackeln aber wurde es hell. Da sahen wir sie am Boden liegen, den Pedehr und auch die Wächter, mit den eigenen Stricken gebunden und durch Knebel sprachlos gemacht. Alle, die mit hereingekommen waren, stießen Rufe des Erstaunens, der Verwunderung, ja des Schreckens aus. Der Ustad schlug die Hände zusammen und wollte sich wahrscheinlich in geharnischten Fragen ergehen; ich aber nahm ihm durch eine schnelle Handbewegung die Zeit dazu und sagte:
»Keiner von euch spreche! Es handelt sich hier um Anderes, als ihr denkt! Der Pedehr hat gethan, was er nicht lassen konnte. Schmälern wir ihm also nicht seinen Ruhm! Macht die Andern los; sie mögen gehen!«
Während man dies tat, bückte ich mich zu dem Scheik nieder, um ihn zu befreien, von denselben Fesseln, welche für seine und unsere Feinde bestimmt gewesen waren. Auch zog ich ihm den Knebel aus dem Munde. Da stand er langsam auf. Er sah uns an und lächelte. Sonderbar! Er wollte sprechen und brachte doch nichts hervor. Da sagte ich:
»Gib dir keine Mühe, o Pedehr! Wer sich von den Gegnern die Stimme rauben läßt, der braucht sich vor den Freunden auch nicht anzustrengen!«
Dann drehte ich mich um und ging hinaus. Die Andern folgten. Als wir wieder in den Hof kamen, wurde an dem großen Tore Einlaß begehrt. Es waren Dschamikun. Sie hatten einige der entflohenen Soldaten eingefangen und brachten sie wieder; ein Offizier oder gar der Bluträcher war aber nicht dabei. Darum bedeutete ich sie, diese ganz gewöhnlichen Menschen einfach aus dem Dorf zu schaffen und dann laufen zu lassen, dafür aber um so mehr acht auf ihre Pferde und andern Tiere zu geben, auf welche man es sehr leicht abgesehen haben könne. Beim Anbruche des hellen Tages sei dann die Gegend nach den Flüchtlingen abzusuchen und jeder Zurückgebliebene mit der Peitsche zu belehren, daß er hier bei den Dschamikun nichts mehr zu suchen habe. Hierauf entfernten sie sich, und das Tor wurde nun wieder verriegelt. Darauf fragte mich der Ustad, was jetzt zunächst und vor allen Dingen noch zu tun sei.
»Zunächst und vor allen Dingen?« antwortete ich lächelnd. »Vor allen Dingen schlafen wir.«
»Ich auch?«
»Jawohl! Es wird uns kein Fremder wieder stören.«
»Möglich; aber wir haben noch so viel zu besprechen und noch so viel zu bestimmen!«
»Mein Freund, wir haben schon viel zu viel besprochen, weit mehr, als nötig war und nötig ist. Und zu bestimmen? Dazu ist Zeit, wenn wir geschlafen haben, bevor du reisest. Laß mich dir offen sagen: Das Wort hat dann nur Wert, wenn es sich zur Tat gestaltet. Laß uns also von nun an mehr in Taten als in Worten sprechen! Daß der heutige Abend und ein Teil der Nacht so reich an Worten war, ist zu begreifen. Der vorangehende Tag gab uns den Stoff dazu, und dann war es ja Nacht; die Nebel wallten. Komm noch einmal mit mir herauf! Wir wollen sehen, ob sie noch da, ob sie vorhanden sind.«
Wir stiegen in meine Wohnung, wo die Lampe noch brannte; ich löschte sie aber aus. Unten in der Halle und unter den Bäumen des Hofes war es noch ganz dunkel gewesen. Hier oben aber führte die offenstehende Tür hinaus ins Freie und Schattenlose.
Als wir hinaustraten, standen die Bergeskuppen des Ostens bereits in wasseropales, bläuliches Hell getaucht. Hoch über uns lüfteten sich die Maschen des nächtlichen Schleiers, um vom Schein des Tages aufgelöst zu werden. In der Tiefe lag der See auch jetzt noch wie im Traume, aber dieser Traum war klar, von trüben Schatten rein.
Und die Nebel, die wir vorhin noch gesehen hatten? Verschwunden! Wohin? Wer kann es sagen!
»Nun?« fragte ich, hinunter nach dem Wasser deutend.
»Fort!« antwortete der Ustad.
»Und hier?«
Ich zeigte hinein nach der Bibliothek. Da holte er tief Atem und sagte:
»Ja, auch das waren Nebel, waren Dünste, und doch etwas ganz Anderes! Wie soll ich es nur nennen?«
»Du hast es bereits genannt und trafst den rechten Namen, als du behauptetest, daß es auf deinem Grabe irrlichteriere. Die Dünste hatten Flackerschein zu geben, um von ihm vollends weggezehrt zu werden. Verstehst du nun, was ich meinte, als ich von allzuvielen Worten sprach? Es ist geflackert worden. Wo? Ueber alten Sümpfen! Das schadet nichts; es reinigt sich die Luft. Dann sinken die Schwärme der stechenden Insekten nieder, und freundliche Gedanken kommen, den hellen Tagesfaltern gleich, herbei, um Häßliches und Scharfes abzulösen. Du sprachst von deinem Grabe, deiner Gruft, die hier in diesen deinen Räumen liege. Glaubst du, daß dies richtig gewesen sei?«
Er sah einige Zeit nachdenklich vor sich nieder und antwortete dann:
»Du weißt, daß man sich von alten, angewohnten Namen und Bildern nicht leicht zu trennen vermag.«
»Jawohl. Aber was wäre dann dein Alabasterzelt? Etwa das Mausoleum über der geliebten Gruft?«
Da fuhr er zusammen, schaute mich wie froh erschrocken an und rief aus:
»Effendi, Effendi! Was sagst du mir da für ein Wort! Was du mit keiner Rede des gestrigen Tages und der ganzen Nacht erreichtest, das sagst und beweisest du mir durch dies einzige Wort! Wer sein Zelt für so hoch oben baut, den kann vielleicht die Narrheit für gestorben halten, doch ist für diese Narrheit wohl jeder Kluge tot, und weil sie mich für tot hält, bin ich lebend! Effendi, du hast recht: Wir haben lange, lange Stunden mit einander geflackert und irrlichteriert: es mag auch heilsam gewesen sein, der stechenden Insekten und des Nachtgewürmes wegen; aber jetzt, jetzt erst, nachdem es Tag zu werden beginnt, hast du mir endlich das klare Wort und richtige Licht gegeben, in welchem ich erkenne, daß es nur an mir liegt, ob ich der Narrheit den Gefallen tun will, tot zu sein!«
»So schau hin gegen Osten! Dort bildet sich der erste Purpursaum, und leise Strahlen küssen ihn von fern. Reich an Erkenntnis nähert sich der Morgen, und wenn du willst, so teilt er sie dir mit.«
»Ja, ich heiße ihn willkommen, und er soll mein Lehrer sein,« rief er aus. »Du aber mußt ruhen und schlafen, den ganzen heutigen Tag. Ich verlangte zu viel von deinem noch nicht genesenen Körper. Darf ich dich für kurze Zeit wecken, ehe ich aufbreche, Effendi?«
»Ja, unbedingt! Ich habe vorher mit Agha Sibil zu sprechen und dann den Brief nach Bagdad zu schreiben.«
»So nimm jetzt meinen Dank, und schlaf am Herzen der Liebe ein, die dich und mich bewacht, indem sie uns wie eine einzige Seele umschließt!«
Er zog mich innig an sich, um mich auf Stirn und Mund zu küssen. Dann ging er hinab. Kaum war er fort, so trat die lange zurückgehaltene Schwäche ein. Es überkam mich eine so große Müdigkeit, daß ich schnell mein Lager aufsuchte und mich niederlegte, gleich so, wie ich war. Das Fenster stand offen. Ich richtete den letzten Blick hinaus. Am Himmel begannen die Strahlen in goldenen Funken zu blitzen. Dann war es wie ein Meer des Lichtes, welches mich plötzlich über und über umflutete. Nun schloß ich die Augen und schlief ein, doch ohne daß es um mich dunkel wurde. Wie war das sonderbar! –