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Es war, wie gesagt, beim Morgendämmern, als ich nach Hause kam. Ich brauchte kein Licht. Man konnte deutlich sehen. Von den beiden Dienern war keiner da. Sie hatten, wie ich später erfuhr, gegen Morgen die Geduld verloren und sich entfernt, vorher aber noch gewaltige Holzklötze, die jetzt noch brannten, in das Feuer geworfen. Es herrschte also in dem für mich bestimmten Raum eine ganz angenehme, trockene Temperatur. Ich schaute nach dort hinaus, wo Halef liegen mußte. Ich sah ihn nicht. Ich suchte ihn in den andern beiden Stuben. Auch da befand er sich nicht. Da ging ich hinaus nach dem Pferdestall. Die Tür war nicht mehr verriegelt, sondern nur angelegt. Ich schlug sie auf. Da fiel mein Auge auf zwei voneinander getrennte, aber sehr erfreuliche Gruppen. Links lagen die beiden Pferde eng aneinandergeschmiegt. Sie begrüßten mich, indem sie leise wieherten, so leise, daß Halef nicht aufwachte. Dieser lag nämlich zur rechten Hand auf der weichen Blätterstreu bei den Hunden. Der eine von ihnen diente ihm als Kopfkissen; der andere lag, lang an ihm hingestreckt, von den Armen des Schläfers zärtlich umfangen. Beide waren wach. Sie wedelten, als sie mich sahen, mir ihre Morgengrüße zu, regten sich aber nicht, damit der kleine Hadschi nicht gestört werde. Rundum lagen große, abgenagte und zerbissene Knochen. Halefs Schlaf schien aber doch kein allzu tiefer zu sein. Die durch die offene Tür eindringende frische Luft wurde von ihm empfunden. Er machte eine Wendung und sagte:
»Laß das Lecken!« Und dann fügte er hinzu: »Es wird von den Gesetzen des Anstandes untersagt!«
Aber grad dieses Lebenszeichen, welches er da gab, bestimmte den Hund, das zu tun, was verboten worden war. Er begann, ihn zu lecken.
»Keine Vertraulichkeit!« befahl Halef. »Ich bin der Scheich; du aber bist nur der Hund!«
Da wachte er vom Klang seiner eigenen Stimme auf, blinzelte mit den Augen und erklärte ihm:
»Der Hund darf den Scheich höchstens nur dann in das Gesicht lecken, wenn er von diesem vorher geleckt und also dazu aufgefordert ...«
Er hielt trotz seiner Schlaftrunkenheit mitten im Satze inne, weil er die Gefährlichkeit dessen, was er sagte, fühlte. Er machte also die Hinzufügung:
»Da aber ein Scheich seinen Hund niemals lecken wird, so hast du mir neben deiner Liebe auch diejenige Hochachtung zu ...«
Er unterbrach sich wieder. Er sprach sich immer munterer. Erst hatte er nur geblinzelt; nun aber öffnete er die Augen ganz. Er sah mich vor sich stehen. Da setzte er sich schnell auf, fiel aber gleich wieder um.
»Du hier, Sihdi, du?« fragte er. »Wie kommst – kommst – kommst denn du dazu, in – in – in ...«
Er versuchte immer wieder, zum Sitzen zu gelangen, fiel aber noch drei- oder viermal um, bis er es endlich fertigbrachte.
»Verzeihung, Effendi!« bat er da. »Kennst du mich?«
»Eigentlich nicht!« antwortete ich.
»Kein Wunder!« nickte er, indem er sich mit den Händen nach dem Kopf fuhr. »Du hast doch gewiß noch nie einen Menschen mit so vielen Köpfen gesehen! Ich habe fünf oder sechs! Und alle, alle sind sie bis oben voll Simmsemm! Wie schwer das ist! Und wie sie alle wackeln! Siehst du, daß ich sie mit den Händen festhalten muß, damit sie mir nicht herunterfallen, einer nach dem andern?«
»Leider, leider!«
»Schweig mit deinem ›leider‹, ich bitte dich! Du freilich hast es dir gut und bequem gemacht! Du hast dich schlauerweise nur über gewöhnliche Dinge unterhalten, die kein Kopfzerbrechen verursachen, und hast dich dann, als es schwierig wurde, sehr einfach aus dem Staub gemacht! Aber auf mich ist alles abgeladen worden, alles, alles, was Klugheit, Nachdenken und Kenntnisse erforderte! Und als du dich entfernt hattest, legte man die ganze Last der diplomatischen und kriegerischen Verwickelungen nur ganz allein auf meine Schultern! Denke dir doch nur diese Verantwortlichkeit! Und diese Kopfarbeit für mich! Da reicht ein einzelner Kopf gar nicht mehr zu! Ist es da ein Wunder, wenn man mehrere Köpfe bekommt? Ich habe sieben oder acht! Und weil das einzige Gehirn, welches man hat, für so viele Köpfe nicht ausreicht, so ist es doch wahrlich kein Wunder, daß sie sich nach und nach mit Simmsemm füllen und so ungeheuer schwer werden, daß sie nur immer herunterfallen wollen! Und wie das summt und brummt! Hörst du es, Effendi? Ich wollte, deine Köpfe brummten, aber nicht meine!«
Um ihm diesen Wunsch in heiterer Weise zu vergelten, antwortete ich:
»Das glaube ich, daß du das möchtest! Aber sag, Halef, ist dir die hundertundneunte Sure des Korans bekannt?«
Er sann nach, rieb sich die Stirn und brummte:
»Hm! Warum grad diese hohe Ziffer? Du weißt, Sihdi, daß ich im Koran gut bewandert bin, aber wenn du gleich so über die Hundert hinausgehst, muß ich erst meine Köpfe alle versammeln, ehe ich dir antworten kann. Ich habe neun oder zehn! Mit Ziffern kann ich mich in diesem Augenblick nicht gut befassen. Sobald ich nach einer fassen will, die im dritten Kopf steckt, springt sie mir in den sechsten oder siebenten hinüber, und wenn ich da so töricht wäre, ihr zu folgen, so rissen mir inzwischen alle andern aus. Sag also nicht, die wievielte du meinst, sondern ihre Überschrift, ihren Namen!«
»Man nennt sie El Imtihan, die Prüfung«, antwortete ich.
Die hundertundneunte Sure des Korans trägt diesen Namen, weil man sich ihrer zur Feststellung der Nüchternheit oder Betrunkenheit eines Menschen bedient. Sie lautet: »Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Sprich: O ihr Ungläubigen, ich verehre nicht das, was ihr verehret, und ihr verehret nicht, was ich verehre, und ich werde auch nie verehren das, was ihr verehret, und ihr werdet nie verehren das, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich habe die meinige.« Das klingt im Deutschen einfach und ganz ungefährlich, bietet im Arabischen aber sprachliche Schlingen, denen jemand, der betrunken ist, mit fast unbedingter Sicherheit verfällt. Halef wußte das ebensogut wie ich; darum sagte er, als er den Namen hörte:
»Die Sure El Imtihan? Willst du mich prüfen? Denkst du vielleicht gar, daß ich betrunken bin?«
»Daß du es warst, ist sicher. Ob du es noch bist, bezweifle ich, möchte es aber doch bewiesen sehen.«
»Sofort! Sofort!« rief er aus. »Ich und betrunken! Der berühmte Scheich der Haddedihn vom großen Stamm der Schammar soll zuviel getrunken haben! Welch eine Schande! Welch eine Anklage! Welch eine Lästerung! Ich sage dir, Effendi, nur meine Köpfe sind schwer; mein Magen aber ist leicht, ist völlig leer! Komm und greif her! Du wirst sofort fühlen, daß nichts drin ist! Habe ich da zu viel getrunken? Oder ist das nicht vielmehr der allerbedeutendste Beweis, daß ich im Gegenteil zu wenig, viel zu wenig getrunken habe? Und da verlangst du von mir die hundert – die hundert und – na, kurz und gut, die Sure!«
»Ja, die verlange ich!«
»Mit welchem Recht? Ebensogut kann ich sie auch von dir verlangen! Du warst auch mit beim Fest, beim Essen und beim Trinken! Und – du wackelst! Sihdi, du wackelst! Du wackelst wirklich; ich sehe es ganz deutlich!«
»So fordere sie von mir!«
»Schön! Gut! Abgemacht! Sihdi, ich fordere sie von dir! Also, fang an! Aber wehe dir, wenn du falsche Worte bringst oder gar steckenbleibst! Ich lasse keinen einzigen Fehler durch! Nicht den geringsten!«
Ich rezitierte die Sure. Als ich fertig war, schüttelte er den Kopf und sagte:
»Sehr gut! Sehr genau und richtig! Ohne allen Anstoß! Das habe ich ganz genau gehört, denn ich kann sie nämlich auch! Und doch hast du dabei gewackelt! Hin und her gewackelt! Aber wie! Das beweist nur, daß auch Leute, die nicht betrunken sind, wackeln können. Merke dir das, Effendi! Wenn ich also vielleicht ein bißchen wackeln sollte, so beweist das eben nur, daß ich grad und genau ebenso nüchtern bin wie du. Nun komme also ich an die Reihe! Soll ich dazu aufstehen?«
»Natürlich! Die Sure Imtihan wird zu diesem Zwecke stets nur im Stehen gebetet. Das weißt du ja!«
»Ja, ich weiß es. Darum stehe ich auf!«
Er wollte mit einem einzigen, schnellen Ruck in die Höhe. Es gelang ihm aber nicht. Er setzte sich also wieder nieder. Auch ein zweiter und ein dritter Versuch mißlang.
»Du, das bin nicht ich«, entschuldigte er sich. »Das sind die Köpfe! Und das sind auch die Hunde! Die sitzen mir im Weg! So fange ich es also anders an! Besser, viel besser!«
Er begann zu knien. Dann stemmte er beide Hände nach vorn in die Streu und stellte sich hinten auf die Füße. Er stand also jetzt, wie man sich auszudrücken pflegt, auf allen vieren. Die Hunde sahen ihm erstaunt zu.
»Siehst du, wie prächtig das geht, Sihdi?« fragte er. »Paß nur auf! Du wirst dich wundern!«
Er nahm erst die eine und dann die andere Hand von der Erde und versuchte, sich aufzurichten. Ein bißchen, noch ein bißchen höher, und wieder ein bißchen höher. Er benahm sich ganz wie ein zaghafter Akrobatenlehrjunge, der zum ersten Male auf das hohe Turmseil gesetzt wird und nun sich weder aufrichten noch vor- oder rückwärts gehen kann. Er begann zu zittern, erst an den Beinen, dann am ganzen Körper.
»Auf, auf!« rief ich ihm zu.
Das erboste ihn.
»Du hast gut reden!« antwortete er zornig. »Du bist schon auf! Aber wie steht es mit mir? Das Schwerste bekomme doch immer nur ich zu tun! Aber ich werde dich beschämen! Sieh! Jetzt, jetzt! Nur Pulver hinein, dann geht's!«
Wie gesagt, so getan. Er machte Pulver hinein. Leider aber wirkte das nicht auf-, sondern abwärts. Im nächsten Augenblick saß er wieder unten zwischen den beiden Hunden.
»Diese Hunde, diese Hunde!« klagte er. »Was die mich irremachen! Du hast keine Ahnung davon, Sihdi! Dieses immerwährende Lecken während der ganzen Nacht! Und dieses immerwährende Im-Wege-Stehen jetzt am hellen Tag! Schau sie nur an, was für Gesichter sie machen! So spöttisch! Ich glaube gar, sie wagen es, mir hohnzulächeln! Da sollen sie staunen! Ich fange wieder an! Und dieses Mal komme ich aus einer anderen Gegend.«
Er drehte sich nach der Mauer um, stellte sich wieder auf alle viere und ging dann Griff um Griff mit beiden Händen an der Wand empor. Als er sich in dieser Weise aufgerichtet hatte, drehte er sich um, lehnte sich fest an, nickte mir triumphierend zu und fragte:
»Na, was sagst du nun? Du wunderst dich! Du bist überrascht, im höchsten Grade überrascht! Ja, man kann es; man hat es eben gelernt! Und nun sieh dir einmal die Gesichter dieser Hunde an! Ganz anders als vorher! Wie sie staunen! Jetzt erkennen sie endlich, daß ich der Scheich bin, sie aber nur die Hunde! Und nun gehen wir zur Sure! Die willst du noch?«
»Allerdings!«
»Die Sure Imtihan, die ich auswendig kann?«
»Ja.«
»Soll ich da auch die Einleitung sagen: Im Namen des allbarmherzigen Gottes?«
»Nein. Das ist nicht notwendig, und das gehört nicht zu ihr, weil diese Einleitung vor jeder Sure steht. Du kannst also gleich anfangen mit: »Hört, ihr Ungläubigen, ich verehre nicht das, was ihr verehret.«
»Gut! So fange ich also gleich damit an. Halte mir nur die Hunde vom Leib, daß sie mir nicht etwa beide in mein Gedächtnis hereinspringen und du dann glaubst, daß ich betrunken bin! Soll ich?«
»Ja – also?«
Da nahm er seine ernsteste Miene an, streckte die Arme nach beiden Seiten aus, machte die Augen zu und begann:
»Sprich: O ihr Hunde, ihr verehret nicht, was ich verehre, und ich ...«
»Halt, falsch!« fiel ich ein. »Du hast doch ›Hunde‹ gesagt!«
»Jawohl!« antwortete er, indem er die Augen wieder öffnete. »Das ist doch nicht etwa falsch?«
»Der Prophet richtet seine Worte an die Ungläubigen, nicht aber an Hunde. Es muß also heißen: ›O ihr Ungläubigen‹!«
»So muß es allerdings heißen. Und so habe ich nicht gesagt?«
»Nein.«
»Daran bist du schuld, nicht aber ich!«
»Wieso?«
»Siehst du nicht ein, daß mir die Hunde schon mitten im Gedächtnis sitzen? Und habe ich dich nicht gebeten, sie mir vom Leib zu halten? Wenn du nicht besser aufpaßt, ist es um meine ganze, schöne Sure El Imtihan geschehen!«
»Fang nochmals an!«
»Gut! Aber sei aufmerksamer als bisher!«
Er breitete die Arme wieder aus, machte die Augen zu und fing wieder an:
»Sprich: O ihr Ungläubigen, ihr verehret ...«
»Falsch!« rief ich dazwischen. »Es beginnt nicht mit ihr, sondern mit ich!«
Da verbesserte er sich:
»Sprich: O ihr Ungläubigen, ich beginne nicht mit ihr, sondern ihr beginnt mit ich, und ich ...«
»Halt!« fiel ich wieder ein. »Es ist doch nicht vom Beginnen sondern vom Verehren die Rede!«
»Ach so! Also besser! Nun aber wird's!«
Er nahm sich zusammen und fing von neuem an:
»Sprich: O ihr Ungläubigen, ich verehre nicht das, was ich verehre, und ihr verehret nicht das, was ihr verehret ...«
»Aber was denn sonst?« rief ich ihm zu. »Sie können doch nichts anderes verehren als eben das, was von ihnen verehrt wird!«
»Sehr richtig!« stimmte er bei. »Ich aber auch nicht!«
»Und doch hast du soeben das Gegenteil davon gesagt!«
»Ich? Das Gegenteil? Du irrst, Sihdi! Ich kann beschwören, so vielmal du willst, daß ich in meinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal das Gegenteil von dem gesagt habe, was ich sage! Wenn du solchen Unsinn redest, muß ich annehmen, daß der Rausch, den du in meinen elf oder zwölf Köpfen suchst, in deinem eigenen Kopf steckt!«
»Die Zahl deiner Köpfe wird, wie es scheint, immer größer. Du hast behauptet, daß du nicht verehrest, was du verehrst.«
»Das ist nicht wahr, Effendi, das ist nicht wahr! Ich weiß zwar, daß du niemals lügst, und das ist wohl die einzige Tugend, die ich an dir entdecken kann, aber Irrtümer und Verwechslungen sind auch beim wahrhaftigsten Menschen möglich, zumal du mich immer und immer unterbrichst. Laß mich doch einmal ausreden, richtig ausreden! Von Anfang bis zum Ende! Da wirst du gleich hören, daß alles prächtig stimmt!«
»Gut! So rede dich aus!«
»Ohne, daß du mich unterbrichst?«
»Ja.«
»So halte Wort! Und paß auf, wie gut und richtig ich es bringen werde!«
Und abermals streckte er die Arme aus, und abermals machte er die Augen zu. Dann begann er zu deklamieren:
»Sprich: O ihr Ungläubigen, ich rede nicht aus, was ihr ausredet, und ihr unterbrecht nicht das, was ich unterbreche, und ich werde nie das verehren, was ihr ausredet, und ihr werdet nie verehren, was ich unterbreche. Ihr habt meine Religion und ich habe die eurige!«
Als er damit fertig war, machte er die Augen wieder auf, ließ die Arme fallen und schaute erwartungsvoll zu mir herüber. In seinem Gesicht war sehr deutlich zu lesen, daß er überzeugt sei, daß größte Lob von mir zu ernten.
»Nun, Sihdi, was sagst du dazu?« fragte er, als ich schwieg.
»Du hast den tollsten Unsinn geschwatzt, den es geben kann!« antwortete ich.
»Unsinn? Toll?« wiederholte er erstaunt. »Was wird Mohammed, der Prophet, dazu sagen, wenn er das erfährt?«
»Warum grad dieser?«
»Weil das, was du als Unsinn bezeichnest, aus seinem Munde stammt, sogar aus Gottes Mund. Denn ich habe wortwörtlich wiederholt, was Mohammed im heiligen Buch sagt. Und was da steht, das ist dem Propheten vom Himmel herabgekommen! O Effendi, wie betrübst du mich! Ich kenne dich gar nicht wieder. Es steht schlimm, sehr schlimm um dich! Du bist entweder ein Spiritustrinker oder ein Gotteslästerer geworden! Eines von beiden! Ein Drittes gibt es nicht! Wenn du den Inhalt des Korans als Unsinn bezeichnest, bist du entweder ein Religionsschänder oder ein Trunkenbold. Um dich vom Trunk zu retten, muß ich dich für einen Lästerer halten, und um dich vor dem Religionsfrevel zu befreien, bin ich gezwungen, dich als Trunkenbold hinzustellen. Beides ist schrecklich. Eines immer schrecklicher als das andere! Aber ich will dich doch lieber für einen Trinker als für einen Verleumder der Sure El Imtihan halten und fühle mich darum verpflichtet, dich zu warnen. Hüte dich vor dem Simmsemm! Ich sage dir, hüte dich! Dieser Simmsemm gleicht einem alten Weib, welches äußerlich schöne Kleider trägt, innerlich aber voller Mucken und tiefer Abgründe ist.«
»Die kennst du wohl?« fragte ich in etwas anzüglicher Weise.
»Ja, die kenne ich!« bestätigte er. »Denn ich bemerke sie an dir. Du bist betrunken, Sihdi, vollständig betrunken! Du kannst dich schon nicht mehr auf den Beinen halten! Ich habe dich an die Wand gelehnt; aber du hast nicht einmal die Kraft, dich an ihr aufrecht zu erhalten. Du rutschtest ...«
Während er das sagte, rutschte er selbst.
»Rutschtest – an der Wand hernieder«, fuhr er fort, indem er den Halt verlor und mehr und mehr zusammensank. »Dann kommt – dann kommt – dann kommt ein großer gewaltiger Plumps, und dann – dann liegst du da!«
Ganz genau so, wie er es sagte, so geschah es. Der Plumps kam, und dann lag er da, der berühmte Scheich der Haddedihn vom großen Stamm der Schammar. Ich machte den Versuch, ihn wieder zu ermuntern, vergeblich. Der Simmsemm war mächtiger als alles, was ich tat und sagte. Halef wachte nicht wieder auf. Ich brachte ihn in eine bequeme Lage und ging dann zu den Pferden, welche erwarteten, liebkost zu werden. Als ich den Stall verließ, machten die beiden Hunde nicht den geringsten Versuch mitzugehen. Sie blieben bei dem kleinen Hadschi liegen, der sich, wie er mir hernach sagte, nach dem Festessen mit einer tüchtigen Portion von Fleisch und Knochen an sie herangevettert hatte.
Ich ging in meine Stube und streckte mich auf dem weichen Fellager aus, um zwei kurze Stündchen zu schlafen. Nach dieser Zeit wachte ich wieder auf. Ich habe infolge der Gewöhnung den Schlaf fest in der Hand. Ich wache niemals später auf, als ich mir vorgenommen habe. Das erste, was ich nun tat, war, daß ich ein Bad im Fluß nahm. Ein kleiner, rings von Sträuchern eingefaßter Platz war hierzu für die jeweiligen Insassen unseres Hauses vorhanden. Dieses Bad erfrischte mich so, als ob ich während der ganzen Nacht geschlafen hätte und darum vollständig ausgeruht sei. Als ich hierauf vom Fluß zurückkehrte, wurde die Tür des Stalles von innen aufgestoßen, und Halef trat heraus, langsam, matt und eingefallenen Gesichtes. Zu gleicher Zeit ließen sich unsere beiden Diener sehen. Sie brachten das Frühstück, welches aus Brot und Fleisch bestand. Ein kleiner Krug voll Simmsemm stand dabei. Ich hatte guten Appetit, Halef aber nicht, doch setzte er sich mit zum Essen nieder. Ich legte ihm vor, und er nahm, um wenigstens zu probieren. Als ich ihm aber den Krug hinschob, spreizte er alle zehn Finger dagegen aus und sagte:
»Nein! Um keinen Preis! Hinweg mit dem Zeug, hinweg!«
»Warum?« fragte ich, indem ich mich ganz unbefangen stellte.
»Weil – weil – hm – hm!«
Während er so brummte, warf er einen ungewissen, forschenden Blick auf mich. Dann fragte er: »Sihdi, weißt du, wo ich geschlafen habe?«
»Ja«, antwortete ich.
»Nun, wo?«
»Im Stall.«
»Ja, im Stall! Denke dir! Während man uns doch hier im Haus so vorzügliche Lagerstätten zubereitet hat! Und nun noch eine zweite Frage, um deren aufrichtige Beantwortung ich dich bitte. Nämlich: Bist du bei mir im Stall gewesen?«
»Ja.«
»Allah sei Dank, daß es kein anderer war!«
»Warum dieser Seufzer? Hast du Grund dazu?«
»Das mußt du doch ebensogut und noch viel besser wissen als ich selbst! O Sihdi, lieber Sihdi! Ich schäme mich! Wenn ich mich nicht irre, so habe ich geglaubt, eine Menge Köpfe zu haben!«
»Ja. Erst waren es vier oder fünf. Zuletzt wurden es zwölf!«
»Sei still, sei still!« unterbrach er mich. »Ich mag es nicht hören! Was mag ich geschwatzt haben, was für entsetzlich lästerliche Dinge, ich, der berühmte Scheich der Haddedihn! Mein Kopf ist noch immer unendlich groß! Und hohl, ganz hohl! Es ist nichts darinnen als ein immerwährendes Brausen und Brummen und einige Worte aus der Sure El Imtihan. Du hast mich doch nicht etwa diese Sure beten lassen?«
»Allah sei mir gnädig! Wie ist es abgelaufen?«
»Du brachtest nicht zehn richtige Worte fertig und behauptetest, daß ich der Betrunkene sei. Dann rutschtest du wieder zu den Hunden nieder und schliefst ein, ohne zu erwachen.«
»Gräßlich, gräßlich! Sihdi, ich schäme mich! Dieser Simmsemm ist an allem schuld!«
»Ja, dieser Simmsemm! Die beiden andern aber sind unschuldig, völlig unschuldig!«
»Welche beide?«
»Der eine, der das liebe, ehrliche, nahrhafte Getreidekorn gezwungen hat, Gift zu werden, und der andere, der dieses Gift förmlich in seinen Körper hinunterzwingt, obgleich sich alle Nerven des Geschmackes und Geruches dagegen sträuben!«
»Du hast recht. Verzeih! Auch ich hatte mich erst zu zwingen; dann aber wurde mir der Trank vertrauter. Weiß du, Simmsemm, das klingt so beruhigend, so unschädlich, so verführerisch! Das schmeichelt sich so an den Menschen heran. Aber wenn man es innerlich betrachtet, so hat es zehntausend Teufel im Leib. Und zu was für Dummheiten es verführt, das ist ja gar nicht auszusagen! Ich glaube, ich darf mich heut vor keinem Menschen sehen lassen, wenigstens vor dem Oberst und den beiden Leutnants nicht.«
»Warum?«
»Wenn sie mich an alles das erinnern, was ich gestern abend aus mir und ihnen gemacht habe, so bin ich hier für immer unmöglich!«
Er stützte den Kopf in beide Hände und schaute trostlos vor sich nieder.
»Allah, Allah, was soll daraus werden!« klagte er. »Denke dir nur, Effendi, was wir gestern alles getan haben. Wir haben erst die Tschoban besiegt, nachher ganz Ardistan mit Krieg und Sieg überschwemmt, und endlich auch ganz Dschinnistan erobert. Ich war der Großwesir, der die Offiziere befördert, die Orden verteilt und die Gehälter bezahlt. Auf mich kam alles an. So habe ich es denn im Laufe unserer gestrigen Feldzüge an den nötigen Standeserhebungen nicht fehlen lassen. Unsern alten Oberst, der aber noch gar nicht Oberst, sondern erst Oberstleutnant ist, habe ich zunächst zum wirklichen, türkischen Mir Alai – Oberst – befördert, dann zum Liwa – Brigadegeneral –, zum Ferik – Divisionsgeneral – und zum Muschir – Feldmarschall –. Wenn ich mich recht besinne, ist er sogar Ferik Bahrir – Admiral – geworden. So ähnlich sind auch die beiden Leutnants emporgestiegen. Sie wollten persische anstatt türkische Rangbezeichnungen haben. Das gestattete ich ihnen. Der eine wurde infolge seiner Tapferkeit sehr schnell Sultan – Hauptmann, Yavär – Major –, Särtir – Oberst – und Mir tuman – General über 10 000 Mann –. Der andere schien mir nicht recht glauben zu wollen. Darum hat er es nur bis zum Särhäng – Oberstleutnant – gebracht und wird auf dieser Stelle sitzenbleiben, wenn er sich nicht besser zu benehmen weiß. Dem alten Oberst habe ich fünfhunderttausend, dem einen Leutnant hundertfünfzigtausend und dem andern Leutnant hunderttausend Piaster Gehalt versprochen, und nun frage ich dich, wo ich das alles hernehmen soll, wenn sie mich heut bei meinem Wort fassen? Es wird mir angst, himmelangst! Wie rette ich mich vor den innerlichen Vorwürfen, die in mir aufsteigen wie eine Menge kleiner, bissiger Hunde, die mir drohen, meine Seele anzuknabbern?«
»Die beste Beruhigung liegt in dem Gedanken, daß die drei Offiziere, die du so hoch befördert und so reich besoldet hast, höchstwahrscheinlich keinen geringeren Schwips gehabt haben, als du selbst.«
»Schwips? Wo denkst du hin! Schwips? Das klingt so niedlich. Aber was wir hatten, war gar nicht lieblich und klein, sondern riesengroß und menschenfresserisch. Mein Schwips war ein Schakal, der erst zum Fuchs und dann zum Wolf und zur Hyäne wurde; ihre Schwipse aber waren Panther, Tiger und Löwen, gegen die man ohne geladene Flinte gar nicht aufkommen kann. Und du mußt mir doch ehrlich zugeben, daß ich unmöglich nach meiner Flinte laufen konnte, um den Oberst und die Leutnants von ihren Räuschen zu befreien!«
»Und die haben dich nach Hause geführt? Das sagtest du mir doch!«
»Ja, sie wollten es; sie versprachen es, und ich rief es dir hinauf, als ich dich trotz meiner Trunkenheit da oben auf dem Turm erkannte, den sie Tempel nennen. Aber es kam anders, als wir dachten. Nämlich der Simmsemm wollte nicht, daß sie mich nach Hause brachten. Der Leutnant, der von mir die hundertfünfzigtausend Piaster bekommen hatte, setzte sich schon nach zehn Schritten nieder und verlangte einen neuen, vollen Krug. Er dachte, wir säßen noch im Palast. Eine kleine Strecke weiter legte sich der Oberst mit seiner halben Million Piaster in das Gras und behauptete, er sei daheim, und ich solle mich ganz leise entfernen, damit seine Frau und seine Kinder nicht aufgeweckt würden. Und der dritte setzte oder legte sich gar nicht erst, sondern er machte noch viel weniger Umstände. Nämlich er fiel gleich aus freien Stücken um. Da lag er mit seinen hunderttausend Piastern und sagte kein Wort, kein einziges Wort; so gänzlich weg war er! Ich sprach zwar auf ihn ein, um ihn zu ermuntern, er aber blieb ganz stumm. Da stand ich wieder auf und suchte mein Fleisch und meine ...«
»Ah!« unterbrach ich ihn. »Du standest wieder auf?«
»Ja! Natürlich!« antwortete er.
»Bist also auch mit umgefallen?«
»Selbstverständlich! Er führte mich ja. Er hielt mich fest, damit ich nicht etwa straucheln möge. Er meinte es ungeheuer gut mit mir. Konnte ich da etwa stehen bleiben, als er das Unglück hatte, bei diesem Liebesdienst so ganz aus freiem Himmel herabzufallen? Er ist Offizier. Das verpflichtet zur Kameradschaft. Ich fiel also mit hin. Als ich dann aufstand, suchte ich mein Fleisch und alle meine Knochen einzeln zusammen ...«
»Was?« fragte ich, indem ich ihm abermals in die Rede fiel. »Dein Fleisch und deine Knochen? Alle einzeln?«
»Ja. Als wir nach dem Festmahl aufstanden, sah ich, daß wir nicht alles aufgegessen hatten. Es gab noch viel, viel Fleisch, dazu eine Menge Knochen. Da dachte ich an unsere beiden Hunde. Ich nahm also meinen Haik vorn hoch in die Höhe und tat diese Reste alle hinein, um sie ihnen zu bringen.«
»Das werden die Hunde sehr lieb und schön von dir gefunden haben, aber was wird man nun drüben im Palast von dir erzählen?«
»Von mir? Hm! – Hoffentlich denkt man nicht, daß ich die Knochen für mich mitgenommen habe! Und wenn man es denken sollte, so ist es mir sehr gleichgültig. Ich mußte sie alle einzeln wieder zusammensuchen, als ich mich von dem zweiten Leutnant entfernte. Ich trug sie den Hunden in den Stall. Die freuten sich. Es war dämmernd hell. Ich brauchte kein Licht dazu. Es war so warm und so weich auf der Streu da drin. Da setzte ich mich nieder und bin eingeschlafen.«
Indem er dieses erzählte, kam von Taldscha ein Bote, durch den sie mir sagen ließ, daß ich mich von jeder Verpflichtung frei betrachten möge. Ich könne mich ausruhen, mich in der Stadt umsehen, ganz nach Belieben. Aber zwei Stunden nach Mittag seien wieder Gäste geladen; da solle ich mich einfinden und, wenn es möglich sei, mein berühmter Halef mit mir.
Als der Bote sich entfernt hatte, fragte mich der kleine Hadschi, der die Einladung gehört hatte:
»Du, Effendi, sie hat mich den ›berühmten Halef‹ genannt. Ob sie das wohl ernst meint?«
»Wie anders denn?« fragte ich, obwohl ich ihn sehr gut verstand.
»Nun, vielleicht ein bißchen spöttisch. Von wegen dem Simmsemm. Der ist doch wohl gestern stärker und berühmter gewesen als ich!«
»Frage sie selbst! Ich weiß es nicht.«
»Ich werde mich sehr hüten! Solche Erinnerungen frischt man nicht auf. Darum werde ich mich heut stets an deiner Seite halten. Da wagen sich diese Erinnerungen nicht heran an mich. Wann gehen wir zum Dschirbani?«
»Jetzt. Ich bin mit dem Frühstück fertig, und die Mitte des Vormittags ist da. Wir fahren im Kanu.«
Nun bekümmerte ich mich um die Pferde. Sie hatten Futter und Trank bekommen. Ich nahm sie aus dem Stall und koppelte sie an langer Leine an, daß sie sich bewegen konnten. Auch die Hunde wurden herausgelassen. Sie begrüßten zwar auch mich, zunächst aber doch den Hadschi, der ihnen, wie es schien, an das Herz zu wachsen begann. Sie hatten sehr kurze Namen. Sie waren zweierlei Geschlechtes und hießen Hu und Hi – »Er« und »Sie« –. Das sagten uns die beiden Diener. Von diesen erfuhren wir auch, wo die Insel der Heiden lag; sie war sehr leicht zu finden.
Hu und Hi begleiteten uns nach dem Landungsplatz. Als wir in das Kanu stiegen, wollten sie mit hinein; das war aber wegen der Kleinheit des Fahrzeuges unmöglich. Ich befahl den Dienern, sie während unserer Abwesenheit anzubinden, daß nichts geschehen könne; aber sobald wir vom Ufer stießen, sprangen sie in das Wasser, um uns zu folgen. Schon wollte ich umkehren, um mich ihrer zu entledigen, da sah ich, wie sie schwammen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Das war schon mehr ein Laufen als ein Schwimmen! Die Schwimmhäute waren derart entwickelt und elastisch, daß sie wie helle Blasen zwischen den Zehen erschienen. Das griff so viel Wasser, daß die Körper nicht nur mit den Köpfen, sondern auch mit den Rückenlinien aus der Flut ragten. Die dicken, aber leichten, buschigen Schwänze lagen wie Steuer hinterher. Dazu die langhaarigen, zottigen, sich fettig anfühlenden und also für die Feuchtigkeit fast undurchdringlichen Felle. Ich sah, daß das Schwimmen den Hunden gar keine Anstrengung, sondern nur Freude bereitete. Sie bellten laut und haschten nacheinander. Darum war ich mit Halef einverstanden, der mich bat, sie doch mitzunehmen. So schnell, wie wir mit dem Rudern vorwärts kamen, konnten sie allerdings nicht schwimmen; wir mußten also ein langsameres Tempo nehmen, doch hatten wir ja Zeit.
Die Ufer waren von Häusern besetzt, die oft weit in das Wasser ragten, oft auch ganz in demselben lagen. Zuweilen erschien eine kleine Insel, oder der Fluß teilte sich, eine größere zu bilden, die bewohnt war. Das bot uns reichlich Gelegenheit, die hochinteressante Pfahlbauart der Ussul kennenzulernen. Als wir unser Ziel, die Insel der Heiden, erreichten, sahen wir ein sehr einfaches, sichtlich erst heut neu geflochtenes Floß, welches aus Weidenruten bestand und aus dem Wasser gezogen war, am Land liegen. Wir stiegen aus, befestigten das Kanu an dem hierzu bestimmten Pfahl und traten dann schnell zurück, um aus der Nähe der Hunde zu kommen, die auch gelandet waren und sich das Wasser aus den Haaren schüttelten. Die Insel war ziemlich groß. Wir sahen zunächst nichts als Busch und Gras, und zwar alles verwildert. Der Besitzer war ja gefangen gewesen, und niemand hatte sich um sein Eigentum gekümmert. Heut aber war er wieder da. Wir sahen seine Spur, die durch das hohe Gras führte, und folgten ihr. Es ging durch höheres Gebüsch und dann unter Bäumen hin. Da merkte man nun wohl, daß diese Bäume ihre Plätze nicht von der Natur, sondern von einer künstlerischen Berechnung angewiesen bekommen hatten. Es gab Gruppen, welche nicht nur schön, sondern sogar reich und prächtig wirkten. Unter hohen, riesenblätterigen Linden lag ein zwar niedriger, aber köstlich ausgedachter und ausgeführter Bungalow – indisches Landhaus –, der erfreulicherweise nicht aus dem gewöhnlichen, schnell vergänglichen Material derartiger Wohnungen, sondern aus besserem und haltbarerem bestand. Als ich es untersuchte, sah ich, daß es Holz war, welches jahrhundertelang im moorigen Wasser gelegen hatte und hart und schwer wie Stein geworden war. Alles, nicht nur die Pfeiler, Säulen und Balken, sondern ebenso auch kleinere Teile, sogar die Verzierungen bestanden aus diesem Holz. Welche Mühe hatte diese schwere, harte Arbeit gemacht! Der Dschinnistani war der Erbauer. Er hatte die Tochter des Sahahr so lieb gehabt, daß ihm nur das schönste und gesündeste Haus des ganzen Landes gut genug zur Wohnung für sie gewesen war. Und dieses war der Bungalow gewiß!
Die Tür war zu, und man konnte nicht hinein. Auch die Läden waren verschlossen. Niemand war zu sehen. Ich rief. Niemand ließ sich hören. Aus allem, was man sah, sprach der Geist und der Geschmack des Dschinnistani. Aber gab es außer diesem Geist denn wirklich niemand hier? Die Spur führte hier herein, in das Haus, aber nicht wieder heraus. Darum fiel es uns auf, daß wir keine Antwort erhielten. Wir gingen weiter, über den freien Platz, auf dem der Bungalow stand, zwischen blühenden und duftenden Sträuchergruppen hindurch. Da sahen wir ihn, den See, den Teich, den Weiher, von dem mir erzählt worden war. Wir blieben sofort stehen, ganz entzückt von diesem Anblick, der sich uns bot.
Wir standen am südlichen Ufer des Sees, der fast ganz mit Lotosblumen bedeckt war. Zwischen ihnen glänzten wunderbar gefärbte Blütenrispen, deren Namen ich nicht kannte. Sie waren der amerikanischen Thalia dealbata ähnlich. Phantastisch schön wirkten die zweiteiligen, hell glänzenden Ähren einer noch wenig bekannten, indischen Aponogeton-Art, einer Wasserähre. Es war ein Farbenreichtum, eine Farbenfrische und eine Farbenpracht sondergleichen! Aber alle diese Herrlichkeit entfaltete sich aus stehendem Wasser, auf sumpfigem Boden, und allen diesen Blumen muß doch, so schön sie sind und so heilig sie gehalten werden, jene feine und reinere, jene zugleich höhere und tiefere Art der Herzenswirkung abgesprochen werden, durch welche die auf gutem festen Land erzeugte Blume zu uns redet. Die Lotosblume ist Sumpferzeugnis, ist einfach nur irdisch schön. Die bildliche Bedeutung, die sie besitzt, wurde ihr nicht von der Natur gegeben, sondern künstlich in sie hineingelegt. Aber Blumen, wie unser Schneeglöckchen, unser Veilchen, unser Maiblümchen, die ganze liebe, herrlich duftende Reihe bis zu unsern Rosenköniginnen hinauf, sie alle wirken edler, reiner, keuscher, inniger. Wer mit mir glauben kann, daß auch die Blumen Seelen haben, dem könnte ich das allerdings noch viel deutlicher sagen.
Also, wir standen an der Südseite des Weihers. Rechts und links schoben sich Baum- und Strauchpartien heran, die ganz wie Kulissen wirkten, indem sie unsern Blick hinderten, zur Seite abzuweichen, und ihn zwangen, sich auf die Perspektive zu richten, die sich vor ihm entwickelte. Grad vor uns stand, die Perspektive ganz verhüllend, ein zwei Meter breites und über vier Meter hohes, vierseitiges Prisma, aus weißen Marmorquadern zusammengesetzt und auf allen vier Seiten mit glänzend tiefschwarzen Inschriften versehen. Dieses große Prisma war von einer ganzen Menge kleinerer Säulen umgeben, die auch Inschriften trugen. Wir lasen sie. Die auf den kleineren Säulen stehenden Zitate waren den vier Vedas, der Zend Avesta, den fünf King der Chinesen, der Bibel und dem Koran entnommen. Die Inschriften des Prismas schienen andern Ursprungs zu sein. Indem wir sie betrachteten, sahen wir zunächst vier Überschriften, von denen zwei und zwei miteinander zu korrespondieren schienen. Nach Süden stand »Schöpfung« und nach Norden »Erlösung«. Nach Osten lasen wir »Sünde« und nach Westen »Strafe«. Unter der Überschrift »Schöpfung« im Süden war zu lesen:
»Keine Seele kam zur Erde nieder,
die nicht vorher Geist im Himmel war!«
Auf der nach Norden gerichteten Seite war unter der Überschrift »Erlösung« zu sehen:
»Es stieg kein Geist zum Himmel auf,
der nicht vorher Seele auf der Erde war!«
Nach Osten zu stand unter der Überschrift »Sünde« das geheimnisvolle Wort zu lesen:
»Nur ein einziger weigerte sich,
Seele zu werden!«
Und dem gegenüber wurde auf der nach Westen gerichteten Seite unter der Überschrift »Strafe« gesagt:
»Darum kann er nicht zum Himmel zurück.
Das ist der Teufel!«
Ich kann sagen, daß ich erstaunt war, als ich das gelesen hatte. Nicht etwa, daß mir das Monument an sich oder eine seiner Inschriften wunderbar vorgekommen wäre, o nein. Der Dschinnistani hatte diese Marmorstücke von seinen Reisen einzeln mitgebracht und hier zusammengesetzt. Das war ganz und gar nichts Wunderbares. Und es ist, solange es Menschen gibt, so viel gerätselt und geheimnißt worden, daß man in der Absicht des Dschinnistani, auch einmal etwas Mystisches zu sagen, wohl gar nichts Unbegreifliches finden kann. Aber daß diese vier Inschriften, deren jede ein gänzlich unlösbares Problem zu enthalten schien, in ihrem inneren Zusammenhang genau dasselbe sagten, was unsere christliche Offenbarung einem jeden, der es hören will, wohl täglich und stündlich sagt, das überraschte mich, und das ließ in mir die Frage aufsteigen, ob dem Dschinnistani, als er diese Inschriften entstehen ließ, klar gewesen ist, was sie eigentlich bedeuten. Wenn es seine Absicht war, den tiefsten Grundgedanken der Religion seines Heimatlandes auf diesem Monument darzustellen, dann war es der christlichen Mission sehr leicht gemacht, die Anhänger dieses Glaubens für die Hauptreligion des Abendlandes zu gewinnen! Hierzu kam, daß das Marmorprisma mit ganz besonderer Umsicht und Liebe grad hier an dieser Stelle errichtet worden war. Denn nun wir uns an seiner nördlichen Seite, also zwischen ihm und dem Wasser befanden, stand es uns nicht mehr im Wege, und der ganze Ausblick, den es uns verhüllt hatte, lag jetzt offen vor uns da.
Jenseits des Weihers stand das Grab der Mutter des Dschirwani, von Blüten und Duft umhüllt, wie bereits beschrieben wurde. Von ihm ausgehend führte ein breiter, freier Wiesenstreifen in schnurgerader Richtung, hüben und drüben von dichtem, dunklem Grün eingefaßt, bis an den Fluß, dessen gegenüberliegendes Ufer frei von Häusern war. Von dort aus erschienen zunächst nur Gärten und Felder, dann ein breites, sich weit hinausziehendes Band von niedrigem, neugewachsenem Gestrüpp, wo die Ussul gerodet hatten, um die Stämme zu ihren Bauten zu benutzen. Es läßt sich nicht beschreiben, was das für eine einzigartige Perspektive gab. Grad zu unseren Füßen das zwar durchsichtige, aber moderbräunliche und moderduftende Wasser, aus dessen Auflösungs- und Verwesungsstoffen die Lotosblume ihr Leben und ihre leuchtenden Farben sog. Am jenseitigen Ufer das Grab der verstorbenen menschlichen Lotosblume, von Blüten umglänzt und von Wohlgerüchen umduftet, hinter diesem Grab die nach weit hinaus und nach oben gerichtete Perspektive. Sie führte nach dem Fluß, über die dunklen Wasser desselben hinüber und dann auf jenem scheinbar immer schmaler werdenden Band des niedrigen, neugewachsenen, vom hohen Wald umfaßten Gestrüppes durch das ganze Schwemmland der Ussul, über Niederardistan und Oberardistan bis zu jenen hohen Bergen hinauf, die auch jetzt, um das geöffnete Paradies anzudeuten, in glühenden Flammen leuchteten, obwohl wir es nicht sehen konnten, weil die Morgennebel des Tieflandes uns noch umhüllten.
Indem dieser Ausblick nicht nur unsere Augen, sondern auch unsere Gedanken fesselte, hörten wir hinter uns ein Geräusch. Wir drehten uns um und sahen, daß das Monument sich öffnete und der Dschirbani ihm entstieg.
»Maschallah!« rief Halef aus. »Allah tut Wunder! Das Denkmal ist hohl!«
Auch ich war sehr überrascht. Das Kunstwerk war allerdings nicht massiv; es bestand nicht aus kubischen Blöcken, wie es den Anschein hatte, sondern aus starken, fest zusammengefügten Platten, zwischen denen eine Reihe von Stufen abwärts führte. Einige dieser Platten bildeten die Tür, welche von innen und von außen geöffnet werden konnte, ohne daß die Leute, welche vor dem Monument standen, diese Vorrichtung bemerkten.
Der Dschirbani war genau so gekleidet wie gestern. Er wollte uns begrüßen, wurde aber von den Hunden daran verhindert. Sie, die im Fall des Fluchtversuches ihn hätten zerreißen sollen, zeigten jetzt eine geradezu rührende Freude, ihn wiederzusehen, und sprangen an ihm empor, um sich seine Liebkosung zu erschmeicheln.
»Wo ist der erzwungene, der Natur von dem Menschen aufgedrungene Haß?« fragte er. »In Liebe verwandelt! Ich grüße und danke euch, daß ihr gekommen seid!«
Er verbeugte sich. Ich reichte ihm die Hand. Er ergriff sie nicht, sondern streichelte die Hunde.
»Weißt du, was du mir da bietest, Sahib?« fragte er. »Kennst du die Gefahr, in die du dich bringst?«
»Ich halte es für keine Gefahr, sondern sogar für meine Pflicht, diesem Irrtum zu begegnen. Gib mir deine Hand! Und ich bitte dich, sie mir auch fernerhin vor aller Augen zu reichen!«
Er tat es und sagte, indem er mir die meine warm und kräftig drückte:
»Das ist Erlösung; ja wahrlich, das ist Erlösung! Sahib, das werde ich dir nie vergessen!«
Es verstand sich ganz von selbst, daß auch Halef ihm die Hand entgegenstreckte und die seinige bekam. Dann hielt ich es für richtig, den Auftrag auszurichten, den mir die Priesterin für ihren Enkel gegeben hatte.
»Grad um den Mittag bestellt sie mich! In den Tempel?« fragte er nachdenklich, ohne überrascht zu sein. »Du hast also mit ihr gesprochen?«
»Ja«, antwortete ich.
»Nur kurz – oder längere Zeit?«
»Fast die ganze Nacht. Wir stiegen nach dem Festmahl auf die Zinne des Turmes, um den Ausbruch der Vulkane zu beobachten, und konnten uns erst, als der Morgen graute, voneinander trennen. Die Herrin der Ussul war dabei.«
»Du hast mit ihnen gesprochen«, sagte er. »So lange Zeit und grad mit diesen beiden. So weißt du, wenn auch nicht alles, doch viel, und ich ...«
»Wir sprachen meist über Marah Durimeh«, unterbrach ich ihn, um seine Gedanken nicht auf Abwege geraten zu lassen.
»Von Marah Durimeh?« rief er aus, indem er sich hoch aufrichtete. »Von der Beherrscherin von Sitara? Wie kommt die Frau des Scheichs und die Priesterin dazu, mit dir von dieser geheimnisvollen Frau zu reden?«
»Weil sie erfuhren, daß ich mit Marah Durimeh befreundet und erst kürzlich ihr Gast in Sitara gewesen bin. Ich wohnte bei ihr im Schloß von Ikbal.«
Da wich er einige Schritte von mir zurück und ließ einen Blick über mich gleiten, in dem sich das tiefste Erstaunen aussprach. Aber nach und nach verlor sich dieses Staunen, um einem hochbefriedigten Ausdruck Platz zu machen. Seine Augen begannen zu leuchten, und seine Stimme klang froh, fast jubelnd, indem er sprach:
»Welch eine Freude, welch ein Glück! Wie war es möglich, daß ich gestern dich zwar sofort für einen mir von Gott gesandten Menschen hielt, aber doch nicht deutlich fühlte, daß du nur aus Sitara kommen kannst – allein von dort! Aus keinem anderen Land! Und nun ich dies erfahre, ist es mir recht und lieb, daß die beiden Frauen von mir zu dir gesprochen haben. Du bist über mich unterrichtet, und ich brauche nichts zu wiederholen. Auch ich bin unterrichtet – über dich! Wenn auch nicht ausführlich, sondern nur über einiges, was außerordentlich wichtig ist. Deine Person und deine Verhältnisse sind mir völlig unbekannt, um so gewisser aber weiß ich, daß du hierhergekommen bist, um zu dem Mir von Dschinnistan zu gehen.«
»Welche Veranlassung hast du, dies zu vermuten?« fragte ich.
»Ich weiß, daß du es geheimzuhalten hast; aber wenn du der Richtige bist, so wirst du mir vertrauen und mir es gerne gestehen.«
Er trat wieder näher zu mir heran und fuhr in wichtigem Ton fort:
»Ich bitte dich, aufrichtig zu sein und mir eine Frage zu beantworten, die Vater und Mutter mir hinterlassen haben!«
»Sprich!« forderte ich ihn auf.
»Trägst du einen kleinen Schild auf deiner Brust, den Marah Durimeh dir mitgegeben hat?«
»Ja«, antwortete ich, denn ich fühlte, daß ich hier verpflichtet war, offen zu sein.
»Aus welchem Metall ist er? Aus Gold oder aus Silber? Aus Kupfer oder Bronze?«
»Aus keinem von diesen. Mir ist das Metall, woraus er besteht, unbekannt. Wahrscheinlich ist es eine Legierung.«
»Ganz recht, ganz recht! Warte, warte!«
Er sagte das im Ton der größten Freude, des Entzückens. Dann eilte er die Stufen des Denkmals hinab und verschwand im Innern der Erde.
»Sihdi, ist das nicht wunderbar?« fragte Halef. »Klingt das nicht, als ob unser Kommen hier vorbereitet sei?«
»Nichts ist wunderbar«, antwortete ich ihm, »wenigstens nicht hier in diesem Land. Ich bin überzeugt, daß wir noch Dinge erleben werden, welche dir zehn- und zwanzigmal wunderbarer erscheinen werden, als diese ganz unerwartete Frage nach meinem Schild oder dieses Marmormonument, das sich öffnet, um Menschen aus der Erde steigen zu lassen.«
»Er sagte, er habe die Frage von seinem Vater und seiner Mutter geerbt. Also haben schon diese gewußt, daß wir kommen!«
»Wir? Gewiß nicht! Es war ihnen bekannt, daß jemand aus Sitara kommen werde, der einen ihm von Marah Durimeh mitgegebenen Schild besitzt. Daß gerade wir dies sein werden, hat sich erst später herausgestellt.«
»Horch! Er kommt! Was wird er bringen?«
Der Dschirbani kehrte zurück. Er hielt ein ungewöhnlich großes, ledernes Etui in der Hand, welches er öffnete und uns dann zeigte.
»Das ist dein Schild, Sihdi!« rief Halef aus. »Ganz genau dein Schild! Dasselbe Metall und auch dieselbe Form!«
Es war genau so, wie er sagte. Das Etui enthielt ein vollständig genaues Duplikat meines Schildes. Ich zog letzteren unter der Weste hervor, um nachzuweisen, daß beide einander glichen. Es war nicht der geringste Unterschied zu entdecken.
»Es ist richtig! Es ist genau so, wie ich dachte!« jubelte der Dschirbani. »Steigt voran, bis ihr Licht zu sehen bekommt! Ich folge sofort nach, sobald ich die Tür verschlossen habe.«
Er winkte nach den Stufen. Ich band die Hunde an zwei Säulen und gab ihnen zu verstehen, daß sie hier zu warten hätten. Sie begriffen, was ich meinte, und legten sich nieder. Hierauf stieg ich mit Halef die Stufen hinunter. Ich vergaß, sie zu zählen; mehr als zehn aber waren es auf jeden Fall, denn der unterirdische Raum, nach dem sie führten, trug eine wenigstens sechs Fuß hohe Erddecke über sich und war dennoch so hoch, daß der Dschirbani, der doch viel größer war als ich, sich bewegen konnte, ohne sich bücken zu müssen. Sie führten zunächst in eine kleine, viereckige Stube, welche von dem Fundament der Marmorsäule gebildet wurde. Da standen einige Körbe und Kisten; weiter war nichts zu sehen. Ein schmaler, gerader Gang leitete weiter; es war finster, doch von da, wo er mündete, glänzte uns Licht entgegen. Indem wir diesem folgten, gelangten wir erst in einen kleinen, dann in einen bedeutend größeren und hierauf wieder einen kleinen Raum, die alle drei durch brennende Sesamöllampen ziemlich hell erleuchtet waren. Man sah sofort, daß die beiden kleineren als Vorratskammern dienten. Der größere aber glich dem Arbeitszimmer eines Gelehrten. Man sah Bücher, Karten, Pläne, Schreibzeuge, allerlei Geräte mit bekanntem oder unbekanntem Zweck, eine Menge ärztliche, physikalische, chemische und andere Instrumente, auch orientalische und europäische Waffen. Diese letzteren bestanden allerdings nur in einem Doppelgewehr und zwei Revolvern, die aber, obgleich fast veraltet, von vorzüglicher Konstruktion waren und für die hiesigen Verhältnisse einem jeden, der sie zu führen verstand, ein bedeutendes Übergewicht sicherten. Wo kamen all diese hochwichtigen Dinge her? Es ist wohl nicht erst nötig, zu bemerken, daß sie mein lebhaftes Erstaunen erregten.
Da kam der Dschirbani uns nach. Er sagte:
»Wundert euch nicht über diese geheimnisvollen Räume. Und wundert euch auch nicht über die Unbedenklichkeit, mit der ich sie euch sehen lasse. Ich wurde von meinem Vater unterwiesen, so und nicht anders zu handeln, doch ohne daß ich weiß, warum und wozu. Er verschwand; er soll ermordet worden sein. Ich glaube es nicht; ich glaube es nicht! Er war kein Mann, der sich beschleichen, überlisten und ermorden läßt! Dann starb auch meine Mutter; man sagt, aus Gram um seinen Verlust. Ich glaube auch das nicht; ich glaube es nicht! Sie hat nie und nie behauptet, daß sie ihn verloren habe! Ich weiß bestimmt, daß sie überzeugt und sicher war, ihn wiederzusehen. Sie grämte sich nur über den Haß ihres Vaters und über die seelische Trennung von ihrer Mutter. Als ich kurz vor ihrem Tod für eine Woche Abschied von ihr nahm, um einen Besuch bei verwandten Ussul zu machen, schärfte sie mir noch einmal alle Vorschriften des Vaters, die sich auf diese beiden Schilde beziehen, mit einem so auffallenden Nachdruck ein, daß sie unbedingt gewußt hat, was dann folgte. Sie starb sehr kurz nach meiner Entfernung und war, als ich zurückkehrte, schon begraben. Die Verwesung hatte verboten, die Leiche aufzubewahren. Von heute an bin ich verpflichtet, meinen Schild zu tragen, wie du den deinen.«
Er hing ihn sich um den Hals. Dabei sah ich, daß er so, wie mir erzählt worden war, ein Buch auf seiner Brust trug. Er bemerkte, daß mir das nicht entgangen war. Darum erklärte er mir:
»Mein Vater hat einige Bücher für mich geschrieben, die meine Wegweiser sind. Ich kann mich nicht von ihnen trennen und trage stets eines von ihnen auf meinem Herzen. Sie sind die Wohnungen seines hohen, edlen, weitschauenden Geistes, und ich besuche ihn da, so oft ich kann, um demütig zu seinen Füßen kniend, auf seine Worte zu lauschen.«
Er steckte einige chirurgische Instrumente und ein Paket Verbandbast zu sich, gab uns jedem ein brennendes Licht in die Hand, blies die Lampen aus und forderte uns dann auf, ihm zu folgen. Er führte uns durch einen gleichen, aber längern Gang nach einer zweiten Stube, in welcher er nur kurz verweilte, um ein Schränkchen zu öffnen und ihm einen kleinen Gegenstand zu entnehmen. Diese Gänge, Stuben und Kammern waren alle aus dem schon erwähnten versteinerten Holz gebaut und darum frei von jeder Feuchtigkeit. Der Gegenstand, den er aus dem Schränkchen genommen, war eine geschliffene Glasphiole, aus der er nur einen einzigen Tropfen in ein winziges Fläschchen gab, um sie dann wieder einzuschließen. Trotz des kurzen Augenblickes, den die Phiole geöffnet gewesen war, verbreitete sich ein unbeschreiblich feiner, belebender, ja entzückender Duft um uns her. Ich kannte ihn nicht, ich hatte ihn noch nie und nirgendwo gespürt. Sein Name stand in keinem Verzeichnis aller Wohlgerüche der Erde geschrieben. Und dennoch war es mir, als hätte ich ihn schon gespürt, vielleicht schon oft, aber aus unendlich weiter Ferne. Halef sog die Luft in vollen Zügen ein, machte sein begeistertstes Gesicht und rief:
»Welch ein Duft! Ich glaube, nur noch ein wenig mehr, so kommt die Ekstase; man wird Dichter und Prophet und verfällt in Vision. Darf man den Namen dieses Wohlgeruches erfahren?«
»Kommt er dir unbekannt vor?« fragte der Dschirbani, indem er das Fläschchen sorgfältig einwickelte und in die Tasche steckte.
»Vollständig unbekannt!« versicherte der Hadschi.
»Du hast es aber schon oft genug gerochen!« versicherte der Dschirbani.
»Unmöglich!«
»Es stinkt sogar! Du hast dir die Nase zugehalten!«
»Nein! Sag mir den Namen!«
»So erschrick aber nicht! Es ist – der Tod!«
»Der – Tod ...?« fragte Halef. Dann war er still, ich auch.
»Ja, der Tod!« fuhr der Sohn des Dschinnistani fort. »Untersucht das Land, in dem wir wohnen! Was findet ihr weiter als Moder, Verwesung, Schimmel und Gestank! Und was findet ihr weiter als Leben, Schönheit, Kraft, Unsterblichkeit und Duft? Heut sage ich: Das Leben duftet, der Tod aber stinkt! Und morgen sage ich: Der Tod duftet, das Leben aber stinkt! Was von beiden ist richtig? Ich sage, beides! Denn Leben und Tod sind eins. Man kann nicht leben, ohne immerfort zu sterben. Und man kann nicht sterben, ohne dabei das Leben zu erneuern. Merke dir es, o Hadschi Halef Omar, daß du nicht an deinem letzten, sondern an deinem ersten Atemzug stirbst! Und du hast dafür zu sorgen, daß nicht etwa beide stinken, dein Leben sowohl wie dein Tod, sondern daß beide duften. Du lebst, indem du ohne Unterlaß verwest. Du hast den Gestank dieser Verwesung in Duft zu verwandeln, wie es dort in der Phiole und hier in diesem winzigen Fläschchen geschehen ist. Tust du das, so ist Tod und Leben in deine Hand gegeben, wie ich beide in der meinen halte, wenn ich das Fläschchen bei dem Sahahr öffne, um ihn für kurze Zeit zu töten, damit er gegen den Schmerz des Lebens unempfindlich sei. Kommt weiter!«
Der Gang, dem wir nun folgten, war noch länger als der vorherige. Das Ende bestand in einem ähnlichen Stübchen wie dasjenige war, welches unter dem Monument lag. Auch hier führte eine Reihe von Stufen empor. Der Dschirbani stieg voran. Mit der einen Hand leuchtend, hob er mit der andern eine Falltür auf, die, wie wir bald sahen, in eine abgelegene Stubenecke des Bungalows mündete. Ich blieb stehen und wartete, bis er die Läden öffnete. Ich betrachtete die Falltür. Sie bestand aus einer doppelten Balkenlage des schon erwähnten versteinerten Holzes und war so stark und dick gemacht worden, damit nicht etwa der Widerhall der Schritte verrate, daß sich ein hohler Raum unter ihr befinde. Sie war also nicht leicht, sondern weit mehr als nur einen Zentner schwer. Und das hatte er wie spielend mit einer Hand gehoben! Das hatte ich bemerkt. Und deshalb war ich stehengeblieben, um sie mir anzusehen. Ich schämte mich fast, mich bisher für einen kräftigen Menschen gehalten zu haben!
Es war nicht seine Absicht, im Bungalow zu bleiben, vielleicht um uns den innern Bau des Hauses zu zeigen. Als er die Falltür geschlossen hatte, machte er auch die Fenster wieder zu und führte uns in das Freie, wo wir vorher gestanden und nach ihm gerufen hatten, ohne gehört worden zu sein. Er verschloß die Tür des Hauses mit einem Schlüssel, der ganz genau jenen Tempelschlüsseln des Altertums glich, von denen wohl nur sehr wenige ausgegraben worden sind. Man kennt ihre Form nur aus den Abbildungen auf altertümlichen Gefäßen.
Hierauf kehrten wir nach der Marmorsäule zurück, um die Hunde loszubinden. Sie lagen ruhig an ihrer Stelle und hatten sich wohlverhalten. Wir spazierten von da um den Weiher herum nach dem Grab. Unterdessen erklärte er uns die Gründe seines heutigen Verhaltens:
»Die unterirdischen Räume, die ihr gesehen habt, hat mein Vater gebaut, und zwar in größter Heimlichkeit. Niemand kennt sie, und niemand weiß, was für Gegenstände sich auf der Insel der Heiden befinden. Welche Zwecke er hierbei verfolgte, ist mir heut noch nicht klar, aber ich weiß, daß sie auf alle Fälle gut und lobenswert gewesen sind. Seine Kenntnisse machten ihn jedem Ussul, auch dem Zauberer, überlegen, und es konnte nicht seine Absicht sein, diesen Leuten Werkzeuge in die Hände zu geben, deren Anwendung ihnen geschadet hätte. Daß man so unbemerkt vom Bungalow nach dem Monument gelangen konnte, war sehr vorteilhaft. Mein Vater konnte, ohne gesehen zu werden, alles hören, was dort gesprochen wurde. Und besonders während der Belagerungen, wo die Tschoban das Haus umstellten, brachte es große Vorteile, daß es ihm trotzdem möglich war, es jederzeit zu verlassen. Vieles, wie zum Beispiel das Doppelgewehr, die Revolver und eine Menge von Patronen, die dazu gehören, hat er nicht für sich, sondern für mich von seinen Reisen mitgebracht, obgleich ich damals noch ein kleines Knäblein war. Er bestimmte es zur Ausrüstung für die Aufgabe, die er mir hinterlassen hat.«
»Ist es mir erlaubt, mich nach dieser Aufgabe zu erkundigen?« fragte ich.
»Du darfst. Du hast sogar das Recht dazu, denn du sollst höchstwahrscheinlich mein Begleiter sein. Du willst zum Mir von Dschinnistan, ich auch. Nach dem Grund, der dich zu ihm führt, will ich dich nicht fragen, denn du stehst hoch über mir und hast mir keine Rechenschaft zu geben, und ich bin überzeugt, daß du es mir freiwillig sagen wirst, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Von mir aber will ich dir offen, doch unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, daß die Zeit, wenn ich nach Dschinnistan aufzubrechen habe, ganz genau bestimmt ist. Nämlich sobald ich erfahre, daß der Mir von Ardistan gegen den Mir von Dschinnistan rüstet, habe ich nur noch zu warten, bis ein Fremder kommt, der denselben Schild besitzt wie ich. Mit diesem Fremden reite ich; er wird mein Führer und Beschützer sein, dem ich zu gehorchen habe, obgleich mir freisteht, dies auch nicht zu tun. Doch werde ich, so oft ich ihm widerstrebe, zu Schaden kommen, der schwer zu büßen ist.«
»Kennst du Ardistan?«
»Ich war niemals dort, aber ich habe sehr genaue Karten und Pläne, die es sonst nirgends gibt, auch nicht in Ardistan selbst. Sie stammen aus Dschinnistan.«
»Es überrascht mich freudig, dies von dir zu erfahren. Beziehen sich diese Karten auf alle fünf Länder, die zu Ardistan gehören?«
»Ja, und nicht nur auf diese. Ich habe auch eine vom Land der Ussul und eine vom Land der Tschoban, welche beide nicht eigentlich zu Ardistan gehören, sondern ihm nur tributpflichtig sind. Ardistan besteht aus dem eigentlichen Ardistan mit der Hauptstadt Ard, die früher an dem zurückgegangenen Fluß Ssul lag. Es ist umgeben im Norden von Schimalistan, im Osten von Scharkistan, im Westen von Gharbistan und im Süden von Dschunubistan, welches uns am nächsten liegt, weil es an das Gebiet der Tschoban grenzt. Möchtest du diese Karten sehen?«
»Oh, natürlich!«
»So warte! Ich hole sie sofort. Du kannst sie mitnehmen, um sie zu studieren, darfst sie aber niemand zeigen!«
Er ging fort und kehrte sehr bald mit ihnen zurück. Ich wartete nicht bis später, sie zu betrachten, sondern tat dies gleich. Es waren Meisterwerke, die ich leider jetzt nur kurz überfliegen konnte. Auch auf der Karte des Landes der Ussul war jeder, sogar der kleinste und unbedeutendste Kanal genau verzeichnet. Ich war darüber befriedigt, daß ich sie zu mir stecken und mitnehmen durfte.
»Ich werde dir wahrscheinlich noch manches mitzuteilen haben«, nahm der Dschirbani seine unterbrochenen Worte wieder auf. »Du bist mir zu schnell gekommen, und ich habe es fast als ein Wunder zu bezeichnen, daß sich die Voraussage meines Vaters so pünktlich erfüllt. Kaum habe ich erfahren, daß in Ardistan gegen Dschinnistan gerüstet wird, so hat sich der Fremde, der den Schild besitzt, auch schon eingestellt! Ich habe mich zu sammeln, um mir alles zu vergegenwärtigen, was ich über unsern Ritt nach Dschinnistan erfahren habe. Es ist unmöglich, sich gleich auf alles zu besinnen.«
»Hast du zu jemand von deinem Schild gesprochen?« erkundigte ich mich.
»Nein«, antwortete er.
»Auch zu deinem Großvater und deiner Großmutter nicht?«
»Kein Wort! Du nennst den Sahahr meinen Großvater?«
»Natürlich! Oder ist deine Mutter nicht seine Tochter gewesen?«
»Ja, er war der Vater meiner Mutter, aber weiter nichts! Keine Faser meines Körpers, kein Hauch meiner Seele und keine Regung meines Geistes stammt von ihm. Denkt man in deiner Heimat hierüber anders? Wir beide, er und ich, haben nicht den geringsten Teil aneinander! Nicht die Verwandtschaft, sondern nur die Liebe könnte uns verbinden, wenn sie vorhanden wäre.«
»Aber man sagt, daß er dich nur öffentlich verfolge, heimlich aber liebe er dich!«
»Möglich! Für mich aber ist diese Liebe nicht vorhanden, da er mir niemals einen Grund gegeben hat, sie auch nur zu ahnen. Ich sah nur Haß. Er haßte meinen Vater nicht nur deshalb, weil dieser ihm die Tochter nahm, sondern auch, weil dieser ein größerer Arzt und überhaupt ein bedeutenderer Mensch war als er. Jede Kur, die nicht ihm, dem Zauberer, sondern meinem Vater, dem Heiden, gelang, vergrößerte den Haß. Dennoch achte ich ihn und wünsche, daß auch du ihn achtest, denn er ist trotz dieser einen Schwäche in jeder anderen Beziehung ein guter, edler Mensch. Und die Großmutter? So wirst du fragen. Ich liebe sie, denn ich liebe mich. Meine Mutter war Fleisch von ihrem Fleische und Seele von ihrer Seele, und beides ging über auf mich. Aber sie war mehr Priesterin als Mutter. Sie verzichtete um des Zauberpriesters willen auf ihr Kind und auf ihren Enkel. Sie grüßt mich nur von weitem, und auch das verschweigt sie ihm. Kannst du das begreifen? Ich nicht!«
Wir waren während dieses Gespräches in die Nähe des Grabes langsam hin- und hergegangen. Nun blieb er vor dem Hügel stehen und fuhr in seiner Rede fort:
»Jetzt liegt der Sahahr in Todesgefahr; da ruft sie mich. Ich soll ihn retten. Ich werde es tun. Sie soll nicht vereinsamen wie ich; sie soll ihn behalten. Aber ich tue es ohne Wohlwollen, ohne Liebe, ohne Freude. Ich bin nur noch Körper und Geist. Meine Seele ist tot, die hat man mir begraben, hier in diesem Moder, in dieser verwesenden Feuchtigkeit!«
Er schlug die Arme auf der Brust übereinander, hielt das Grab mit seinen Blicken fest, als ob er es durchdringen wolle, senkte den Kopf und sagte:
»Ich bitte dich, über das, was ich dir jetzt gestehe, nicht zu lächeln! So oft ich vor diesem Grab stehe, ist es mir, als ob mein Auge die Kraft habe, durch die Erde und durch die Wände des Sarges zu dringen, und da sehe ich ihn immer leer; denke dir, Sahib, immer leer! Ist das Wahnsinn? Man behauptet ja, daß ich wahnsinnig sei! Das quält mich ungemein! Das hat mich schon seit Jahren gepeinigt und peinigt mich auch noch heute. Es packt mich oft so, daß ich kaum widerstehen kann. Jetzt, in diesem Augenblick, an dem ich mit dir hierüber spreche, ist es so stark und so deutlich, daß ich die Erde mit den Händen aufscharren möchte, um dir zu zeigen, daß der Sarg leer ist!«
»Das wäre doch ein fürchterliche Betrug!«
»Ja, das wäre es! Ich möchte scharren und scharren, um diesen Betrug aufzudecken und die Bretter des leeren Sarges den Eltern meiner Mutter in das Gesicht werfen zu können; aber diese Tat wäre so ungeheuerlich, daß ich über den Wahnwitz erschrecke, sie mir zu denken. Auch frage ich, wo die Mutter denn sein soll, wenn nicht hier? Und ich hatte und habe sie ja noch viel, viel zu lieb, als daß ich die Sünde auf mich nehmen möchte, ihr Grab geöffnet und geschändet zu haben!«
In diesem Augenblick war ein starker, tiefer und langgezogener Ton zu hören. Er klang fast wie von einem Alpenhorn. Er kam vom Fluß her. Ihm folgten weitere Töne, die ganz dieselbe Klangfarbe besaßen, aber entweder höher oder tiefer waren als der zuerst erklungene. Es schien ein Signal, oder richtiger, eine Fanfare sein zu sollen.
»Das ist das Zeichen der Hukara – der ›Verächtlichen‹ –!«, rief der Dschirbani aus, sichtlich freudig überrascht. »Ich habe ihnen gestern sagen lassen, daß du heut um diese Stunde bei mir sein werdest. Sie haben sich bis jetzt beraten und kommen nun, mir mitzuteilen, was sie beschlossen haben.«
»Wer und was sind diese Hukara?« fragte ich.
»Die Zurückgesetzten, die Geringgeschätzten, die Verachteten «, antwortete er. »Sahib, du wirst jetzt erfahren, daß ich nicht der törichte, untätige Knabe bin, als der ich dir erscheinen mußte. Meine Gefangenschaft war nicht ganz unfreiwillig. Sie hat empört. Das wußte ich, und das wollte ich. Zu den Hukara gehören alle, welche unsere bisherige Feigheit den Tschoban gegenüber für eine Schande halten. Sie protestieren, so oft und so laut sie können, gegen das bisherige Verfahren. Sie haben mich zu ihrem Anführer gewählt. Das gab dem Sahahr Veranlassung, mich wieder einmal für irrsinnig und für moralisch räudig zu erklären und mich gar in den Stachelzwinger zu stecken. Weil ich, ihr Anführer, ein Verachteter und Verfolgter war, wurden sie mir gleichgestellt und mit dem Namen Hukara bezeichnet. Sie lachten darüber. Da kam die Kunde, daß die Tschoban einen neuen Einfall beabsichtigen und daß zwei fremde Gäste kommen würden, die den Erstgeborenen der Tschoban gefangengenommen haben. Das gab hellen Jubel. Es wurden übermenschliche Heldentaten von euch erzählt, und jedermann glaubte an sie. Da kamt ihr gestern selbst, und gleich euer erstes Auftreten war diesen Berichten angemessen. Du holtest mich aus dem Zwinger, worauf mein erstes war, die Hukara zu benachrichtigen, daß unsere Zeit gekommen sei. Ich sprach mit den wichtigsten von ihnen. Sie hatten schon gehört, daß du dich anheischig gemacht hast, die Tschoban im Engpaß Chatar gefangenzunehmen, ohne daß ein Tropfen Blut zu fließen braucht. Es wurden sofort nach allen Richtungen Boten gesandt. Heute vormittag ist Beratung gewesen. Nun kommen sie, mir das Ergebnis derselben mitzuteilen. Erlaube, daß ich gehe, sie zu empfangen. Ich kehre schnell zurück.«
Der Dschirbani entfernte sich. Während seiner Abwesenheit nahm ich die Karte des Landes der Ussul vor, die er mir geholt hatte. Es kam mir besonders auf die Gegend des Engpasses Chatar an. Sie war sehr deutlich und sehr eingehend gezeichnet. Indem ich sie betrachtete und über diese Linien nachdachte, wurde ich in Gedanken nach dem Palast von Ikbal und auf das Schiff Wilahde versetzt, wo ich diesen Engpaß und seine Umgebung mit ganz besonderem Interesse studiert hatte. Die damals gemachten Aufzeichnungen hatte ich zwar vergessen, mit vom Schiff zu nehmen; jetzt aber kehrten sie zu mir zurück. Sie standen so deutlich vor mir, als ob ich diese Studien soeben erst beendet und die Notizen hierüber noch gar nicht niedergeschrieben hätte. Und als ob mir diese ebenso klare wie ausführliche Erinnerung gerade zur richtigen Zeit gekommen sei, stellte sich in diesem Moment der Dschirbani wieder ein und sagte:
»Sahib, der gegenwärtige Augenblick ist ungeheuer wichtig. Es scheint sich eine Umgestaltung aller jetzigen Verhältnisse vorbereiten zu wollen. Sag mir aufrichtig, ob es wirklich möglich ist, die Tschoban am Engpaß zu besiegen, ohne daß es uns einen Tropfen Blut kostet!«
Ich hatte mich niedergesetzt, bei dieser Frage aber stand ich schnell auf. Ihre Bedeutung wollte sich mir fast fühlbar auf die Schultern legen. Auch der junge, edle Ussul war ernst; aber es war ein freudiger, begeisterter Ernst, der aus seiner Stimme sprach, und so klang auch die meinige zuversichtlich heiter, als ich antwortete:
»Ja, es ist möglich! Doch setze ich voraus, daß die Bedingungen vorher erfüllt werden, ohne die es nicht geschehen kann.«
»Nenne sie mir, diese Bedingungen!«
»Erstens, daß die Tschoban höchstens viermal stärker sein dürfen, als wir ...«
»Was sagst du? Wie?« unterbrach er mich. »Wir müssen nicht stärker sein als sie? Und werden dennoch Sieger?«
»Ja, wir brauchen nur ein Viertel ihrer Stärke. Zweitens verlange ich unbedingten Gehorsam gegen unsern Anführer.«
»Selbstverständlich! Der bist natürlich du!«
»Nein!«
»Wer sonst?«
»Du!«
»Ich ...?«
»Natürlich! Du bist der Herr. Wir werden deine Berater, deine Helfer, deine Freunde sein, weiter nichts. Wir wünschen nichts für uns, gar nichts, sondern alles nur für dich und deine Freunde.«
»Wie ist – ist – ist das möglich!« rief er aus. »Solche Leute, wie ihr seid, waren noch nie bei uns! Kommt, kommt zu meinen Hukara, damit sie euch sehen und hören! Und daß sie euch lieben und verehren! Aber erfahret zuvor eines, ehe ich euch zu ihnen führe. Es ist ein bezeichnender Charakterzug dieser lieben, prächtigen Menschen. Bei den Ussul gibt es nämlich ein Gesetz, nach welchem gewisse Vergehen mit dem Verbot, einen Bart zu tragen, bestraft werden können. Ich bin ein derart Bestrafter. Und nun denke dir, Sahib: Als ich soeben zu den Hukara kam, waren sie alle bartlos erschienen, alle, keinen einzigen ausgenommen. Das ist eine Demonstration, die mehr sagt, als lange Reden sagen können. Sie wird wirken, und ich werde ihnen diesen Beweis ihrer Liebe und Treue niemals vergessen – nie! – Nun kommt!«
Er führte uns nach dem freien Platz vor dem Haus. Da standen sie, dicht gedrängt, wohl drei- bis vierhundert Mann, eine Zahl, die sich aber von Stunde zu Stunde vermehrte. Es waren lauter hohe, breite, eindrucksvolle Gestalten, höchst einfach gekleidet und nur mit langem Messer, Spieß und weit spannenden Bogen bewaffnet. Gewehre sah ich nur einige, so daß sie gar nicht zu rechnen waren. Es jubelte in mir. Was ließ sich mit solchen Leuten, mit solchen Muskeln und Sehnen erreichen! Diese vom Wetter gegerbten, ehrlichen, offenen Gesichter mit dem scharfen, zuverlässigen Blick in den treuen, arglosen Augen! Und das sollten Ausgestoßene, Verachtete sein! Und ganz richtig: Sie zeichneten sich alle durch dichte, lang herabhängende Haarschöpfe aus, aber kein einziger trug einen Bart. Man sah es den Wangen an, daß sie alle erst heut früh rasiert worden waren. Ihre breiten, meist ein wenig stumpfnasigen Ussulgesichter glänzten vor Genugtuung über diese Kundgebung und vor Freude, die beiden Beschützer ihres Anführers begrüßen zu dürfen.
Der Dschirbani bat mich, zu ihnen zu reden. Ich tat es, indem ich ihnen mitteilte, wie ich mir den Zusammenstoß mit den Tschoban dachte. Ein Zusammenstoß sollte es überhaupt gar nicht sein, sondern das außerordentlich bequeme und vollständig ungefährliche Stellen einer Falle, in welche die Gegner ahnungslos zu laufen hatten, um drin steckenzubleiben. Ich sagte ihnen, daß ich ihnen diese Mitteilung nur in größtem Vertrauen mache, und daß sie selbst gegen Freunde und Verwandte kein Wort sagen dürften, weil auch nur ein einziger, ganz unbeabsichtigter Verrat genüge, die Ausführung des Planes unmöglich zu machen. Sie begriffen meine Darstellung sofort und leicht und waren nicht nur einverstanden, sondern sogar begeistert. Am liebsten wären sie unverzüglich aufgebrochen, um nach dem Engpaß zu ziehen. Das ging aber nicht. Wir hatten noch viel Zeit und durften nichts übereilen. Es galt nicht, einen rohen Stoß, einen ungestümen Streich auszuführen und dann mit Beute beladen heimzukehren, sondern die Aufgabe war, mit dem kurzen Kampf einen langen Frieden zu erzwingen und aus dem augenblicklichen, blitzschnellen Sieg einen bleibenden Nutzen zu ziehen. Man mußte den Tschoban endlich einmal imponieren und sich ihnen als mindestens gleichwertig zeigen, um bei ihnen den Wunsch zu erwecken, das bisherige unfreundliche Verhältnis in ein Bündnis zu verwandeln, das beiden Stämmen die nötige Stärke verlieh, um sich von den drückenden Fesseln des Mirs von Ardistan zu befreien.
Als ich diesen Gedanken aussprach, jubelten sie laut auf. Daß der Mir von Ardistan seine Leibgarde aus lauter Ussul zusammensetzte und daß die beiden Söhne des Scheichs der Ussul an seinem Hof leben mußten, das fühlten sie nicht als Ehre, sondern als Schande. Sie hielten es schon längst für ihre Pflicht, dieses Joch abzuschütteln, nur hatten sie nicht gewußt, wie es anzustellen sei. Darum nahmen sie meinen Gedanken, durch die friedliche, wenn auch erzwungene Vereinigung mit den Tschoban stark genug zum Widerstand zu werden, mit Freuden auf und erklärten sich bereit, für diesen Zweck zu leben und zu sterben. Sie fragten, ob ich gewillt sei, mit ihnen nach dem Engpaß zu ziehen und ob ich ihnen den redegewandten Scheich der Haddedihn für einige Stunden abtreten möge, damit sie ihn jetzt mit nach ihrem großen Versammlungsplatz nehmen könnten, um sich von ihm belehren und unterrichten zu lassen. Als ich beides bejahte, nahmen sie den kleinen Hadschi samt seinen Hunden in die Mitte und marschierten jubelnd nach dem Ufer, wo wir sie in ihre Boote und auf ihre Flöße steigen und sich entfernen sahen. Halef stand, die Hunde neben sich, auf einem der größten Flöße und winkte uns Abschied zu. Er fühlte sich als wichtige Person, und das bereitete ihm stets eine Wonne.
Somit war nun mein Aufenthalt auf der Insel der Heiden beendet. Er hatte eine unvorhergesehene Entscheidung gebracht und sollte auch noch weitere Folgen zeitigen, an die ich jetzt nicht dachte. Auch der Dschirbani mußte fort. Es nahte die Zeit, für welche er zu der Priesterin bestellt worden war. Wir verließen die Insel, er auf seinem kleinen Floß und ich in meinem Kanu. Wir ruderten uns auf demselben Weg zurück, den ich zu ihm gekommen war. Als wir hierbei an einer der bereits erwähnten, im Fluß liegenden Inseln vorüberkamen, hörten wir laute, klatschende Schläge und das pfeifende Winseln von Hunden, die mit der Peitsche bestraft wurden.
»Das ist Aacht und Uucht«, sagte der Dschirbani.
»Die beiden hochedlen Hunde?« fragte ich, indem ich die Ruder schnell einzog.
»Ja. Der Wärter dressiert sie. Sie scheinen nicht gehorchen zu wollen. Daher die Schläge.«
»Das soll er bleibenlassen!« rief ich zornig aus und lenkte nach dem Ufer. Er folgte mir.
Das Inselchen war der Zwinger nur für die beiden Hunde. Eine dicke, hohe Mauer von lebenden Dornen umgab sie, um die Tiere festzuhalten. In dieser Mauer befand sich eine sehr schmale Pforte, die jetzt offenstand. Als wir sie passiert hatten, befanden wir uns auf einem freien Grasplatz, wo zwei starke Pfähle in die Erde gerammt waren. An diesen Pfählen hingen die Hunde, und zwar mit den Köpfen fest an den Erdboden gebunden, wie man es in manchen Gegenden noch heute beim Schlachten starker Ochsen macht. Da ist in der Mitte der schwersten Steinplatten des Fußbodens ein eiserner Ring angebracht, durch welchen der Strick, an dem das Tier hängt, derart gezogen ist, daß ihm der gesenkte Kopf tief unten mit dem Maul an der Platte gefesselt ist. Mit angstvollem Blick schielt es von da unter dumpfem Gebrüll zu dem Schlächter empor, der mit der Axt weit ausholt, um ihm den tödlichen Schlag auf die Stirn zu versetzen. Nicht immer gelingt dieser Hieb. Dann ist es fürchterlich, mit dabeizusein. Ich selbst habe gesehen, daß ein Ochse, den dieser erste Hieb nicht tötete, im wahnsinnigen Schmerz und mit der Kraft der Todesangst die mehrere Zentner schwere Steinplatte aus der Erde riß, aber doch nicht fliehen konnte, weil sie ihm die Beine zerschmetterte. Der Ochse brüllte, auch der Fleischer brüllte wie ein Stier und schlug mit dem Beil solange auf das arme Opfer los, bis es blutüberströmt zusammenbrach.
Genau so waren auch hier die Hunde mit den Köpfen tief unten angebunden, daß sie sich ja nicht wehren konnten. Und außerdem hatte der Dresseur ihnen mit einer Art von Beißkörben die Mäuler so fest zusammengepreßt, daß sie weder bellen noch beißen, sondern nur noch winseln konnten. Dabei schlug er mit einer Riemenpeitsche unbarmherzig auf sie ein. Ich sprang auf ihn zu, riß ihn zurück und fragte ihn zornig:
»Warum schlägst du meine Hunde? Wer hat dir das erlaubt?«
»Deine Hunde?« rief er erstaunt. Er war viel länger, breiter und stärker als ich und dabei so dicht bebartet im Gesicht, daß man kaum noch die Augen und die Nasenspitze sehen konnte.
»Ja! Sie sind mein!« antwortete ich.
»Das ist nicht wahr. Sie gehören jetzt dem Scheich und seiner Frau. Sie werden für einen Fremden aufgehoben, der einen Schild auf der Brust trägt; ich aber bin der eigentliche Herr. Ich strafe sie, wenn sie nicht lernen wollen, und niemand hat mir da dreinzureden. Auch du nicht! Das werde ich dir zeigen!«
Er holte wieder aus und versetzte zweimal jedem der Hunde einen klatschenden Hieb. Er wollte fortfahren; da aber riß ich ihm die Peitsche aus der Hand und zog sie ihm schnell einige Male über den Rücken, so daß er zunächst vor Schreck und Schmerz vergaß, mir Widerstand zu leisten. Dann aber wollte er mit den gewaltigen Fäusten nach mir langten, doch kam er nicht dazu, mich anzufassen, denn ich gab ihm von unten her einen solchen Stoß in den Achselgrube, daß er ausgehoben und zu Boden geschleudert wurde. Da raffte er sich auf, stieß einen Wutschrei aus und warf sich wieder auf mich, um sich zu rächen, hielt aber ein, weil sich ihm jetzt auch der Dschirbani entgegenstellte. Dieser war am Eingang stehengeblieben und von ihm gar nicht bemerkt worden. Nun kam er schnell herbei und griff mit beiden Armen nach dem Mann, um ihn von mir abzuhalten. Dieser ihn sehen, sich umdrehen und davonlaufen, war eins.
»Der Dschirbani! Der Aussätzige! Fort, fort!« Mit diesem Ruf schnellte er sich durch den schmalen Eingang hinaus.
Der Dschirbani warf ihm einen verächtlichen Blick nach und fragte mich dann:
»Weißt du, daß ich staune, Sahib?«
»Worüber?« fragte ich.
»Über deinen Achselstoß, mit dem du diesen schweren, riesigen Menschen von dir hinweg und zur Erde schleudertest. Eine solche Körperstärke ist Leuten deiner Gestalt nicht zuzutrauen. Nun du sie mir aber gezeigt hast, bin ich froh darüber. Es stehen uns schwere Kämpfe bevor, und da beruhigt es mich sehr, zu sehen, daß du, mein Beschützer und Führer, es auch in der rein äußerlichen Kraft mit jedem Ussul, jedem Tschoban und jedem Ardistani aufzunehmen vermagst!«
»Da sorge dich ja nicht! Die rohe Kraft ist, außer wenn sie von Kopf und Herz geleitet wird, nicht eine Stärke, sondern eine Schwäche des Menschen. Sie wird durch den Einfluß des Geistes, des Willens verdoppelt, durch Zucht und Übung verdreifacht, und wenn du sie dann nur nach der Länge und Breite des Körpers mißt, so setzt du dich Täuschungen aus, die dich in Nachteil bringen. Mein kleiner Hadschi Halef Omar ist nur ein Knirps gegen euch, aber ich möchte es keinem Ussul raten, einen ernsten Gang auf Leben und Tod mit ihm zu wagen. Seine Knochen sind von Schmiedeeisen und seine Sehnen von Stahl! – Doch nun zu den Hunden!«
Vor allen Dingen band ich die beiden Tiere los und befreite sie von den peinigenden Maulkörben. Da sprangen sie vor Freude hoch auf, jagten drei- bis viermal rundum und kehrten dann zu mir zurück, um sich zu meinen Füßen niederzulassen und mir die Hand zu lecken. Ich hatte ihrem Peiniger die Peitsche entrissen; sie sahen mich als ihren Retter an, und in ihren großen, schönen, unendlich ehrlichen Augen war die Bitte zu lesen, mir dafür dankbar sein zu dürfen. Welche Freude sie hatten, als ich ihnen erlaubte, sich an mir hoch aufzurichten, und sie dann mit beiden Armen an mich drückte! Wie schön sie waren! Wie edel und stark! An Größe überragten sie sogar noch die Bärenhunde der Ussul. Der berühmte Dojan, von dem ich in dem Band »Durchs wilde Kurdistan« erzähle, war ein Windspiel gegen sie. Auch ihre Farbe war ganz eigenartig. Ich kann sie nicht besser beschreiben, als indem ich sie mit jener Art von Pferden vergleiche, die man Schwarzschimmel nennt, nur daß bei diesen Hunden das Schwarz einen frappierenden Übergang zur blauen Farbe zeigte. Hierzu kam, daß ihre sehr feine, seidenweiche Behaarung eine mittellange, nicht eine kurze war, was die Seltsamkeit dieser Färbung ungemein erhöhte. Sie waren wirklich vornehme, fast möchte ich sagen, königliche Tiere!
»Diese herrlichen Abkömmlinge der Hunde von Dschinnistan übertrafen als Wasserfinder sogar die besten und berühmtesten Hunde, die es bei den Ussul gegeben hat«, sagte der Dschirbani.
»Als Wasserfinder?« fragte ich. »Das kenne ich nicht.«
»Die Gewöhnung an die immerwährende, große Feuchtigkeit unseres Landes läßt uns die jenseits der Grenze liegenden trockenen Wüsten unerträglich erscheinen. Wir ertragen den Durst nicht. Sobald wir hinüberkommen, bangen wir nach Wasser. Nicht nur wir, sondern auch unsere Pferde und Hunde. Die letzteren wissen dann mit ihren feinen Nasen jede Spur von Feuchtigkeit, auch die geringste, zu entdecken. Wo sie die Erde scharren, ist in der Tiefe Wasser zu finden.«
»Also Wasser gibt es in diesen vertrockneten Gegenden doch?«
»Ja, aber in welcher Tiefe! Wer hat Werkzeuge mit? Und wenn man graben wollte, würde man verdursten, ehe man die betreffende Tiefe erreichte. Dennoch ist es vorgekommen, daß Hunde ihre Herren vor dem Verschmachten gerettet haben. Es scheint also doch Stellen zu geben, wo die Wasser der Tiefe bis nahe an die Oberfläche emporsteigen. Mein Vater reiste alljährlich einmal nach Dschinnistan. Er tat das nie, ohne einen zuverlässigen Hund mitzunehmen, und hat alle feuchten Orte genau verzeichnet, die er mit Hilfe dieser Tiere fand. Aacht und Uucht aber sind die scharfrüchigsten und zuverlässigsten von allen, die es bisher gegeben hat. Das wurde ausgeprobt. Vor allen Dingen zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie den Durst mit Leichtigkeit ertragen, alle andern aber nicht.«
»Hast du diese Verzeichnisse deines Vaters noch?«
»Ja. Es ist ein kleines, aber sehr engbeschriebenes Buch, in welchem alle Orte, die er von hier bis Dschinnistan berührte, geschildert sind.«
»Das ist ja kostbar für uns! Ich bitte dich, es mitzunehmen!«
»Das werde ich tun. Ich habe überhaupt viel mitzunehmen.«
»Nur nichts, was uns belästigt, ohne Nutzen zu bringen. Wie schwimmen Aacht und Uucht?«
»Wie ein Fischotter, also noch besser als Hu und Hi, die Halef bei sich hat. Möchtest du sie nicht gleich mitnehmen? Sie schwimmen so schnell, wie wir rudern.«
»Wenn sie uns freiwillig folgen, ja.«
Wir gingen nach dem Wasser. Die Hunde folgten sofort. Als wir unsere Fahrzeuge bestiegen, sprangen sie freudig bellend in den Fluß, als ob es sich ganz von selbst verstehe, daß sie nun zu mir gehörten. Sie blieben bei mir, ich mochte schnell oder langsam rudern, Aacht rechts und Uucht links von meinem Kanu. Und wie es jetzt, gleich beim ersten Male war, so war es von nun an immerfort: Beiden waren stets getreu an meiner Seite, der Bruder rechts, die Schwester links von mir, als müsse dies so sein. Ich stieg an meinem Landungsplatz aus, und die Hunde gingen mit an das Ufer. Sie machten nicht den geringsten Versuch, dem Dschirbani zu folgen, der, um nicht auffällig gesehen zu werden, erst hinter dem Tempel aussteigen wollte. Es war genau Mittag, als wir uns trennten.
Da ich jetzt nichts zu tun hatte, beschloß ich, bis zum Essen zu schlafen, um das während der Nacht Versäumte nachzuholen. Aacht und Uucht schüttelten sich das Wasser aus den Fellen und kamen mit in das Haus. Als ich mich niederlegte, taten sie das auch, der eine rechts, die andere links von mir. Ich schlief schnell ein, wachte aber pünktlich, also kurz vor zwei Uhr, wieder auf. Ich übergab die Hunde den beiden Dienern, denen ich befahl, sie gut zu füttern. Dann ging ich nach dem Palast, um mich zum Essen einzustellen.
Heute gab es weit mehr Gäste als gestern. Die Ältesten des Stammes und überhaupt alle, die irgend etwas zu bedeuten hatten, waren geladen. Ich saß wieder zwischen dem Scheich und seiner Frau. Es ging sehr lebhaft zu. Mein Halef fehlte. Von den Offizieren, die er so schnell befördert und so hoch besoldet hatte, war keiner da. Ich hörte, daß sie noch schliefen. Hatte der Simmsemm gestern seine Wirkung getan, so tat er sie auch heut. Man wurde lustig. Aber in diese Lustigkeit hinein fiel eine Szene, welche den Scherz sofort in strengen Ernst verwandelte. Es traten nämlich zehn mit Spieß, Bogen, Köcher und langem Messer bewaffnete Riesen bei uns ein, welche meldeten, daß sie die bevollmächtigten Offiziere von fünfhundert Hukara seien und mit dem Scheich und seinen Ältesten zu sprechen hätten. Ihr Anführer war eine Prachtgestalt, körperlich ein Hüne und, wie ich später sah, auch in Beziehung auf seine Intelligenz den gewöhnlichen Ussul weit voraus. Er hieß Irahd und war einer der wohlhabendsten Männer der Stadt. Er führte das Wort, und zwar in ebenso geschickter wie energischer Weise.
Er schilderte die bisherige Feigheit der Ussul ihren Feinden gegenüber und betonte, daß diese Feigheit gar keine Veranlassung habe, auf die Hukara, die wehrhafte mutige Männer seien, verächtlich herabzublicken. So weit die Erde reiche, halte man den Ussul für ein Zerrbild, für eine Lächerlichkeit. Das müsse unbedingt anders werden, und zwar noch heute, wo sich die beste Gelegenheit biete, die Achtung anderer Stämme und Völker zu gewinnen. Wahrscheinlich sei den andern der Begriff der Völkerehre noch nicht verständlich, den Hukara aber liege außerordentlich viel daran, sich andern Nationen als moralisch ebenbürtig zu erweisen, und so hätten sie sich fest entschlossen, nach dem Engpaß Chatar zu ziehen, um die Tschoban nach Gebühr zu empfangen. Ihr Feldherr sei schon erwählt, nämlich der Dschirbani, der Räudige, der für verrückt Gehaltene, den man zu verachten wage, obgleich er der einzige sei, der die Befähigung besitze, die Ussul auf die Höhe gebildeter Völker emporzuheben. Er befinde sich jetzt auf dem großen Versammlungsplatz, um seine fünfhundert Hukara einzuexerzieren. Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheich der Haddedihn, helfe ihm dabei. Auf die alten, invaliden Soldaten verzichte man; die Kriegsspielerei mit ihnen sei kindisch und führe zu nichts. Mit zehn gesunden, kräftigen Hukara könne man mehr erreichen als mit einer großen Schar dieser alten, vom Mir von Ardistan verbrauchten Leute. Darum seien die Hukara entschlossen, die ganze Schar der Feinde auf sich allein zu nehmen und auf jede andere Kameradschaft zu verzichten. Aber man müsse Bedingungen stellen, deren Erfüllung zum Sieg erforderlich sei, und das wolle man sofort tun in einer Beratung mit den Ältesten. Über diese hochwichtige Angelegenheit dürfe man keine Minute verlieren.
Dieser ganze Vorgang kam nicht nur dem Scheich, sondern auch den andern überraschend. Die Hukara hatten allerdings schon längst gedroht, diese Sache in die Hand zu nehmen; aber daß sie es wirklich tun würden, das hatte man nicht erwartet. Und nun diese Plötzlichkeit, diese Energie und Eile! Man sah es den Ältesten allen an, daß sie sich in Verlegenheit befanden. Aller Augen waren auf den Scheich gerichtet, der sich im Gefühl seiner Unselbständigkeit, wie immer, an seine Frau wendete. Er tat das zwar mit leiser Stimme, aber da ich zwischen ihnen beiden saß, hörte ich, was sie sprachen.
»Was sagst du hierzu?« fragte er sie. »Man hat uns da vollständig überrumpelt! Ich weiß nicht, was ich antworten soll! Aber ich meine, es würde eine Schwäche sein, auf solch ein Verlangen einzugehen!«
»Im Gegenteil! Eine Stärke wäre es! Du mußt ihren Wunsch erfüllen!« antwortete sie.
»Diese Unreinen, Verächtlichen, Tiefstehenden? Sie sind nur Pöbel!«
»Grad deshalb!«
»Warum grad deshalb? Und wer soll sie befehligen? Der Verrückte, der Räudige? Welch eine Schande für uns, wenn man dann überall höhnt, daß wir unsere Ehre nur Ehrlosen oder Verrückten anvertrauen!«
»Grad deshalb!« bestand sie darauf.
»Das verstehe ich nicht! Was meinst du mit diesem Wort?«
Sie hielt ihm keine lange Rede. Als kluge Frau wußte sie, wie sie ihren Mann zu nehmen hatte. Sie ging auf seine Ansichten ein und überfiel ihn mit seinen eigenen Waffen, indem sie erklärte:
»Grad weil sie nichts taugen, weder die Hukara noch der Dschirbani, mußt du tun, was sie wollen. Schicke sie gegen den Feind, so bist du sie los!«
Er staunte. Dann schaute er sie bewundernd an und sagte:
»Taldscha! Wie ungeheuer klug du bist! Und wie recht du hast! Das ist so einfach! Wir erfüllen ihnen ihren Wunsch und jagen sie dadurch fort. Dann sind wir frei von ihnen! So wird es gemacht, so, so!«
Hierauf wendete er sich an den Sprecher und erklärte ihm, daß einer Beratung nichts im Weg stehe. Man werde sich mit dem Essen beeilen, und dann können sie sofort beginnen. Die zehn Hukara nahmen Platz, um zu warten.
»Sihdi, weißt du davon, daß dein Halef die Hukara übt?« fragte mich Taldscha.
»Nein. Ich weiß nur, daß sie ihn mit fortgenommen haben. Jedenfalls aber ist das, was er tut, nicht gegen euch gerichtet!«
»Das weiß ich! Wenn die Beratung beginnt, entferne ich mich.«
»Ich natürlich auch.«
»So bleiben wir, wenn es dir recht ist, beisammen. Ich möchte nach dem Versammlungsplatz, um das Exerzieren zu sehen. Reitest du mit?«
»Gern.«
»Aber nicht auf meinen, sondern auf deinen Pferden. Oder hat Halef das seinige mit?«
»Nein.«
»Wird es stark genug sein, mich zu tragen?«
»Gewiß. Ben Rih ist zwar nicht so stark wie zum Beispiel euer wunderbarer Smihk, aber doch stark genug, um selbst vom schwersten Ussul geritten zu werden.«
»Und darf ich meine Hunde mitnehmen?«
»Welche?«
»Aacht und Uucht, von denen ich dir schon erzählte. Ich möchte gern wissen, wer schneller und ausdauernder ist, sie oder eure Pferde. Du hast sie noch nie gesehen; ich zeige sie dir.«
»Ja, nimm sie mit«, bat ich, indem ich ihr verschwieg, daß sie sich bereits bei mir befanden.
»Vorher aber gehe ich einmal zur Priesterin, um mich zu erkundigen, wie es mit dem Sahahr steht. Darum breche ich schon eher von hier auf als du.«
Sie ging noch vor Beendigung des Mahles, und ich dann auch. Zu Hause bekam ich eine rührende Tiergruppe zu sehen. Syrr, mein hochedler Rapphengst, hatte sich niedergelegt. Aacht und Uucht lagen bei ihm und leckten ihn mit einem so fleißigen Eifer, als ob sie damit ihr Brot zu verdienen hätten. Ihm war deutlich anzusehen, daß er sich über diese Liebe freute. Warum fand ich die Hunde grad bei ihm, nicht aber bei Ben Rih? Es war, als ob sie wüßten, daß sie zu ihm und mir und nicht zu Ben Rih und Halef gehörten. Als ich sie jetzt liebkosend streichelte, fühlte und hörte ich sehr deutlich die winzigen, zahllosen elektrischen Funken, welche von ihren Fellen auf meine Hand übersprangen. Dasselbe geschah, wenn ich das Haar Syrrs strich. Hier war wohl das Band zu suchen, durch welches sie zusammengehörten, und daß sie diese Zusammengehörigkeit fühlten, war nun ja doch erwiesen.
Ich sattelte die Pferde. Als die Frau des Scheichs kam, war sie überrascht, die Hunde bei mir zu sehen. Sie hatte mit mir nach der gegenüberliegenden Uferseite reiten und sie von da aus zu uns herüberrufen wollen. Ich erzählte ihr mein Zusammentreffen mit dem Wärter. Sie billigte es, daß ich sie mitgenommen hatte, wenn auch nur leider für einstweilen, weil sie für den betreffenden geheimnisvollen Fremden aufzuheben seien. Dann stiegen wir auf und begannen den interessanten Ritt, der uns in einem weitgezogenen Kreis rund um die ganze Stadt führen sollte.
Wir umritten da auch die beiden großen Seen, die im Osten und Westen der Stadt lagen. Man fischte auf ihnen. Von allen, die uns begegneten, wurden wir in einer Weise gegrüßt, welche deutlich zeigte, wie geliebt und geachtet meine Begleiterin war. Sie hatte von den unvergleichlichen, windesschnellen Pferden der Araber gehört. Sie hatte gewünscht, einmal ein solches Pferd zu sehen, und fühlte sich nun glücklich, diesen Wunsch in so reichlicher Weise erfüllt zu bekommen. So oft das Terrain es gestattete, ließen wir die Rappen laufen, was sie konnten und wollten, und Taldscha gestand, daß sie solche Schnelligkeit nicht für möglich gehalten habe und daß es eine königliche Lust sei, ein solches Tier zu reiten. Sie selbst kam dabei außer Atem, die Pferde aber nicht. Ben Rih, der den kleinen hageren Hadschi gewohnt war und heute nun eine fast mehr als doppelte Last zu tragen hatte, hielt sich vortrefflich, blieb stets im gleichen Schritt mit meinem Syrr und zeigte weder eine Flocke Schaum noch die geringste Spur davon, daß er von der größeren Last ermüdet werde. Was die Hunde betrifft, so will ich nur sagen, daß ich sie fortwährend bewunderte. Diese Kraft und Eleganz, diese Ausdauer und Geschmeidigkeit! Wie stolz und frei sie im stärksten Lauf die Köpfe trugen! Jeder einzelne Sprung war eine Schönheit an sich! Und so oft wir hielten, gab es kein Jappen und Schnappen nach Luft, kein Husten und Pusten, kein Ringen und Schlingen nach dem verschwendeten Atem, sondern die Herzen schlugen unerregt, und die Lungen arbeiteten so ruhig, gleichmäßig und gelassen, als ob man nur so still und sacht spazierengegangen sei. Ich versprach mir von diesen köstlichen Tieren viel; sie konnten uns auf unserm Weg nach Dschinnistan von unbezahlbarem Nutzen werden. Ich machte mir den Spaß, diesen Gedanken gegen die Frau des Scheichs auszusprechen. Da sah sie mich verwundert an und fragte:
»Also handelt es sich nicht nur um den Kampf am Engpaß Chatar?«
»Ihr wollt dann gleich weiter? Durch ganz Ardistan? Hinauf nach Dschinnistan?«
»Ja«
»Und diese Hunde sollen mit?«
»Ich denke es!«
»So hast du mich noch immer nicht verstanden! Ich begreife das nicht. Ich habe dir doch gesagt, daß ein Fremder kommen wird, der ...«
Da fiel ich ihr schnell in die Rede:
»Der dir nur dieses vorzuzeigen hat, so gibst du ihm die Hunde, die der Mir von Dschinnistan ausdrücklich für ihn bestimmte!«
Während ich das sagte, zog ich mein Obergewand vorn auseinander und zeigte ihr den Schild auf meiner Brust. Da hielt sie ihr Pferd an, hob die Arme empor und rief:
»Gott sei Dank! So hat auch hier der Glaube über den Zweifel gesiegt! Marah Durimeh hält das Wort, das sie uns gegeben hat! Wir Blinden! Daß du es sein müßtest, das konnten wir uns doch denken! Ich befand mich in großer Verlegenheit. Ich gönnte die Hunde keinem anderen, als nur dir allein, und mußte sie doch für einen anderen aufheben. Nun bist du dieser andere selbst! Wie mich das freut! Hier hast du meine Hand. Ich danke dir!«
Also, anstatt daß ich mich bei ihr bedankte, bedankte sie sich bei mir! Sie folgte da einer Regung, welche nicht oberflächlich, sondern tief zu beurteilen war. Als wir dann weiterritten, war sie sehr still. Sie dachte nach. Erst nach längerer Zeit traten diese ihre Gedanken zutage, indem sie sagte:
»Das Leben ist doch etwas ganz, ganz anderes, als gewöhnliche Menschen denken! Gott dirigiert; gewoben aber wird es nicht nur von uns selbst, sondern außer uns auch von Personen und Kräften, auf die wir zu achten haben; von großen Meisterinnen und Meistern; von Gesellen, die noch nicht Meister sind, und von Lehrlingen, deren Hand, wenn man sich auf sie verläßt, meist alles verdirbt. Die größte Meisterin, der alles gelingt, ist Marah Durimeh. Auch der Dschinnistani war ein Meister. Der Sahahr ist Lehrling. Seine Frau, die Priesterin, denkt schon höher als er. Sie weiß zwar noch nichts, aber sie ahnt den Zusammenhang der Dinge. Ich bin ihre Vertraute, ich allein. Effendi, willst du ehrlich sein und mir aufrichtig bekennen, daß ihr Bild nicht klar und rein vor deinem inneren Auge steht?«
»Ich bekenne es.«
»Es kann nicht anders sein. Aber es tut mir weh, sie von dir noch ungekannt zu sehen. Sie ist edel; sie ist rein. Wenn du mir versprichst, zu schweigen, so will ich dir ein Geheimnis mitteilen, dessen Kenntnis dich befähigt, die Wahrheit zu schauen. Es betrifft den Dschirbani. Wenn ich es dir erzähle, so tue ich das aus zwei Gründen. Nämlich um die Ehre meiner Freundin in deinen Augen zu retten und um dich zu befähigen, meinen Schützling, den Dschirbani, von falschen Gedankenwegen abzulenken. Ihm aber darfst du nur in der höchsten Not etwas davon sagen. Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es.«
»So erschrick nicht über das, was ich dir berichten werde! Du warst bei ihm. Hast du das Grab seiner Mutter gesehen?«
»Ja.«
»So wisse: es ist leer!«
Ich war betroffen, sagte aber nichts und sah sie fragend an.
»Du wirst erschrocken sein«, fuhr sie fort.
»Erschrocken nicht«, antwortete ich. »Doch staune ich, daß er so richtig fühlt und richtig ahnt.«
»Wie? Er ahnt es?«
»Ja. Er bezweifelt, daß seine Mutter gestorben sei. Es gibt Augenblicke, in denen er das Grab mit den Händen aufkratzen möchte, um nachzuweisen, daß der Sarg leer ist.«
»Er ist nicht leer. Er enthält an Stelle der Leiche eine wohlverwahrte Schrift, die alles aufdeckt, was damals geschah. Der Sohn war verreist, um ferne Verwandte zu besuchen. Die Mutter, die wir alle für verwitwet hielten, war also allein. Sie wohnte, wie du weißt, auf der Insel der Heiden. Des Abends, als niemand ihn sah, erschien ihr Mann bei ihr, der Dschinnistani, der bei uns für tot gegolten hatte. Er lebte noch. Er wohnte in Dschinnistan und kam, sie dorthin abzuholen. Aber nur sie, den Knaben nicht. Der hatte noch zu bleiben. Und dennoch wurde er von beiden geliebt, wie nur Vater und Mutter lieben können. Begreifst du das, Sihdi?«
»Sehr gut! Es gab höhere Rücksichten, denen man zu gehorchen hatte. Diese Rücksichten hatten dem Dschinnistani bisher verboten, zurückzukehren oder auch nur etwas von sich hören zu lassen. Sie untersagten ihm jetzt, den Sohn mitzunehmen oder ihm auch nur mitzuteilen, daß der Vater dagewesen sei, um die Mutter zu holen. Diese kam zu euch, um euch das zu erzählen, um Abschied zu nehmen und euch das Wohl ihres Sohnes an das Herz zu legen. Sie war vorher bei ihren Eltern gewesen. Der Sahahr schied im Zorn von ihr. Er jagte sie fort, weil er geistig nicht hoch genug stand, die Verhältnisse, von denen sie sich leiten ließ, zu begreifen. Aber von ihrer Mutter wurde sie verstanden! Die gab ihr sogar ihren Segen mit, ihren Segen und die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen!«
Da hielt Taldscha ihr Pferd wieder an. Sie staunte.
»Woher weißt du das?« fragte sie. »So richtig und so ausführlich! Du kannst es unmöglich wissen und weißt es doch! Es ist ein Wunder!«
»O nein! Es ist vielmehr ganz natürlich! Man kann, ja man muß es sich denken, weil es so außerordentlich einfach ist. Als sie fort war, dünkte es dem Sahahr unmöglich, öffentlich einzugestehen, daß seine Tochter, die spätere Priesterin der Ussul, aus Liebe zu ihrem Mann ihr Land und Volk verlassen habe, um nach Dschinnistan zu gehen. Auch konnte er nicht begreifen, daß eine Mutter dies tun könne, ohne ihr Kind mitzunehmen, ohne es auch nur erst noch einmal zu sehen! Seine Tochter war für ihn eine Verbrecherin. Er begrub sie in seinem Herzen, und er begrub sie auch auf der Insel der Heiden, um das, was er für eine Schande hielt, verschweigen zu können. Aber wie das Begräbnis auf der Insel eine Unwahrheit war, so ist auch das Begräbnis im Herzen eine Lüge. Er hat geglaubt, die Ussul zu täuschen, und täuschte doch vor allen Dingen sich selbst. Wie er weiß, daß seine Tochter körperlich nicht gestorben ist, so weiß er auch, daß sie in seinem Vaterherzen lebt. Das quält und peinigt ihn. Er kann die Lüge nicht loswerden. Sie läßt ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Wie jede Lüge zur Wahrheit treibt, so auch diese. Der Sahahr wird nicht eher Ruhe finden, als bis es an den Tag gekommen ist, daß man in jenem Grab nicht die Spuren des Todes, sondern grad im Gegenteil die Beweise des Lebens zu suchen hat.«
»Hat er mit dir hiervon gesprochen?« fragte sie.
»Nein.«
»Aber woher weißt du das? Ich bin die einzige Vertraute seiner Frau, die Priesterin, und weiß also, daß auch sie dir hiervon nichts verraten hat. Du sagst, es sei so einfach und so selbstverständlich, es sich zu denken, ich aber begreife es nicht.«
»Schau um dich, und schau in dich, so wird dir nicht nur diese, sondern auch so manche andere, scheinbare Unbegreiflichkeit des Lebens sehr leicht verständlich werden. Es gibt ein zweifaches Leben, ein äußerliches und ein innerliches. Das innerliche ist die Hauptsache, denn es gehört der Ewigkeit an. Das äußerliche ist Nebensache, weil es sich aus Vergänglichem zusammensetzt. Das äußerliche ist für das innerliche da, daß es sich offenbare. Man soll durch das Äußere auf das Innerliche schließen. Wer seine Aufmerksamkeit nur auf das Außenleben richtet, der bleibt, mag er nach dieser Richtung hin noch so viel erreichen, in Beziehung auf das eigentliche, höhere, wirkliche Leben doch nur ein armer, beklagenswerter, blinder Mann. Wer sich aber gewöhnt, in allem, was er empfindet, denkt und tut, vom Niedrigen auf das Höhere, vom Körperlichen auf das Geistige und Seelische zu schließen, dem tun sich tausend, tausend Wunder auf, indem er sehen lernt, während der andere erblindet. Vor allen Dingen lernt er, unser gegenwärtiges Leben als einen Anschauungs- und Übungsunterricht zu betrachten, den der Himmel der Erde erteilt, damit sie dann, wenn der Tod die Schule schließt, sich für die neue, herrliche Gotteswelt, in die sie tritt, bereits hier in der alten, nun für sie vergangenen, vorbereitet habe. Wer sich gewöhnt, in dieser Weise zu trachten und zu forschen, der lernt nicht nur, von außen nach innen zu folgern, sondern ebenso auch von innen nach außen zurückzuschließen und kommt dabei zu Erkenntnisschätzen, von denen andere keine Ahnung haben. Was ihr in Beziehung auf den Dschinnistani, seine Frau und seinen Sohn geheimzuhalten trachtet, weil ihr glaubtet, daß es euch vor dem Volk der Ussul bloßstelle, das wiederholt sich täglich und stündlich hier in allerbreitester Öffentlichkeit, so daß es nur die Blinden, von denen ich sprach, nicht sehen.«
»So bin auch ich noch blind?« fragte sie. »Denn ich sehe nichts!«
»Ja«, antwortete ich. »Du glaubst, zu sehen. Aber was in dein Auge fällt, ist nur erst ein leiser, leichter, kaum bemerkbarer Schein des strahlenden Lichtes, für welches sich deine Augen langsam, nach und nach öffnen sollen. Und was ich dir jetzt sagte, das sage ich eben nur dir und niemand anderem. Dein Auge kennt schon jenen leisen, dämmernden Schein, der dir den vollen, hellen Tag verspricht, und ich finde also Glauben, wenn ich von dieser Helligkeit, von diesem Tag zu dir spreche; ein Blinder aber würde wahrscheinlich zweifeln, würde den Kopf schütteln, würde vielleicht gar lachen.«
»Da hast du recht!« sagte sie sehr ernst. »Ein Blinder würde lachen! Ich aber lache nicht! Der ahnende Schein, der meinen Augen gestattet worden ist, stammt aus dem Paradies, dessen irdisches Bild wir während der Nacht in Flammen vor uns liegen sahen. Durch die Worte, die du jetzt zu mir gesprochen hast, will er mir lichter werden. Und wenn ihr nun von hier nach Dschinnistan reitet, begleite ich euch auf den Pfaden meiner Seele hinauf. Wenn ich nicht vorwärts kann, müßt ihr mir Botschaft geben, denn ich will und darf nicht so töricht sein, den Augenblick zu versäumen, an dem die alte, fromme Sage der Ussul zur Wahrheit wird. Komm! Reiten wir weiter nach dem großen Versammlungsplatz, wo die Hukara exerzieren! Bis dahin erzähle ich dir, daß es dem Dschirbani gelungen ist, seinem Großvater, dem Sahar, den alten, schlechten Verband abzunehmen und einen neuen anzulegen, ohne daß dieser es bemerkt hat. Ich glaube, das Leben des Zauberers ist hierdurch gerettet.«
Der Versammlungsplatz war eine große, quadratische Lichtung, wo bei unserer Ankunft ein außerordentlich reges Leben herrschte. Über fünfhundert Hukara exerzierten, und zwar zu Pferde. Eine große Menge von Ussul, Männer, Weiber und Kinder, waren gekommen, um zuzusehen. Der Dschirbani war anwesend; er leitete das Ganze, aber mehr genehmigend als ausführend. Der eigentliche Kommandant war Halef, der eine zwar sonderbare, aber keineswegs lächerliche Rolle spielte. Er, das kleine, schmächtige Kerlchen, saß auf einem so dicken, breiten und fetten Gaul, daß seine Beine nur von der Kniekehle an über den Sattel herunterhingen. Mit den Füßen die Bügel zu erreichen, davon konnte keine Rede sein. Aber er hatte es verstanden, mit Hilfe einiger gut angebrachter Maulknoten in den Zügeln das alte Trampeltier derartig in seine Gewalt zu bringen, daß es gehorchte. Wir hatten unter den letzten Bäumen des Waldes gehalten und ließen uns nicht sehen. Halef führte soeben eine höchstinteressante, taktische Übung aus, die ihm sehr gut gelang. Da seiner Truppe die Gewehre fehlten, konnte er sich nur auf Pfeil und Spieß verlassen. Darum hatte er es seiner Schar vor allen Dingen beigebracht, sich im Gebüsch zu verbergen, aus diesem Versteck zwei oder drei dichte Pfeilwolken schnell hintereinander auf die Gegner niederschwirren zu lassen und dann auf die Erschrockenen mit angelegten Spießen loszugaloppieren. Eine heitere Wirkung brachte es hervor, daß Hu und Hi, die beiden Bärenhunde, dem Hadschi überall auf Schritt und Tritt folgten und immer gleiches Tempo mit ihm hielten. Taldscha versicherte mir, daß sie ihn bitten werde, diese anhänglichen Tiere als ein Geschenk von ihr zu behalten.
Wir hatten uns entfernen wollen, ohne uns gezeigt zu haben, wurden aber entdeckt. Das Auge des Dschirbani war ganz zufälligerweise gerade auf die Stelle gerichtet gewesen, an der wir uns befanden. Da sah er uns. Wir mußten infolgedessen unter den Bäumen hervor. Man freute sich unseres Kommens. Halef verdoppelte sofort seine Tätigkeit und gab sich alle mögliche Mühe, uns zu zeigen, was für ein Exerziermeister er sei. Wir aber stiegen von unseren Pferden und ließen uns bei dem Dschirbani nieder, um die Gelegenheit, mit ihm allein zu sein, zur notwendigen Aussprache mit ihm zu benützen. Mochten andere Leute von Verhandlungen sprechen, und mochten sie so gern glauben, daran beteiligt zu sein, das, was sie als Verhandlung bezeichneten, war doch nur Einbildung. Das, was zu geschehen hatte, ja, vielleicht gar die ganze Zukunft der Ussul, hing in Wirklichkeit lediglich von den zwei Personen ab, mit denen ich jetzt beisammensaß. Mochten die Dinge, die man soeben im Palast beschloß, noch so wichtig erscheinen, die eigentliche und wirkliche Entscheidung hing nur von dem ab, was zwischen uns dreien jetzt besprochen wurde. Der Dschirbani teilte uns mit, daß seine gegenwärtige Botschaft an den Scheich und an die Ältesten vor allen Dingen zwei Zwecke verfolge: erstens solle der Zug gegen die Tschoban nur von ihm und seinen Hukara zu unternehmen und die Beteiligung anderer, etwa gar der Invaliden, unbedingt ausgeschlossen sein, und zweitens sollte der Scheich gezwungen werden, ihn, den am meisten Verachteten, und die zehn Hukara heut mit den Ältesten und den anderen Vornehmen zum Abendessen einzuladen. Diese Einladung war unbedingt notwendig, um die Gleichwertigkeit der Hukara mit allen anderen Ussul festzustellen und dem Hochmut der Ältesten einen Dämpfer aufzusetzen. Erst, wenn das geschehen war, konnte nach dem Essen eine Besprechung der Forderungen erfolgen, welche die Hukara zu stellen, die Ältesten aber zu erfüllen hatten, sollte der Zug nach dem Engpaß überhaupt ermöglicht werden. Es versteht sich ganz von selbst, daß wir ihm recht gaben. Taldscha war überzeugt, daß die Ältesten sich zwar lange weigern, endlich aber doch nachgeben würden. Was mich betraf, so teilte ich meinen Entschluß mit, schon morgen früh mit meinem Halef die Stadt zu verlassen und dem Zug voranzureiten, um Zeit zu finden, die Gegend zu studieren und die Ankunft der Feinde zu erspähen. Ich zählte die Punkte auf, die ich vorzubringen hatte, weil ohne ihre Erfüllung ein Gelingen unserer Pläne nicht möglich war. Besonders betonte ich gute, sichere Zwischenstationen, ausreichende Verpflegung, die eben durch die Stationen ununterbrochen frisch nachzuliefern sei, und vor allen Dingen eine ausreichende Menge von Wasserschläuchen, denn es sei nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich, daß unser Zug dann von dem Engpaß aus nicht heimwärts, sondern quer durch die trockene Wüste der Tschoban nach Norden gehen werde.
So saßen wir weit über eine Stunde lang und brachten alles vor, was wir vorzubringen hatten. Ich kann hier diese hochwichtige Besprechung übergehen, weil sich die Resultate derselben im Verlauf unserer Erlebnisse deutlich zeigen werden. Ganz selbstverständlich verlangte ich, daß die drei gefangenen Tschoban unter sicherer Bedeckung mitgenommen würden, weil sie für uns ein Kapital bildeten, dessen Wert bei den Verhandlungen mit unseren Gegnern sehr schwer in die Waagschale fallen mußte. Und schließlich erklärte ich, daß ich heute abend nicht zum Essen erscheinen werde, auch Halef nicht. Ich war der Meinung, daß der geplante Zusammenprall der neuen mit den alten Anschauungen viel schneller einen friedlichen Verlauf nehmen werden, wenn Fremde nicht zugegen seien. Taldscha gab mir recht. Sie erwies sich überhaupt als eine so verständige, mutige und opferbereite Verbündete, daß ich wiederholt ihre Hand an meine Lippen zog, worüber sie sich außerordentlich freute, weil sie sehr wohl wußte, daß ich es mit dieser Anerkennung ernst und aufrichtig meinte.
Da die Hukara ihre Übungen noch bis zur Dämmerung fortsetzen wollten, so stiegen wir zwei wieder zu Pferde und verabschiedeten uns von Halef und dem Dschirbani. Der letztere fragte mich, ob ich heute um Mitternacht der Einsegnung seiner Krieger beiwohnen werde, und als ich ihm antwortete, daß dies ganz selbstverständlich meine Absicht sei, bat er mich, eine Stunde eher zu kommen und auf der Zinne des Tempels auf ihn zu warten, damit er mir über die Ergebnisse des Abends Bericht erstatten könne. Ich sagte zu und ritt dann mit der Frau des Scheichs fort und in die Stadt zurück. Aacht und Uucht, meine beiden edlen Hunde, hatten während dieser ganzen Zeit ruhig neben mir gesessen und sich durch kein Geschrei und keinen Lärm der Reiterei aus ihrer Ruhe bringen lassen. Nur einmal, als Halef mit seinen beiden Bärenhunden zu uns kam, hatten sie leise, leise mit den Spitzen ihrer Schwänze gewackelt und ein wenig mit den Ohren gezuckt, genau so, wie der hochgeborene blaublütige Orientale einen unter ihm stehenden Menschen auch nicht mit dem ganzen »Salam aleikum«, sondern nur mit den beiden Wortanfängen »Sal-al« begrüßt. Wäre ich mein Hadschi Halef Omar gewesen, so hätte ich geglaubt, daß ein Abglanz dieser Hoheit auch auf mich, den Herrn, gefallen sei!
Unterwegs begegneten uns die zehn Abgesandten der Hukara, die nach dem großen Versammlungsplatz gingen, um ihrem Kommandanten Bericht zu erstatten. Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten, aber nicht, weil man ihnen recht gab, sondern, wie es den Anschein hatte, nur um sie loszuwerden. Heute abend aber sei der Dschirbani selbst dabei; da werde man in einem anderen Ton mit den Ältesten reden! So sagten und so erzählten sie uns; dann gingen sie weiter.
Zu Hause angekommen, verbrachte ich die Zeit bis zur Dämmerung damit, unser Sattel- und Riemenzeug nachzusehen, meine Gewehre und Revolver instand zu setzen und meinen Anzug, soweit es nötig war, zu reparieren. Das tut man am besten immer selbst. Dann kam Halef. Er war überglücklich und überschwemmte mich sofort mit einer Fülle taktischer und strategischer Pläne, daß ein freundliches und ein feindliches Heer von je einer Million Soldaten dazu gehört hätte, nur die Hälfte von ihnen wenigstens auszuprobieren. Ich ließ ihn reden und hörte lächelnd zu. Er hatte sich den ganzen Nachmittag lang ehrlich geplagt, und so war ihm diese Art von Selbstbelohnung, die er sich erteilte, wohl zu gönnen. Der Fluß seiner Rede stockte nach und nach ganz von selbst, je mehr er bemerkte, daß ich ihm zwar meine Aufmerksamkeit schenkte, selbst aber kein einziges Wort zur Sache sprach.
»Was ist das, Sihdi?« fragte er mich: »Du redest nicht. Warum?«
»Weil du redest,« antwortete ich. »wenn zwei sich miteinander unterhalten, so erfordert die Höflichkeit, daß der eine schweigt, während der andere spricht.«
»So habe ich wohl unaufhörlich gesprochen?«
»Ja.«
»Dir keine Lücke gelassen, einzuspringen?«
»Keine.«
»So bitte ich dich um Verzeihung! Aber mein Herz ist voll, und mein Kopf gleicht einem Lesebuch, in welches tausend Feldherren und zehntausend Helden ihre Erfahrungen und Kenntnisse eingetragen haben! Sihdi, ich verlange Krieg! Ich muß Krieg haben, unbedingt Krieg! Denn nur durch Krieg und wieder Krieg und zum dritten Mal Krieg kann ich dir zeigen, was für ein außerordentlicher, ganz unvergleichlicher und berühmter Kerl ich bin! Glaubst du das! Und begreifst du das?«
»Ja. Ich habe es selbst erlebt.«
»An mir und anderen. Auch ich bin das gewesen, was du noch heute bist!«
»Was?«
»Ein Knabe! Ein dummer Junge!«
»Oho! Was soll das heißen?« fuhr er auf.
»Genau das, was ich damit sagen will! Ich habe als Knabe mit anderen dummen Jungen sehr oft Soldaten gespielt. Fast regelmäßig endete das Spiel mit einer wirklichen, ernst gemeinten Prügelei. Und ebenso regelmäßig brachten wir derartige Spuren des Kampfes mit heim, daß unsere lieben, zärtlichen Väter und Mütter, die leider nicht von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen waren, dann zu den Stöcken griffen, um uns die hohe Politik und Strategie zu vertreiben.«
»Und das hast du erlebt? Wirklich selbst erlebt?«
»Jawohl!«
»Wirkliche Schläge bekommen, wirkliche Prügel?«
»Wirkliche! Ich fühle sie noch heut!«
»Und das sagst du, ohne dich zu schämen?«
»Schämen? Ich bin stolz darauf!«
»Pfui! Effendi, du hast kein Ehrgefühl! Ich kündige dir meine Freundschaft! Oder meinst du, daß es ehrenvoll ist, sich im Kampf als Held und Sieger zu gebärden und dann, wenn man nach Hause kommt, vom Vater Prügel zu erhalten? Mein Vater hat das nie getan!«
»Der meine aber stets! Er war vernünftig und betrachtete mich und die Prügelei mit himmlischen, nicht aber mit irdischen Augen!«
»Mit himmlischen? Ah, verzeih, Sihdi! Du hast ironisch gesprochen! Du hast es bildlich gemeint, wie fast immer, wenn ich Dummheiten mache! Du meinst mit deinem Vater also Gott?«
»Ja. Und nun frage ich dich: Was hilft mir, dem kurzsichtigen Knaben, mein ganzer Ruhm vor andern kurzsichtigen Knaben, wenn ich dadurch den Vater, anstatt ihm zu gehorchen und ihm Freude zu machen, mit aller Gewalt zwinge, mich hinterher immer wieder von neuem zu verhauen, zu verwichsen und zu versohlen? Schau in die Weltgeschichte! Wie mancher Knabe hat sich mit andern, bessern und edleren Knaben herumgeschlagen, anstatt sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich naturgemäß und friedlich entwickeln könnten! Und dann am Schluß: Wer hat den Schaden auszugleichen, die Risse und Schmisse zu heilen, die Verluste zu ersetzen, die Spuren zu tilgen gehabt? Etwa der sogenannte Held? Der sicher nicht! Wir wissen ja heut, daß ihn der Vater dann hernahm und ihm den Stock zu kosten gab!«
»So bist du also gegen den Krieg?«
»Nicht gegen den heiligen Krieg, den Gott gesegnet hat und immer segnen wird! Das ist der Krieg, in dem die Menschheitsseele in eigener Person zum Schwert greift, um den Entwicklungsgang der Sterblichen zu schützen. Stets aber bin ich gegen den Krieg unter Knaben, der nur den Zweck hat, um eines kulturgeschichtlich unreifen Apfels willen einander Hose und Rock zu zerreißen und dann die Nadel und den Zwirn der Mutter und den Stock des Vaters in Bewegung zu setzen. Frag die Völker, denen das grausame Los beschieden war, infolge solcher Versündigungen an Gottes ›Friede auf Erden‹ jahrhundertelang zu hungern und zu kummern, um abzubüßen, was Knaben sündigten! Und ich bin ganz besonders gegen jeden Krieg, der sich auf das armselige, elende Gerede gründet, das ich vorhin aus deinem Mund vernommen habe: ›Sihdi, ich verlange Krieg! Ich muß Krieg haben, unbedingt Krieg! Denn nur durch Krieg und wieder Krieg und zum dritten Male Krieg kann ich dir zeigen, was für ein außerordentlicher, ganz unvergleichlicher und berühmter Kerl ich bin!‹ Halef, ich kenne dich anders, als du dich da gezeichnet hast, und das ist dein Glück! Denn wenn dir diese Verlästerung unserer herrlichen Marah Durimeh wirklich aus dem Herzen gekommen wäre, würde ich dich auf der Stelle zum Teufel jagen!«
»Würdest du das? Wirklich?« fragte er kleinlaut.
»Ja, und zwar sofort!«
»So ist es ein wahres Glück, daß man grad jetzt in diesem Augenblick das Abendessen bringt! Setz dich, Effendi! Setz dich, und iß! Ich lege dir vor! Ich schneide dir alles zurecht! Ich selbst! Du ersiehst daraus, wie sehr ich dich liebe, wie gern ich dir gehorche und daß wir eigentlich ein Herz und eine Seele miteinander sind! Von diesem Krieg aber sprechen wir nicht weiter! Ich brauche ihn ja nicht! Ich bin auch ohne ihn berühmt! Und was du nicht willst, das mag ich auch nicht haben! Komm also, iß! Du siehst, ich kaue schon!«
Wir befanden uns in der Stube. Die Diener hatten das Essen gebracht, weil ich gesagt hatte, daß wir nicht kommen würden. Das war Wasser auf Halefs Mühle. Er nahm ihnen alles schnell ab und schob sie dann wieder hinaus, um mich selbst bedienen und dadurch besseres Wetter erwirken zu können. Dennoch verlief das Essen fast ohne jedes Wort. Nicht etwa, daß ich ihm zürnte, sondern weil er Zeit und Stille brauchte, über sich nachzudenken. Und überdies war für ihn, ohne daß er es ahnte, grad heut ein wichtiger Tag. Er sollte heut zum letzten Male der sein, der er bisher gewesen war. Ich wünschte, daß mit seinem äußeren Ritt hinauf nach Dschinnistan auch seine innere Läuterung und Erhebung beginne. Um dies zu erreichen, mußte ich ihn anders behandeln als bis jetzt. Sein Wille war gut, aber seine innere Kraft bedurfte eines festen, immerwährenden Haltes. Und der hatte ich ihm zu sein, nur ich allein, weiter keiner!
Als er mich nach dem Essen fragte, womit wir nun den Abend auszufüllen hätten, sagte ich ihm, daß ich jetzt auf die Zinne des Tempels steigen werde, um das »Feuer der Berge« zu betrachten. Was ich erwartet hatte, das geschah: Er bat mich, ihn mitzunehmen, und ich willigte ein, denn grad diese Bitte war ja mit berechnet worden. Der Eindruck, den ich erwartete, sollte in ihm die Pforte öffnen, die, wenn sie sich dann einmal hinter ihm geschlossen hatte, ihm nicht erlaubte, jemals wieder in sein früheres Naturell zurückzukehren.
Wir fanden die Tür des Tempels geöffnet. Es wurden für den heutigen Einsegnungsgottesdienst neue Lichter aufgesteckt. Das gab uns Gelegenheit, die hohe Treppe einigermaßen erleuchtet zu finden, so daß Halef mir folgen konnte, ohne sich allein nur auf den Tastsinn verlassen zu müssen. Als wir oben aus dem Innern in das Freie traten, rief Halef aus:
»Ia Maschallah – welch ein Gotteswunder! Schau, Sihdi, schau! Die Erde steht in Flammen!«
Er war sehr wohl zu diesem Ausruf berechtigt. Im Norden von uns loderten fünf, sechs gewaltige Flammen hoch zum Himmel empor. Von uns aus hatte es sogar den Anschein, als ob sie das Firmament erreichten und die Sterne verdunkelten. In Wahrheit aber stiegen sie, wie jedes irdische Licht, nicht über den Dunstkreis ihres Entstehungsortes hinaus. Ein starker Luftzug trieb sie hin und her; sie loderten, zogen ihre Riesenleiber bald tief und breit zusammen, bald streckten sie sie dünn und lang empor bis in die Wolken. Eine dunkle Färbung dämpfte ihren Schein; er war matt und vermochte nicht, wie gestern, das Dünkel unserer Nacht zu mildern.
Da plötzlich sanken sie in sich zusammen; sie verschwanden. Es wurde auch da, wo sie soeben noch gelodert hatten, dunkle Nacht. Darum traten nun auch an dieser Stelle die Sterne ebenso hervor wie anderwärts. Aber die Kraft, welche unterirdisch arbeitete, ruhte nicht. Die Erde zitterte leise. Man vernahm und empfand ein knirschendes Rollen. Wir hatten das Gefühl, als ob die Zinne des Tempels hin- und herzuschwanken beginne. Darum setzten wir uns. Da plötzlich gab es einen Stoß und gleich darauf einen Krach wie von vielen ungleich starken und darum ungleich klingenden Kanonenschlägen. Ein Feuerstrom entstieg der Erde, doch nur für einen kurzen Augenblick. Nichts folgte nach. Erst glich er einer hohen, runden Säule. Dann nahm er die Gestalt einer Birne an, mit dem Stiel nach unten. Nach und nach näherte sich diese Gestalt der Kugelform, worauf sie sich in sich selbst zusammenzog und allmählich erlosch.
»Allah ist groß!« rief Halef aus. »Sihdi, so etwas habe ich noch nicht gesehen!«
Er faltete die Hände. Er war hingerissen und tief im Innern bewegt! Da tat es einen zweiten, lauten Knall. Ein Schwaden brennender Gase fuhr empor, um sofort zu zerstäuben. Ihm folgte eine dunkelglühende, schwere, dicke Masse, die zu kochen schien. Sie flog nicht in die Höhe, nein, sondern sie stieg langsam, ganz langsam, wie eine nur halbflüssige, quellende Masse, der nach und nach mehr zugegossen wird. Und je mehr sie stieg, desto dunkler wurde sie, desto mehr verlor sie die Glut, desto weniger bewegte sie sich in sich selbst, und desto schärfer wurden die Konturen, die sie bekam. Dann stand sie fest, still, unbeweglich, wie ein kolossaler Serpentinquader mit Reliefornamenten an den Ecken und Kanten, der von innen erleuchtet wird. Das sah aus wie ein riesiger Altar, an welchem unsichtbare Giganten beschäftigt sind, ein nächtliches Feueropfer zu bringen. Und das Feuer blieb nicht aus. Der Altar öffnete sich. Es entstieg ihm ein so gewaltiges Flammenmeer, daß es ihn selbst verzehrte, nach allen Richtungen hin weit auseinanderfloß und die Nacht ringsum in Tag verwandelte. Doch dieser Tag war nicht hellen, klaren Angesichts, sondern dunkelorangegelb, und in der Mittellinie der Eruption arbeitete eine immer höher aufsteigende, finstere Rauch- und Schlackenesse, welcher große Massen unreiner Asche entströmten, die, indem sie sich ausbreiteten, den Himmel des Nordens gänzlich unsichtbar machten und einen Eindruck hervorbrachten, als ob Mensch und Tier sich vor Entsetzen verkriechen müsse. Mich faßte Grauen. Halef wurde noch tiefer erschüttert. Er glitt von seinem Sitz herab, kniete nieder, faltete die Hände und betete:
»Im Namen des allbarmherzigen Gottes. Der Klopfende! Wer ist der Klopfende? Wer lehrt dich begreifen, was der Klopfende ist? An jenem Tag werden die Menschen sein wie umhergestreute Motten und die Berge wie verschiedenfarbige, gekämmte Wolle. Der nun, dessen Waagschale mit guten Werken beladen sein wird, der wird ein glückliches Leben führen, und der, dessen Waagschale zu leicht befunden wird, dessen Mutter wird der Abgrund der Hölle sein. Was lehrt dich aber begreifen, was der Abgrund der Hölle ist? Es ist das glühendste Feuer!«
Das war die hundertunderste Sure des Korans. Der Mensch mag sich in späteren Jahren noch so sehr von den Anschauungen seiner Jugend entfernen, bei tiefen, seelischen Erregungen wird er aber stets zu den Bildern, Ausdrücken und Hilfsmitteln seiner ersten Lebenszeit zurückkehren. So auch mein Halef jetzt. Er war Maghrebiner, das heißt, er stammte aus dem Westen von Nordafrika. Dort ist es üblich, in der Angst vor Tod und Verdammnis die hundertunderste Sure zu beten. Und obwohl Halef in seinem Innern schon längst Christ geworden war, flüchtete er sich in seiner jetzigen, außerordentlichen Ergriffenheit zum Gebet seiner Kindheit zurück, weil diese Kindheit ihm den Glauben gab, der überhaupt beten lehrt. Meinen kleinen Hadschi beherrschten keine höheren Erwägungen, sondern Naturell und Temperament. Seine Seele war noch Leibesseele, nicht aber schon Geistesseele; sie trachtete vor allen Dingen nach dem körperlichen anstatt nach dem geistigen Wohl; sie verwechselte in Beziehung auf Leib und Geist den Herrn mit dem Knecht, die schaffende Hand mit dem Werkzeug, die Ursache mit der Folge. Sie hatte noch nicht jenen Schritt getan, welcher sich vom Leib zum Geist, vom Vergänglichen zum Ewigen wendet und wurde darum von dem sich vor unsern Augen entwickelnden, rein physikalischen Schauspiel viel tiefer und nachhaltiger bewegt, als durch eine noch viel wunderbarere Erscheinung auf rein geistigem Gebiet. Ich hoffte aber, daß die erwähnte Wendung zum Höheren sich heut durch den Anblick des packenden Naturereignisses in ihm vorbereiten werde, und hütete mich darum, diesen Vorgang dadurch zu stören, daß ich meine Gefühle in Worte kleidete. Auch ich konnte und wollte mich der vollen Wirkung dieser wunderbaren Erscheinung nicht entziehen. Und auch ich fühlte in mir das unwiderstehliche Bedürfnis, den in mir erklingenden Tönen und Akkorden äußerlich Ausdruck zu geben. Aber während der Hadschi, der Erdenmensch, sich ohne eigene Gedanken in geistiger Hilflosigkeit an Mohammed wendete, stieg in mir ganz plötzlich ein Strahl der Erkenntnis noch viel lichter und noch viel höher auf, als da draußen die Aschenflamme der Vulkane von Dschinnistan, so daß ich mich beeilen mußte, das Notizbuch zur Hand zu nehmen, um das, was an mich herantrat, festzuhalten. Es war ja hell genug zum Schreiben.
Als ich fertig war, fragte Halef, der nun wieder neben mir saß, ob er das, was ich geschrieben hatte, hören dürfe.
»Es ist ein Gedicht«, antwortete ich. »Man liest Gedichte nicht vor, zumal in solchen Augenblicken. Aber um deinetwillen soll die Ausnahme gelten, nicht die Regel. Du hast nur den Flammen- und Aschenstrahl gesehen, weiter nichts. Mir aber wurde mehr gezeigt als dir. Und was ich da sah, und was ich da beschloß, das sollst du hören. Die Zeilen sind deutsch. Ich werde versuchen, sie dir samt den Reimen zu übersetzen.«
Ich las ihm die sechzehn Zeilen vor, langsam und deutlich. Er hörte sehr aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, bat er mich, es noch einmal zu tun, da er noch nicht alles verstanden habe. Natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Das, was er hörte, lautete zu deutsch:
Entschluß.
Ich saß so manchen langen Tag
Bei dir vor dem Katheder,
Jedoch, was deine Weisheit sprach,
Das wußte fast schon jeder.
Ich saß so manche lange Nacht,
Um dich auch noch zu lesen,
Doch, was du mir da eingebracht,
Ist nicht von dir gewesen.
Und gestern hab' ich dich belauscht,
Als du die Psalmen lasest
Und, wie von ihrem Duft berauscht,
Die Weisheit ganz vergaßest.
So stell' ich nun das Grübeln ein
Und will dich nicht mehr fragen.
Der Herrgott soll Professor sein;
Der wird mir alles sagen!
Als ich zum zweiten Male fertig war, schwieg Halef. Er hielt seinen Blick nach Norden gerichtet, um das Erstaunliche voll und ganz in sich aufzunehmen, und äußerte zunächst kein Wort. Nach einiger Zeit aber sagte er:
»Du hast recht, Effendi. Ich habe weniger gesehen, als du, nicht nur heute, sondern immer, immer. Daran bin ich aber nicht schuld, sondern Allah. Wo etwas Schönes, Edles, Beglückendes, Großes, Erhabenes geschieht, da ist euer Gott und Vater stets zu finden, unser Allah aber nie! Der bewacht für seine Gläubigen die sieben Paradiese und rasselt gegen die Ungläubigen mit dem Säbel! Den Gedanken deines Gottes und Vaters findest du in jedem, auch im kleinsten seiner Werke; der Gedanke Allah aber steckt weder in der Morgenröte, noch in der Zärtlichkeit der Nachtigall oder in der Lieblichkeit der Blume auf dem Feld. Wir sind arm, bitter arm! Wir kennen kein liebes, freundliches Band, welches die irdische Natur mit dem himmlischen Schöpfer vereint. Allah spricht weder im Donner noch im Blitz, weder im Sausen des Sturmes noch im Brausen des Meeres. Er ist überhaupt gern still. Er hat, glaube ich, nur ein einziges Mal gesprochen, durch Mohammed. Und auch das war nicht er selbst, sondern der Erzengel, den er sandte. Euer Vater aber ist überall! Du bist Dichter! Jeder Baum erzählt dir von ihm; hinter jedem Strauch lugt sein gütiges Auge hervor, um dir Liebe zu erweisen. Allah aber wohnt nur in den alten, schmutzigen, leblosen, papierenen Blättern des Korans, sonst nirgendwo! Sihdi, glaube mir, es gibt mehr, viel, viel mehr Gottessehnsucht auf Erden, als du denkst! Aber es fehlt an einem andern und natürlichen Weg, Gott kennenzulernen, als durch den Koran oder durch den Sahahr!«
»Es gibt einen anderen Weg!« antwortete ich.
»Wo?«
»Hier! Von diesem Tempel aus! Es ist der Weg, den wir morgen früh zu reiten haben. Der Weg vom Land der Ussul hinauf nach Dschinnistan.«
Um die Richtung, die ich meinte, anzudeuten, hob ich den Arm und zeigte nach Norden, wo die Glut der Erde zum Himmel flammte, als ob sie die Sehnsucht, von der Halef gesprochen hatte, zu versinnbildlichen habe.
»Gibt es da oben wirklich den Vater, nach dem die Menschheit sucht?« fuhr Halef fort. »Ich sehe da oben nur Berge, die Feuer speien. Das überwältigt mich, gibt mir aber keine Antwort auf meine Frage. Du aber hast, wie Moses einst im glühenden Busch, in diesem Feuer Gott gesehen und bist dir sofort darüber klargeworden, daß nur er allein Professor sein und bleiben könne. Ist es denn möglich, daß auch ich zu einem solchen scharfen Auge und zu einer so beseligenden Erkenntnis komme?«
»Nicht nur möglich, sondern wirklich!«
»Wieso?«
»Du selbst hast es bewiesen. Deine ersten Worte, als du hier heraufkamst, waren: ›Welch ein Gotteswunder!‹ und ›Allah ist groß!‹ Du hast also sofort und wiederholt in diesem Feuer wenn auch nicht Gott erkannt und gesehen, aber doch seine Macht und sein Wirken herausgefühlt. Es wird ...«
»Sei still! Sei still und schau!« unterbrach er mich, indem er an das Geländer trat und seine ganze Aufmerksamkeit nach den Bergen richtete.
Dort dunkelte es für einen Augenblick, und dann begannen die gestrigen Erscheinungen sich in ganz genau derselben Art und Weise und in ganz genau derselben Reihenfolge abzuspielen, wie ich sie beschrieben habe.
»Das ist ja das Paradies!« rief er aus, als sich die Feuermauer bildete und dann das große Tor sich öffnete. »Das ist ja die Sage der Ussul! Von der großen Engelsfrage, ob Friede auf Erden sei, und von dem Gott, der aus dem Paradies herniedersteigt, um – still, sei still, und störe mich nicht!«
Ich hatte gar nichts gesagt und auch nichts sagen wollen. Er sank wieder auf die Knie nieder, legte die Arme auf die Balustrade, faltete die Hände und hing sich mit den weit und begierig geöffneten Augen so fest an das sich vor ihm entwickelnde Bild, daß es eine Sünde von mir gewesen wäre, seine Aufmerksamkeit von dort ablenken zu wollen. Da blieb er knien, bis das Paradies verschwunden war und noch beträchtliche Zeit länger. Er sog den Anblick in sich wie ein Verdurstender, dem man Wasser reicht. Er rückte in unbeschreiblicher Spannung auf den Knien hin und her. Er sprang wiederholt vor Erregung auf, um sich aber gleich wieder niederfallen zu lassen. Er ließ die verschiedensten Ausrufe hören, und als er sich endlich zu sehr ergriffen fühlte, hob er die Arme hoch empor und betete die »Beschließerin«, die hundert Namen Gottes:
»O Allbarmherziger! O Allerbarmender! O Allbesitzender! O Allheiliger! O Allfehlerfreier! O Allsichernder! O Allbedeckender! O Allgeehrter! O Allersetzender! O Allherrlicher! O Schöpfer! O Allhervorbringender!« und so weiter bis zum Schluß: »O Allwundervoller! O Allwährender! O Allerbender! O Allgerader! O Allgeduldiger! O Gott!«
Durch das laute Hersagen dieses langen mohammedanischen Gebetes war er innerlich zwar noch nicht ganz wieder auf das gewöhnliche Niveau herabgestiegen, aber doch nun so weit gelangt, sich wieder mit mir beschäftigen zu können.
»Sihdi«, sagte er, »lache mich nicht aus! Ich habe einen Wunsch, einen großen, mächtigen Wunsch, der mir aber leider nicht erfüllt werden kann.«
»Warum nicht?« fragte ich.
»Weil seine Erfüllung überhaupt unmöglich ist. Ich möchte nämlich so gern ein Engel sein!«
Er sagte das im vollsten Ernst. Hundert andere hätten wohl über diesen seinen Wunsch gelacht; ich aber blieb nicht nur ernst, sondern ich freute mich sogar über ihn, und zwar von ganzem Herzen.
»Ein Engel möchtest du sein?« fragte ich. »Nun, so sei doch einer!«
»So sei doch einer!« wiederholte er meine Worte im Ton des Erstaunens. »Als ob das nur so auf mich ankäme!«
»Auf wen denn sonst?«
»Sihdi, du scherzest! Aber ich sage dir: Wenn ich ein Engel wäre, so würde ich gewiß nicht einer von denen sein, die immer hundert Jahre lang warten und dann einmal zur Tür herausschauen, ob endlich auch Friede auf Erden sei. Sondern ich würde zum Herrgott gehen und offen und ehrlich zu ihm sagen: ›Laß mich hinaus! Ich will mit der Menschheit reden! Mit dem ewigen Warten erlangen wir nichts! Und das bißchen Licht, alle hundert Jahre einmal, das reicht kaum bis zur nächsten Woche! Die Menschen tun nichts von selbst! Sie verlangen, daß man sich Mühe mit ihnen gebe. Und so bitte ich dich, mich hinabzusenden, um ein ernstes Wort mit ihnen zu reden! Sie sind gar nicht so widerstrebend, wie es scheint, sie sehnen sich auch nach Frieden, nach Glück! Es muß ihnen nur richtig gesagt werden, nämlich vom richtigen Mann, zur richtigen Zeit und in der richtigen Weise. Aber grad hieran hat es bisher gefehlt. Sobald ich hinunterkomme, wird es anders. Ich rede ihnen ins Gewissen. Schnell geht das freilich nicht. Sogleich komme ich nicht zurück. Aber ehe die hundert Jahre vergangen sind, bin ich wieder da; darauf kannst du dich verlassen!‹ So würde ich mit ihm reden, Sihdi, und ich bin überzeugt, daß er einverstanden wäre! Die Engel sind doch nicht etwa da, um hundert Jahre lang für sich zu leben und dann der Menschheit nur einige kurze Tage oder Stunden zu widmen! Du weißt doch, was ein Engel ist?«
»Ja«, antwortete ich.
»Und du glaubst, daß es Engel gibt?«
»Selbstverständlich!«
»Es soll aber Leute geben, die es leugnen?«
»Die gibt es allerdings, und doch möchte ich zugleich auch sagen: nein, die gibt es nicht. Es kommt ganz darauf an, zu welcher Meinung man sich stellt. Die einen behaupten, Gott habe Legionen himmlischer, unsichtbarer, reiner Wesen geschaffen, die hoch über dem sündhaften, abgefallenen Menschen stehen und doch dazu bestimmt sind, ihm zu dienen. Und die andern beteuern, daß dies unmöglich sei, weil es gegen Gottes Weisheit und Gerechtigkeit verstoße, denn die Erde würde dann für die Engel eine wahre Hölle sein, und wie kämen denn die Menschen dazu, von Wesen bedient zu werden, die unendlich wertvoller sind als sie? Die Heilige Schrift spreche zwar von Engeln, aber das sei nur die bekannte orientalisch-bildliche Ausdrucksweise. Unter der Bezeichnung Engel seien nur gute Menschen gemeint, die ihre höhere Einsicht, ihre Güte und Liebe dem Bedürftigen zur Verfügung stellen, ohne einen Lohn zu erwarten.«
»Und welche Meinung von beiden ist wohl die deinige, Sihdi?«
»Ich glaube, was die Bibel sagt, und ich glaube auch an das, was mir das Herz sagt. Und dieses Herz stellt es mir als mit der Zeit erreichbar hin, daß ein jeder Mensch, wenn er es nur will, recht wohl der Beschützer, Helfer und Engel seiner Nebenmenschen sein kann. Darum ...«
Ich mußte die Rede abbrechen, weil jetzt der Dschirbani kam. Halef rückte nach der äußersten Ecke der Bank. Der junge, geistvoll ernste Ussul kam ihm nicht nur körperlich als Riese vor. Der Dschirbani grüßte kurz und freundlich und trat dann an die Balustrade. Er schaute geradeswegs in das soeben wieder hoch emporlodernde Feuer der Berge. Seine riesige Gestalt stand wie in Flammenglut. Dann sagte er:
»Und da hinauf wollen wir! Mitten durch diese Feuersbrunst und den Brand hindurch. Wie schwer, wie schwer! Und wie gefährlich! Mein Vater sagte, wenn er von seiner Heimat sprach, daß nur der nach Dschinnistan gelange, der einen Schutzgeist, einen führenden Engel findet.«
Hierauf nahm er an meiner Seite Platz und gab mir Kunde von dem Verlauf des Abendessens und der darauffolgenden Besprechung seiner Forderungen. Er hatte einen vollen und ganzen Erfolg errungen, nichts war ihm abgeschlagen worden. Und er gestand es fröhlich ein, daß er das nicht etwa seiner Klugheit und Geschicklichkeit im Verhandeln, sondern nur dem Einfluß der Herrin der Ussul zu verdanken habe.
Nun sahen wir einen langen Fackelzug, der sich von weit draußen her dem Tempel näherte.
»Das sind meine Hukara. Es ist fast Mitternacht«, sagte der Dschirbani. »Siehst du die Menschenmenge auf dem Platz?«
Erst jetzt bemerkte ich, von ihm darauf aufmerksam gemacht, daß sich eine große Menge vor dem Tempel angesammelt hatte. Alle waren so still, so ruhig! Wie sonderbar doch diese halbwilden Menschen sind!
»Sie wollen der Einsegnung zuschauen«, erklärte mir mein junger Freund, »dürfen aber nicht eher hinein, als bis geläutet wird.«
»Geläutet?« fragte ich. »Gibt es hier Glocken?«
»Nein. Wir läuten mit Hörnern.«
»Mit solchen, wie ich heut bei dir gesehen und gehört habe?«
»Ja.«
Wir hörten unter uns die Räder des großen Leuchters schwirren. Er wurde angebrannt. Der Fackelzug erreichte den Platz, marschierte rund um ihn herum und verschwand dann im Eingang des Tempels, ohne daß die Fackeln ausgelöscht wurden. Dann begann das Läuten. Zunächst erklang ein einzelner, tiefer, außerordentlich starker, langgezogener Ton. Ihm folgten drei andere Töne von verschiedener Höhe. Diese vier Töne wurden zunächst zusammen lang ausgehalten, dann aber, wie läutende Glocken, einzeln angeschlagen, wie ein gebrochener Akkord. Das machte auf uns, die wir hoch oben standen, wo die Tonwellen sich alle vereinigten, einen so gewaltigen Eindruck, daß es gar nicht möglich ist, ihn durch Worte auch nur anzudeuten. Es war, als sei die Zinne, auf der wir standen, ein kleines Boot, das auf einem brausenden Meer von Tönen und Akkorden umhergetrieben wurde, das nicht zur Ruhe kommen konnte, indem der Grundton seine sehnsuchtsvollen Rufe immer wieder von neuem begann. Wer das hörte, den zog es mit innerer Gewalt zum Tempel hin.
Aber außer diesen Tönen sammelte sich noch etwas anderes grad unter unsern Füßen, nämlich der Rauch und Qualm von über sechshundert Fackeln, die im Innern des Tempels brannten. Dieser böse, dicke Dunst gelangte zwar auch zwischen den Holzsäulen, welche das Dach trugen, heraus in das Freie. Er entschlüpfte dort dem Innern und bildete, indem er sichtbar rund um uns aufstieg, einen fast erstickenden Ring um uns, der uns die freie Aussicht nach den Bergen und nach dem Himmel raubte. Aber die hartnäckigsten und stinkigsten Schwaden legten sich grad unter unsern Füßen an, und es war nicht tröstlich, uns sagen zu müssen, daß wir uns da hindurchzuatmen hatten, um dorthin zu gelangen, wo man uns erwartete.
»Das ist schlimm!« lächelte der Dschirbani. »Hoffentlich ersticken wir nicht! So wie uns jetzt, muß es dem Gott zumute sein, wenn er aus dem Paradies tritt, um nach Ardistan zu gehen! Und so muß es jedem reinen Geist und jedem edlen Menschen grauen, in die Atmosphäre derer, die in Stickluft leben, hinabzusteigen. Weißt du Sahib, daß wir für immer von hier gehen?«
»Ja.«
»Tut es dir nicht leid?«
»Nein. Die einzige, die mich hier halten könnte, Taldscha, folgt uns ganz sicher nach.«
»Das denke auch ich. Reichen wir uns die Hände, daß einer den andern in der Ohnmacht halte und stütze! Nur einmal noch durch diesen Dunst und Rauch und Qualm der Tiefe! Dann aber fort, empor zur reinen, freien Luft von Dschinnistan!«
Wir öffneten den nach unten führenden Treppenweg. Ein fürchterlicher Brodem von Ruß und Pech und Teer drang uns entgegen. Wir aber mußten hindurch. Wir nahmen uns bei den Händen. Hinein, hinein! Hinunter!