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Zweites Kapitel.

Der »Panther«

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, eine zusammenhängende und lückenlose Beschreibung unseres Rittes zu geben. Ich habe lediglich das zu erzählen, was für den Grundgedanken, den ich verfolge, von Bedeutung ist, und kann daher nur sagen, daß wir volle drei Tage lang die Küstenniederung durchquerten, ohne daß etwas Wichtiges oder auch nur Erwähnenswertes geschah. Ich sorgte während dieser ganzen Zeit zwar dafür, daß wir die Richtung nach dem Binnenland einhielten, stellte mich dabei aber so, als ob Halef der Führer sei und ich ihm ohne eigenen Willen folge. Ich freute mich schon im voraus auf das Gesicht, welches er machen würde, sobald es sich herausstellte, daß er der gar nicht sei, für den er sich hielt.

Für Essen brauchten wir in diesen Tagen nicht zu sorgen; wir waren von Schakara mit Vorrat versehen worden. Geschlafen wurde an geeigneten Stellen des Waldes, wo es trockenen Boden und möglichst wenig Mücken gab, die überhaupt eine große Plage dieser tiefliegenden Gegend bildeten. Am Morgen des vierten Tages veränderte sich das Land. Es wurde trockener, und der Urwald bekam Bäume, welche die Nässe weniger lieben als der bisherige Mangrovewald. Es bildeten sich wiesenartige, freiliegende, grüne Flächen, die unsern Pferden gutes und wohlschmeckendes Futter boten. Wir kamen an lebendige Wasserläufe, die man getrost als Bäche bezeichnen konnte. An geeigneten Stellen bildeten sich von ihnen Teiche und Seen, an und in denen es ein außerordentlich reges Tierleben gab. Auch Menschen schienen hier zuweilen zu verkehren; wir fanden Spuren davon. Diese Spuren waren alt, schon fast ganz verwischt. An einer Stelle aber, wo sie durch hohes Gras führten und sich in demselben kreuzten, als ob hier sehr eifrig nach irgend etwas gesucht worden sei, schienen sie jüngeren Datums zu sein, so daß es angezeigt war, sie zu untersuchen. Ich hielt darum mein Pferd an.

»Warum nicht weiter?« fragte Halef.

»Siehst du nicht diese Spuren?« antwortete ich, indem ich auf sie deutete.

»Natürlich sehe ich sie! Sie scheinen von Hirschen oder wilden Sauen zu stammen.«

»Hirsche? Wilde Sauen? Halef, schäme dich!«

»So meinst du wohl, von Menschen?«

»Ganz selbstverständlich. Das sieht man doch gleich bei dem ersten Blick!«

»So müssen wir sie wohl prüfen?«

»Allerdings.«

»So bitte ich dich, abzusteigen.«

»Ich? Warum ich?«

»Sonderbare Frage! Das Prüfen der Spuren ist doch bisher immer deine ganz besondere Arbeit gewesen. Warum nun plötzlich jetzt nicht mehr?«

»Das Spurenlesen ist sehr schwer und außerordentlich verantwortungsvoll. Ein Irrtum kann da sehr leicht das Leben kosten. Darum wird das stets nur von den Hauptpersonen besorgt. Ich aber bin doch nur Nebenperson!«

Sein Gesicht wurde um einige Zentimeter länger.

»Hm!« brummte er verlegen. »Habe ich etwa behauptet, daß ich auch in Beziehung auf das Fährtenlesen die Hauptperson bin?«

»Eine solche Behauptung war gar nicht nötig. Zum Verständnis so verworrener Spuren, wie diese hier sind, gehört eine Klugheit, die kein Mensch besitzen kann, dem die Dummheit angeboren ist. Also bist du es, der abzusteigen hat. Vorwärts, Halef, vorwärts! Bedenke, wie gefährlich die Ussul sind, die du mir beschrieben hast! Wenn solche Riesen hier herumliefen! Oder gar, wenn wir ihnen begegneten! Also steig ab, steig ab! Wir müssen unbedingt erfahren, was für Menschen es sind, von denen diese Fußeindrücke stammen!«

Da schwang er sich aus dem Sattel und begann die Arbeit, die ihm eine verhaßte war, weil er es niemals so weit gebracht hatte, Schluß auf Schluß zu bauen. Diese Kunst aber wird von einem jeden verlangt, der sich anmaßt, Spuren und Fährten lesen zu können. Auch ich stieg ab, doch nicht, um mich an dieser Arbeit zu beteiligen, sondern um es mir im Gras bequem zu machen und ihm zuzusehen.

Es war spaßhaft, wie unbeholfen er sich anstellte. Er hatte oft gesehen, mit welcher Sorgfalt ich so eine Spur behandelte. Sie durfte nur betrachtet, nicht aber berührt oder gar vernichtet werden. – Er aber lief auf all diesen Eindrücken hin und her, trat sie nieder und löschte sie aus, ohne zu bedenken, daß dies ein unverzeihlicher Fehler war. Und als er damit fertig war, berichtete er:

»Sihdi, du hast unrecht, vollständig unrecht. Das sind keine Menschen gewesen!«

»Was sonst?«

»Elefanten! Oder Nashörner! Oder Nilpferde! Solche großen, mächtigen Tiere!«

»Warum das?«

»Wegen der großen Stapfen. Solche Füße kann nur ein Elefant oder Hippopotamus haben!«

»Wie viel Beine hat ein Elefant?«

»Natürlich vier.«

»So stimmt es nicht. Die Untiere, die hier herumgelaufen sind, haben nicht vier, sondern nur zwei Beine gehabt.«

»Das muß ich bezweifeln! Wie willst du das überhaupt wissen? Man sieht doch nicht die Tiere, sondern nur die Stapfen ihrer Füße; es ist also im höchsten Grade fraglich, ob zwei Stapfen oder ob vier Stapfen zu einem Exemplar gehören. Du stimmst für zwei, ich aber für vier, und es ist dir doch wohl bekannt, daß die Mehrzahl stets den Sieg behält. Es sind also Elefanten oder Nashörner, nicht aber Menschen!«

»Hast du die Spuren nicht vielleicht auch daraufhin betrachtet, ob Sporen an den Stiefeln waren?«

»Sporen? An den Stiefeln?« Er brach in ein sehr herzlich gemeintes Gelächter aus und fuhr, immer lachend, fort: »Seit wann tragen die Elefanten Stiefel? Und gar mit Sporen daran!«

»Seit sie auf deinen Nilpferden reiten«, antwortete ich, indem ich in das Lachen einstimmte. »Übrigens bist du ja noch gar nicht fertig mit deiner Arbeit. Bis jetzt hast du bestimmt, ob es Menschen oder ob es Tiere waren. Nun gilt es, noch zu erfahren, woher sie gekommen und wohin sie gegangen sind.«

»Und da soll ich nachsehen?«

»Ganz selbstverständlich!«

»Sihdi, wenn du mir doch dabei helfen wolltest!« bat er.

»Nein«, antwortete ich.

»Warum nicht?«

»Weil ich dadurch deine angeborene Klugheit beeinträchtigen würde. Also geh!«

Ich sagte das in etwas scharfem Ton. Darum drang er nicht weiter in mich, sondern bemerkte nur:

»So will ich wenigstens meine Gewehre ablegen, die mich in der Bewegung hindern, wenn ich suche.«

Er hatte seine lange, arabische, reich mit Elfenbein ausgelegte Flinte und das von mir geschenkt erhaltene europäische Doppelgewehr an Riemen über dem Rücken. Er nahm sie ab und schnallte sie quer über den Sattelknopf. Dann machte er sich von neuem auf die Suche. Um das nun Kommende zu verstehen, muß man sich ein Bild der Gegend machen können, in der wir uns befanden.

Von da aus, wo ich bei unseren Pferden im Gras saß, lag rechts und links ziemlich dichtes Gebüsch, an welches sich zu beiden Seiten der hohe Wald anschloß. Grad vor mir gab es die freie, grasige Lichtung, auf welcher Halef jetzt die Spuren untersuchte. Sie zog sich vielleicht zweihundert Schritt lang geradeaus, stieß dann an den Wald und ging nach links, wo sie hinter dem Gebüsch verschwand. Die Spuren kamen rechts von mir aus dem Gebüsch heraus, liefen, indem sie sich verschiedentlich durchkreuzten, über den ganzen Grasplatz hin und bogen dann mit ihm um die linke, hintere Ecke des Gebüsches. Es konnten drei bis vier Personen sein, die da gegangen waren. Das Durch- und Übereinanderlaufen der Fußeindrücke ließ mich vermuten, daß man hier nach Blumen, eßbaren Wurzeln oder sonst etwas dem Ähnliches gesucht habe. Die Stapfen sahen allerdings sehr groß aus, auch schon von weitem. Das lag zunächst an der Höhe des Grases, jedenfalls aber auch an der Art der Fußbekleidung, die man getragen hatte. Meine Frage nach Stiefel und Sporen war ganz selbstverständlich nicht ohne guten Grund gewesen. Es ist immer von großer Wichtigkeit, zu erfahren, ob Leute, die man vor sich hat, beritten sind oder nicht.

Halef hielt es für nötig, vor allen Dingen nachzuforschen, wohin die Spuren führten. Es war seine Ansicht, daß er dann wohl gar nicht zu wissen brauchte, woher sie gekommen waren. Er verfolgte sie jetzt also über die ganze Lichtung hin, soweit ich sie überblicken konnte, und verschwand sodann nach links, hinter der schon erwähnten Ecke des Gebüsches. Ich hielt es für gar kein Wagnis, ihn in dieser Weise sich selbst zu überlassen. Er besaß zwar nicht den weiten, fernschauenden Blick und die alles scharf zusammenfassende Kombinationsgabe, ohne die man eine Reise, wie die unserige war, nicht unternehmen kann, aber er war doch klug, er war sogar pfiffig, und ich nahm keineswegs an, daß er mit Eingeborenen zusammentreffen werde, denn die Fußeindrücke waren zwar noch jung, aber doch nicht mehr so neu, daß man die Anwesenheit der betreffenden Personen hier noch vermuten konnte. Ich war also ganz ohne alle Sorge um ihn, zumal es sich doch ganz von selbst verstand, daß er sich nicht allzuweit entfernen und sofort zu mir zurückkehren werde, sobald ihm etwas Verdächtiges in die Augen fallen sollte.

Halef war noch nicht lange verschwunden, als ich von Syrr, meinem Rappen, ein warnendes Zeichen bekam. Er stellte sich ganz nahe an mich heran, hob den kleinen, feinen Kopf, legte die Ohren vor und sog die Luft mit jenem leisen, sich stoßweise unterbrechenden Geräusch durch die roten Nüstern, welches ein Beweis des beginnenden Verdachtes ist. Assil Ben Rih, das Pferd Halefs, stutzte sofort auch. Beide Tiere schauten nach rechts, und zwar nach der Stelle, wo die Spuren aus dem Gebüsch traten. Sollten noch andere Leute desselben Weges kommen? Ich strengte mein Gehör an, vernahm aber nichts. Ich legte den Kopf auf die Erde und lauschte. Da spürte ich nun allerdings ein Geräusch, welches sich zu nähern schien, denn es war leise, wurde aber stärker. Es klang wie langsame, schwere Schritte, die ein Blätterrauschen begleitete. Ich richtete mich wieder in sitzende Stellung auf. Jetzt war das Geräusch zu vernehmen, auch ohne daß mein Ohr die schalleitende Erde berührte. Es näherte sich wirklich. Es wurde stärker und immer stärker, zuletzt so stark, daß ich allerdings an Halefs Elefanten, Nashörner und Nilpferde dachte. Das Gezweig rauschte und schlug klatschend zurück; Aste knackten; stampfende Schritte dröhnten. Aber diese Schritte waren wohl kaum die Schritte eines wilden Tieres. Sie klangen in genauen Intervallen, wie abgemessen, dabei behaglich, behäbig, als ob ein Riese in vortrefflicher Stimmung durch den Wald spazieren gehe und gar nicht darauf achte, daß er dabei die Büsche und den Boden zerknattert und zerstampft. Ich stand aber nun doch auf und griff nach meinen Gewehren.

Da teilte sich das Gesträuch weit auseinander, und die lebendige Ursache des Geräusches trat vor meine Augen. Man lächle nicht, wenn ich sage, daß ich bei dem Anblick, der sich mir da bot, ganz unwillkürlich an einen heimatlichen Künstler denken mußte, nämlich an Arnold Böcklin, den berühmten Maler der rätselnden Groteske. Seine Kentauren, sein Einhorn im »Schweigen im Walde« traten mir in die Erinnerung, als ich das Wesen, oder vielmehr das Doppelwesen, erblickte, welches mich ganz in derselben Weise anstaunte, wie es von mir angestaunt wurde. Oder waren es zwei verschiedene Wesen, von denen das eine auf dem anderen saß? Ja, richtig! Ein Reiter! Aber was für einer! Und das Tier, auf dem er saß, war das ein ausgeartetes Nilpferd, ein entarteter Tapir, ein vorweltlicher Riesenhirsch ohne Geweih oder ein überfüttertes Kamel mit Elefantenbeinen und weggefallenem Höcker? Es hatte von alledem etwas; aber bei näherer Betrachtung konnte ich die Idee nicht von mir weisen, daß diese zoologische Merkwürdigkeit den entfernten Zweck verfolgte, ein Pferd zu sein. Hufe hatte es, und zwar ganz richtige, wirkliche Pferdehufe, aber von einer Größe, die mir noch nie vor die Augen gekommen war. Der Kopf glich dem eines Riesenelkes, besonders in Beziehung auf das Maul, oder richtiger ausgedrückt, auf die Schnauze. Die Mähne war außerordentlich reich und lang, aber von so kräftiger Struktur, daß sie nicht aus Haaren, sondern aus Bindfaden zu bestehen schien. Ihre Farbe, wie überhaupt die Farbe des ganzen Tieres, war schwer zu bestimmen, denn sie war unter einem dicken, panzerartigen Schmutzüberzug vollständig verschwunden. Solche Schlammfutterale harte ich an den nordamerikanischen Büffeln gesehen, die sich in Schmutz zu wälzen pflegten, um den Insektenstichen zu entgehen. Ganz besonders erwähnenswert an dieser auffälligen Kreatur waren die Augen und der Schwanz. Ob der letztere lange Haare hatte oder nur eine Quaste an der Spitze, das konnte ich nicht sehen. Viel Haare aber waren es jedenfalls nicht, und das wenige, was man sah, war mit einer solchen Kruste von Schorf, Grind und Unrat überzogen, daß man viel eher an einen verunglückten Biberschwanz als an das edle Behänge eines Pferdes denken konnte. Und das erstaunlichste hierbei war, daß dieser Schwanz trotz seiner Festigkeit und Kompaktheit in einer unausgesetzten, nicht endenwollenden Bewegung war. Er hing nicht still, sondern regte und rührte sich immerfort, und zwar meist im Kreis. Es sah ganz so aus, als ob ein unsichtbarer Musikant das Pferd für einen Leierkasten und den Schwanz für den Drehung halte. Dieser Unsichtbare stand nun hinter dem Tier und drehte den Schwanz mit einer Begeisterung und einer Ausdauer, die geradezu ideal zu nennen war. Und eben weil man ihn nicht sah, sondern nur den immer in einer und derselben Richtung kreisenden Schwanz, machte diese Bewegung auf den Beschauer einen Eindruck, der ganz unmöglich zu beschreiben ist. Von ganz derselben Rastlosigkeit waren auch die beiden Augen. »Augen« ist eigentlich Übertreibung, es muß »Äuglein« heißen. Sie waren viel, viel zu klein für den Koloß, dessen Körper das Fleisch von zwei ausgewachsenen Ochsen in sich vereinigte. Diese Äuglein waren ganz unbegreiflich ruhelos. Es erschien fast als unmöglich, sagen zu können, wohin sie schauten. Nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, nach hüben, nach drüben, überallhin schauten sie, und zwar, wie es schien, in demselben Augenblick. Man sah immerfort das Weiße des Augapfels. Das wirkte so außerordentlich ungewohnt, so pfiffig, ja fast beängstigend. Es sah aus, als ob in diesem dicken, plumpen, ungeschlachten Körper eine Seele wohne, die während ihres früheren Lebens irgendeinem Tausendkünstler oder Geheimpolizisten angehört habe. Gleich beim ersten Blick, den man auf diese überall allgegenwärtigen Äuglein warf, mußte man sich sagen: Mit dieser Bestie darf man nur in Liebe verkehren, über das Ohr hauen läßt sie sich nicht.

Doch nun zu dem anderen Wesen, welches als Reiter auf dem soeben beschriebenen Tier saß:

Das war ein Mensch, ja, aber was für einer! Wer ihn sah und die Bibel kannte, der mußte an Goliath, den Philister, denken, von dem die Heilige Schrift erzählt, daß er sechs Ellen und eine Hand breit hoch gewesen sei. »Und er hatte einen ehernen Helm auf seinem Haupt und war mit einem schuppichten Panzer angetan, und das Gewicht des Panzers war fünftausend Seckel Erz. Und er hatte eherne Schienen an seinen Beinen, und ein eherner Schild bedeckte seine Schultern. Und der Schaft seines Spießes war wie ein Weberbaum, und selbst das Eisen seines Spießes hielt sechshundert Seckel Eisen.«

Dieser Goliath war höchstwahrscheinlich nicht größer und auch nicht stärker gewesen als der Reiter, den ich jetzt vor mir sah und der um anderthalb Kopf länger war als ich, mit dementsprechender Schulterbreite und Muskulatur. Er trug zwar keinen ehernen Helm auf seinem Haupt und keinen erzenen Panzer um den Riesenleib, aber die Lanze in seiner rechten Faust glich auch einem Weberbaum, und das Messer, welches in seinem Gürtel steckte, hatte eine derartige Form und Schwere, daß es zugleich als Beil, wenn nicht gar als Axt gebraucht werden konnte. Auf dem Rücken hing ihm ein gewichtiger, aus Krokodilsrücken gefertigter Bogen und darunter ein für Wurfspeere und Pfeile undurchdringlicher Köcher aus Schildkrötenschale, der infolge seiner Größe auch als Schild zu verwenden war. Die Füße steckten bis herauf an das Knie in dicken, stiefelähnlichen Baströhren, die dadurch festeren Halt bekamen, daß man sie mit breiten Lederriemen umwunden hatte. Die Sohlen waren von einer solchen Länge und Breite, daß sie die Größe der Stapfen im Gras mehr als hinreichend erklärten. Die Oberschenkel steckten in sehr festen, ledernen Hohlzylindern, die man unter Zuhilfenahme der Phantasie als Hose bezeichnen könnte. Von Leder war auch die Bekleidung des Leibes, eine Art von Koller, welches vom sehr weit offenstand und eine vollständig und sehr dicht behaarte Brust sehen ließ. Man hatte bei diesem Anblick das Gefühl, daß auch der ganze übrige Körper in der gleichen Weise behaart sein müsse. Dementsprechend war der unbedeckte Kopf durch einen dunklen Haarwald geschützt, der wie eine Mähne bis halb über den Rücken herunterhing, und vom Gesicht waren nur einige kleine Stellen Haut zu sehen; das andere alles war Bart, der vorn fast noch weiter herniederreichte als hinten das Haar des Hauptes. Die Augen dieses Mannes konnten, genau wie diejenigen seines Pferdes, nur als »Äuglein« gelten; sie waren viel zu klein für diese Hünengestalt, für diesen Riesenkopf und für dieses breite Gesicht, über dessen Haarwald sich eine zwar niedrige, aber außerordentlich kräftige Stirn erhob. Einen Sattel gab es nicht, Steigbügel auch nicht, und das Zaumzeug bestand sehr einfach aus einem Riemen, der dem Pferd um das Maul geschlungen war, so daß der Reiter die beiden Enden in den Händen hatte. Das war sehr bequem für das Tier, nicht aber für den Reiter, dem in dieser Weise weiter nichts als nur der Schenkeldruck zur Verfügung stand, sich das Pferd gefügig zu machen.

Man denke ja nicht, daß es in der Absicht dieser Beschreibung hegt, Roß und Reiter lächerlich zu machen. Ich habe ganz im Gegenteil zu konstatieren, daß die ungewöhnlichen Formen beider mich zwar überraschten, doch keineswegs nach der heiteren, sondern nur nach der ernsten Seite hin. Die Doppelfigur, die vor mir stand, machte den Eindruck der aufrichtigen ungekünstelten Natürlichkeit, der ungeschmälerten Kraft, der unbedingten Furchtlosigkeit, der überstrotzenden Gesundheit und – last not least – jener geraden, unbekümmerten Gutmütigkeit, die allen ihrem Ursprung noch ziemlich nahestehenden Wesen eigen ist. »Ursprung«, ja, das war das richtige Wort für die Vorstellung, die man sich bei dem Anblick dieses Mannes und dieses Pferdes machte. Hätte ich ein Märchen zu schreiben, in welchem der Urmensch auf dem Urpferd zu erscheinen hat, so würde ich ganz unbedingt zu dem Bild greifen, welches ich hier vor Augen hatte.

Der Riese betrachtete mich ebenso still und forschend, wie ich ihn. Dann fragte er:

»Wo kommst du her?«

Ich deutete hinter mich und antwortete:

»Daher.«

»Vom Meer?«

»Ja.«

»Wo willst du hin?«

»Dorthin.«

Indem ich dies sagte, deutete ich vorwärts. Da forderte er mich auf:

»Drücke dich bestimmter aus! Daher und dorthin, das sind keine Antworten! Du scheinst mich nicht zu kennen?«

»Ich habe dich allerdings noch nicht gesehen.«

»So höre, was ich dir sage, und merke es dir! Ich bin Amihn, der oberste Scheich des unbesiegbaren Stammes der Ussul. Hast du das verstanden?«

»Ja.«

»So verhalte dich dementsprechend! Das ganze Land, von der Küste des Meeres an bis dort hinauf, wo hinter der Landenge El Chatar die Wüste der Tschoban beginnt, ist mein Eigentum. Alles, was in diesem Land wächst, wohnt und wandert, gehört mir. Also auch du! Hast du das verstanden?«

»Ja«, nickte ich.

»Wenn mir der Mann gehört, so versteht es sich ganz von selbst, daß mir auch alles gehört, was er besitzt. Gibst du das zu?

»Ja.«

»Das freut mich, Fremder. Du scheinst überhaupt nicht dumm zu sein! So schnell wie du, hat bisher noch keiner eingesehen, daß ich der rechtmäßige Inhaber seines Eigentumes bin. Ich werde dich einmal genau betrachten und deine Sachen dann auch.«

Er kam bis heran zu mir geritten und stieg von seinem Urpferd. Nun sah man erst, was dieser Mann für Füße, für Schenkel, für Arme hatte! Seine Hände waren fast noch einmal so groß als die meinigen. Diese Breite der Schultern! Ich stand fast wie ein Zwerg vor ihm! Er faßte mich hüben und drüben an den Oberarmen und drehte mich zweimal um mich selbst. Ich ließ mir dies ruhig gefallen, doch nicht etwa aus Angst, o nein! Hier stand der Körper dem Geist, die rohe, ungefügige Kraft der geschulten Überlegung, der Muskel dem Gehirn gegenüber, und wer da schließlich die Oberhand behalten mußte, das kam gar nicht erst in Frage. Diese meine scheinbare Gefügigkeit schien ihn für mich einzunehmen, denn er sagte:

»Du gefällst mir! Du bist von jetzt an mein Knecht, hast also bei mir zu bleiben. Ich weiß zwar nicht, wozu du mir dienen und welchen Nutzen du mix bringen sollst, aber es wird sich wohl schon etwas finden, wodurch du mir beweisen kannst, daß du wenigstens nicht ganz und gar wertlos bist. Zeig her, was du da hast!«

Um beide Hände frei zu bekommen, rannte er seinen Spieß in den Erdboden und griff nach meinen Gewehren, um sie zu betrachten. Den fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen behielt er nur einen Augenblick in der Hand, dann warf er ihn weg; er war ihm zu leicht.

»Ich kenne diese Dinger nicht, mag sie auch nicht«, sagte er in sehr verächtlichem Ton. »Spielzeug für Kinder!«

Die ungewöhnliche Schwere des Bärentöters aber imponierte ihm. Er wiegte ihn hin und her, nahm ihn dann bei den Läufen, schwang ihn durch die Luft, als ob er jemand mit dem Kolben erschlagen wolle, und ließ sich zu der lobenden Bemerkung herab:

»Diese Flinte ist besser! Die zerbricht nicht, wenn man sie einem Feind auf den Schädel schlägt!«

Für ihn schienen Gewehre wohl nur als Keulen, nicht aber zum Schießen vorhanden zu sein. Dennoch gefiel es ihm, das Schloß der Büchse einer näheren Betrachtung zu unterziehen, doch sah ich ihm an, daß er sich gar nicht viel Kluges dabei dachte. Während der Urmensch sich mit dieser meiner Waffe beschäftigte, beliebte nun auch dem Urgaul eine Annäherung an mich. Er schob mit der Schnauze seinen Herrn ganz einfach zur Seite, kam zu mir heran, kurbelte mit dem Schwanz, beäugelte und beschnüffelte mich und schien mich für einen ganz annehmbaren Kerl zu halten, denn er tat mir die Ehre an, seine nasse Schnauze an meinem Gesicht abzutrocknen. Da gab ich ihm eine Ohrfeige, und zwar was für eine! Das beleidigte ihn aber nicht. Im Gegenteil, es schien ihm zu gefallen, denn er hob den ungeschlachten Kopf hoch empor, schloß vor lauter Glückseligkeit die beiden Äuglein zu, riß das Maul sperrangelweit auf und – wieherte etwa? O nein! Das, was ich da zu hören bekam, das war kein Wiehern, das war kein Trompeten eines Elefanten, kein Brüllen eines Löwen, kein Nebelhorn eines Seedampfers und auch keine Hupe eines Automobils; aber es hatte etwas von alledem, und das klang so außerordentlich überraschend, daß ich am liebsten umgefallen wäre, nur weiß ich nicht, ob vor Schreck oder vor Lachen. Da drehte sich sein Herr zu ihm um und fuhr ihn in strafender Weise an:

»Bist du toll? So zu brüllen! Hier im freien Feld, wo man gar nicht weiß, ob nicht noch andere Fremde da sind, die nicht wissen dürfen, wo wir uns befinden! Schäme dich!«

Da fiel der Kopf des Gaules schnell wieder herab, noch tiefer, als er vorher gehangen hatte; der Schwanz unterbrach seinen Radumlauf; die Äuglein näherten sich einander, um beschämt an der Nase lang herabzublicken, und aus dem Herzen stieg ein so langer, schwerer, unendlich tiefer Seufzer auf, als ob das liebe Vieh im Begriff stehe, aus lauter Scham und Reue in die Erde zu versinken. Ich fühlte mich im Innern meiner Seele aufrichtig gerührt. Es gab gar keinen Zweifel darüber, daß dieses Urpferd zugleich auch ein Gemütspferd war!

»Er heißt Smihk – der Dicke –«, erklärte mir der Scheich, indem er auf den Leierkasten deutete, dessen erste Töne wir soeben zu hören bekommen hatten. »Er ist nicht der einzige, den wir haben; wir besitzen ihrer viele. Du wirst sie zu sehen bekommen.

»Wann?« fragte ich.

Er ahnte nicht, wie viele Erkundigungen in diesem kurzen, einsilbigen Worte steckten, und gab mir den Bescheid:

»Morgen oder übermorgen. Heut sind wir nicht daheim, sondern auf der Jagd.«

»Wo?«

»Da drüben im Wald.«

Er streckte den Arm nach der Richtung aus, in welcher Halef verschwunden war.

»Wie viel Jäger seid ihr?«

»Zwanzig, ohne die Frauen. Die Männer jagen; die Frauen graben nach Wurzeln, die zum Fleisch gegessen werden.«

Um nicht aufzufallen, fragte ich nicht weiter; ich wußte schon jetzt genug. Die Weiber hatten hier auf der grasigen Lichtung nach Wurzeln gesucht; daher die Spuren. Diese Spuren führten nach dem Lager, wo es zwanzig riesige Ussul gab, die, wenn sie ihrem Scheich glichen, zwar gutmütige, für uns aber dennoch gefährliche Menschen waren. Halef blieb zu lange aus. Er hatte sich zu weit entfernt. Es war sehr leicht möglich, daß man ihn gesehen und festgenommen hatte. Wenn bei den Ussul der Grundsatz herrschte, daß jeder Fremde, der ihr Gebiet betritt, ihnen gehört, und zwar mit allem, was er besitzt, so hatte man diesen Grundsatz auch an Halef geltend gemacht, und wie ich ihn kannte, mußte ich annehmen, daß ihm gar nicht eingefallen war, sich dies gefallen zu lassen. Er hatte sich dagegen gewehrt, war überwältigt worden und befand sich nun in Gefahr. Ich mußte ihm folgen, um ihm beizustehen. Da gab es für mich eine Waffe, die besser und erfolgreicher als jede andere war, nämlich den Scheich selbst, den ich festzunehmen hatte, damit er mir als Geisel dienen möge. Das erforderte voraussichtlich einen Kampf zwischen ihm und mir, vor dem mir aber gar nicht bange war. Die körperliche Überlegenheit dieses Gegners fürchtete ich nicht. Er war das, was man einen Simpel, einen Tolpatsch nennt, und es gehörte gar keine große, geistige Anstrengung dazu, die Chancen gleichzustellen.

Nachdem er mich in Augenschein genommen hatte, tat er dasselbe auch mit unsern Pferden. Da stellte es sich denn sofort heraus, daß er kein Kenner war. Sein Urgaul galt ihm mehr als unsere beiden Rappen zusammengenommen. Er meinte, sie seien viel zu leicht, um ihn tragen zu können, und für die hiesige Gegend habe man überhaupt auf sie zu verzichten, weil sie bei der Kleinheit ihrer Hufe bei jedem Schritt in den Sumpf einbrechen und mit ihrem Reiter ertrinken oder ersticken würden. Je größer und je breiter die Hufe, desto wertvoller sei das Pferd.

Als er mir das erklärte, schlich sich Smihk, der Dicke, von hinten an mich heran, um mich liebkosend in den Nacken zu beißen. Er bekam sofort eine zweite Ohrfeige, die noch weit kräftiger als die erste war. Er hielt aber auch sie nur für ein Zeichen meiner Gegenliebe, denn er hob ganz genau wie vorhin den Kopf hoch empor, machte die Äuglein zu und sperrte das Maul dafür um so weiter auf, um den fürchterlichen Grundton seines Wesens zum zweiten Male hören zu lassen. Da aber fiel ihm noch im letzten Augenblick ein, daß sein Herr ihn vorhin aufgefordert hatte, sich zu schämen; er schluckte das, was empor hatte klingen wollen, wieder hinunter, machte das Maul wieder zu, die Äuglein dagegen auf, senkte den Kopf und schielte uns beide schwanzdrehend an, ob wir uns wohl als fähig erweisen wurden, seine Selbstüberwindung zu bewundern. Das rührte mich. Das ging mir nahe und brach mir fast das Herz. Ich klopfte und klatschte ihm liebkosend den Hals. Das hatte aber grad den entgegengesetzten Erfolg. Er warf seine ganze Selbstüberwindung sofort über den Haufen, schwang den Kopf schnell wieder in die Höhe und fing an, zu brüllen, zu trompeten, zu hupen, zu wiehern, zu kreischen und zu tuten, daß mir hätte angst und bange werden mögen. Da zog der Scheich seinen Spieß aus der Erde, holte aus und schlug derart auf den Sänger ein, daß dieser sofort verstummte. Hieraus war wohl mit vollem Recht zu schließen, daß die Urpferde bei den Ussul in guter Zucht und Sitte standen. Ich aber machte diese Strenge seines Herrn bei Smihk sofort wieder gut, indem ich meine Liebkosung fortsetzte. Dabei sah ich, daß ihm die Augen- und Mundwinkel, die Nüstern, die Ohrlöcher und andere, empfindliche Körperstellen so voller Bremsen und Sumpffliegen steckten, daß er jedenfalls nicht geringe Qualen auszustehen hatte. Der gewöhnliche Orientale hat für solche Dinge weder Verständnis noch Abhilfe. Sieht man doch z. B. in Ägypten überall Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arm, deren kranke Augen vollständig mit saugenden Fliegen bedeckt sind, ohne daß es einer solchen Mutter einfällt, diese quälenden Insekten zu entfernen. Daher die vielen blinden Menschen dort! Mich dauerte Smihk, der Dicke. Ich hob ein Hölzchen von der Erde auf und entfernte damit die Insekten, die an einigen Stellen förmliche Trauben bildeten. Das war dem Tier noch nie passiert. Es stand still, bis ich fertig war, stöhnte dann vor Erlösung und Dankbarkeit tief auf und versuchte, mir mit Hilfe aller möglichen Zärtlichkeiten zu zeigen, daß ich hierdurch sein ganzes Herz gewonnen habe. Ich leistete dem Dicken auch später diesen Dienst, so oft es nötig war, und er hat mir diese Aufmerksamkeit durch eine Liebe vergolten, die ich fast als Zärtlichkeit bezeichnen möchte.

Es war eine geradezu kindliche Naivität, mit welcher der Scheich alle Gegenstände, die ich bei mir hatte, betrachtete und sie sofort in Gedanken und Worten derart registrierte, als ob sie nun ganz zweifellos schon in seinen Besitz übergegangen seien. Meine Uhr gefiel ihm so, daß er sie mir gleich gar nicht wiedergab, sondern sie einfach zu sich steckte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß sie in meine, nicht aber in seine Tasche gehöre. Da sah er mich fast ohne Verständnis an, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich begreife dich nicht! Ich habe dir doch gesagt, daß all diese Gegenstände mir gehören, und du hast dich damit vollständig einverstanden erklärt!«

»Du irrst!« widersprach ich ihm.

»Ich irre nicht!« behauptete er. »Ich will zu deiner Ehre annehmen, daß du ein schlechtes Gedächtnis besitzest. Wenn ich das nicht täte, müßte ich dich für einen Lügner halten, und du gibst doch wohl zu, daß dies das Allerschlimmste ist, was einem Menschen geschehen kann! Oder hast du etwa auch nicht zugegeben, daß jeder Mann mir gehört, der dieses mein Land betritt?«

»Nein, das habe ich allerdings nicht zugegeben.«

»Du hast aber doch ›Ja‹ gesagt!«

»Aber hierzu nicht! Du fragtest mich, ob ich verstanden habe, was du sagtest, hierauf sagte ich ›Ja‹. Und darauf sagtest du, wenn der Mann dein Eigentum sei, verstehe es sich ja ganz von selbst, daß dir auch alles gehöre, was er besitzt. Da habe ich allerdings zugestimmt. Aber bezieht sich denn das auf mich? Und wie willst du mir beweisen, daß ich dir gehöre, daß ich dein Diener, Knecht oder Sklave bin?«

»Ich habe es dir gesagt; das ist der Beweis. Eines andern bedarf es nicht!«

»Da irrst du eben!«

»Ich irre nie!« behauptete er. »Ich bin der oberste Scheich der Ussul, und was in meinem Stamm Recht und Sitte ist, das führe ich aus. Es ist Recht und Sitte, daß du mein Eigentum geworden bist; dabei bleibt es!«

Er sprach jetzt in sehr bestimmtem Ton.

»Und wenn ich nicht will? Wenn ich mich dagegen wehre?« fragte ich.

Er sah mich von oben herunter an, lachte belustigt auf und antwortete:

»Du dich wehren? Du Knirps! Schau nur hier meine Hände an! Sag noch ein Wort dagegen, so drücke ich dir mit diesen Fäusten den dummen Kopf zusammen, daß er mir als Brei an den Fingern klebt!«

Bei diesen Worten hielt er mir seine Gigantenhände drohend vor das Gesicht.

»Es würde dir keinen Segen bringen«, warnte ich ihn. »Ich bin nämlich nicht allein!«

»Nicht allein?« fragte er, indem er rund um sich schaute. »Ich sehe niemand!«

»Aber du siehst doch zwei Pferde! Hast du wirklich noch nicht daran gedacht, daß einer der beiden Reiter fehlt?«

»Er fehlt? So? Warum? Wo befindet er sich?«

Das war mehr als kindlich naiv! Er verstellte sich nicht; es war keine Finesse, keine Kriegslist von ihm. Er dachte wirklich genau so, wie er sagte. Er suchte mit den Augen nach dem Verschwundenen. Ich aber meinte es weniger ehrlich. Ich beabsichtigte, ihn auszuforschen, und richtete meine Antwort daraufhin ein, obgleich sie keine Lüge, sondern die volle Wahrheit enthielt:

»Wo er sich jetzt befindet, weiß ich leider nicht. Er bemerkte die Spuren hier im Gras und wollte sehen, von wem sie seien. Darum ging er hinter ihnen her und ist noch nicht wieder zurückgekommen.«

»Ging er hier geradeaus und dann links um die Ecke des Gebüsches?«

»Ja«

»So kommt er überhaupt nicht wieder.«

»Warum?«

»Er ist unser Gefangener.«

»Du meinst, daß deine Leute ihn gesehen haben?«

»Gesehen und festgenommen! Unbedingt. Von unserm Lagerplatz aus kann man grad bis an jene Ecke sehen.«

»So lagert ihr wohl da drüben, links, jenseits des Gebüsches, im Wald?«

»Nicht im Wald selbst, sondern am Rand desselben. Man hat deinen Kameraden sofort gesehen, als er um die Ecke gebogen war. Ist er ebenso klein wie du?«

»Noch kleiner.«

»Noch kleiner?« lächelte er. »So hat man sich wohl überhaupt gar keine Mühe mit ihm gegeben.«

»Und wenn er sich gewehrt hat ...?«

Das war meine Hauptfrage. Ich war gespannt, was er hierauf sagen werde.

»So ist er tot«, antwortete er.

»Wirklich?«

»Gewiß! Wir dulden keine Gegenwehr. Wir verlangen Gehorsam. Und so ein Zwerg, der sogar noch kleiner ist als du, wenn der es wagt, uns widerstehen zu wollen, so machen wir es kurz, sehr kurz mit ihm. Die Erde braucht keine Zwerge. Sie sind unnütz. Alles, was zu klein ist und was krank ist, steht dem Großen, dem Gesunden im Wege. Es hat zu verschwinden. Also, wenn dein Genosse ungehorsam gewesen ist, so ist er tot. Aber das geht dich und mich doch gar nichts an! Ich habe nachzusehen, was du alles besitzest. Wenn das vorüber ist, reiten wir nach dem Lager. Dort wird das, was du bei dir hast, geteilt. Ich aber will schon jetzt sehen, was mir gefällt, damit ich es dann bekomme.«

Das war sehr aufrichtig, aber nicht auch sehr beruhigend! Daß ich allerdings das Lager betreten würde, aber nicht als Gefangener, das verstand sich ganz von selbst. Dazu gehörte zunächst die Überwältigung dieses Riesen. In welcher Weise sie zu bewerkstelligen sei, das war noch nicht bestimmt. Schuß- und Stichwaffen waren ausgeschlossen. Der Scheich war ein guter, lieber und zudem auch hochinteressanter Mensch, den ich weder verletzen noch gar töten durfte. Ich mußte im Gegenteil danach trachten, mir die Zuneigung der Ussul zu gewinnen. Dieser Stamm konnte mir als Stütz- und Ausgangspunkt für alles, was später zu geschehen hatte, dienen, und dazu war zunächst erforderlich, mich jeder nicht schonenden Behandlung ihres Anführers zu enthalten. Übrigens stellte es sich als gar nicht nötig heraus, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, in welcher Weise ich ihn in meine Gewalt bringen könne. Er kam mir nämlich hierin ganz von selbst entgegen, und zwar in so bequemer Weise, daß ich weiter gar nichts zu tun hatte, als nur zuzugreifen.

Indem er mich und meine Sachen untersuchte, fragte er nach jedem einzelnen Gegenstand, um den Gebrauch und den Wert desselben kennenzulernen. Er wollte für die spätere Verteilung schon jetzt seine Auswahl treffen. Darum fragte er nach allem, was er sah, und ich erteilte die gewünschte Auskunft in so bereitwilliger Weise, als ob ich mich vollständig in das mir bestimmte Schicksal ergeben hätte. So kam er auch an den langen, höchst künstlich zusammengeflochtenen Fangriemen, der am Hals meines Syrr hing.

»Was ist das?« fragte er, indem er ihn betrachtete und betastete.

»Ein Lasso«, antwortete ich.

»Ein Lasso? – Noch nie hörte ich dieses Wort! Dieses Flechtwerk ist eine große Kunst. Auch wir flechten Riemen, aber kurz, nicht so lang. Und so fest, so gleichmäßig und so schön bringen wir es nicht fertig. Das heißt also ein Lasso! Wozu wird es gebraucht?«

»Zum Fangen der Menschen.«

Es lag natürlich nicht in meiner Absicht, ihm zu verraten, daß sich dieser Gebrauch weniger auf Menschen als vielmehr auf Tiere bezog.

»Menschen fangen mit diesem Riemen?« fragte er schnell und angelegentlich. »Also doch wohl Feinde?«

»Ja.«

»Während des Kampfes? Wenn sie entfliehen wollen?«

»Überhaupt bei jeder Gelegenheit, wenn man sie fangen will.«

»Bei jeder Gelegenheit? Die Feinde fangen? Das ist ja wichtig, im höchsten Grad wichtig! Und du weißt, wie man das macht?«

»Ja, natürlich.«

»Kannst du es mir zeigen?«

»Wenn du es wünschest, gern.«

»Gleich jetzt, hier? Nicht erst dann, wenn meine Leute dabei sind und es ebenso sehen wie ich?«

»Jetzt gleich«, nickte ich.

»So tue es; ja, tue es schnell! Seine Feinde fangen, mit so einem Riemen! Das ist ja herrlich! Schau, hier an meinem Gürtel hängt auch ein ganzer Pack von Riemen. Die sind aber nicht, um die Feinde zu fangen, sondern nur, um sie zu binden; da muß man sie aber vorher erst haben. Also zeig es mir!«

»Aber an wem soll ich es dir zeigen?« fragte ich, indem ich den Lasso vom Hals des Pferdes schlang. »Es ist ja kein Feind vorhanden, den ich fangen könnte!«

»Das schadet nichts«, meinte er. »Denke einmal, ich sei einer! Dauert es lang?«

»Nur wenige Augenblicke.«

»Und tut es weh?«

»Gar nicht.«

»So fang an! Mach los! Was habe ich dabei zu tun?«

»Setz dich auf dein Pferd, und versuch, mir auszureißen!«

»Schön! Gut! Wohin soll ich fliehen?«

Ich deutete in die Richtung zurück, aus der ich mit Halef gekommen war, denn die kannte ich. Es kam mir darauf an, den Scheich von hier zu entfernen, wo das Lager seiner Leute so verhältnismäßig nahe war. Ein Hilferuf von ihm, den sie hörten, konnte meinen ganzen Plan vereiteln. Und zu seiner Ausführung brauchte ich einen versteckt liegenden Baum, an den ich den Riesen binden konnte, ohne befürchten zu müssen, daß man ihn sobald entdecken werde.

»Flieh dorthin zu«, antwortete ich, »und zwar so schnell du kannst!«

»Willst du mich etwa einholen?« erkundigte er sich mit breitem Lachen.

»Ja.«

»Und dann mich fangen? – Zu Pferde?«

»Ja.«

»Mit diesen deinen kleinen Hunden, die gar keine Pferde sind? Hörst du, ich lache dich aus! Aber versuche es! Die Schande, die du erlebst, ist dann nicht mein, sondern dein!«

Er hatte keinen Steigbügel, sich bequem aufzuschwingen; so kletterte er mühsam auf den breiten First seines Urgaules. Dort angekommen, setzte er sich in der behaglichen Weise zurecht, wie man es sich nach Feierabend auf den Kissen eines alten lieben Kanapees bequem zu machen pflegt, nickte dann zufrieden von oben herunter und forderte seinen Untertanen, der mit ihm jetzt davonjagen sollte, auf:

»Jetzt fort von hier, Smihk! Aber schnell, sonst setzt es gewaltige Prügel!«

Das liebe Tier schien diese Worte weder zu verstehen noch auf sich zu beziehen. Es tat gar nicht, als ob es irgendwen auf dem Rücken habe, oder als ob außer ihm und mir noch irgend ein anderes Wesen vorhanden sei. Es richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf mich allein. Seine Blicke bewegten sich ausschließlich immer nur auf meiner Person herum, und zwar mit einem so entschiedenen Ausdruck von Wohlwollen, daß seine Zuneigung zu mir, dem Fremden, gar nicht zu verkennen war. Anstatt den Willen seines Herrn zu tun, kam es wieder auf mich zu, rieb seine Schnauze an meinem Arm und streckte dann die lange fette Zunge heraus, um mit ihr einen liebevollen Spaziergang über mein Gesicht zu machen. Da aber riß der Scheich den Kopf des Pferdes mit Hilfe des Zügelriemens von mir weg und rief drohend aus:

»Was fällt dir ein? Wenn du nicht sofort galoppierst, werde ich mir Gehorsam verschaffen! Verstehst du mich?«

Er bückte sich bei diesen Worten zu dem Kopf des Pferdes nieder, um ihm seine drohende Faust zu zeigen. Das Tier schien ihn dieses Mal verstanden zu haben, denn es versuchte, ihm einen strafenden Blick nach hintenüber zuzuwerfen, stieß ein höchst unwilliges, antediluvianisches Getöse aus, was ich jedenfalls als Wiehern hinzunehmen hatte, trat rasch ganz an mich heran und machte mir mit der Zunge so schnell, daß es nicht zu verhindern war, einen Querstrich über das Gesicht.

»Er hat dich lieb; wahrhaftig, er hat dich lieb!« wunderte sich der Scheich. »Wie es nur kommen mag, daß grad du ihm so gefällst?«

Ich nahm diese Worte hin, ohne mich lange zu fragen, ob ich mich über sie freuen oder ärgern sollte. Doch schien das mit der Zunge auch mir eine Art von Liebeserklärung zu sein. Es fiel mir dabei ein kleines Ereignis aus meiner Jugendzeit ein, welches mir damals psychologisch hochinteressant gewesen war. Das geschah während meiner Schülerzeit. Ich ging während einer Ferienwanderung an einer langgestreckten Gebirgswiese hin, auf der das Gesinde des Besitzers »Heu machte«, wie man das da oben auszudrücken pflegt. Die Leute verrichteten ihre Arbeit sehr ernst und fleißig, einen einzigen Knecht ausgenommen, der mit der vor ihm postierten Großmagd in einem fort schäkerte. Sie war ein großes, starkes, ungeschlachtes Frauenzimmer. Eben als ich vorübergehen wollte, umfaßte er ihre riesenhafte Taille, hielt sie fest und gab der Magd einen Kuß. Dann warf er mir, dem Zeugen seiner Heldentat, einen triumphierenden Blick zu, der aber nicht von langer Dauer war, denn die Magd holte aus und gab ihm eine so gut gesalzene Ohrfeige, daß er das Gleichgewicht verlor und, so lang er war, in das Heu zu liegen kam. Ein allgemeines Gelächter erscholl, und nun war es die Magd, die mir, dem Zeugen ihrer Heldentat, einen triumphierenden Blick zuwarf. Ich kleines, gern auch einmal lustiges Männchen blieb stehen und lachte mit. Als er das sah, sprang er zornig auf und rief mir zu: »Was hast denn du zu lachen, du Knirps, du nichtsnutziger, du? Daß sie mir die Maulschelle 'geben hat, is doch der Beweis, daß sie mich gern hat! Wannst es net glaubst, so geh her und frag sie doch gleich selber!« Sie aber wartete es gar nicht ab, ob ich es tun werde, sondern sie stemmte die Arme in die Hüften, nickte mir sehr überlegen zu und belehrte mich: »Is richtig, alles richtig! Er is der Meinige. Einen andern hau ich net!« Meine damalige Menschenkenntnis reichte noch lange nicht an das Verständnis dieser eigenartigen Logik heran. Darum machte ich mich schleunigst auf den Weg, um im stillen darüber nachzudenken, welche Gründe man haben kann, nur immer »den Meinigen« zu hauen, aber keinen anderen. Daß dieses scheinbare psychologische Rätsel etwas psychologisch sehr leicht Begreifbares ist, das sah ich erst nach Jahren ein. Und jetzt, wo der Scheich sich über die Zuneigung seines Urpferdes wunderte, kehrte mir die Erinnerung an jenen Ferientag zurück. Sollte das Urpferd den Ohrfeigen, die ich ihm gegeben hatte, dieselbe Bedeutung beigelegt haben? Sollte es mich für »den Seinigen« halten? Der Scheich trieb es von neuem an zu laufen. Es blieb stehen und äugelte mit mir. Er stieß ihm die Fersen in die Weichen. Es blieb stehen und äugelte mit mir. Er schlug es mit der Faust auf den Schädel, daß ich glaubte, es müsse ein tiefes Loch entstehen. Es rührte sich nicht von der Stelle und äugelte mit mir. Da begann er, es mit dem schweren Spieß zu bearbeiten. Als auch das nichts half, rief er mir zornig zu:

»Siehst du denn nicht, daß es nicht will? Treib es doch an! Gib ihm eins hintendrauf!«

»Ich soll es antreiben, ich?« fragte ich. »Bin ich denn der Reiter?«

»Nein. Aber es scheint seinen Narren an dir gefressen zu haben. Es will nicht von dir fort. Da bist du doch verpflichtet, es von dir fortzujagen. Es ist doch nicht dein, sondern mein!«

Ich hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken und antwortete:

»Ist das vielleicht die Schande, die du mir vorausgesagt hast? Was soll das für ein Wettrennen werden, wenn dein Pferd überhaupt nicht von der Stelle will! Hast du es denn nicht in der Gewalt?«

»Natürlich habe ich es! Und wie! Wenn es vorwärts soll, drücke ich ihm meine Schenkel an den Leib.«

»Da geht es vorwärts?« fragte ich.

»Ja. Wenn es nach rechts soll, ziehe ich an der rechten Leine ...«

»Da geht es nach rechts?«

»Ja. Wenn es nach links soll, ziehe ich an der linken Leine ...«

»Da geht es nach links?«

»Ja. Wenn es stehen bleiben soll, ziehe ich an der rechten und an der linken Leine zugleich ...«

»Da bleibt es stehen?«

»Ja.«

»Das glaube ich nicht. Beweise es mir! Du treibst es ja an; es geht aber nicht!«

»Weil ich die Einleitung vergessen habe. Ich wollte nicht wieder herabsteigen, um es nachzuholen. Darum bat ich dich um deine Hilfe. Aber, um dir zu beweisen, daß es gehorcht, muß ich dennoch wieder hinunter. Paß auf!«

Er arbeitete sich schwerfällig vom Pferd zur Erde nieder, drehte seinen Spieß um, hob ihn hoch empor und schrie dem Gaul zu:

»Ich weiß, was du willst! Du willst erst Prügel haben! Ich muß dir jedesmal, ehe ich aufsteige, zeigen, daß ich der Herr bin, nicht aber du; sonst glaubst du es nicht. Da hast du die Hiebe – da – da – da – da – und da!«

Er schlug mit aller Gewalt auf das Tier ein, daß es nur so klatschte und puffte. Das Pferd senkte den Kopf, es steckte ihn, damit er nicht getroffen werde, so weit wie möglich zwischen die Vorderbeine und nahm im übrigen die Hiebe wie etwas Alltägliches und Vertrautes hin, das einem gewohnt und lieb geworden ist. Als es sein Deputat aufgezählt bekommen hatte, turnte sich der Scheich wieder auf seinen Sitz hinauf und sagte:

»Nun paß auf, wie es laufen wird. Wenn es durchbrennen soll, muß ich vorher Feuer machen. Dann läuft es, und wie! Keine Möglichkeit, mich einzuholen! Komm!«

Sobald er oben war, zog der Gaul seinen Kopf zwischen den Vorderbeinen hervor, warf ihn hoch empor, ließ herausfordernd seine unbeschreibliche Stimme erschallen und schoß dann vorwärts, aus Leibeskräften und in einer Art und Weise, als ob er sich vorgenommen habe, mit dem Kopf durch alle Mauern von Ardistan zu rennen. »Komm! Hol mich ein!« rief der Scheich nochmals zurück. Dann war es aus mit dem Reden, denn er hatte sich alle Mühe zu geben, nicht herabgeschleudert zu werden. Das ebenso plötzliche wie eilige Vorwärtsschießen des unbeholfenen, massigen Pferdekörpers machte einen so unwiderstehlich heitern Eindruck, daß ich laut auflachen mußte. Mit der Verfolgung brauchte ich mich nicht zu übereilen. Halefs Ben Rih war mehr auf Lasso eingeübt als mein Syrr. Den ersteren habe ich jahrelang geritten, den letzteren aber nur erst kurze Zeit, und den starken, die Knochen sehr angreifenden Ruck, den der Lasso kurz nach dem Wurf gibt, wollte ich dem hochedeln Syrr ersparen. Ich sorgte also dafür, daß die Gewehre und alles, was an Riemen hing, nicht schleudern und schlagen konnte, band Syrrs Zügel am Sattelknopf fest, warf den Lasso in Schlingen und schwang mich auf Ben Rih. Der Lasso wurde im Sattelring eingehakt und dann ging es vorwärts. Rih folgte ganz von selbst, ohne alle Aufforderung. Die klugen Tiere begriffen, daß es sich darum handelte, den vor uns hinstürmenden Reiter einzuholen.

Der Urgaul leistete, was er leisten konnte. Als ich in den Sattel stieg, hatte er gewiß schon vierhundert Pferdelängen zurückgelegt; aber ihn einzuholen, erforderte für uns, selbst ohne daß ich meine Pferde anzutreiben brauchte, nur eine so kurze Zeit, daß es gar nicht nötig war, sie zu berechnen. »Kleine Hunde«, hatte der Scheich meine Pferde genannt, und wie Hunde, die ein Wild zu erjagen haben, flogen sie nun hinter ihm her, ohne daß es nötig gewesen war, sie vorher erst durch eine »Einleitung« mit dem Spieß zu begeistern.

Das Terrain war gar nicht ungeeignet zu einer solchen Jagd, rechts und links entweder Wald oder hoch aufstrebendes Gebüsch. Und nun schössen wir über ein Meer von Wohlgerüchen dahin, welches niedrigen Papilionaten entströmte, die einen schmalen, sich lang hinschlängelnden, baumlosen Strich ausfüllten. Es waren zwei Arten der orientalischen Genista – Ginster –, die eine hochgelb, die andere metallisch weiß blühend. Diese letztere wird auch in der Heiligen Schrift erwähnt. Die gelbe glänzte genau wie Gold, die weiße wie reines, schmelzendes Silber. Ob beiden oder nur einer von ihnen der herrliche Duft entströmte, das war bei der Eile, die ich hatte, nicht festzustellen.

Die goldig silberne Bahn, der ich folgte, lief nicht gerade, sondern in häufigen Biegungen. Darum verschwand der Scheich bei jeder dieser Krümmungen vor meinen Augen. So oft er dann wieder erschien, konnte ich deutlich ersehen, um wieviel ich ihm näher gekommen war. Das ging unbeschreiblich schnell. Es waren wohl kaum zwei Minuten vergangen, seit ich ihm folgte, so trennten mich nur noch acht oder neun Pferdelängen von ihm.

»Hier bin ich!« rief ich ihm zu. »Paß auf!«

Er drehte sich um. Als er sah, wie nahe ich ihm war, rief er aus:

»Das schadet nichts. Ich fange ja nun erst an zu galoppieren!«

Das war einfach lächerlich. Sein Pferd strengte sich ehrlich an, konnte aber schon fast nicht mehr. Es stöhnte bei jedem Sprung, den es tat; das hörte ich. Es war bereits außer Atem. Und nun trieb er es mit den Füßen, mit den Fäusten und mit dem Spieß derart an, daß ich schon aus Mitleid mit dem Tier der Sache ein Ende zu machen hatte.

»Halte dich fest!« warnte ich ihn. »Jetzt fasse ich dich!«

Er nahm sich gar nicht Zeit, sich wieder umzuschauen. Er rief die Antwort, die er mir gab, so vor sich hin, daß ich sie nicht verstand, schlug aber mit verdoppeltem Eifer auf sein Pferd ein. Da nahm ich die wohlgeordneten Schlingen des Lassos so leicht, daß sie schnell ablaufen konnten, in die offene, linke Hand, hob die Schleife über meinen Kopf empor, gab ihr den nötigen, genau berechneten Schwung und ließ sie fliegen. Der Augenblick hierzu war günstig gewählt, denn der Scheich harte gerade jetzt seine beiden Arme gesenkt. »Andak – halt an –!« rief ich meinen Pferden zu. Nur noch ein Sprung, da standen sie still. Die unzerreißbare, lederne Schleife schwebte grad über dem Kopf des Scheichs. Eine kleine Bewegung meiner Hand und dann ein kräftiger Ruck, so fiel sie nieder und legte sich ihm um die Oberarme. Im gleichen Moment bekam Ben Rih den schon erwähnten Ruck, den er aber sehr wohl kannte. Er stellte sich schief, um nicht umgerissen zu werden, und so wurde der Scheich von dem scharf angespannten Lasso vom Pferd geschleudert. Sein Gaul tat noch einige Sprünge und blieb dann mit schlagenden Flanken stehen, um zunächst wieder zu Atem zu kommen. Als dies geschehen war, drehte er sich um, jedenfalls in der Absicht, nachzuschauen, wohin sein Herr so plötzlich verschwunden sei. Dieser aber lag so tief in den duftenden Schmetterlingsblüten, daß er gar nicht zu sehen war. Dafür sah der Gaul mich, der ich soeben aus dem Sattel sprang. Er kam augenblicklich auf mich zu, blieb vor mir stehen, warf den Kopf empor, riß das Maul auf und begann eine derartige welterschütternde Lamentation über die Zumutung, die an ihn gestellt worden war, daß höchstwahrscheinlich Steine erweicht worden wären, wenn sie dagelegen hätten. Leider durfte ich mir nicht die Zeit nehmen, die Triller und Läufer dieser noch etwas ungeschulten Stimme zu genießen, denn der Scheich stand nicht wieder auf. Er lag vollständig bewegungslos auf der Stelle, auf die er gefallen war. Ich ging hin und kniete bei ihm nieder. Er befand sich in tiefer Ohnmacht. Jedenfalls war mit dem Kopf auf die Erde geprallt, und zwar so stark, daß er die Besinnung verloren hatte.

Ihm war diese Ohnmacht zu glauben. Bei einem Indianer hätte ich sie zunächst für Verstellung gehalten, in der Absicht, mich zu überlisten. Der Scheich der Ussul aber besaß wohl keine Veranlagung zu einer solchen Komödie. Seine Ohnmacht war jedenfalls echt, obwohl ich seinen Puls ziemlich deutlich schlagen fühlte. Und mir war sie hochwillkommen, denn durch sie wurde es mir möglich, ihn so vollständig und so mühelos unschädlich zu machen, wie es mir nicht möglich gewesen wäre, wenn er die Besinnung behalten hätte. Da kam mir denn der Pack Riemen gelegen, den er, wie bereits erwähnt, an seinem Gürtel hängen hatte. Ich machte ihn von meinem Lasso los, band ihm mit Hilfe dieser Riemen die Beine eng zusammen und die Arme fest an den Leib und schnitt aus dem nächsten Buschwerk einige Stangen, an die ich ihn lang ausgestreckt fesselte, um seinen eigenen Körper als Tragbahre zu benutzen, die ich meinen beiden Pferden aufladen wollte. Eben als ich die letzten Knoten schlang und er mir nun vollständig sicher war, kam er wieder zu sich. Er öffnete die Augen, die er zunächst ganz ausdruckslos auf mich richtete. Bald aber kehrte ihm auch das Gedächtnis zurück. Er erkannte mich, er besann sich. Seine erste Frage war:

»Wo ist Smihk? Ich sehe ihn nicht!« Doch ohne auf meine Antwort zu warten, fügte er sogleich hinzu: »Du hast mich also doch eingeholt! Unglaublich!«

»Und dich sogar gefangengenommen!« fügte ich hinzu.

Erst durch diese meine Worte wurde er darauf aufmerksam, daß er sich nicht bewegen konnte. Er versuchte zwar, die Glieder zu rühren, doch ohne Erfolg. Da rief er aus:

»Richtig! Ich bin sogar auch gefangen!«

»Wer hat also die Schande? Etwa ich?«

»Nein, du nicht, sondern ich!« antwortete er, indem er einen grimmigen Blick an sich herniedergleiten ließ. »Das werde ich bestrafen!«

»An wem?« erkundigte ich mich.

»An Smihk! Das kannst du dir doch denken! Oder meinst du etwa, ich sei schuld daran? Er ist eine faule Bestie! Ich schlage ihn tot! Wo ist er denn? Ich sehe ihn noch immer nicht!«

»Da steht er, gleich hinter dir. Wenn er deine Worte verstehen könnte, würde er dich auslachen.«

»Auslachen? Warum?«

»Weil du, der berühmte, tapfere Scheich der Ussul, nicht Mut genug besitzest, einen kleinen Fehler, den du gemacht hast, einzugestehen, sondern ihn auf ein unschuldiges Wesen wirfst, welches sich nicht dagegen wehren kann. Das ist eine Feigheit. Ja, das ist noch mehr als Feigheit; das ist Lüge, und du hast doch behauptet, daß die Ussul die Lüge hassen und verachten!«

»Ja, das tun wir; ja, die hassen wir! Der Lügner ist ein Feigling! Aber ich kann doch nicht einsehen, daß ich unwahr gesprochen habe. Wäre Smihk schneller gelaufen, so hättest du mich nicht einholen und vom Pferd werfen können. Sogar gebunden und gefesselt hast du mich! Wer ist also schuld daran? Nicht ich, sondern er!«

»Nein! Nicht er, sondern du! Du kanntest meine Pferde nicht, die mit dem Wind um die Wette laufen. Und du kanntest auch mich nicht, der ich weder Lust noch Veranlassung habe, mich wegen deiner Körpergröße vor dir zu fürchten! Es war eine unbegreifliche Unvorsichtigkeit von dir, mich und meine Pferde gegen dich und deinen dicken Gaul herauszufordern. Wenn du Verstand hast, so siehst du das ein!«

»Hm!« brummte er nachdenklich. »Da hätte ich also diesen Smihk um Verzeihung zu bitten? Gut, ich tue es! Ich lüge nicht! Und ich habe Verstand! Ich bin der Scheich der Ussul, die nur die Wahrheit reden! Also, es war eine Dummheit von mir! Das ändert aber daran nichts, daß du ohne meine Erlaubnis in mein Reich getreten bist, und daß ich folglich dein Gebieter bin, dem du zu gehorchen hast. Ich befehle dir also, mich loszubinden!«

»Sehr gern, aber jetzt noch nicht!« antwortete ich in meinem freundlichsten Ton.

»Warum nicht?« fragte er.

»Weil ich noch nicht ganz damit fertig bin, dich gefangenzunehmen.«

»Wieso?«

»Weißt du denn nicht, daß die Gefangennahme eines Menschen erst dann vollendet ist, wenn er im Gefängnis steckt?«

»Hältst du mich etwa für so dumm, daß ich das nicht weiß?«

»Oder du mich für so dumm, daß ich es nicht ausführe? Du hast über mich gelacht. Du hast es für unmöglich gehalten, daß ich dich in meine Gewalt bringe. Ich muß dir also beweisen, daß ich es kann. Daraus folgt, daß ich dich in das Gefängnis zu schaffen habe.«

»Wo gibt es denn eins?«

»Hier ganz in der Nähe.«

»Du irrst. Das einzige Gefängnis, welches in dieser Gegend vorhanden ist, das gibt es in meinem Schloß!«

»Wie?« fragte ich. »Du hast ein Schloß?«

»Ja. Ein großes, herrliches Schloß. Und rundum wohnt die Menge meiner Leute. Dieses Schloß kannst du doch wohl nicht meinen?«

»Nein.«

»Ein anderes Gefängnis aber gibt es doch nicht!«

»Du irrst.«

»So sag nur, wo?«

»Ganz in der Nähe hier.«

Er lachte und rief aus:

»Du kennst als Fremder Orte, die ich als der Besitzer dieses Landes niemals sah! Und nach diesem Gefängnis, welches ich nicht kenne, willst du mich bringen, um deinen Sieg zu vollenden?«

»Ja.«

»Wie willst du das anfangen? Ich bin ja gefesselt!«

»Ich lasse dich als Sänfte von meinen Pferden tragen. Oder ich binde dich an den Schwanz deines Smihk und lasse dich durch ihn an Ort und Stelle schleppen.«

»Das muß ich mir verbitten! Ich bin weder eine Sänfte, die getragen, noch ein Holzbündel, welches geschleppt werden muß. Ich werde reiten!«

»Und mir entfliehen? – Nein! Darauf gehe ich nicht ein!«

»So werde ich gehen!«

»Auch das nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich dich da losbinden müßte.«

Das leuchtete ihm ein. Er war fast ebenso ein Urgeschöpf wie sein famoser Dicker. Er sann einige Zeit sehr beträchtlich nach und sagte dann:

»Du hast recht! In das Gefängnis muß ich, falls du Wort halten willst. Wenn du mich aber ganz losbindest, werde ich dir unbedingt entfliehen. Da gibt es nur ein Mittelding, auf welches wir uns einigen können. Du gibst mir nämlich nur die Füße frei, die Arme aber nicht.«

»Gut! Einverstanden!« stimmte ich bei. »Dafür aber darfst du dich nicht dagegen wehren, daß ich dich, sobald wir das Gefängnis erreichen, in festen Gewahrsam nehme!«

»Das verspreche ich dir sehr gern«, lachte er. »Dieses Gefängnis existiert ja nur in deiner Einbildung. Wieviel Löcher hat es?«

»Keins. Es ist so gebaut, daß die Gefangenen nicht hineingeschafft, sondern nur außerhalb, also im Freien, untergebracht werden können.«

»Im Freien? Bist du verrückt? Und das nennst du ein Gefängnis? Höre, daß ich dich getroffen habe, das beginnt, mir großen Spaß zu machen. Es wollte mir erst so gar nicht passen, daß ich gefesselt und gefangen bin; in der Weise aber, wie du es treibst, fängt es an, mir zu gefallen. Gib mir die Füße frei! Dann gehen wir.«

»Das heißt: Du gehst, ich aber reite!«

»Ich habe nichts dagegen!«

Er nahm an, daß ich mich auf eines meiner Pferde setzen werde. Ich führte sie aber zur Seite, pflockte sie an und gebot ihnen, sich zu legen. Sie gehorchten sofort, und ich wußte, daß sie hier bleiben und erst bei meiner Wiederkehr aufstehen würden. Als der Scheich das sah, fragte er verwundert:

»Du läßt sie hier? Ich denke, du willst reiten?«

»Allerdings, aber nicht auf einem von diesen beiden Pferden.«

»So wohl gar auf meinen Smihk?«

»Allerdings.«

Da schlug er ein schmetterndes Gelächter auf und rief dabei:

»Auf meinem Smihk will er reiten! Er, der Knirps! Auf meinem Smihk, der nicht einmal mir gehorcht! Eine solche Verrücktheit ist ganz unerhört! Das Pferd schmeißt ihn doch gleich beim ersten Schritt, den es tut, herunter!«

»Wollen sehen!«

Bei diesen Worten trat ich nahe zum Gaul heran. Ich warf ihm die beiden herabhängenden Enden des Zügelstrickes nach oben, griff in den Kamm und schwang mich hinauf. Er ging vor Überraschung mit den beiden Vorderbeinen in die Höhe, stand dann aber ganz still und legte die Ohren derart nach hinten, als ob er mich mit ihnen besichtigen wolle. Auf diese kurze, schnelle und wenig umständliche Art war ihm noch niemand auf den Rücken gekommen.

»Paß auf! Jetzt fliegst du wieder herab!« warnte mich der Scheich.

Es fiel aber dem Dicken gar nicht ein, sich gegen mich zu sträuben. Als er fühlte, daß ich die beiden Strickenden in die Hände nahm, warf er den Kopf in die Höhe und ließ ein so außerordentliches Triumphgeheul hören, als ob er im Begriff stehe, vor Wonne zu platzen. Ich gab ihm beiderseitigen Schenkeldruck; er ging. Ich zog rechts, und ich zog links; er gehorchte augenblicklich. Er trabte und galoppierte, je nachdem ich den Schenkeldruck verstärkte. Und er blieb sofort stehen, als ich beide Zügel zugleich spannte. Dann stieg ich wieder ab. Da drehte er den Kopf zu mir herum und ließ ein behaglich brummendes Schnauben hören, welches sehr deutlich sagte: »Das war mir eine Freude! Ich danke dir! Steig nur bald wieder auf!« Der Scheich gestand aufrichtig ein:

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll! So etwas hat er noch nie getan, noch nie! Wie mag das wohl kommen?«

»Davon später. Jetzt haben wir keine Zeit, uns mit den Gedanken und Gefühlen der Tiere zu beschäftigen.«

»Gedanken und Gefühle?« fragte er. »Meinst du, die haben sie auch?«

»Natürlich!«

»Aber die gehen uns doch nichts an! So ein Vieh hat zu gehorchen, weiter nichts!«

»Du irrst. Doch wiederhole ich: hiervon später! Jetzt habe ich dich nach dem Gefängnis zu bringen.«

»Ja, nach dem Gefängnis, welches keine Gefängnisse hat!« lachte er. »Da hast du mich aber von den Stangen loszubinden!«

»Das nicht«, erwiderte ich.

»Warum nicht? Da kann ich doch den Körper nicht bewegen!«

»Das sollst du auch nicht. Zum Gehen brauchst du nur die Beine. Es genügt also, wenn ich nur sie freigebe. Halt still!«

Ich entfernte den Riemen von den Füßen an bis herauf zu den Hüften, schob ihm die Stangen höher an den Leib hinauf, daß sie unten nicht zu lang waren, und stand ihm dann bei, sich von der Erde aufzurichten. Er nahm diese seine Hilflosigkeit mit außerordentlich guter Miene hin. Die Situation machte ihm sichtlichen Spaß. Das war eine Naivität, die nur im Land der Ussul möglich sein konnte. Er hatte in seiner Einfalt eben nicht den allergeringsten Zweifel daran, daß er mein Herr und Gebieter sei und daß ich es nicht wagen werde, ihm in irgendeiner Weise zu widerstehen. Seine Harmlosigkeit ging sogar so weit, seine Fesseln als etwas ganz Selbstverständliches und zum heiteren Spiel Gehöriges hinzunehmen. Ich band ihn an das eine Ende seines Spießes, nahm das andere fest in die Hand, um ihn dirigieren zu können, und schwang mich wieder auf den breiten Rücken seines Urgaules. Dann traten wir den Weg nach dem »Gefängnis« an. Meine Pferde konnte ich unbesorgt hier zurücklassen, denn erstens hatte ich gar nicht die Absicht, mich sehr weit von ihnen zu entfernen, zweitens wußte ich, wie bereits gesagt, daß sie liegen bleiben würden, und drittens war mit Gewißheit anzunehmen, daß es ringsum keinen Menschen gab, der hier zu erwarten war.

Ich habe schon angedeutet, daß ich unter dem mehrfach erwähnten Gefängnis einen Baum verstand, an den ich den Scheich binden wollte. Ich sah einen hierzu passenden in der Nähe. Aus einem Gebüsch von Tamarix gallica erhob sich eine hohe Pappel von der Art Populus euphratica. Die war fest, und das Gebüsch bildete einen dichten Schirm, hinter dem ich meinen Gefangenen verschwinden lassen konnte, ohne daß er zu sehen war.

Als wir die Stelle erreichten, hielt ich an, stieg vom Pferd und führte den Scheich durch das Gesträuch hindurch bis zur Pappel.

»Lehne dich an den Stamm, aber recht fest!« forderte ich ihn auf.

»Warum?« fragte er.

»Ich muß dich anbinden.«

»Gehört das auch noch mit dazu?«

»Ja.«

»So tue es!«

Er lehnte sich, um es mir möglichst bequem zu machen, so fest, wie er konnte, an die Pappel und sah ganz ruhig zu, daß ich erst seine eigenen Riemen und dann auch meinen Lasso dazu benutzte, ihn so an den Stamm zu befestigen, daß es ihm nur mit fremder Hilfe möglich war, wieder loszukommen. Dabei sagte er treuherzig:

»Ich sehe aber ganz und gar nicht ein, warum du mich hier an diese alte Pappel bindest. Wenn du die Zeit hier verschwendest, wie lange soll es da dauern, bis wir an das Gefängnis kommen, welches du mir versprochen hast?«

»Gar nicht mehr dauert es«, antwortete ich. »Wir sind schon da.«

»Schon da? Wieso?« fragte er erstaunt, indem er um sich schaute.

»Diese Pappel ist das Gefängnis.«

Ich hatte ihn jetzt ebenso fest wie sicher und setzte mich nieder.

»Diese Pappel ...!« fuhr er fort. »Ist das Gefängnis ...? Höre, Fremder, ist das Scherz oder ist es Ernst?«

Sein Gesicht nahm jetzt einen Ausdruck an, der bedenklich und immer bedenklicher wurde.

»Es ist mein Ernst«, antwortete ich.

»Und ich habe es so halb und halb für einen Scherz genommen, obwohl der Scheich der Ussul eigentlich kein Mann ist, mit dem man ungestraft Scherze treiben darf. Aber merke dir, daß ich den Scherz mit dir getrieben habe, nicht etwa du mit mir! Also dieser Baum ist das Gefängnis! Und also darum hatte es keine Löcher, in die man gesteckt wird! Und also darum werden die Gefangenen nur außen herum untergebracht, im Freien! Der jetzige Gefangene bin ich?«

»Ja, du!«

»Wie lange? Wann werde ich wieder frei?«

»Sobald du willst.«

»Das ist gut! Das freut mich! Ich fordere dich also auf, mich augenblicklich wieder loszubinden. Ich muß zu meinen Leuten in das Lager, und du mußt mit!«

»Das eilt nicht so!«

»Du hast mir aber doch gesagt, sobald ich will. Und ich will!«

»Das hast du zu beweisen.«

»Beweisen? Warum? Wieso?«

»Dadurch, daß du dafür sorgst, daß meinem Begleiter, der sich höchstwahrscheinlich in eurem Lager befindet, nichts geschieht, was mir nicht gefällt.«

»Allah 'l Allah! So würde ich verwundert ausrufen, wenn ich Mohammedaner wäre. Da ich aber keiner bin, so rufe ich es nicht, sondern sage dir nur, daß ich Amihn heiße und der Scheich der Ussul bin. Du bist mein Eigentum, und darum ist alles mein, was du besitzest.«

»Mit welchem Recht?«

»Mit dem Recht der Gewohnheit, der Sitte, des Gebrauches.«

»So hat also jedermann das zu tun, was Recht und Gepflogenheit seines Stammes ist?«

»Natürlich!«

»Auch ich und du?«

»Ja, auch ich und du!«

»Schön! Einverstanden! So sind wir also einig!«

»Gewiß sind wir einig! Bei den Ussul ist es Recht und Sitte, daß die Personen und das sämtliche Eigentum jedes Menschen, der ohne besondere Erlaubnis zu uns kommt, uns gehört. Darum bist du mein und hast mir zu gehorchen. Herrscht diese Sitte bei euch nicht auch?«

»Gewiß! Doch aber in etwas anderer Weise!«

»In welcher?«

»Bei uns heißt es nicht: Jeder Mensch, der zu uns kommt, sondern: Jeder Mensch, zu dem wir kommen!«

»Ich verstehe dich nicht ganz.«

»So paß auf: Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns, und zwar mit allem, was er besitzt.«

»Wirklich?« fragte er erstaunt.

»Ja«, antwortete ich mit besonderer Betonung.

»Da seid ihr schöne Kerle! Pfui Teufel!«

Er machte eine Gebärde des Abscheues und spuckte dabei aus.

»Findest du das etwa nicht richtig?« erkundigte ich mich.

»Ganz und gar nicht richtig! Es müßte denn sein, daß ich dich falsch verstanden habe. Nach deinen Worten ist es doch folgendermaßen: Wenn ihr in ein fremdes Land kommt, so ist dieses Land euer, samt allen seinen Bewohnern und aller ihrer Habe. Ist es so?«

»Ja.«

»So sage ich noch einmal ›Pfui Teufel‹! Ihr Räuber, ihr Gauner, ihr Schufte, ihr Schurken!«

Er spie jetzt wieder aus. Dann fuhr er fort:

»Was seid ihr denn eigentlich für Menschen? Wie heißt dein Stamm?«

»Dscherman – Deutsche – heißt er.«

»Das wundert mich. Ich habe von diesem Stamm gehört. Die Dschermanen sollen im fernen Westen des Abendlandes wohnen und sehr gute, sehr kluge, sehr tapfere und sehr vernünftige Leute sein.«

»Das sind sie allerdings!«

»Nein, das sind sie nicht, wenn sie so sind, wie du sagst! Wenn du als Deutscher hierherkommst, so bin ich also dein?«

»Ja.«

»Pfui Teufel! Was habt ihr für eine Religion?«

»Wir sind Christen.«

»Das will ich glauben! Denn wohin die Christen nur kommen, da stehlen sie alles, alles weg, was sie nur finden.«

»Woher weißt du das?«

»Das weiß doch die ganze Welt! Erst sind die Christen Bettler gewesen, blutarme Leute, haben gar nichts gehabt und ihren Hunger von den Ähren des Getreides gestillt. Isa Ben Marryam – Jesus, Marias Sohn –, der Stifter ihrer Religion, hat nicht einmal gehabt, wohin er sein Haupt legte. Und heute gehören ihnen die meisten Länder und die meisten Völker der Erde. Das alles haben sie sich zusammengeraubt und zusammengestohlen, teils mit List und teils mit Gewalt. Und sie sind hiermit nicht etwa zufrieden, sondern sie rauben und stehlen weiter, und sie werden mit ihren Listen und Gewalttaten nicht eher aufhören, als bis sie alles besitzen, was es auf Erden gibt! Und zu diesen Räubern, Mördern und Gaunern gehörst auch du?«

»Ja.«

»Pfui Teufel!«

Er spuckte wieder aus. Dann wollte er mich höchst verächtlich ansehen, brachte es aber nicht fertig, denn er sah das ruhige Lächeln meines Gesichtes, regte sich darüber auf und fuhr also zornig fort:

»Und da bist du so ruhig dabei, wenn ich pfui Teufel sage? Und da lächelst du so freundlich, so gütig und so selbstbewußt, als ob du einer der vielen Engel seist, von denen das Christentum und der Islam berichten? Hast du kein Gewissen, keine Scham?«

»Ich habe beides.«

»Unmöglich!«

»Ich bitte dich, diese Frage nach dem Gewissen und nach der Scham erst dir selbst vorzulegen, ehe du sie an mich richtest!«

»Willst du mich beleidigen?«

»Nein. Ich will nur einmal der Spiegel sein, in dem du dich selbst erkennst. Gesetzt, es wäre wahr, daß wir den fremden Leuten, zu denen wir kommen, alles nehmen, was ihnen gehört, so berauben wir eben doch nur fremde Leute. Du aber bestiehlst nicht fremde Leute, sondern die Menschen, die zu dir kommen und also deine Gäste sind. Wer ist also der größere Räuber, Gauner, Schuft und Schurke?«

Er machte ein sehr überraschtes Gesicht, gestand aber ehrlich, wenn auch nicht allzu schnell ein:

»Wir, natürlich wir! Denn den Gastfreund berauben, das ist die größte Schlechtigkeit, die es auf Erden gibt! Ich habe nicht gedacht, daß wir so schurkische ...«

Da hielt er plötzlich im Satz inne, dachte nach und fuhr dann langsamer fort:

»Aber – aber – da sehe ich plötzlich, daß du mich mit einer Rede überrumpelt hast, deren Wahrheit erst zu prüfen ist, bevor man an sie glaubt! Beraube ich wirklich meine Gäste?«

»Gewiß!«

»Beweise es mir! Bist du etwa mein Gast? Indem ich nach deinem Eigentum greife, nehme ich es einem Menschen, der mir vollständig fremd ist. Und sind denn alle die, die ihr um ihre Länder bringt, euch fremd, vollständig fremd gewesen? Gibt es keinen einzigen Fall, in dem ihr ihre Gäste gewesen seid? Ich bitte dich also, dich ja nicht etwa zu brüsten. Es ist ein Räuber wie der andere und ein Spitzbube wie der andere! Seien wir ehrlich und lügen wir uns nicht an! Wer in des anderen Hände fällt, der hat Unrecht, immer Unrecht. So ist es bei euch und auch bei uns. Und da du es bist, der in meine Hände fiel, so habe ich recht, du aber unrecht. Ist das etwa nicht richtig?«

»Nein.«

»Wieso?«

»Zeig mir doch einmal deine Hände, in die ich gefallen bin!«

»Das kann ich augenblicklich nicht, denn du hast sie mir ja gebunden.«

»So sieh hier meine Hände! Die sind nicht gebunden, sondern frei.«

Ich stand vom Boden auf, zeigte sie ihm hin, faßte ihn bei beiden Armen und fuhr dann fort:

»Und nun schau und fühle, wer es ist, der mir in diese meine Hände fiel! Sag mir, wen halte ich fest?«

»Mich«, antwortete er, schon wieder erstaunt.

»Befinde ich mich also in deiner Gewalt? Oder du dich in der meinen?«

Das ging ihm über alle Begriffe. Er warf den Kopf hoch und öffnete den Mund, fast ebensoweit, wie sein Dicker zu tun pflegte, doch nicht in derselben Absicht, um zu wiehern. Er machte ihn im Gegenteil sehr bald wieder zu, ließ den Kopf wieder sinken und sagte:

»Höre, Fremder, du sprichst Gedanken aus, denen man unmöglich folgen kann. Ich werde besorgt um dich. Du bist kein guter, sondern ein gefährlicher Mensch, ein sehr gefährlicher!«

»Und da wirst du nicht besorgt um dich, sondern um mich?« lächelte ich.

»Lächle mich nicht in dieser Weise an«, zürnte er mir. »Ich kann es nicht leiden! Weißt du, man sieht bei diesem deinem Lächeln ein, daß man unrecht hat. Und das will ich nicht! Und man gewinnt dich bei diesem deinem Lächeln lieb. Und das will ich auch nicht! Ich beginne zu ahnen, daß du mir nicht gehorchen willst. Sei aufrichtig und sage mir: Was hast du für Gedanken?«

»Das sollst du gleich erfahren. Zunächst sage ich dir, daß ich ein freier Mann bin und nicht etwa dir gehöre. Ich stehe im Begriff, dir das zu beweisen. Ferner sind auch die Gegenstände, die ich bei mir habe, nicht dein Eigentum. Darum hole ich mir zurück, was du mir vorhin genommen hast.«

Ich griff ihm in die Tasche und steckte meine Uhr wieder zu mir.

»So ist sie also nicht mehr mein?« fragte er naiv.

»Nein.«

»Schadet nichts! Ich nehme mir sie wieder!«

»Versuche, es zu tun! Jetzt reite ich nach eurem Lager, um mit ...«

»So mach mich los!« unterbrach er mich.

»Geduld, Geduld! Ich reite zunächst allein.«

»So nimmt man dich gefangen, wie man deinen Gefährten jedenfalls auch gefangengenommen hat!«

»Pah! Du nahmst mich ja auch gefangen – und wer ist nun jetzt der Gefangene?«

»Ich war nur eine Person und traute deiner Rede; sie aber sind ihrer viele und trauen dir nicht!«

»Ob sie mir trauen oder nicht, das ist mir gleich; ich will nur, daß sie mir gehorchen.«

»Gehorchen? Das werden sie nicht.«

»Sie müssen!«

»Wie wolltest du sie zwingen?«

»Durch dich.«

»Durch mich? Ich gebe mich nicht dazu her, sie zum Gehorsam gegen dich zu verführen!«

»Du sprichst, ohne dabei zu denken! Du hast dich ja schon dazu hergegeben, nämlich mir! Nun reite ich auf deinem dicken Smihk nach eurem Lager und ...«

»Auf meinem Smihk?« unterbrach mich der Scheich. »Das wirst du mit deinem Leben zu bezahlen haben. Meine Krieger machen dich tot!«

»Warum?«

»Weil sie glauben, daß du dich an mir vergriffen hast!«

»Das ist es ja grad, was ich will! Sie sollen es nicht nur glauben, sondern ich werde es ihnen selbst sagen, selbst mitteilen.«

»So bist du verloren!«

»Im Gegenteil: Es wird meinen Gefährten retten, falls sie etwa Böses mit ihm vorhaben.«

»Du kennst sie nicht!«

»Das ist auch gar nicht nötig. Ich brauche nur mich zu kennen. Ich sage ihnen, daß ich dich gefangengenommen und festgebunden habe, und daß du sterben mußt, wenn man gegen mich oder meinen Gefährten auch nur die geringste Feindseligkeit unternimmt.«

»Sterben?« fragte er erschrocken.

»Ja.«

»Ich?«

»Ja, du!«

»Welch ein Schreck für Taldscha, meine Frau!«

Taldscha heißt Schneeglöckchen. Sollte dieser Mann eine Frau besitzen, die an Schönheit, Reinheit, Lieblichkeit und Zierlichkeit mit einem Schneeglöckchen zu vergleichen war? Ich wurde neugierig, dieses niedliche Glöckchen zu sehen.

»Du willst also meinen Leuten mit meinem Tode drohen?« fuhr er fort.

»Ja«, antwortete ich.

»Sie können einem solchen Knirps, wie du bist, ganz unmöglich glauben, daß du mich überwältigt hast!«

»Darum reite ich auf deinem Dicken. Wenn sie sehen, daß ich dir den abgenommen habe, werden sie überzeugt sein, daß du dich in meiner Gewalt befindest.«

»Fremder, du bist ein ganz verteufelter, ein ganz pfiffiger Kerl! Wenn man nur nicht so gezwungen wäre, dich liebzuhaben! Wann wirst du wiederkommen?«

»Das kann kurze Zeit, das kann auch Stunden dauern, je nachdem deine Krieger mit sich reden lassen oder nicht.«

»Und während dieser Zeit soll ich hier hängen bleiben?«

»Ja.«

»So rufe ich um Hilfe! Ich brülle! Meine Leute werden mich suchen und es hören, wenn sie in die Nähe kommen! Dann binden sie mich los, und du bist verloren!«

»Du wirst nicht um Hilfe rufen können, denn ich werde dir einen Knebel in den Mund stecken.«

»Einen Knebel? Könntest du wirklich so schlecht sein?«

»Ja. Sogar noch viel schlechter.«

»Dann werde ich wenigstens so laut brummen, daß man es hören muß. Das kann man selbst bei verschlossenem Mund!«

»So binde ich dir auch die Nase zu!«

»Wirklich? Dann müßte ich doch unbedingt ersticken!«

»Das weiß ich ebensogut wie du; aber du willst es ja nicht anders. Du drohst mir mit Schreien und Brummen und weißt doch, daß ich das verhüten muß. Jammerschade!«

Ich sprach dieses letztere Wort im Ton des Bedauerns aus. Er sah mich prüfend an und fragte dann:

»Schade? Was ist jammerschade?«

»Daß du mich zwingst, so streng gegen dich zu sein. Ich quäle dich nur ungern damit, daß ich dir Mund und Nase verschließe.«

»Ungern? Wirklich? Ja! Du bist nicht nur ein kluger Mensch, sondern auch ein sehr lieber, guter Kerl. Der Knebel, den du mir in den Mund stecken willst, tut deinem Herzen weh. Aber, warte einmal! Ich will nachdenken. Vielleicht finde ich ein Mittel, den Knebel zu umgehen!«

Er zog seine Stirne in ihre tiefsten Denkerfalten und blinzelte mit den Augen, um mir anzudeuten, daß die angeborene Intelligenz in ihm zu arbeiten beginne; dann rief er plötzlich aus:

»Ich hab's! Was wirst du tun, wenn ich dir verspreche, weder um Hilfe zu rufen noch zu brummen?«

»Dann werde ich dir weder Mund noch Nase verschließen, denn ich weiß, daß du dein Versprechen unbedingt halten wirst.«

»Unbedingt!« stimmte er bei. »Habe ich dir noch nie gesagt, daß die Ussul die Lüge hassen? Ich bliebe still, selbst wenn meine Leute kämen.«

»Aber losbinden ließest du dich von ihnen?«

»Auch das nicht, falls du mir versprichst, ganz sicher zurückzukehren, um mich wieder loszumachen.«

»Und glaubst du diesem meinem Versprechen?«

Da sah er mich verwundert an und antwortete:

»Warum soll ich dir nicht glauben? Du glaubst ja doch auch mir! Hältst du mich etwa für schlechter, als du bist?«

Welch ein Mensch! Ich fühlte mich innerlich verpflichtet, diese beispiellose Rechtschaffenheit sofort zu belohnen. Darum sagte ich:

»Wie sehr ich deinem Worte traue, das will ich dir beweisen. Wenn du mir versprichst, hier an diesem Baumstamm sitzen zu bleiben und ihn als dein Gefängnis zu betrachten, bis ich zu dir zurückkehre, so binde ich dich los!«

»Ich verspreche es. Genügt dir das?«

»Ja.«

Ich knüpfte erst den Lasso und dann auch alle Riemen auf. Während ich dies tat, gestand ich ihm aufrichtig:

»Ich bin sogar bereit, dich vollständig freizugeben und nach eurem Lager mitzunehmen, wenn du mir dein Wort gibst, mich und meinen Begleiter nicht als Feinde zu behandeln.«

Er schüttelte den Kopf und erklärte:

»Aus diesem Vorschlag spricht die Stimme deines Herzens, aber es ist mir verboten, auf sie zu hören.«

»Von wem?«

»Von der Ehrlichkeit. Wir Ussul geben niemals Versprechen, von denen wir wissen, daß sie höchstwahrscheinlich nicht zu halten sind. Ich weiß ebensowenig wie du, wo dein Begleiter steckt und was er getan hat, oder was mit ihm geschehen ist. Falls man ihn ergriffen hat, kommt es darauf an, ob er sich dagegen wehrte. Ein einziger Tropfen Blut kostet ihm das Leben. Und selbst wenn er keinen Widerstand leistete, bin ich nicht der einzige, der über sein Schicksal zu bestimmen hat. Der Sahahr – Zauberer – hat auch mit zu bestimmen. Ich kann dir also kein Versprechen machen und bleibe lieber als rechtschaffener Mann hier im Gefängnis sitzen, als daß ich mir die Freiheit durch Betrug erkaufe.«

Er war inzwischen von seinen Fesseln befreit, setzte sich nieder und lehnte sich an den Pappelstamm mit der Miene eines Mannes, der entschlossen ist, an Ort und Stelle zu bleiben.

»So reite ich denn allein fort«, sagte ich. »Du wirst also hier warten, bis ich zurückkehre?«

»Ja.«

»So werde ich mich beeilen. Leb wohl!«

Ich reichte ihm die Hand. Er schüttelte sie mir in höchst brüderlicher Weise, ließ über sein urwaldbärtiges Gesicht ein freundliches Lächeln gehen und sprach:

»Kehr bald zurück! Ich freue mich schon darauf. Ich habe dich schon sehr gern, genau so gern wie der Smihk!«

Er bezog sich mit dieser Äußerung auf den Urgaul, der vor Wonne zu trampeln begann, als er sah, daß ich beabsichtigte, mich wieder auf seinen Rücken zu schwingen und als ich oben war, stieß er einen Jubelschrei aus, der genau so klang, als ob der tiefste Ton einer Baßposaune mit dem höchsten Ton einer Pikkoloflöte im heftigsten Zweikampf liege, und rannte mit solcher Schnelligkeit davon, als ob er den Scheich der Ussul im ganzen Leben nicht wiedersehen wolle.

Ich bin einmal mit einem feschen Tirolerbuben, der am Tag vorher Hochzeit gemacht hatte, auf die Alpe gestiegen. Der konnte sich vor lauter Glück nicht fassen und stieß alle fünfzig oder hundert Schritt einen schallenden Juchzer aus, sonst wäre er vor Seligkeit zerplatzt. Mein Dicker schien ähnlich wirkende Seligkeiten im Busen zu tragen, denn er benahm sich fast genau in derselben Weise. Während er spornstreichs dahinrannte, ohne sich nach rechts oder links umzusehen, riß er von Intervall zu Intervall das Maul auf und ließ einen Juchzer hören, welcher so klang, als ob ein Kanonenschuß, ein Ziegenmeckern, ein Hähnekrähen, ein Eselsschrei und das Zischen einer dampfabblasenden Lokomotive zusammengemischt und dann mit aller Gewalt durch einen Klarinettenschnabel hinausgeblasen werde. Und wunderbar war es, daß ich ihn fast nicht zu lenken brauchte. Er schien mein Gespräch mit seinem Herrn genau verstanden zu haben und infolgedessen sehr wohl zu wissen, wohin ich jetzt wollte. Denn er rannte von der Pappel aus direkt nach der Stelle zurück, an der ich seinen Herrn mit dem Lasso festgenommen hatte, und bog dann ohne das geringste Zögern rechts auf die Spuren ein, durch welche die Richtung bezeichnet wurde, aus der wir gekommen waren. Er trug mich also durch die duftenden Papilionaten nach der Stelle zurück, auf welcher unsere Begegnung stattgefunden hatte, und zwingt mich dadurch noch heut zu einem Geständnis, durch welches ich mich ganz unbedingt blamiere.

Nämlich, wenn meine Reiseerzählungen wirklich aus der »reinen Phantasie« geschöpft wären, wie zuweilen behauptet wird, so käme ich jetzt ganz gewiß mit großen wunderbaren Reiterkünsten, durch die ich den Dicken besiegte und dazu zwang, nun hier an diesem Ort, wo die Gefahr für mich begann, gehorsam anzuhalten, damit ich die nötige Bedachtsamkeit und Vorsicht üben könne. Aber ich erzähle bekanntlich nur Wahrhaftiges und innerlich wirklich Geschehenes und Erwiesenes. Meine Erzählungen enthalten psychologische Untersuchungen und Feststellungen. Kein wirklicher Psychologe aber würde mir Glauben schenken, wenn ich so töricht wäre, zu behaupten, daß es im fernen und doch so nahen Land des Menscheninneren so leicht sei, ein Urpferd bzw. Urgeschöpf zu zähmen. Diese Urgefühle gleichen dem dicken Smihk in so auffallender Weise, daß ich unbedingt bei der Wahrheit bleiben und meine Ohnmacht eingestehen muß, ihn mir untertan zu machen. Es ging mir vielmehr ganz genau so, wie vorhin dem Scheich selbst: Ich hatte während des ungemein holperigen Galoppes nur darauf zu achten, nicht herabgeschleudert zu werden. Der Dicke ging nicht etwa durch mit mir, o nein. Was er tat, das tat er mit voller Überlegung und aus reiner Liebe. Er wollte mir zeigen, was für ein vortrefflicher Renner er sei. Ich sah dies ein und hoffte, daß er da, wo Hadschi Halef sich von mir getrennt hatte, anhalten werde. Aber das fiel ihm gar nicht ein. Im Gegenteil! Sobald er dort die breiten Spuren der Ussul zu Gesicht bekam, vergrößerte sich sein Eifer. Er hatte zwar fast keinen Atem mehr, aber er lief trotzdem noch schneller als vorher. Ich tat alles, dies zu verhindern, doch vergeblich. Der Zügelstrick wirkte nicht. Schenkeldruck gab es nicht. Dazu war das liebe Tierchen denn doch zu dick! Ich versuchte es mit begütigenden Zurufen. Sie bewirkten grad das Gegenteil: Smihk glaubte, ich wünsche noch größere Schnelligkeit. Ich kannte die Interjektionen noch nicht, durch welche die Ussul ihre Pferde kommandieren. Schließlich wendete ich die Sporen an, um höchst albernerweise das Pferd dafür zu strafen, daß es mich nicht verstand. Da wurde es noch toller. Es rannte nicht mehr, sondern es flog. Aber was war das für ein Flug! Wie eine Löffelgans mit Sperlingsflügeln! So ging es ächzend, stöhnend, fauchend, schnurrend und knurrend auf den Spuren der Ussul weiter, zwischen den Buschgrenzen dahin, um die linke Ecke, hinter der mein Hadschi verschwunden war, und dann direkt auf das Lager der Ussul zu. Denn der Scheich hatte mir ja gesagt, daß man vom Lager aus grad bis nach dieser Ecke sehen könne. Ich nahm an, daß man mich jetzt dort bemerkte und daß der Dicke, dort angekommen, stehenbleiben werde. Ich hatte mich heimlich anschleichen wollen und kam nun jetzt so gewaltsam öffentlich! Was hatte ich zu erwarten? Mochte es sein, was es wolle, ich besaß keine Macht, es abzuwenden. Ich konnte nur dahin trachten, womöglich nicht bemerken zu lassen, daß nicht ich, sondern das Pferd der Lenker war.

Unser Weg, nämlich die Lichtung, führte grad auf den Wald zu und dann in diesen hinein. Er verlief dort nicht eben, sondern er senkte sich; er ging abwärts. Das ermöglichte mir einen sehr willkommenen Überblick. Die eigentliche, vollständig freie Aussicht, die ich hatte, war zwar nicht breit, aber zu beiden Seiten von ihr standen die Riesenbäume so weit auseinander, daß sich mir die Situation zwischen ihren Stämmen hindurch sehr deutlich vor Augen stellte.

Das Lager war am Waldesrand errichtet: Hütten aus Stangen, Zweigen und Laub mit mehreren Feuerstätten. Von da ging es zwischen den Bäumen nach einer Art von See hinunter, in dem eine Insel lag. Auf diese Insel zu schwamm ein Boot, ein riesiger Einbaum, aus einem einzigen Stamm durch Feuer ausgehöhlt. Es wurde von zwei Männern gerudert. Zwei andere saßen darin, ohne etwas zu tun. Das sah ich deutlich. Denn die grad auf die glänzende Fläche des Sees verlaufende Lichtung wirkte zwischen dem dunklen Saum der Bäume wie ein Fernrohr, welches das Objekt vergrößert und verdeutlicht. Ich konnte die Kleidung und die Gesichtszüge nicht erkennen, aber der eine von den beiden war bedeutend kleiner als der andere. Im Lager schien sich niemand zu befinden. Die Leute, die ich sah, standen am Ufer des Sees oder waren unterwegs nach dem Lager zurück.

Je mehr ich mich dem letzteren näherte, desto bestimmter wurden die Umrisse dessen, was ich sah. Die Gesichtszüge derer, die mir näher waren, wurden deutlicher, und ich erkannte die Kleidung des kleinen Mannes im Kahn; Halef war es. Ich vermutete, daß man ihn gefangengenommen hatte und nun nach der Insel schaffen wollte. Man hatte mich bis jetzt noch nicht bemerkt, weil die Aufmerksamkeit auf den Kahn gerichtet gewesen war; nun aber sah man mich. Das Pferd des Scheichs, und ein fremder Mensch darauf! Im rasenden Galopp, wie man den Dicken noch niemals hatte laufen sehen! Man erhob ein lautes Geschrei und kam von der mir entgegengesetzten Seite auf das Lager zugerannt. Es waren lauter riesige Gestalten, einige von ihnen sogar noch größer als der Scheich. Sie rissen ihre Waffen von den Baumstämmen, an denen sie hingen oder lehnten, und schauten mir drohend entgegen. Natürlich glaubten sie, daß ich am Lager anhalten werde. Der Dicke schien allerdings dieses Willens zu sein, denn als wir noch ungefähr dreißig Pferdelängen entfernt waren, minderte er die Schnelligkeit seines Laufes. Da aber kam mir ein Gedanke: War es einmal gelungen, meinen Halef nach der Insel zu schaffen und dort zu isolieren, so bildete er in den Händen der Ussul eine Geisel gegen meine Geisel, und ich verlor den besten Trumpf, den ich besaß. Der fette, runde Dicke war auf alle Fälle ein guter Schwimmer. Er durfte nicht stehenbleiben. Er mußte zum See und mit mir in das Wasser. Ich stieß ihm also die Sporen in die Seiten. Da gab er den Vorsatz, anzuhalten, auf und griff von neuem aus. Ich steckte meine Revolver, um sie gegen Nässe zu schützen, in das Innere meines ledernen Gürtels und nahm die beiden Gewehre in die Hand, um sie beim Sprung in das Wasser hochzuhalten. So schössen wir an dem Lager vorüber, in den Wald hinein und auf den See zu. Die dort Stehenden hörten das Geschrei derer, die sich auf dem Weg nach dem Lager befunden hatten. Sie sahen mich und stimmten in das Geschrei mit ein.

Es gab eine hochinteressante, unendlich wilde Szene. Diese mächtigen Urwaldbäume! Dieser schlangengleich sich windende, mir wie ein lauerndes Unglück entgegenschimmernde See! Diese gigantischen Menschengestalten! Diese unartikulierten Stimmen! Diese grotesken, ungeschlachten Bewegungen, in die sie ihre Drohungen kleideten! Dazu der ungewöhnliche Anblick, den ich auf dem vor Anstrengung laut stöhnenden Dicken bieten mußte. Meine Sporen trieben ihn vorwärts. Er weigerte sich nicht im geringsten. Er schien keine Spur von Furcht vor dem Wasser zu besitzen und das hinter uns und vor uns erdröhnende Geschrei für eine sehr ästhetische Anregung zu halten, denn als er dem Wasser in nächste Nähe kam, brüllte er laut und ehrlich mit und flog in einem wahren Riesensprung vom Ufer weg in die tiefe Flut hinein. Wie es geschehen konnte, daß das Wasser mich nicht von seinem breiten Rücken hob, das weiß ich heut noch nicht. Ich hielt im Sprung die Gewehre hoch, sank aber infolge der Schwere mit dem Dicken so vollständig unter, daß auch die Waffen naß wurden, doch glücklicherweise nur äußerlich, denn wir tauchten sofort wieder auf, und da war es ein für mich sehr günstiger Umstand, daß ich noch fest saß und mich von dem Dicken tragen lassen konnte, anstatt selbst schwimmen zu müssen.

Das Urpferd benahm sich so, als ob es von den Amphibien stamme, die im Wasser ebenso zu Hause sind wie auf dem Land. Es schwamm nicht nur gut, sondern auch schnell. Und was die Hauptsache war, es sah das Boot, welches nach der Insel strebte, und schwamm ihm augenblicklich nach, und zwar mit einem solchen Eifer, als ob es meine Absichten begriffe. Hätte es eine andere Richtung eingeschlagen, so wäre es mir wohl sehr schwer geworden, dem Boot nicht nur zu folgen, sondern gar es einzuholen. Nun sah ich auch die Züge des kleinen Mannes deutlich, der darin saß: es war wirklich Halef. Ganz selbstverständlich erkannte er auch mich.

»Hamdulillah, Allah sei Preis und Dank, daß du kommst!« rief er mir zu. »Man will mich hier auf der Insel einsperren. Ich bin Gefangener!«

Er sprach in seinem heimatlichen, maghrebiner Dialekt, den von den Ussul jedenfalls keiner verstand.

»Bist du gefesselt?« antwortete ich ihm über die Wasserfläche hinüber.

»Nur die Hände auf den Rücken gebunden. Weiter nichts.«

»Wie sind die Leute im Boot bewaffnet?«

»Sie haben nur Messer. Der Kerl, neben dem ich sitze, ist der Zauberer.«

»Hast du schon gesagt, wer wir sind?«

»Ist mir nicht eingefallen!«

»Von mir gesprochen?«

»Kein Wort! Ich habe so getan, als ob ich ganz allein sei.« »Aber sie haben sich nach deinem Pferd erkundigt?«

»Nein.«

»Du hast doch Sporen! Folglich mußten sie sich sagen, daß du beritten bist!«

»Hierzu sind sie zu dumm. Willst du das Boot einholen?«

»Ja.«

»Das werde ich dir erleichtern.«

Während dieser kurzen Wechselrede wurde ihm das Sprechen von dem Zauberer wiederholt verboten. Ich konnte das zwar nicht deutlich verstehen, aber ich ersah es aus den Gestikulationen. Jetzt wendete sich Halef zu ihm hin, um Fragen, die man an ihn richtete, zu beantworten. In wie pfiffiger Weise er dies tat, war sehr bald zu ersehen. Der Zauberer erteilte den Ruderern einen Befehl, infolgedessen das Boot gewendet wurde und dann gerade Richtung auf mich nahm.

»Sie wollen dich ergreifen«, rief er mir zu.

»Das ist mir lieb«, antwortete ich. »Bleib fest sitzen, daß du nicht herausfällst! Das Boot wird sehr ins Schwanken kommen. Ich werfe den Zauberer in das Wasser!«

»Allah, Wallah, Taliah! Nun du da bist, gibt es doch gleich einen anderen Ton!«

Mein Dicker paddelte sich mit großer Energie vorwärts, und auch die beiden Ruderer holten sehr kräftig aus. So kamen wir einander schnell näher, und der Zauberer hielt es für an der Zeit, das Wort an mich zu richten. Es war ein Hüne, doch bei Jahren, mit weißem Haar und Bart. Auch seine nackte Brust war dicht und weiß behaart. Das gab ihm etwas Eisbärartiges, zumal seine Bewegungen zwar nicht plump, aber ziemlich ungelenk zu nennen waren.

»Wer bist du?« fragte er mich.

»Das wirst du bald erfahren«, antwortete ich aus dem Wellenkreis heraus, den mein Urgaul um mich schlug.

»Was willst du hier?« fuhr er fort.

»Nach der Insel hinüber will ich!«

»Das darfst du nicht! Du hast hierherzukommen, in mein Boot!«

»Fällt mir nicht ein!«

Natürlich verstellte ich mich bloß, um ihn sicher zu machen.

»Du hast zu gehorchen! Ich zwinge dich!« drohte er.

»Versuch, ob es dir gelingt!«

»Wenn du dich weigerst, schlagen wir dich einfach mit den Rudern tot!« drohte er.

Da tat ich, als ob ich erschrecke, und meinte in zaghaftem Ton:

»Das werdet ihr doch nicht! Oder seid ihr etwa Mörder?«

»Nein! Wir sind Ussul, und ich bin der Sahahr, der Priester. Wir morden nicht. Aber wer es wagt, uns zu widerstehen, der gefährdet allerdings sein Leben. Paß auf! Ich gebe dir die Hand und ziehe dich vom Pferd in das Boot herein!«

Der gute, alte Mann! Er tat so außerordentlich martialisch und hatte dabei doch das gutmütigste Gesicht, das man sich denken kann! So, wie er aussah, pflegt man sich den heiligen Nikolaus, den »Weihnachtsmann«, den Knecht Ruprecht vorzustellen, der kurz vor dem Christfest in Dorf und Stadt herumzugehen pflegt, um böse Kinder zu strafen, gute aber mit Pfefferkuchen, Äpfeln und Nüssen zu beschenken. Er stand aufrecht in der Mitte des Einbaums und ließ ihn so steuern, daß er grad vor mir und dem Dicken zu halten kam.

»Komm herein!« befahl er, indem er sich niederbeugte und mir die Hand entgegenhielt. »Greif zu; ich helfe dir!«

»Nimm erst diese Gewehre, und leg sie in das Boot!« forderte ich ihn auf.

Ich gab sie ihm; der unbeholfene Mann nahm sie wirklich und legte sie fürsorglich auf die trockenste Stelle des Fahrzeuges. Dann hielt er mir die Hand wieder hin und wiederholte:

»Faß zu! Ich werde dich ziehen!«

Da glitt ich vom Pferd, klammerte mich mit der Linken fest an den Bord und griff mit der Rechten zu, um ihn zu fassen, aber nicht an der Hand, sondern am oberen Arm. Ein kräftiger Ruck – ein Schwung – und anstatt mich hereinzuziehen, flog er aus dem Boot heraus in das Wasser, in welchem er für einige Augenblicke so vollständig verschwand, daß gar nichts von ihm zu sehen war. Nur einen kurzen Moment später stand ich im Einbaum, an derselben Stelle, an der er gestanden hatte, zog mein Messer und schnitt den Riemen entzwei, mit welchem Hadschi Halef gebunden worden war. Dieser sprang sofort vergnügt in die Höhe, warf die frei gewordenen Arme in die Luft und rief jubelnd aus:

»Allah sei Lob, und dir sei Dank gesagt, Effendi, daß ich wieder im Besitz meiner Hände bin! Du wirst gleich sehen, was ich tue.«

Er nahm meinen schweren Bärentöter vom Boden auf, richtete ihn auf den Mann, der im Vorderteil ruderte, und rief ihm zu:

»Leg das Ruder herein, und mach dich von dannen, sonst schieß ich dich augenblicklich tot!«

Dieser Mann war ein Riese und Halef gegen ihn ein Zwerg. Aber der auf ihn gerichteten Kugelmündung widerstand er nicht. Er zog gehorsam das Ruder ein und sprang über Bord. Der Hadschi richtete den Lauf nun auch auf den Mann, der im Hinterteil saß. Dieser wartete den Befehl des Kleinen gar nicht erst ab. Er riß das Ruder herein, ließ es fallen und sprang hinaus in die Flut.

»Sind das Helden!« lachte Halef, indem er das Gewehr wieder von sich legte.

»Vor allen Dingen weg von ihnen!« warnte ich, indem ich das eine Ruder ergriff und Halef durch einen Wink aufforderte, das andere zu nehmen.

Ich wollte, daß die drei Ussul das Boot nicht wieder betreten, sondern im Wasser bleiben sollten. Das Boot hatte durch den Schwung, mit dem der Zauberer herausbefördert worden war, einen Stoß erhalten, der es von der Stelle trieb. Wir bemühten uns jetzt, diese Entfernung noch zu vergrößern. Die Ussul erwiesen sich als sehr gewandte Schwimmer. Sie wollten außerdem auch noch die Kraft des Pferdes zu Hilfe nehmen. Der Zauberer bemühte sich, ihm auf den Rücken zu steigen, und die beiden Ruderer trachteten danach, die Enden des Zügelstrickes zu fassen. Aber der Dicke wehrte sich. Er schlug und biß nach ihnen und strampelte das Wasser derart zu Gischt und Schaum, daß man meinen konnte, ein Okeanidenbild aus der griechischen Mythologie vor sich zu haben.

»Das ist ein großartiges Vieh, dieses Pferd!« ließ sich Halef hören. »Wo hast du es her, Sihdi? Das möchte ich hören!«

»Zu hören, wie du in dieses vorweltliche Boot gekommen bist, ist noch viel wichtiger«, antwortete ich.

»Kannst du mir nicht erlassen, es dir zu erzählen, Sihdi?« fragte er.

»Nein.«

»So erlaube, daß ich dich dabei nicht anzusehen brauche! Denn ich schäme mich!«

»Ah? Wirklich?«

»Ja!«

Da draußen auf dem Wasser plagten sich die drei Ussul noch mit dem Pferd herum. Ich saß, das Ruder in der Hand, an dem einen Ende des Kahnes, Halef am andern. Er sah vor sich nieder, warf dann mit einer energischen Bewegung den Kopf nach hinten und sprach:

»Es hilft nichts! Ich kann nicht anders; ich muß es eingestehen! Sihdi, ich bin ein Schaf, ein Ochse, ein Kamel, kurz, ein Dummkopf, wie es gar keinen größeren geben kann!«

Er machte eine Pause, die ich dazu benützte, ihn zu fragen:

»Ist das wirklich deine Ansicht?«

»Nicht nur meine Ansicht, sondern sogar meine felsenfeste Überzeugung! Sie gefällt dir wohl nicht?«

»O doch! Sogar sehr! Aber vorher dachtest du doch wohl anders?«

»Allerdings! Sihdi, mein lieber Sihdi, ich sage dir: Es gibt Augenblicke, in denen ich mich für den klügsten und vortrefflichsten Menschen halte, den Allah in seiner Güte erschaffen hat. Und es gibt wieder andere Augenblicke, in denen ich darauf schwören kann, daß ich der dümmste Mensch der Erde bin. Glaubst du das?«

»Ich glaube es, denn jeder noch nicht vollständig ausgereifte Mensch hat derartige Augenblicke. Worauf schwörst du denn wohl jetzt? Etwa auf die Klugheit?«

»Nein, sondern auf die Dummheit.«

»Das freut mich, Halef! Das freut mich ungemein!«

»Wie, Effendi? Du freust dich darüber, daß ich dumm bin?« fragte er in seinem vorwurfsvollsten Ton.

»Nein. Sondern darüber, daß du einsiehst, es zu sein. Wer seine Fehler erkennt, der befindet sich auf dem Weg der Besserung. Und daß du jetzt, in diesem Augenblick, an diese deine Besserung denkst, das versteht sich ganz von selbst!«

»Richtig! Sehr richtig! Ich denke an sie!« gestand er ein. »Später werde ich es dir noch ausführlicher sagen, denn jetzt habe ich keine Zeit dazu; aber es war im höchsten Grade lächerlich von mir, zu denken, daß ich die Hauptperson sei, du aber nur die Nebenperson. Ich habe mich betragen wie ein Knabe, dessen Hirn erst Milch und noch nicht Nervenmasse ist. Ich bin wie ein Tapps den Spuren nachgelaufen, ohne auch nur mit einer Silbe daran zu denken, daß man mich schon von weitem sehen muß. Sie haben mich bemerkt, ohne daß ich ahnte, wie nahe ich ihrem Lager sei. Sie versteckten sich zu beiden Seiten hinter die Sträucher und fielen über mich her, sobald ich diese Stelle erreichte. Dann schleppten sie mich zum Lager hin, um über mich zu verhandeln. Sie wollten wissen, wer ich sei, woher ich komme und was ich hier bei ihnen wolle ...«

»Was hast du da gesagt?« unterbrach ich da den Fluß seiner Rede.

»Nichts«, antwortete er.

»Nichts? Unmöglich! Du hast doch eine Antwort geben müssen!«

»Nein! Ich habe keine gegeben. Es fiel mir nichts ein, was ich hätte sagen können, gar nichts.«

»Das ist gerade zu unglaublich! Dir nichts einfallen? Meinem Hadschi Halef nichts einfallen? Das ist dir doch wohl in deinem ganzen Leben nicht ein einzigesmal geschehen!«

»Allerdings nicht. Heut aber geschah es zum ersten Male.«

»Vor Schreck etwa?«

»Nein, sondern vor Erstaunen.«

»Über die Größe dieser Leute?«

»Das nicht. Du weißt ja, Sihdi, daß körperliche Größe mich nicht verblüfft. Auch hier nicht, obwohl diese Ussul fast ohne Ausnahme alle Riesen sind. Aber ihre Behaarung! Allah 'l Allah! Was sind das für Menschen! Diese Köpfe, diese Bärte und diese Haarmähnen, die bis auf die Lenden herabreichen. Ich sage dir, ich war derart erstaunt, daß mir die Stimme versagte, daß ich die Sprache verlor. Und dumm sind sie, diese Menschen, geradezu blitz- und hageldumm. Denke dir nur: Sie hielten mich für einen entsprungenen Hofnarren, für den Zwerg und Possenreißer irgendeines Herrschers. Und später kam der Zauberer gar auf die wahnsinnige Idee, daß ich sehr wahrscheinlich der Leibzwerg des Mirs von Ardistan sei, aber nicht ihm entsprungen, sondern ihm als Spion gesandt, das Gebiet von Ussula auszukundschaften! Ich und ein Zwerg! Ein Kundschafter und Späher! Aber die andern glaubten es ihm. Wäre der Scheich zugegen gewesen, so hätte man mich auf der Stelle umgebracht. Da man mit diesem Urteil und seinem Vollzug aber bis zu seiner Rückkehr warten muß, so beschloß man, mich auf die Insel hinüberzuschaffen, von der aus ich nicht entfliehen könne.«

»Hast du dich gewehrt?«

»Nein. Ich konnte nicht. Als man mich ganz unerwartet ergriff, nahm man mir sofort das Messer, die Pistolen und alles andere, was ich im Gürtel trug. Womit hätte ich mich da wohl wehren können? Etwa mit den Händen, wo die ihren viermal größer sind als die meinen? Nun ist es ein Glück, daß du gekommen bist! Wie gedenkst du, uns zu befreien?«

»Uns zu befreien? Welch eine Frage! Wir sind ja frei!«

Er sah mich an, schaute rundum, lachte dann fröhlich auf und rief:

»Das ist allerdings richtig, ganz außerordentlich richtig! Es gibt hier nur dieses einzige Boot. Wir brauchen doch nicht zu ihnen zurückzukehren, sondern einfach nur quer über den See zu rudern. Wir kommen viel eher dort an als sie, die den weiten Umweg längs des Ufers machen müssen. Aber, weißt du, Effendi, das, was sie mir abgenommen haben, möchte ich ihnen nicht gern lassen!«

»Das sollst du auch nicht. Wir haben gar keine Veranlassung zu fliehen. Sie haben uns zu gehorchen. Ich werde sie zum Frieden zwingen. Ihr Scheich befindet sich nämlich in meiner Gewalt.«

»Du hast ihn gesehen?« fragte er rasch.

»Gesehen und gefangengenommen!«

»Hamdulillah! Nun sind wir wieder groß!«

Er stand von seinem Sitz auf, tat einen Freudensprung, daß der Kahn ganz gefährlich zu schaukeln und zu rollen begann, und fuhr dann fort:

»Unser Gefangener, unser Gefangener ist er! Was können diese Giganten uns nun tun? Nichts! Wenn sie uns nicht gehorchen, so schlachten wir ihn ab und fressen ihn auf mit Haut und Haar und Knochen! Sihdi, das müssen wir ihnen sagen, sofort sagen! Greif zum Ruder! Wir fahren hinüber zu ihnen. An das Ufer! Sofort, sofort!«

Er setzte sich wieder an seinen Platz, um seine Worte auszuführen. Ich hatte nichts dagegen und fragte nur, wo die Sachen, die ihm abgenommen worden waren, zu suchen seien. Er antwortete:

»Die Dame Taldscha hat alles zu sich gesteckt. Sie sagte, daß es dem Scheich gehöre und also sie es in Verwahrung zu nehmen habe. Mir scheint, daß sie es ist, die den Stamm regiert, nicht er. Sogar der Zauberer wagte nicht, zu widersprechen. Er ist sehr höflich zu ihr. Sie hat einen Ledersack an ihrer Seite hängen; da hinein hat man alles getan. Sie gefällt mir sehr. Sie ist fast schön. Sie scheint die Frau des Scheichs zu sein!«

Diese kurze, sehr notwendige Unterredung erforderte zwischen Halef und mir natürlich nicht so viel Zeit, wie man braucht, um sie zu lesen. Dennoch hatten sich die drei von uns aus dem Boot getriebenen Ussul schon ziemlich weit von uns entfernt. Sie schwammen dem Ufer zu, an dem ihre Leute standen und durch alle möglichen Arten von Geschrei und Lärm kundgaben, wie unverständlich ihnen das sei, was sich ereignete. Auch wir ruderten ihm zu, aber langsam und bequem, denn wir hatten keinen Grund, eine sonderliche Eile zu entwickeln. Darum stieg der Zauberer mit seinen beiden Ruderern viel eher an das Land, als wir es erreichten. Der Urgaul bekümmerte sich jetzt weder um sie noch um mich. Er schwamm bald hierhin, bald dorthin, und stieß dabei von Zeit zu Zeit ein äußerst behagliches Grunzen aus. Es schien, als ob ihm dieses Reinigungsbad eine Wonne sei, doch kaum hatte er das Ufer erreicht, so begann er sofort, sich in dem dortigen, tiefen Schlamm zu wälzen, um den von der Haut heruntergespülten Überzug zu erneuern.

Unsere Aufmerksamkeit war ganz selbstverständlich auf die hochinteressanten Menschen gerichtet, die ihr Geschrei eingestellt hatten und unserer Annäherung nun still entgegensahen. Ich zählte sie. Es waren neunzehn Männer und nur eine Frau. Von den ersteren fehlte also nur der Scheich, und von den letzteren war es höchstwahrscheinlich nur seiner Frau gestattet, an so wichtigen Vorkommnissen teilzunehmen. Als wir so weit an sie herangekommen waren, daß es nur noch zweier Ruderschläge bedurfte, uns an das Land zu treiben, gab ich Halef das Zeichen, anzuhalten. Es war unter ihnen nicht eine einzige gewöhnliche Gestalt; sie alle waren Riesen. Und sie alle waren mit einem außerordentlich reichen Kopf- und Barthaar ausgestattet und ganz ebenso oder ähnlich gekleidet wie ihr Scheich. Als dieser mir den Kosenamen seiner Frau, Taldscha, sagte, hatte ich erwartet, daß ich später über ihn lachen werde; aber sonderbar, nun ich diese Frau vor mir sah, fand ich nicht den geringsten Grund zur Ironie. Im Gegenteil! Die Frau machte Eindruck auf mich, und zwar in einer Weise, die mir anfänglich als ein Rätsel erschien und erst nach und nach begreiflich wurde.

Sie war ganz in Leder gekleidet, aber in ein so feines und weiches, wie ich es noch nie gesehen hatte. Und man denke sich: dieses Leder war blau und wie mit einem überaus feinen Blumen- oder Schmetterlingsstaub bedeckt, der metallisch silbern glänzte. Etwas stärker war das Leder der naturfarbenen Schuhe. Diese, in höchst kunstvoller Weise aus einem einzigen Stück geschnitten, erhielten durch Zug und Riemen die Form der wohlgestalteten Füße, welche in ihrem Verhältnis zur Körpergröße als klein und niedlich zu bezeichnen waren. Verhältnismäßig noch kleiner waren die Hände. Ich hatte später noch oft Gelegenheit, zu sehen, wie sorgfältig gepflegt, wie blütenweiß und rosig sie überhaupt waren. Das Haar der Frau war fein, dicht und goldig blond, weder aschfarben noch rötlich, sondern von jenem mittelfarbigen, lebenden Gold, welches echt und edel ist. Es hing hinten bis über den Gürtel herab, in leisen Wellen rieselnd, die vermuten ließen, daß es häufig in Zöpfe geflochten wurde. Und diese goldig schimmernde Flut war mit den Federn des Paradiesvogels geschmückt, so einfach, so natürlich, so ungesucht, daß ich mit dem Wort Schmuck nicht eigentlich das treffe, was ich bezeichnen will. Obgleich wir uns mitten in der Wildnis befanden, sah man an der hohen Gestalt dieses Weibes nicht das kleinste Fleckchen und nicht die kleinste Spur von Schmutz und Unsauberkeit. Frisch, rein, unbefleckt, natürlich, lauter, so war der Eindruck, den ich gleich beim ersten Blick auf sie von ihr erhielt, und da kam mir der Vergleich, der in ihrem Namen lag, gar nicht unpassend vor. Ihr Auge war groß und von einem Blau, welches für diese so weit entlegene Gegend des Orients eine ausgesprochene Seltenheit zu nennen war. Später bemerkte ich, daß ein leiser, feiner, wohltuender Duft von dieser Frau ausging, ein Duft der Gesundheit, der Lebenskraft, der immerwährenden Verjüngung, ein seelischer Zwang, in ihrer Gegenwart alles, was nicht gut ist, zu vermeiden. Es war, als ob ich diesen Duft schon jetzt, aus der Entfernung, mit den Augen spürte, denn es tat mir wohl, sie vor mir stehen zu sehen, ganz abgesehen davon, daß die Fremdartigkeit ihrer Erscheinung meine Augen und mein Interesse auf sich zog.

Sie war nach der Stelle des Ufers geschritten, wohin der Lauf unseres Bootes gerichtet gewesen war. Da stand sie jetzt, nur der Zauberer neben ihr, einige Schritte hinter ihnen zunächst fünf Männer, die übrigen dann noch weiter seitwärts oder zurück. Hierin lag für mich der Beweis, daß die Frau, wenigstens in Abwesenheit des Scheichs, die Gebieterin war, wenn auch unter Beihilfe des Zauberpriesters. Später erfuhr ich, daß sie auch den Scheich zu beherrschen wußte und daß dieser nichts tat, ohne sich vorher mit ihr besprochen zu haben. Sie war geliebt und verehrt als eine Art höheres und besseres Wesen und genoß den Ruf, nur das Gute zu wollen und nie etwas Böses getan zu haben.

Als wir unser Boot anhielten, wechselten der Sahahr und Taldscha einige leise, uns unverständliche Worte miteinander. Wahrscheinlich hatte sie die Unterredung oder Untersuchung nicht beginnen wollen, sondern ihn aufgefordert, es zu tun, denn er trat einen kleinen Schritt vor und fragte zu uns herüber:

»Warum zögert ihr? Ihr habt vollends heranzukommen und auszusteigen!«

»Warum?« fragte ich.

»Weil ich es euch befehle!« antwortete er.

»Es gibt keinen einzigen Menschen, der uns etwas zu befehlen hat! Wer bist du?«

»Ich bin der Zauberpriester des Riesenvolkes der Ussul. Und hier, neben mir, steht Taldscha, die Frau unsers Scheichs!«

»Und der Scheich selbst? Wo befindet er sich?«

»Er ist nicht hier, wird aber bald kommen. Also, ich befehle euch, jetzt auszusteigen. Ich habe euch zu verhören.«

»Ich sagte dir bereits, daß wir keinem Menschen Gehorsam schuldig sind; da seid auch ihr mit inbegriffen. Aber ich bin gewohnt, jeder Person, die man mir als Priester bezeichnet, mit Achtung zu begegnen, und in dem fernen Land, wo ich geboren bin, ist es Sitte aller guten Menschen, die Frauen zu ehren und allen ihren Wünschen, wenn sie vernünftig sind, entgegenzukommen. Ich bin also mit dem Verhör, das du wünschest, vollständig einverstanden, muß aber, bevor es beginnt, einen Irrtum berichtigen, in dem du dich befindest!«

»Einen Irrtum? Ich weiß keinen!«

»Wenn du ihn wüßtest, wäre es kein Irrtum, sondern Betrug oder Lüge!«

»Dann weiß ich ihn sicherlich nicht«, fuhr er auf; »denn bei den Ussul gibt es keine Lüge. Sage ihn mir!«

»Du hältst dich für den, der das Verhör vorzunehmen hat. Das ist falsch. Ich bin es! Ich habe euch zu verhören, nicht aber du uns.«

Da lachte er, und die anderen lachten mit.

»Er ist verrückt!« rief er aus, und: »Er ist verrückt, er ist verrückt!« riefen auch die übrigen, indem sie ihr Lachen zum schallenden Gelächter steigerten.

Da wendete Taldscha sich halb nach ihnen um und hob die Hand. Das Gelächter verstummte sofort.

»Dieser Fremde ist nicht verrückt«, sagte sie. »Seht ihm in das Gesicht, und seht ihm in die Augen! Der weiß sehr wohl, was er sagt und was er will. Sprich weiter mit ihm, doch ohne ihn zu beleidigen!«

Dieser Befehl galt dem Zauberer. Taldschas Stimme klang wohllautend und kräftig. Sie hatte etwas von jenem bestimmten und zugleich milden Klang an sich, den man beim Kirchengeläut an der Alt- oder Mittelglocke zu beobachten pflegt. Der Klang einer Menschenstimme ist auch psychologisch von großer Wichtigkeit. Der Zauberer fuhr, wieder ernst geworden, zu uns gewendet, fort:

»Also du willst uns verhören? Wer gibt dir das Recht dazu?«

»Euer Scheich.«

»Unser Scheich?« fragte er erstaunt. »Kennst du ihn?«

»Ja.«

»Seit wann?«

»Seit einer Stunde.«

»Nicht länger? Und da gibt er dir schon das Recht, uns zu verhören? Ich würde jetzt wieder lachen und dich für verrückt halten; aber Taldscha hat dies verboten, und so muß ich ernst und höflich bleiben. Du hast ihn also gesehen? Du hast mit ihm gesprochen? Warum ist er nicht da? Warum kam er nicht mit dir? Wo befindet er sich?«

»Er ist mein Gefangener.«

»Dein – dein – dein Gefangener!« wiederholte er meine Worte in einem Ton, als ob er seinen Ohren nicht traue. »Habe ich recht gehört?«

»Du hörtest ganz richtig. Amihn, der Scheich der Ussul, ist mein Gefangener.«

Ich sah, daß er wieder mit dem Lachen kämpfte; aber er beherrschte sich und fragte:

»Wie soll er denn in deine Gefangenschaft gekommen sein?«

»Ich habe ihn vom Pferd gerissen und gebunden.«

»Gebunden? Womit?«

»Mit seinen eigenen Riemen.«

»Mit – eigenen ...? Und vorher vom Pferd gerissen? Du ...?«

Er kämpfte schon wieder mit dem Lachen, und diesmal wollte ihm der Sieg gar nicht gelingen. Er warf einen Blick auf mich, auf den ich ganz und gar nicht stolz zu sein brauchte, drehte sich dann nach seinen Leuten um und fragte:

»Glaubt ihr das? – Er – er – er – dieser Knabe von Gestalt, will unsern Scheich vom Pferd gerissen haben und mit seinen eigenen ...«

Er kam nicht weiter, denn es brach ein brausendes Gelächter los. Da hob die Frau zum zweiten Male die Hand empor, und wieder wurde es augenblicklich still.

»Schweigt!« befahl sie. »Dieser Fremde hat unsern Zauberpriester aus dem Boot geschleudert und dann auch die Ruderer verjagt. Da ist es möglich, daß sich auch der Scheich von ihm hat überraschen lassen! Ich verbiete euch, ihn auszulachen! Jetzt weiter!«

Diese beiden letzteren Worte galten dem Sahahr. Er gehorchte und wendete sich wieder an mich:

»Du mußt verzeihen, Fremder! Was du sagst, klingt wie die größte Lüge, die es gibt, und ...«

»So schau dich um!« unterbrach ich ihn, indem ich nach dem Urgaul deutete, der das Wasser soeben verlassen hatte und sich nun im tiefen Schlamm wälzte. »Sieh dort sein Pferd! Du hast es schon gesehen, denn ich wurde von ihm bis an dein Boot getragen. Daß ich auf diesem, seinem eigenen Pferd geritten komme, muß dir doch sagen, daß er von mir überwältigt worden ist! Und daß ich mich nicht gefürchtet habe, meinen Kameraden zu befreien, dich aus dem Boot zu werfen und, ohne zu fliehen, hierher zu euch ruderte, gibt doch wohl den Beweis, daß ich ihn sicher habe und daß es ihm unmöglich ist, mir zu entkommen!«

»Das Pferd! Ja, das Pferd!« antwortete er verlegen. »An das habe ich gar nicht gedacht! Da du auf seinem Rücken zu uns gekommen bist, muß man wohl überzeugt sein, daß du ihn auf irgendeine Weise überwältigt und festgenommen hast. Aber sag, warum hast du das getan?«

»Um eine Geisel zu haben. Ihr hattet meinen Gefährten gefangengenommen; darum nahm ich euern Scheich gefangen, um euch zu zwingen, meinen Begleiter freizugeben.«

»Aber wie konntest du dich an diesen Mann, an diesen Giganten, an diesen Helden wagen, der noch nie im Leben besiegt wurde?«

»Das will ich dir sofort zeigen«, antwortete ich.

Vorhin, als der Scheich von mir vom Baum losgebunden worden war, hatte ich den Lasso wieder in Schlingen gelegt und mir um die Schulter gehängt. Jetzt nahm ich ihn herab, behielt das eine Ende in der linken Hand und schleuderte das andere hinüber nach dem Zauberer. Ein kräftiger Ruck – seine Arme wurden ihm an den Leib gezogen – ich hatte ihn fest und riß ihn von seinem Ort hinweg, zu mir herüber. Er stürzte zunächst in das Wasser, doch griff Halef schnell mit zu, und so lag er schon im nächsten Augenblick bei uns im Boot und wurde mit dem Lasso derart fest umwunden, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Nun nahm ich das Messer aus dem Gürtel und schwang es drohend über ihn. Da schrien die Ussul vor Angst laut auf. Er aber rief:

»Halt ein, halt ein! Willst du mich ermorden? Ich habe dir doch nichts getan!«

Ich steckte das Messer in den Gürtel zurück, erhob mich aus meiner gebeugten Stellung und antwortete:

»Dich zu töten fällt mir nicht ein, denn ich bin euer Freund, aber nicht euer Feind. Ich wollte dir nur zeigen, wie leicht es ist, einen Ussul gefangenzunehmen.«

»So gib mich frei, und laß mich fort!« bat er in ziemlich verzagtem Ton.

»Jetzt nicht wieder! Ich habe dich schon einmal aus der Hand entkommen lassen. Anstatt dich dankbar zu erweisen, hast du mich als Gefangenen behandeln und ein Verhör mit mir anstellen wollen. So leicht kommst du jetzt nicht weg. Du bleibst hier liegen, bis ich sicher bin, daß ihr mich als Gast und Freund betrachtet.«

»Und wenn wir das nicht tun?« fragte er.

»So stoß ich dir das Messer bis an den Griff in das Herz!« erwiderte ich, worauf Hadschi Halef mit ganz gewaltigem Augenrollen hinzufügte:

»Und wenn du davon nicht ganz sterben solltest, so schlage ich dich sogar noch eigens tot! Darauf kannst du dich verlassen, denn ich bin Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der berühmte Scheich der Haddedihn vom großen Stamm der Schammar!« Der lange Name schien die beabsichtigte Wirkung nicht zu verfehlen, denn der Zauberer meinte ziemlich schüchtern:

»Ein berühmter Scheich bist du? Das hast du uns gar nicht gesagt! Und wer ist denn der andere?«

»Er ist der größte Held und Gelehrte des Abendlandes. Sein in der ganzen Welt bekannter Name lautet Emir Hadschi Kara Ben Nemsi Ben Emir Hadschi Kara Ben Dschermani Ibn Emir Hadschi Kara Ben Alemani. Sein Säbel ist scharf und spitz, seine Kugeln gehen nie daneben, und wenn er eine lange Rede hält, so bringt er sie stets an das richtige Ende. Er hat in seinem ganzen Leben noch niemals eine Schlacht verloren. Kein Feind kann ihn im Kampf niederringen. Und wenn er seine Gelehrsamkeit erscheinen läßt, so ist sie wie ein Wirbelsturm, der, ohne stillzustehen, rund um die ganze Erde geht und alles niederreißt, was ihm zu widerstehen wagt!«

»Ich habe weder deinen noch seinen Namen jemals gehört«, entschuldigte sich der Zauberer. »Und ich kenne dein Land und deinen Stamm ebensowenig wie sein Volk und seine Gegend, in der er geboren wurde. Ich bin der Zauberpriester der Ussul. Ich wirke nur für die Religion und habe keine Zeit, mich mit der Politik und Geographie und Weltgeschichte abzugeben. Ihr müßt also verzeihen, daß ich in diesen Dingen nicht bewandert bin und meinen Ruhm nur darin suche, daß unserer Nation an ihren Gott und Schöpfer glaubt. Wenn wir bestimmen, was mit euch geschehen soll, so habe ich nur in Beziehung auf eure Religion mit zu beraten, sonst aber nicht. Glaubt ihr an Gott?«

»Ja.«

»So bin ich beruhigt. Denn wer einen Gott hat, der schlägt keinen Menschen tot!«

»Ihr aber habt mir doch damit gedroht!« warf Halef ein.

»Gedroht? Ja! Aber haben wir es getan?«

»Bis jetzt allerdings noch nicht.«

»So wartet also ab, ob es geschieht!«

»Abwarten?« lachte Halef. »Ja, das werden wir, und zwar mit größtem Vergnügen! Es hat nämlich bisher noch keinen gegeben, dem es gelungen ist, uns totzuschlagen, und so soll es mich verlangen, zu erfahren, wie ihr es anfangen werdet, dies zu tun!«

Da kam Taldscha von der Höhe des Ufers langsam zu uns herabgestiegen, blieb am Wasser stehen und gab der Verhandlung folgenden, für beide Teile günstigen Verlauf:

»Ist der, der sich Hadschi Halef Omar nannte, ein Araber?«

»Ja«, nickte dieser.

»Wirklich ein Scheich?«

»Ja.«

»Und aus welchem Land ist Emir Kara Ben Nemsi?«

Halef hatte vorhin in seiner bekannten Art und Weise über mich und seine Person geflunkert, um zu imponieren. Ich brauchte mich dieser Aufschneiderei allerdings nicht etwa in mich selbst hinein zu schämen, denn was er tat, ist orientalischer Gebrauch oder vielmehr morgenländische Ausdrucksweise. Ihn zu verbessern, hätte nichts nützen können, aber sicherlich geschadet. Dennoch war ich entschlossen, seine Angaben jetzt, falls Taldscha mich fragen würde, auf die reine, nackte Wahrheit zurückzuführen. Es kam aber nicht so weit. Die Ussul waren zu naiv und selbst viel zu wahrheitsliebend, als daß es ihnen eingefallen wäre, an den Worten des Hadschi herumzumäkeln.

»Ich bin aus Dschermanistan«, antwortete ich.

»Das kenne ich nicht. Folglich kann es nicht in unserem Erdteil liegen«, erklärte sie.

»Es liegt allerdings nicht im Morgen-, sondern im Abendland.«

Es war mir nahegelegt worden, zu verschweigen, daß ich ein Abendländer sei; aber diesen hellen, klaren, außerordentlich ehrlich blickenden blauen Augen gegenüber, die jetzt auf mich gerichtet waren, fühlte ich mich nicht imstande, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen. Ich ersah aus einer schnellen Bewegung ihres Kopfes, daß sie sich nicht unangenehm überrascht fühlte. Sie fuhr fort: »Im Abendland? Und wo wolltest du jetzt hin?«

»Durch das ganze Ardistan.«

»Dann bist du entweder ein sehr unvorsichtiger oder ein sehr kühner Mann. Denn der Mir von Ardistan würde dich höchstwahrscheinlich töten lassen, sobald er erführe, daß du ein Abendländer bist. Glücklicherweise aber wirst du diesem Tod entgehen, weil du gar nicht zu ihm kommst, sondern für immer bei uns bleibst. Nach den Gesetzen unseres Landes bist du unser Eigentum.«

»Nach den Gesetzen meines Landes aber bin ich es nicht«, entgegnete ich.

»Wir haben den Gesetzen unseres Landes zu gehorchen, nicht aber den Gesetzen des deinigen!«

»Das begreife ich. Und du wirst ebenso begreifen, daß ich den Gesetzen meines Landes zu gehorchen habe, nicht aber den Gesetzen des eurigen!«

»Du willst dich gegen uns wehren?«

»Ja.«

»Es wird vergeblich sein!«

»Du irrst. Bisher war es sehr von Erfolg. Wir befinden uns keineswegs in eurer Gewalt. Wir sind frei. Dagegen ist euer Scheich und euer Priester in unsere Hände geraten. Wenn wir mit diesem Boot grad quer über den See rudern, kommen wir viel eher an das jenseitige Ufer als ihr. Wer will uns hindern, erst den Priester und dann auch den Scheich zu töten, falls wir davon überzeugt sind, daß ihr nicht Frieden halten wollt?«

Sie antwortete nicht gleich; sie überlegte. Und sie musterte uns dabei mit prüfenden Augen. Dann aber sagte sie:

»Ich bin ungewiß und unzufrieden. Ihr gefallt mir sehr, ja, wirklich sehr. Ich möchte gern recht viel über das Abendland erfahren. Und es wäre wohl schön, wenn du als freier Mann, nicht aber als Knecht und Sklave von ihm erzähltest. Es würde mich freuen, wenn ich zu dir sagen dürfte: Du bist mein Gast, bist nicht mein Eigentum! Aber ich habe den Gesetzen meines Landes zu gehorchen, nicht meinen Wünschen. Es gäbe zwar einen Weg, ein Mittel ...«

Sie sprach nicht weiter. Sie machte ein Handbewegung, als wie um anzudeuten, daß sie das, was sie dachte, für unmöglich halte.

»Welchen Weg? Und welches Mittel?« erkundigte ich mich.

»Es ist für euch überflüssig, hiernach zu fragen«, antwortete sie, indem sie die Handbewegung wiederholte.

»Weißt du das so genau? Ich wiederhole meine Frage und bitte dich, mir Auskunft zu erteilen, damit auch ich mich darüber aussprechen kann, ob es so überflüssig ist, wie du meinst!«

Wieder dachte sie nach, und wieder musterte sie uns mit zwar wohlwollenden aber unbefriedigten Augen. Hierauf sprach sie:

»Es gibt ein Mittel, euch von der Knechtschaft, die euch droht, zu befreien. Das Gesetz liefert euch in unsere Hände; dasselbe Gesetz aber macht euch wieder frei, indem es euch gestattet, euch von uns loszukämpfen.«

Als Halef diese Worte hörte, warf er beide Arme hoch empor und rief aus:

»Sihdi, wir kämpfen uns los!«

Ich aber beachtete ihn und seinen Ausruf nicht. Grad er hatte während der letzten zwei Stunden bewiesen, daß er nicht der Mann war, einen solchen Kampf aus eigener Kraft zu bestehen. Ich faßte die rätselhafte Frau, die vor uns stand, nun ebenso scharf in die Augen, wie sie uns, und entgegnete:

»So hattest du allerdings recht. Die Auskunft, die du uns erteilst, ist überflüssig, völlig überflüssig. Du glaubtest, uns etwas mitzuteilen, wovon wir keine Ahnung haben. Du eröffnest uns, daß euer Gesetz uns die Möglichkeit biete, uns durch einen siegreichen Kampf von euch zu befreien. Hierbei sagt uns der Blick deine Auges, daß du einen Sieg von unserer Seite für ausgeschlossen hältst ...«

Da fiel sie mir in die Rede:

»Daß ihr auf alle Fälle gegen uns unterliegen würdet, das kannst du doch nicht leugnen!«

»Unterliegen?« fragte ich, indem ich auf den gefesselten Zauberpriester deutete. »Nennst du das unterliegen? Du zeigst uns den Kampf, durch den wir uns von euch befreien können, als eine entfernte Möglichkeit, um die wir euch wohl gar zu bitten haben. Siehst du wirklich die Größe der Täuschung nicht, in der du dich befindest? Dieser Kampf ist nicht mehr bloß möglich, sondern er ist bereits zur Wirklichkeit geworden. Er liegt nicht mehr in der Ferne, sondern er ist schon hier; wir stehen mitten drin. Und der Sieg hat bisher nur auf unserer, nicht aber auf eurer Seite gelegen!«

Sie schaute mich mit frappiertem Blick an, tat einen langen, tiefen Atemzug und gab dann zu:

»Das klingt so seltsam, und doch hast du recht. Ihr seid noch frei und habt schon zwei Gefangene von uns gemacht.«

»Und was für Gefangene! Bedenke das!« warnte ich sie. »Der Scheich vertritt bei euch die weltliche und der Sahahr die geistliche Gewalt. Diese beiden Gewalten befinden sich augenblicklich in unserer Macht. Nicht ihr, sondern wir sind jetzt Herren über Wohl oder Wehe, über Leben oder Tod. Siehst du das ein?«

Sie drehte sich nach ihren Leuten um und fragte: »Hört ihr es?«

Man antwortete ihr mit einem unbestimmten Murmeln und Brummen, dessen Bedeutung sie aber wohl verstand, denn sie wendete sich mir wieder zu und sprach:

»Ihr scheint ganz andere Menschen zu sein als wir. Wir verstehen euch nicht, und doch zwingt ihr uns, euch zu begreifen! Wo ist der Scheich?«

»An einem Ort, wo ich ihn sicher habe.«.

»Gebunden und gefesselt?«

»Ja.«

»Womit?«

»Mit seinem Wort.«

Da machte sie eine Bewegung der Überraschung und fragte:

»Du hast ihm Vertrauen geschenkt?«

»Ja. Erst war er gefesselt, so daß er sich nicht rühren konnte. Ich wollte ihn sogar noch knebeln. Da versprach er mir, an der Stelle zu bleiben, selbst wenn alle seine Ussul kämen, um ihn wegzuholen. Ich band ihn los.«

»So hast du ihm geglaubt?«

»Warum sollte ich es nicht?«

»Er könnte den Ort sofort verlassen, wenn er sein Wort brechen wollte?«

»Ja.«

Da wendete sie sich wieder nach ihren Leuten um:

»Habt ihr es gehört? Dieser Fremdling liebt die Wahrheit ebenso wie wir. Er hat dem Wort eures Scheichs geglaubt. Ist das die Gesinnung eines Knechtes, eines Sklaven?«

»Nein!« antworteten die fünf in der Nähe Stehenden, und: »Nein, nein, nein!« antworteten auch die anderen.

»Das tun nur freie Männer!« fuhr sie fort.

»Nur freie Männer!« erklang es hinter ihr im Chor.

»Diese beiden Fremden sind es also wert, daß wir ihren Widerstand als Kampf betrachten, sich von uns zu befreien!«

»Sie sind es wert; sie sind es wert!« stimmten alle ohne Ausnahme ihr bei.

Dann fuhr sie, sich uns wieder zuwendend, fort:

»Ich bitte dich, Emir, mich zu meinem Mann, unserem Scheich, zu führen. Bist du bereit dazu?«

»Sehr gern. Doch muß ich fragen, was du bei ihm willst!«

»Ich will mit ihm beraten über euch.«

»Wer noch?«

»Weiter niemand als der Sahahr.«

»So müßte ich ihn hierzu freigeben?«

»Ja. Ich bitte dich darum!«

»Weißt du, was du da von mir verlangst?«

»Ich weiß es. Du sollst dich der Vorteile begeben, die du über uns errungen hast. Aber nur einstweilen.«

»Wirklich?«

»Wirklich! Du bindest den Sahahr hier los, damit er mit uns gehen kann. Wenn ich beim Scheich keinen Frieden erreiche, führe ich euch in dieses Boot zurück, wo der Sahahr genau so wieder gefesselt wird, wie er hier vor uns liegt. Glaubst du, daß dies geschieht?«

»Ich glaube dir. Aber es gehen nur vier Personen zum Scheich, nämlich du, euer Zauberpriester und ich mit meinem Begleiter?«

»Ja.«

»Die andern Ussul bleiben hier zurück, um auf unsere Wiederkehr zu warten?«

»Ja.«

»So gebe ich ihn frei. Wir können gehen.«

Ich löste den Sahahr aus den Umschlingungen des Lassos, den ich mir wieder um die Schulter warf, und sprang mit ihm aus dem Boot an das Ufer. Halef folgte, trat vor Taldscha hin und sagte, auf die wunderbar gearbeitete Ledertasche deutend, die an ihrem Gürtel hing:

»Du hast in diesem Sack mein Eigentum. Wann bekomme ich es wieder?«

»Wenn beschlossen worden ist, daß es dir wieder gehört.«

»Das muß aber sicher sein! Ausreden dulde ich nicht! Und betrügen lasse ich mich auch nicht!«

»Ausreden? Betrügen?« fragte sie verwundert. »Taldscha, die Herrin der Ussul, kennt weder Ausrede noch Betrug! Nimm hin, was dir jetzt noch gar nicht wieder gehört! Daß Kara Ben Nemsi ein Emir ist, das glaube ich, denn er hat sich als Emir betragen. Aber daß Hadschi Halef Omar ein Scheich ist, das muß ich nun bezweifeln, bis er mir Beweise gibt, denen ich besser glauben kann als seinen Worten!«

Er nahm sein Eigentum zurück, ohne die Größe des Vorwurfes, den sie gegen ihn erhob, völlig zu ermessen. Er fühlte zwar, daß sie unzufrieden mit ihm war, machte sich aber nichts daraus. Wie schwer er da gefehlt harte, ahnte er gar nicht.

»Können wir gehen? Oder ist es so weit, daß wir reiten müssen?« erkundigte sich die Frau.

»Es ist zwar nicht sehr nahe, doch bitte ich, daß wir gehen«, antwortete ich, denn es lag mir daran, den Weg zu der Stelle, an der sich Amihn befand, gehörig auszunützen, um die Seele seines Weibes kennenzulernen.

Wir brachen unverweilt auf. Ich hielt mich zu Taldscha, Halef zu dem Zauberpriester. Die andern folgten uns nur bis an das Lager. Da blieben sie alle zurück, ohne daß Taldscha es ihnen befahl, und keiner machte Miene, uns zu folgen.

Wir hielten uns genau auf derselben Fährte, die mich hergeführt hatte. Sie wurde von Taldscha und dem Sahahr zwar beachtet, aber nur so nebenbei und keineswegs in der eingehenden Weise, wie es bei den Indianern oder Beduinen geschieht. Ich glaubte daraus schließen zu dürfen, daß die Ussul nicht von so großen Gefahren bedroht seien, wie die Völker der Wüsten und Savannen.

Halef ging mit dem Zauberer hinter uns. Ihr Gespräch kam so rasch in Guß und Fluß, daß sie auf gar nichts anderes achteten. Sie hielten von Zeit zu Zeit ihre Schritte an, wie man es bei interessanten Stellen der Unterhaltung zu tun pflegt, und blieben darum immer weiter und weiter zurück. Es ging dem Hadschi wie überall und immer: er nahm die Menschen sehr schnell für sich ein. Wir beiden andern aber gingen ernst, ganz still auf den Spuren hin. Da bemerkte ich zum erstenmal den feinen, unerklärlichen Duft, der von Taldscha ausging. Es war Blumenduft, aber von welcher Blumenart, das konnte ich trotz alles Nachdenkens nicht entdecken, nicht unterscheiden. Ein uraltes, orientalisches Märchen sagt, daß die Schwingen der Engel aus Blumenduft gebildet seien und daß die menschliche Seele nur im Blumenduft ihren Körper verlassen und zu ihm wiederkehren könne. Und indem ich an dieses Märchen dachte, mußte ich mich an Sitara erinnern und an das Tal der Sternenblumen, durch welches ich an der Seite von Marah Durimeh so oft gegangen war. Als ich mich an dem unendlich lieben, reinen, keuschen Duft dieser Blumen entzückte, hatte meine alte Freundin und Beschützerin gesagt: »Es gibt unendlich wenig Seelen, die es Duft im Körper festzuhalten. Wenn du einen solchen Körper triffst, mag er noch so häßlich sein, so traue seiner Seele, denn sie stammt aus dem Licht, nicht aus der Finsternis und wird dich niemals täuschen!« Und nun fiel es mir mit einem Male ein, daß dieser Duft, der die Frau des Scheichs umfloß, der Duft der Sternenblumen war, und es kam ein wohltuendes Gefühl der Freude, des Vertrauens und der Sicherheit über mich. Hierzu kam die ungewöhnliche Art und Weise, wie Taldscha sprach. Es gab bei ihr keine Neugierde, keine Spur von Sucht, Gewöhnliches zu erfahren. Und man hörte jedem einzelnen ihrer Worte an, daß es wohl überlegt worden war. Sie erkundigte sich nach dem Abendland und gestand, daß dies das Land ihrer Sehnsucht sei. Sie hatte viel Böses und viel Seltsames von ihm gehört, glaubte aber nicht an diese Berichte. Sie äußerte sich hierüber: »Wäre alles wahr, was man über euch berichtet hat, so beständen eure Völker nur aus Dieben, Lügnern, Betrügern und bösen Zauberern, vor denen man sich sehr in acht zu nehmen hat. Gäbe es wirklich solche Völker, so gäbe es auch keinen Gott! Und ich sehe ja dich, der du ehrlich bist und uns nicht belogen und nicht betrogen hast, obwohl du genügend Veranlassung dazu hattest. Ich freue mich, daß ich nun endlich die Wahrheit über jene fernen Länder hören kann, und es werden schöne Abende werden, an denen wir rund um das große Feuer sitzen und deinen Berichten lauschen.«

»Wie dir mit uns, so ergeht es mir mit euch«, antwortete ich. »Man hat mir so viel Unglaubliches und Fabelhaftes über euch erzählt, daß ich mich unbedingt vor euch fürchten müßte, wenn es mir überhaupt möglich wäre, Angst vor Menschen zu haben. Und nun sehe ich dich! Du bist das helle, klare Gegenteil von dem, was ich erfuhr!«

»Und ich dich!« gab sie mir mit einem kurzen, schalkhaften Lachen zurück. »Ihr wurdet bei uns und wir wurden bei euch verleumdet. Und nun wir so nahe beieinanderstehen, ergibt es sich, daß wir uns erlauben dürfen, einander zu achten. So soll es sein, so weit die Erde reicht – das ist Gesetz! Wo Völker und Menschen sich nähern, soll es nie im Haß, sondern nur in Liebe geschehen. Gott will es so! Du kennst doch Gott?«

»Ja. Ich bin Christ.«

»Christ? – Also Heide?«

»Heide?« fragte ich.

»Ja. Die Christen sind doch Heiden?«

»Wieso?«

»Weil jeder Mensch, der sich nicht zu unserer Religion bekennt, ein Heide ist.«

»So sagen auch wir, indem wir jeden, der nicht an den Gott der Christen glaubt, als Heiden bezeichnen.«

»Das ist wohl recht und billig. Ihr haltet eure Religion ebenso für richtig, wie wir die unselige. Ihr habt also genau dasselbe Recht, uns Heiden zu nennen, wie wir euch.«

»So erlaube mir, dich nach eurem Glauben zu fragen, wie du mich nach dem unsern gefragt hast!«

»Nach unserm Glauben? – Wir haben keinen!«

»Unmöglich!«

»O doch! Wir haben Gott. Wozu brauchen wir da noch einen eigenen Glauben an ihn? Wir glauben nicht an ihn, sondern wir haben ihn. Wenn dein Vater noch lebt, wenn er wirklich und persönlich bei dir wohnt, so glaubst du doch nicht nur, daß du einen Vater hast, sondern du weißt es so genau, daß das Wort Glaube völlig ausgeschlossen ist. Die Ussul haben eine Religion, aber keinen Glauben! Sie haben Gott! Das ist das Höchste, was es gibt. Das geht noch über jede Art des Glaubens!«

Das klang so sonderbar, so stolz, so felsenfest und unerschütterlich! Es konnte mir nicht einfallen, mich jetzt, heut, da wir uns noch gar nicht kannten, in einen religiösen Streit mit ihr einzulassen. Wer Frauen überzeugen will, der hat sich an ihr Herz und an die Logik der Tatsachen zu wenden und sich zu hüten, irgend etwas zu verletzen, was ihnen heilig ist. Darum hob ich mir das, was ich jetzt von ihr gehört hatte, zur späteren Beantwortung auf und sorgte dafür, daß unser Gespräch diesen doch immerhin heiklen Gegenstand nicht wieder berührte.

Endlich sah ich die Stelle vor mir liegen, wo ich unsere Pferde angepflockt hatte. Ich führte Taldscha nicht dorthin, sondern nach links, durch das Gebüsch und zu dem Stamm, an dem der Scheich noch ganz genau so saß, wie ich ihn verlassen hatte. Sie blieb hoch aufgerichtet vor ihm stehen und fragte:

»Du bist Gefangener?«

»Ja«, antwortete er, ohne einen Versuch zu machen, aufzustehen.

»Wie ist das möglich?«

»Er überlistete mich.«

»Weißt du, was das heißt?«

Der Ton, in dem sie das sagte, klang vorwurfsvoll. Er senkte die Augen. Dann hob er den Blick wieder zu ihr empor und antwortete in geradezu rührender Wahrheitsliebe: »Das heißt, daß er klüger und vorsichtiger gewesen ist als ich. Verzeihe mir; du hast auch diesmal recht!«

Und sich nun an mich wendend, fuhr er fort:

»Sie warnt mich nämlich immer, doch ich gehorche nicht. Ich verlasse mich auf meine Fäuste; sie aber behauptet, daß das kleinste Stückchen Geist viel stärker und mächtiger sei als ein meilenlanger und bergeshoher Körper. Ich weiß zwar sehr genau, daß dies richtig ist, aber wenn dann der Augenblick erscheint, an dem ich glaube, meinen Geist zu zeigen, dann bringe ich nichts fertig als nur Knabenstreiche. Du hast es ja gesehen!«

»Du scheinst während meiner Abwesenheit nachgedacht zu haben?« antwortete ich.

»Allerdings! Und was ich da gefunden habe, sieht nicht so aus, als ob ich darauf stolz sein könne. Ich bekam Angst. Du scheinst ganz so einer zu sein, wie meine Frau wünscht, daß ich werden soll. So ein kleines Stückchen Geist! Verstehst du mich? Als du mich verlassen hattest, fragte ich mich, was daraus werden könne, wenn dieser Geist jetzt plötzlich in meine guten ahnungslosen Ussul fahren würde ...«

»Das hat er auch getan«, unterbrach sie ihn, »und du kannst nur froh sein, daß es nicht ein böser, sondern ein guter Geist gewesen ist, den er mit sich brachte. Er kam auf deinem Pferd wie ein Sturmwind dahergebraust, an dem Lager vorüber und gerade in den See hinein, wo der Sahahr mit zwei Männern im Boot saß, um den Gefangenen, den wir gemacht hatten, nach der Insel zu bringen. Er schwamm auf dem Pferd zum Boot hin, warf den Sahahr heraus, stieg selbst hinein, schnitt die Fesseln des Gefangenen durch und trieb dann auch die Ruderer ins Wasser. Dann kam er nach dem Ufer und nahm den Zauberpriester mit dem Riemen gefangen, um uns zu zeigen, auf welche Weise er dich überwältigt hat. Was konnten wir nun tun, nachdem er erst den weltlichen und dann auch noch den geistlichen Anführer der Ussul in seine Gewalt gebracht harte? Ihn etwa töten?

»Ja! Das dachte ich!« antwortete er.

»Niemals! Man tötet nur Ungeziefer, nicht aber ehrliche Menschen!«

»Aber, wenn er tot war, brauchte ich mein Wort nicht mehr zu halten! Ich hätte diese Stelle verlassen und zu euch zurückkehren können!«

»Er hätte sich gewehrt. Wenigstens der Sahahr wäre verloren gewesen.«

»Aber bedenke nur: Du hattest neunzehn Jäger bei dir! Riesenstarke Männer mit Spießen, Messern und Pfeilen!«

»Neunzehn Männer mit Spießen, Messern und Pfeilen!« fiel ich da lächelnd ein, indem ich den Henrystutzen in die Hand nahm. »Schau diese kleine, dünne Flinte! Sie ist mehr wert als alle eure Lanzen, Pfeile und sonstigen Waffen. Hast du den Quittenbaum gesehen, an dem wir unweit von hier vorübergekommen sind? Steh auf, und folge mir! Ich will euch etwas zeigen.«

»Ich darf aufstehen?« fragte er.

»Ja«, nickte ich.

»Bin also nicht mehr gefangen?«

»Doch! Ich gebe dich erst dann frei, wenn du mein Freund geworden bist.«

»Gut! Du bringst mich wieder hierher, sobald du willst.«

Ich schritt voran, und die beiden kamen hinterdrein. Wir gingen bis an die Stelle zurück, wo die Quitte stand. Das war ganz in der Nähe der Hauptrichtung, aus der wir links eingebogen waren. Grad als wir den Baum erreichten, der ganz voll von noch sehr kleinen, flaumigen, silbern schimmernden Früchten hing, kamen Halef und der Sahahr daher. Sie befanden sich in einer sehr lebhaften Unterhaltung und schienen sich unterwegs ganz leidlich einander angefreundet zu haben. Der gute Verlauf unsere bisherigen Abenteuers stand für mich fest. Ich deutete auf einen Außenzweig der Quitte und fragte den Scheich:

»Wieviel Quitten trägt dieser Zweig?«

»Zusammen zwölf«, antwortete er, nachdem er gezählt hatte.

»Ich will dir zeigen, was aus deinen Jägern geworden wäre, wenn sie es gewagt hätten, sich an mir oder meinem Hadschi zu vergreifen. Ich werde nur sechs von diesen Früchten herabschießen, dann aber auch den ganzen Zweig mit den sechs übrigen.«

Ich entfernte mich, um eine möglichst imponierende Distanz zu nehmen. Diese Pause benutzte Halef, der die Situation sofort begriff, um die Sache möglichst wichtig aufzubauschen. Er rief aus:

»Es kommt ein Meisterstück, ein ungeheures Meisterstück! Sechs Quitten, eine nach der andern! Und dann der ganze Zweig! Und zwar ohne auch nur ein einzigesmal zu laden! Mit diesem Zaubergewehr kann man nämlich, wenn man es zu behandeln versteht, in alle Ewigkeit weiterschießen, ohne laden zu müssen! Ihr werdet eure Wunder sehen; ich sage euch, eure Wunder!«

Als ich mich in der gewünschten Entfernung befand, drehte ich mich um und legte das Gewehr an.

»Jetzt, jetzt!« schrie Halef. »Es beginnt!«

Ich zielte sehr genau, denn wenn ich die beabsichtigte Wirkung erreichen wollte, durfte es keinen Fehlschuß geben. Es gelang. Sechs Schüsse schnell hintereinander für die Früchte, und dann noch zwei, um den Zweig herabzubrechen, denn mit nur einem der kleinen Projektile gab es keine Garantie. Als ich den Zweig fallen sah, setzte ich das Gewehr ab. Halef jubilierte in seiner lauten Art und Weise. Die drei Ussul standen ganz erstaunt. Sie fanden keine Worte. Aber es sollte noch weit besser kommen. Die Schüsse hatten einen Raubvogel aufgescheucht, der höchstwahrscheinlich beim Fraß gesessen hatte, und zwar so in der Nähe von uns, daß wir seine Stimme noch eher hörten, als wir ihn sahen. Er stieg, weit ausholend, in die Höhe, und zwar nicht etwa in schräger Richtung uns entfliehend, sondern in einer erst weiten und dann immer enger werdenden Schneckenlinie, beständig über uns bleibend.

»Ein Nisr el Afrit – Riesenadler –!« rief der Scheich, für den Augenblick meine Schüsse ganz vergessend.

»Ein Nisr el Afrit!« rief auch der Zauberpriester, und der Ton, in dem dies geschah, sagte deutlich, daß dieser Vogel hier zu den seltensten und wertvollsten Jagdbeuten gehörte.

»Ein Nisr el Afrit!« rief ebenso die Scheichin, indem sie ihre Arme verlangend emporstreckte. »Wenn man die Steuerfedern hätte – die Steuerfedern nur!«

»Willst du sie haben?« fragte ich, indem ich den Stutzen wegwarf und nach dem weit- und hochtragenden Bärentöter griff.

Sie sah mich verwundert an und antwortete nicht. Halef rief ihr zu: »Sag ja, sag ja! Dann holt er ihn dir herab!«

Ich hob das Gewehr und zielte. Der Schuß krachte. Der Vogel zuckte zusammen, als ob er über den lauten Knall erschrocken sei. Aber es war die Kugel, unter der er zusammenzuckte. Der Körper hing einen Augenblick vollständig unbeweglich in der Luft; dann begannen die Schwingen, konvulsivisch zu schlagen. Der Körper drehte sich um sich selbst und fing an zu sinken, erst langsam, dann schnell und immer schneller, den einen Flügel fest an den Leib gezogen, den andern weit ausgestreckt, kam das Tier, zu Tode getroffen, zur Erde nieder, und zwar gar nicht sehr weit von uns, auf dem von Bäumen freien, schmalen Strich, auf dem das Wettrennen zwischen dem Scheich und mir stattgefunden hatte. Halef rannte spornstreichs hin, um ihn zu holen, und der Zauberer vergaß seine priesterliche Würde so ganz und gar, daß er ihm nacheilte, um ihm tragen zu helfen. Als sie den Adler brachten, sah ich, daß es ein außerordentlich schönes und großes Weibchen war, hellbraungolden, mit reinem, fleckenlosem Flügelspiegel, die Länge einen ganzen Meter, die Breite aber weit über zwei Meter betragend. Ich trug ihn zur Frau des Scheichs, legte ihn vor sie hin, breitete die Schwingen und Steuerfedern aus, die bei den Ussul sehr hoch im Wert stehen, und sagte:

»Du hast diese Federn gewünscht. Ich bitte dich, sie von mir anzunehmen!«

»Du willst sie mir schenken?« fragte sie.

»Ja, wenn du es mir erlaubst.«

»Kennst du denn ihren Wert?«

»Sie haben nur dann einen Wert für mich, wenn sie dir Freude machen.«

»Sie werden hier in Ardistan als Zeichen hoher Würde getragen und sind bei uns von großer Seltenheit, weil unsere Kugeln und Pfeile nicht den Adler in den Lüften zu ereilen vermögen. So reiche Geschenke darf man nur von einem Freund annehmen, nicht aber von einem Fremden, den man zum Knecht und Sklaven machen will. Ich bitte dich, mir deine Gewehre zu zeigen!«

Ich gab ihr erst die Doppelbüchse, deren Schwere sie zu überraschen schien, denn sie reichte sie dem Scheich mit den Worten hin:

»Diese Fremden sind stärker, als man denkt. Es ist gewiß nicht leicht, mit solchen Gewehren zu schießen.

»Ich habe diese Flinte schon in der Hand gehabt«, antwortete er. »Aber ich ahnte nicht, daß sie ihre Kugeln nach so außerordentlichen Höhen sendet.«

Dann griff sie nach dem Stutzen. Sie betrachtete ihn genau, wendete ihn hin und her, hielt ihn an das Ohr, schüttelte ihn, um vielleicht etwas zu hören, und sagte dann:

»Das ist allerdings ein richtiges und wirkliches Zaubergewehr, denn so sehr man sich auch Mühe gibt, kann man doch unmöglich entdecken, wie es möglich ist, mit ihm immerfort zu schießen, ohne zu laden. Zu einem solchen Gewehr gehört aber auch ein Schütze wie du!«

So sagte sie zu mir. Zum Scheich aber sprach sie:

»Ich bin überzeugt, daß dieser Emir Kara Ben Nemsi Effendi imstande ist, dich und deine neunzehn Ussul in der Zeit von zwei Minuten zu erschießen. Du nicht auch?«

»In der Zeit von nicht zwei, sondern nur einer!« warf Halef ein.

Der Scheich kratzte sich den Untergrund seines Bartes und antwortete:

»Daran ist fast kein Zweifel. Hoffentlich aber tut er es nicht! Und da habe ich einen großen, schönen, köstlichen Gedanken. Darf ich ihn dir sagen?«

»Sprich!« forderte sie ihn auf.

»Solche Gewehre und so einen Schützen müßte man auf der Jagd haben!«

Sie nickte.

»Und im Kampf gegen die Tschoban!«

»Grad jetzt!« fiel da der Zauberer ein. »Wir wissen ja, daß sie sich rüsten, uns zu überfallen.«

Um mich zu unterrichten, fügte Taldscha in erklärendem Ton hinzu:

»Wir schicken alle unserer Leute auf die Jagd, um Mundvorrat für diesen Kampf zu sammeln, der lange währen kann und stets sehr blutig ist.«

»Wer sind diese Tschoban?« erkundigte ich mich, als ob ich es noch nicht wisse.

»Ein wildes Reitervolk, welches draußen auf der Steppe und in der Wüste lebt. Die Tschoban züchten Pferde, Kamele, Rinder und Schafe. Sie haben keine bleibende Stätte. Sie sind Nomaden; sie beten einen Gott an, den sie Allah nennen, und sie haben die Blutrache. Immer, wenn ein böses, hungriges Jahr ihre Herden weggefressen hat, fallen sie bei uns ein, um uns die unserigen wegzunehmen. Wir erwarten für nächste Zeit einen derartigen Einbruch in unser Gebiet, und nun machen wir Fleisch, um uns für die Belagerungen vorzubereiten, die wir auszuhalten haben werden.«

»Belagerungen?« fragte ich. »Kämpft ihr nicht auf offenem Feld?«

»Nein. Dazu sind sie zu zahlreich, und wir haben vor allen Dingen unsere Tiere zu schützen. Wir ziehen uns mit ihnen hinter das Wasser zurück und lassen uns da von den Tschoban belagern. Wer es am längsten aushält, der hat gesiegt. Deine Gewehre tragen außerordentlich weit. Ob sie verzaubert sind, darüber frage ich dich noch. Von höchstem Wert ist es, daß du so genau zu treffen verstehst.«

Bei diesen Worten bückte sie sich, hob den herabgeschossenen Quittenzweig von der Erde auf, betrachtete ihn genau und fragte mich dann:

»Würdest du uns gegen diese Feinde beistehen, Emir?«

»Beistand zu leisten ist man nur Freunden schuldig«, antwortete ich.

»Du bist doch unser Freund!«

»Noch nicht!«

»O doch!«

»Beweise es!«

»Ich habe es beschlossen!«

Sie sagte das in sehr bestimmtem Ton und sah dabei den Scheich und den Zauberer an. Der erstere beeilte sich, mir zu erklären:

»Ja, wenn sie es beschlossen hat, so kann es nicht anders sein. Ich stimme bei.«

Und der letztere sagte zu mir:

»Wenn unsere Scheichin beschließt, ist keine Beratung nötig. Sie trifft stets das Richtige. Ich gebe ihr meine Zustimmung gern. Wenn es dir recht ist, Emir, kannst du schon morgen, wenn wir nach unserer Stadt zurückgekehrt sind, Ussul werden. Das ist eine heilige Zeremonie, die ich als Priester vorzunehmen habe, nachdem du vorher bewiesen hast, daß du wert bist, ein Ussul zu sein.«

»Wie habe ich das zu beweisen?«

»Durch den Kampf mit einem unserer Leute. Besiegt er dich, so kannst du nicht aufgenommen werden.«

»Und besiege ich ihn, so trete ich wohl an seine Stelle und er wird ausgestoßen?«

Diese Frage verwirrte ihn. Es dauerte eine kleine Weile, bevor er Antwort gab:

»Nein. Das kannst du nicht verlangen. Es geschieht dem größten Helden, daß ein Zufall ihn besiegt. Das ist eben Zufall, keine Schande. Warum ihn also ausstoßen?«

»Wir kämpfen, Sihdi, wir kämpfen!« rief Halef begeistert aus. »Wer wird mein Gegner sein?«

»Du hast das Recht, ihn dir zu wählen«, unterrichtete ihn der Zauberer.

»So wähle ich dich«, sagte der kleine Hadschi, indem er ihm eine sehr tiefe, höfliche Verbeugung machte.

»Mich –? Warum grad mich ...?«

Er dehnte diese Frage sehr lang und unlustig heraus. Es schien ihm gar keine große Freude zu machen, daß Halef seine Wahl auf ihn gelenkt hatte.

»Weil du mir gefällst«, antwortete dieser. »Weil ich dich liebgewonnen habe. Und auch darum, weil ich noch nie Gelegenheit hatte, mit einem Sahahr zu kämpfen. Es wird die Größe meines Ruhmes vermehren, wenn ich daheim erzählen kann, daß ich dich im Kampf überwunden und getötet habe.«

»Getötet? Du tötest auch in einem solchen Probekampf?«

»Natürlich! Der! Sieg ist doch nur dann vollständig errungen, wenn der Gegner tot am Boden liegt. Wer hat die Waffen zu bestimmen?«

»Der Fremde, der aufgenommen werden soll.«

»Also ich? Gut, so schießen wir uns!«

»Schießen?« fuhr der Zauberpriester auf. »Das wäre ja mein sicherer Tod, obgleich ich gegen dich ein Riese bin!«

»Das ist es ja eben, was ich will!« lachte Halef. »Riesen totzuschießen ist mir eine wahre Wonne! Nur um ihnen zu zeigen, daß es nicht auf den Körper ankommt. Was für Waffen wählst denn du, Effendi?«

»Dieselben«, antwortete ich, auf seine heitere Absicht eingehend.

»Und mit wem wirst du kämpfen?«

»Mit dem Scheich.«

Da rief dieser erschrocken aus: »Mit mir? Warum grad mit mir?«

»Weil du mir gefällst; weil ich dich liebgewonnen habe. Du hörst, daß ich ganz genau dieselben Gründe habe, wie mein Hadschi Halef. Er ist Scheich, und ich bin Emir. Wir können ganz unmöglich mit gewöhnlichen Kriegern kämpfen. Darum wählen wir euch, und wir sind überzeugt, daß ihr diese Wahl als das betrachtet, was sie ist, nämlich eine Ehre für euch beide!«

Das sagte ich zum Scheich. Mich von ihm an seine Frau wendend, fügte ich hinzu:

»Also wir sind bereit, Ussul zu werden. Dies kann, wie ich gehört habe, erst morgen geschehen. Was sind wir bis dahin? Freunde oder Feinde?«

»Freunde«, antwortete sie. »Du kannst den Scheich und den Sahahr getrost aus ihrer Gefangenschaft entlassen. Ihr seid frei.«

»Nur für jetzt oder für immer?«

»Für immer. Hier meine Hand darauf!«

Sie reichte mir ihre Hand, die ich freundschaftlich drückte. Auch die beiden Männer gaben mir ihre Hände, ebenso dem Hadschi. Taldscha aber tat das letztere nicht. Sie schaute über Halef weg, als ob er für sie nicht vorhanden sei. Er hatte es verdient, obgleich er als Moslem keine Übung besaß, mit Frauen zu verkehren.

Nun der Scheich sich frei wußte, drängte er, nach dem Lager zurückzukehren. Er nahm den Adler auf, um ihn zu tragen. Seine Frau behielt den Quittenzweig, um ihn ihren Kriegern vorzuzeigen. Wir gingen zu unsern Pferden, die wir genau so fanden, wie ich sie verlassen hatte. Als sie aufsprangen, stieß Taldscha einen Ruf der Verwunderung aus. Sie besaß ein besseres Auge als der Scheich.

»Was für schöne, herrliche Tiere!« rief sie, die Hände vor Freude zusammenschlagend. »Viel kleiner als die unsern! Aber unendlich herzig, anmutig und wohlgestaltet! Man muß sie küssen!«

Sie umschlang den Hals Ben Rihs und küßte ihn auf die Stirn. Er ließ sich dies gefallen, ohne sich zu regen. Aber als sie es auch bei Syrr tat, öffnete dieser die Nüstern weit, sog den Duft ihrer Atmosphäre ein und ließ dann ein frohes Wiehern hören, so zart, gedämpft und eigenartig, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Da trat sie rasch zwei oder drei Schritt von ihm zurück, sah mich seltsam prüfend an und fragte:

»Effendi, knistern die Haare dieses Pferdes?«

»Ja«, antwortete ich.

»Immer?«

»Nein, sondern nur, wenn ich selbst sie kämme und streiche.«

»Wie heißt dieses Pferd?«

»Syrr.«

»Syrr? Also Geheimnis, Rätsel! Als ich seinen Hals berührte, fühlte ich etwas durch meine Hände gehen. Das war genau dasselbe Gefühl wie damals, als mir der Mann, der aus Sitara kam, seine Hände reichte.«

»Was ist Sitara?« fragte ich, indem ich so tat, als ob ich es nicht wüßte.

»Ein Land in weiter Ferne, von dem man hier fast nur den Namen kennt, weiter nichts. Darf ich einmal versuchen?«

Sie deutete auf Syrr. Ich wußte zwar nicht, was sie meinte, antwortete aber mit einem zustimmenden Nicken. Da trat sie wieder an das Pferd heran und begann, seine Mähne zu streichen. Sie horchte und winkte mir dann, näher zu kommen. Ich tat es und horchte mit. Ich vernahm jenes charakteristische, elektrische Knacken und Knistern, das ich im letzten Band von »Im Reiche des silbernen Löwen« ausführlich beschrieben habe.

»Hörst du es?« fragte sie.

»Ja. Wenn es nachts und dunkel wäre, würdest du es sogar sehen.«

»Kleine, helle Funken, bläulich gelb, die zwischen Haar und Hand herüber- und hinüberspringen. Nicht wahr, Emir?« antwortete sie.

»Du kennst es also schon?«

»Ja.«

»Woher?«

»Von Aacht und Uucht.«

Aacht und Uucht heißt Bruder und Schwester. Sie sah mir an, daß ich zu wissen begehrte, was für ein Geschwisterpaar das sei, und erklärte mir also:

»Aacht und Uucht sind zwei Hunde, wie es ganz gewiß keine mehr gibt. Die Ussul sind berühmt durch die Größe, Schönheit und Stärke ihrer Bärenhunde, die sie ziehen. Wir schickten vor einigen Jahren dem Mir von Dschinnistan ein Paar. Solch ein Verkehr mit ihm ist hier in Ardistan verboten; aber er hatte uns eine große Liebe erwiesen, für die wir ihm durch diese Gabe danken wollten. Das mußte natürlich heimlich geschehen. Ebenso heimlich kam dann später ein fremder Mann zu uns, der aus Sitara stammte und im Begriff stand, dorthin zurückzukehren. Er war beim Mir von Dschinnistan gewesen und brachte dessen Gegengabe, auch zwei Hunde, schöner und schneller und klüger noch als die unserigen, aber nicht so stark. Der Mann aus Sitara war derselbe, von dem ich soeben sprach. Er teilte uns die Bedingung mit, die der Mir von Dschinnistan an seine Gabe knüpfte. Sie war seltsam. Nämlich die Nachkommen einer Kreuzung seiner und unserer Rasse sollen alle uns gehören, ein einziges Paar ausgenommen, Bruder und Schwester, die einem Gast auszuhändigen seien, der mit einem verborgenen Schild auf der Brust zu uns kommen und uns von großem Nutzen sein werde. Dieses Paar wurde geboren und Aacht und Uucht genannt. Ich behaupte, daß es keine schöneren, stärkeren, klügeren und schnelleren Hunde gibt, als diese beiden. Und sonderbarerweise sehe und höre ich kleine Funken knistern, wenn ich sie liebkose, ganz genau wie bei Syrr, deinem Pferd. Sitzt auf! Wir kehren nach dem Lager zurück.«

»Ich reite mit!« sagte der Scheich. »Ich setze mich auf das Pferd deines Begleiters.«

Er ging zu Ben Rih und griff nach seinem Zügel. Halef wollte sich das nicht gefallen lassen; ich gab ihm aber einen heimlichen Wink, Amihn nicht zu beleidigen. Er gehorchte mir, doch nur scheinbar, denn ich sah, daß er seinem Pferd jenes andressierte Zeichen gab, von dem ich bei früheren Gelegenheiten wiederholt gesprochen habe. Ben Rih wußte sofort, was er zu tun hatte. Als der Scheich die Hand nach dem Sattel hob, warnte ihn Halef:

»Ich an deiner Stelle würde nicht reiten, o Scheich!«

»Warum nicht?« fragte dieser.

»Dieses Pferd wirft jeden ab, der nicht darauf gehört.«

»Auch mich?« lachte der Ussul.

»Auch dich!« nickte der Hadschi mit jenem Lächeln, das mir nur zu bekannt an ihm war.

»Das wollen wir doch versuchen! Wehe dem Rappen, wenn er glaubt, einen Mann wie mich herunterzubringen!«

Er schwang sich hinauf, oder vielmehr, er kletterte hinauf, wie er es bei seinem Dicken zu tun gewohnt war. Noch aber hatte er das rechte Bein nicht ganz hinüber, so tat das Pferd, steifbeinig wie ein Bock, einen Satz zur Seite, augenblicklich hierauf einen zweiten nach vorn und blieb dann stehen; der Reiter aber saß hinter ihm tief in den duftenden Blüten. Taldscha wollte sich beherrschen, um das Lachen zu verbergen; es gelang ihr nicht. Auch der Zauberer lachte. Ich dagegen blieb ernst und Halef ebenso. Daß der Riese von seiner Frau ausgelacht wurde, das war wohl kein allzu seltenes Ereignis; aber daß es in unserer Gegenwart geschah, das regte ihn auf und ärgerte ihn derart, daß er beschloß, die erlittene Niederlage augenblicklich wettzumachen. Er sprang also schnell wieder in die Höhe, faßte die Zügel des Rappen von neuem und hob den Fuß, um ihn in den Bügel zu setzen.

»Hüte dich!« warnte der Hadschi.

»Schweig!« donnerte der Scheich. »Die Bestie muß gehorchen, sage ich dir. Sie muß!«

Er glaubte, den Trick des Pferdes jetzt zu kennen und darum gegen ihn geschützt zu sein. Aber er sah nicht, daß Halef jetzt ein anderes Zeichen gab, und daß der Hengst sich also auch anders zu verhalten hatte. Der Scheich stieg sehr langsam im Bügel empor, um gleich wieder abspringen zu können, falls das Pferd mit seinem »Mätzchen« zu schnell beginnen würde. Als dies nicht geschah, warf er das rechte Bein schnell hinüber auf die andere Seite und faßte rasch den dortigen Bügel, um gleich fest zu sitzen und sich nicht bereits im Aufsteigen überraschen zu lassen. Das gelang ihm vollständig. Das Pferd rührte sich nicht, selbst dann nicht, als er schon vollständig festen Sitz genommen hatte.

»Nun, kann ich es, oder kann ich es nicht?« triumphierte er.

»Du kannst es nicht!« behauptete Halef.

»Du siehst aber doch, daß ...«

Er konnte den Satz nicht aussprechen, weil Ben Rih plötzlich ganz kerzengerade emporstieg, im Niedersinken zur Seite abbockte und dann die Hinterbeine so hoch in die Luft warf, daß der Scheich aus dem Sattel und über den Kopf des Pferdes zur Erde flog.

»... daß du wieder herunter mußt!« vollendete Halef den angefangenen Satz des Scheichs. »Ich werde dir zeigen, wie man es machen muß, fest sitzenzubleiben!«

Er schwang sich auf das Pferd, um dem Scheich jede Gelegenheit zu nehmen, sich wieder in den Sattel zu wünschen. Der Scheich sprang auf, im höchsten Grade darüber wütend, daß er sich abermals lächerlich gemacht hatte. Es fiel ihm gar nicht ein, den zweimal mißlungenen Versuch zu wiederholen.

»Dein Vieh ist verrückt!« rief er. »Kein Mensch kann es reiten!«

»Auch ich nicht?« fragte Halef.

»Auch du nicht! Paß auf, wie schnell auch du herunter mußt!«

Er ballte die gewaltigen Hände, holte aus und schmetterte sie dem Pferd derart zwischen die Augen, daß es klang, als ob die Stirn zersplitterte. Ben Rih stand einen Augenblick lang ganz bewegungslos; er war betäubt. Halef saß noch nicht fest.

»Um Gottes willen! Nimm Sitz und Zügel!« rief ich ihm zu. »Das Pferd bricht aus!«

Er raffte sich sofort zusammen, und zwar grad noch zur rechten Zeit. Ben Rih begann zu zittern und zu zucken. Er tat einen gewaltigen Satz nach vorn, einen nach rechts und einen nach links, warf sich dann weit herum und jagte davon, als ob die Hölle hinter ihm sei, um ihn zu fangen.

»Pfui!« rief ich dem Scheich zu. »Ein so edles Tier mit der gemeinen Faust zu schlagen! Das war nicht recht von dir! Das bringt dir keine Ehre!«

Ich warf meine Gewehre über und schwang mich auf Syrr.

»Wo willst du hin?« fragte Taldscha.

»Ihm nach! Wenn der Huf des Pferdes in einer dieser festen Schmetterlingsschlingen hängenbleibt, können beide die Hälse brechen!«

»Wann kommst du zurück?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht nie! Wir sehnen uns nicht nach rohen Quälereien!«

»Aber wenn nun ich dich bitte ...«

Mehr hörte ich nicht. Syrr flog davon, den flüchtigen Ben Rih einzuholen, den ich schon nicht mehr sah, weil er hinter einer der schon beschriebenen Krümmungen verschwunden war. Es war wirklich so, wie ich der Frau gesagt hatte. Ich brauchte um Halef eigentlich keine Angst zu haben. Er hatte mir jahrelang bewiesen, welch ein vortrefflicher Reiter er war und daß er mit einem durchgehenden Pferd auch ganz gut ohne meine Hilfe fertig werden könne. Auch war der Rappe, den er jetzt ritt, ein zu edles Tier, als daß der Schreck über den Schlag, den er erhalten harte, länger als nur kurze Zeit anhalten konnte. Aber die dichten, mannigfach hegenden und zusammengewirrten Zweige der Schmetterlingsblütler, durch welche der sausende Ritt ging, boten tausendfältige Gelegenheit, mit dem Fuß hängenzubleiben, und wenn dies geschah, so konnte der unvermeidliche Sturz bei der Schnelligkeit, welche das Pferd entwickelte, sehr leicht ein tödlicher sein. Es stellte sich auch bald genug heraus, daß meine Befürchtung nicht nur sehr wohlbegründet, sondern auch in Erfüllung gegangen war, denn als ich eine ziemlich bedeutende Strecke im schnellsten Galopp zurückgelegt und mehrere Krümmungen des Weges hinter mir hatte, sah ich Ben Rih stehen, weit draußen vor mir, mitten in den Papilionaten, den Kopf zur Erde gesenkt – seinen Reiter aber sah ich nicht. Er lag jedenfalls am Boden, an der Stelle, nach welcher sich der Kopf des Pferdes richtete.

Es war so, wie ich dachte. Als ich hinkam, sah ich Halef liegen, steif und unbeweglich, mit geschlossenen Augen, wie einen Toten. Aus den Spuren ersah ich sofort beim ersten Blick, daß das Pferd hängengeblieben und gestürzt war. Die zähe, feste Pflanzenschlinge hing noch an seinem Fuß. Wäre sie nicht abgerissen, so hätte Ben Rih unbedingt das Bein gebrochen, und es wäre mir nichts übriggeblieben, als ihn zu töten. Halef lebte noch. Er war nur ohnmächtig. Auch verletzt hatte er sich nicht, denn ich konnte seinen Körper und alle seine Glieder bewegen, ohne daß der Schmerz ihn aufweckte. Das beruhigte mich so sehr, daß ich mich gemütlich neben ihn hinsetzte, um sein Erwachen zu erwarten. Selbstverständlich untersuchte ich vorher Ben Rih. Auch er hatte nicht den geringsten innern oder äußern Schaden genommen.

Es dauerte eine geraume Zeit, ehe Halef sich zu regen begann. Er öffnete die Augen, sah mich an, machte sie wieder zu und sagte:

»Da sitzt er – ganz, ganz ruhig – aber ich, ich muß reiten ...!«

Das sogenannte »Ich« in seinem Innern befand sich also noch mitten im Galopp! Nach einiger Zeit fuhr er fort, doch ohne die Augen aufzuschlagen:

»Wenn er im Gesträuch hängenbleibt – und ich stürze – so breche ich den Hals!«

Sein Körper lag ruhig. Auch seine Mienen waren unbewegt. Aber plötzlich nahmen sie den Ausdruck der äußersten Spannung an, und er schrie:

»Es hält ihn fest –! Er stürzt –! Er überschlägt sich mit mir –! Auf, schnell auf – sonst drückt er mich tot!«

Bis zu diesem Worte hielt er die Augen geschlossen. Nun aber sprang er in die Höhe und rief im Ton der Freude:

»Ich kann auf –! Ich bin auf –! Und ich sehe, daß ich ...«

Hier hielt er mitten in der Rede inne, denn als er jetzt die Augen öffnete, sah er Ben Rih vor sich stehen. Da fuhr er verwundert fort:

»Er ist auch schon aufgesprungen! Gleich mit mir! Soeben jetzt! Und jetzt steht er so ruhig, als ob ...«

Er unterbrach sich abermals, denn in diesem Augenblick sah er auch mich. Da fragte er, im höchsten Grade erstaunt:

»Auch du bist hier, Sihdi? Auch du? Ich bin doch soeben erst an dir vorübergejagt! Du saßest still und schautest mich erwartungsvoll an, ob ich bei dir anhalten werde oder nicht. Der Rappe lief aber weiter, weit, weit, und stürzte – ich mit ihm. Ich schlug mit dem Kopf auf. Er tut mir weh, und – und – du lächelst?«

»Ja«, nickte ich.

»Warum?«

»Vor Vergnügen darüber, daß du mir eine sehr wichtige, wissenschaftliche Frage beantwortest.«

»Ich? Eine wissenschaftliche Frage? Das wäre das erstemal in meinem ganzen Leben! Wie lautet diese Frage?«

»Es ist die Frage, was im Innern eines Menschen vorgeht, der in Ohnmacht gefallen ist.«

»Ohnmacht? – Willst du behaupten, daß ich bewußtlos gewesen bin?«

»Ja.«

»Warum?«

»Infolge des Sturzes.«

»Aber ich bin doch sofort wieder aufgesprungen!«

»So schnell, wie du denkst, wohl nicht. Ich bin dir nachgeritten und habe, nachdem ich dich hier liegen fand, mich zu dir hergesetzt und eine ziemlich lange Zeit gewartet, bis dir das Bewußtsein zurückkehrte und du wieder aufstehen konntest.«

»Das Bewußtsein? Sihdi, sei doch aufrichtig! Behauptest du wirklich, daß mir das Bewußtsein zurückgekehrt ist?«

»Allerdings. Es war doch weg, und jetzt ist es wieder da!«

»Nein! Das ist falsch! Es war nicht weg! Du hast es nur nicht sehen können! Es war da! Aber nur bei mir! Nämlich nicht hier außen, sondern drin, im Innern. Da hat es sich das, was außen geschehen ist, noch einmal innerlich betrachtet!«

»Aha! Oberbewußtsein und Unterbewußtsein!« nickte ich mit wichtiger Miene.

Da sah er mich mit bedenklichem Gesichtsausdruck an und fragte:

»Ober und Unter? Also ein Bewußtsein, das oben und ein Bewußtsein, das unten ist? Was soll das sein?«

»Das sind wissenschaftliche Ausdrücke aus der Müdschewwedet – Psychologie –, die du nicht begreifen kannst.«

Da lachte er laut auf und antwortete:

»Nicht begreifen? Ich? Bilde dir das ja nicht ein, Sihdi! Wann hätte ich denn einmal etwas nicht begriffen? Ich bin Hadschi Halef Omar, der hochberühmte Scheich der Haddedihn vom großen Stamm der Schammar, und begreife alles, unbedingt alles! Über eure sogenannte Müdschewwedet lache ich! Und ebenso über eure ganze Wissenschaft! Hörst du?«

»Ja«, nickte ich.

»Soll ich dir es erklären?«

»Ich bitte dich darum.«

»So höre: Mein Bewußtsein, das bist doch nicht du, sondern das bin ich. Wenn ich mit meinem Bewußtsein hoch oben auf dem Pferd sitze, so ist dies mein Oberbewußtsein. Und wenn das Pferd mich mit samt meinem Bewußtsein herunterwirft, so daß ich die Besinnung, den Verstand und alles Höhere verliere, so stürze ich in das Unterbewußtsein, wohin mir kein Pferd, kein Sihdi, kein Effendi, kein Gelehrter und keine Müdschewwedet zu folgen vermag. Wo ich da bin, und was ich da tue, das weiß keiner von euch, denn niemand hat es bisher entdecken können. Aber wenn es dir Vergnügen macht, es zu erfahren, so will ich gern mein möglichstes für dich und deine Wissenschaften tun. Ich brauche nur zu warten, bis ich wieder einmal mit einem durchgehenden Pferd aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein stürze und – Allah w' Allah! Schau, Sihdi! Siehst du es?«

Indem er seine Rede unterbrach, deutete er nach drei Reitern, die plötzlich in einiger Entfernung von uns auftauchten und jetzt anhielten. Es ist nötig, einen Blick auf die Örtlichkeit zu werfen, wo der Vorgang, den ich erzähle, sich abspielte.

Wir befanden uns noch immer auf dem schmalen, von Schmetterlingspflanzen bewachsenen Strich, auf dem ich den Scheich der Ussul gejagt und gefangengenommen hatte. Dieser Strich glich einer früher künstlich angelegten, dann aber verwilderten Schneuße – forstwirtschaftlich für Schneise –, welche zu beiden Seiten sehr dicht von Bäumen eingefaßt wurde. Hinter uns hatten wir das Lager der Ussul, aber so weit entfernt, daß ein Fußgänger wohl über eine Stunde gebraucht hätte, um es zu erreichen, denn unser Ritt war zwar nur ein kurzer, aber außerordentlich schneller gewesen. Vor uns ging dieser schmale Weg nur noch eine kurze Strecke fort, um sich dann, wie es den Anschein hatte, in eine freie Lichtung zu verlaufen. Er wirkte für unsere Augen fast wie ein Fernrohr. Seine Richtung war hier schnurgerade. Das Dunkel der Baumreihen hüben und drüben hielt die Lichtstrahlen fest und klar zusammen. Die Perspektive ließ dieses Rohr scheinbar immer enger werden. Und grad an dem Punkt, wo es da draußen auf die freie Lichtung führte, hielten die drei Reiter wie vor einer Linse, welche ihre Gestalten, ihre Umrisse und Bewegungen außerordentlich bestimmt und deutlich erscheinen ließ. Sie waren aus der Lichtung nach dem schmalen Weg gekommen, sahen in diesen langen Weg hinein und berieten, ob sie ihm folgen sollten oder nicht. Das merkte man aus ihren Bewegungen. Sie kannten also diese Gegend nicht; es waren demnach wahrscheinlich Ussul, die noch nie Gelegenheit gehabt hatten, hier zu sein. Doch durfte ich auch den Fall nicht ausschließen, daß sie überhaupt keine Ussul waren.

Als ihre Beratung zu Ende war, setzten sie sich in Bewegung, und zwar auf uns zu. Dies geschah in einer auffälligen Weise. Sie vermieden nämlich die Mitte des Weges, wo sie weit gesehen werden konnten, und hielten sich vielmehr, zwei hüben und der Dritte drüben, so nahe an die Bäume des Waldes, daß sie für den Fernblick ganz verschwanden.

»Das sind keine Ussul!« behauptete Halef, als er das sah.

»Auch keine Freunde von ihnen«, fügte ich hinzu. »Sie wollen nicht gesehen werden, kommen also in feindlicher Absicht.«

»Verstecken wir uns?« fragte er.

»Nein. Es ist zu spät dazu. Sie sind zwar noch ziemlich fern, aber sie würden wahrscheinlich sehen, daß jemand sich hier bewegt. Setze dich her zu mir, und unsere Pferde mögen sich legen!

Er nahm an meiner Seite Platz. Für die zwei wohlgeschulten Rappen bedurfte es nur eines kurzen Befehles, so legten sie sich grad da, wo sie standen, mitten ins Gesträuch. Diese ginsterhohen und ginsterfarbigen Pflanzen verdeckten uns so, daß wir nur aus der nächsten Nähe gesehen werden konnten.

Die Fremden ritten langsam. Wir hatten also genug Zeit, sie genau zu betrachten, noch ehe sie uns erreichten. Es waren zwei bärtige Männer im höheren Alter, doch noch nicht weißhaarig, und ein Jüngling, oder vielmehr ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Ihre Pferde waren nicht so massig wie der famose Smihk, aber doch von einem so schweren, hohen und knochigen Schlag, daß man sie in Deutschland selbst für die Artillerie noch zu ungelenk befunden hätte. Sattel und Zaumzeug waren sehr einfach, von ungefärbtem Naturleder. Von Waffen sah ich Pfeil und Bogen und Messer. Jeder führte Lanze und Flinte, letztere, wie es schien, nach alter, unvorsichtiger Beduinenart, nämlich in ihren Eisenteilen leicht, dünn und unzuverlässig und dabei für so rohes Pulver, daß ein Schuß dem Schützen leicht gefährlicher werden konnte als dem Wild oder dem Feind. Gekleidet waren sie in schreiend gefärbte Stoffe, wie Steppenbewohner sie gern zu tragen pflegen, Hose, Weste, Jacke, einen mantelähnlichen Umhang, Turban, lederne Halbstiefel mit fürchterlichen Sporen, deren blutige Spuren die armen Pferde an ihren Flanken trugen. Die beiden älteren Männer sahen sehr ernst und grämlich aus. Der jüngere, dessen Bart seine ersten Kräuselversuche zu machen schien, hatte ein offeneres Gesicht, in dem ich leider aber später auch die Spuren der Grausamkeit und Hinterlist entdeckte. Seine Begleiter schienen geschorene Köpfe zu haben; unter seinem Turban aber hingen zwei wohlgeflochtene Zöpfe hervor, die mit goldenen und silbernen Münzen geschmückt waren. Es gibt ja wilde und halbwilde Stämme, bei denen derartige Zöpfe das Zeichen besonderen Standes oder auch besonderer Verdienste sind. Halef, der ihn mit großem Interesse in Augenschein nahm, sagte zu mir:

»Sihdi, mir ist, als hätte ich eine Vision. Dieser Jüngling ist ein verzauberter Märchenprinz, und sein plumper, großer Gaul ist der Hexenmeister, der ihn verzaubert hat. Beide reiten miteinander aus, um sich durch irgendeine Tat, die wir noch erfahren werden, vom Zauber zu befreien. Meinst du nicht auch?«

»Hm!« antwortete ich. »Ein ganz gewöhnlicher Mensch scheint er allerdings nicht zu sein, wenn auch kein Prinz oder Fürst. Aber wenn er einer wäre, so gehörte er unbedingt zu denjenigen Herrschern, bei denen es nur an einem kurzen, entscheidenden Augenblick liegt, ob sie die Engel oder die Teufel ihrer Völker werden. Paß auf! Nun sind sie da!«

Sie waren uns schon ganz nahe gekommen, ohne uns zu sehen. Da erhob ich mich. Alle drei parierten ihre Pferde. Halef sprang auch empor. Anstatt zu warten, bis ich sprach, rief er ihnen drohend zu:

»Was wollt ihr hier?«

Der eine, der sich drüben befand, ritt schnell herüber zu den beiden andern. Sie wechselten einige Worte, und dann antwortete er:

»Nichts wollen wir. Wir reiten hier nur durch. Das Meer ist unser Ziel.«

»Wer seid ihr?«

»Reisende.«

»Von woher?«

»Aus dem Innern des Landes.«

»Von welchem Volk?«

Der Fremde warf den Arm in die Luft, lachte laut auf und sprach:

»Das fragt euch selbst, nicht uns!«

Er griff nach seinem Gewehr. Die beiden andern folgten seinem Beispiel. Drei Schüsse krachten, ohne daß einer traf; dann jagten sie davon, in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Es ist gar nicht schwer, dem Schuß so ungeübter und unbedachter Leute auszuweichen; aber das war gar nicht nötig gewesen, denn sie hatten vergessen, zu zielen.

»Was für unsinnige Menschen!« rief Halef. »Auf! Ihnen nach!«

Er sprang zu seinem Pferd.

»Vorsicht!« warnte ich ihn.

»Wohl wegen des Sturzes in das Unterbewußtsein?« lachte er.

»Ja.«

»Das überlasse ich eurer gelehrten Müdschewwedet. Ich stürze nicht wieder. Ich bin gewarnt.«

»Also vorwärts! Aber schone Mensch und Tier. Nur lebendig nützen sie uns!«

Wir ritten ihnen nach, und zwar so, daß wir sie nicht ganz einholten, sondern ihnen nur so nahe kamen, daß sie keine Zeit fanden, sich etwa zu trennen und im Waldesdickicht Schutz zu suchen. Die eigentliche Aktion sollte draußen auf der Lichtung stattfinden, wo es mehr Platz gab, sich mit den Pferden auszutummeln. Schon gleich, als wir sie zuerst erblickten, war in mir der Gedanke aufgestiegen, daß sie vielleicht zu den Tschoban, den Feinden der Ussul, gehörten und zeitweilig kamen, um sie zu überfallen und auszurauben. In diesem Gedanken wurde ich durch das Verhalten der drei Männer bestärkt.

Als sie sich das erste Mal nach uns umschauten, stiegen wir eben erst zu Pferde. Als es zum zweiten Male geschah, lagen wir bereits im scharfen Trab. Sie machten höhnische Armbewegungen und lachten uns aus. Bald aber bemerkten sie, daß wir uns ihnen näherten. Da stießen sie ihren armen Tieren die gewaltigen Sporen derart in die blutigwunden Weichen, daß die Pferde, vor Schmerz laut aufwiehernd, oder vielmehr laut aufbrüllend, ihre Schnelligkeit zu vermehren suchten. Das gelang ihnen aber nur für kurze Zeit, denn sie ließen bald wieder nach. Sie ermüdeten rasch, und der Atem ging ihnen aus. Die Reiter gebrauchten ihre Sporen in geradezu unmenschlicher Weise, jedoch vergeblich. Als sie aus der schmalen Schneuße in die weite Lichtung kamen, waren wir kaum noch zwanzig Sprünge hinter ihnen. Ich rief ihnen befehlend zu, anzuhalten. Sie gehorchten nicht, antworteten aber dadurch, daß sie ihre Bogen spannten und, sich im Reiten nach uns umdrehend, uns mehrere Pfeile sandten. Im Gebrauch dieser Art von Geschossen waren sie jedenfalls geübter als in der Führung von Schießgewehren. Die Pfeile waren außerordentlich gut gezielt.

Die Lichtung war vielleicht eine halbe Wegstunde breit und hatte eine solche Länge, daß wir ihre uns entgegengesetzte Grenze nicht sehen konnten. Sie bestand aus einer durchaus sandigen Anlagerung, mitten in den dunklen Moorgrund hinein, und war nur von spärlichem Grün bedeckt, aus dem hier und da ein armer Busch den Versuch machte, der unfruchtbaren Erde sein dürftiges Leben abzuringen. In Deutschland hätte man beim Anblick dieses weiten, ebenen Planes sofort gesagt: »Ein ganz vortrefflicher Exerzierplatz für einige Reiterregimenter.«

Ich hatte natürlich vermutet, daß die drei Reiter hier auf diesem Terrain auseinandergehen würden, um auch uns zur Trennung zu zwingen. Dies geschah aber nicht. Sie blieben beisammen, und der Grund hierzu war bald zu ersehen Die beiden Älteren ließen nämlich den Jungen immer voran. Sie hielten sich so viel wie möglich hinter ihm, um ihn gegen uns zu decken. Er war also jedenfalls eine vornehme, wichtige Person, die sie zu beschützen hatten und nicht verlassen durften. Darum nahm ich mir vor, mich vor allen Dingen seiner zu versichern. Ich sann auf einen guten Trick, sie von ihm zu trennen; es wollte mir aber kein brauchbarer Gedanke einfallen. Doch stellte sich glücklicherweise heraus, daß ich gar nichts Derartiges brauchte, denn die Fremden kamen meinem Wunsch ahnungslos ganz von selbst entgegen. Sie riefen einander einige Worte zu, die ich nicht verstehen konnte, jedenfalls enthielten diese einen Plan, der jetzt befolgt werden sollte, denn der Jüngere ritt in unveränderter Eile geradeaus weiter, die beiden andern dagegen parierten ihre Pferde, kehrten sich gegen uns um und nahmen ihre Lanzen in die Fäuste.

»Sihdi, ihm nach!« rief Halef mir zu. »Diese beiden unvorsichtigen Knaben nehme ich auf mich!«

Er zügelte sein Pferd, zog seine Pistolen und ritt dann langsam auf sie zu. Ich aber flog an ihnen vorüber und hinter dem Jüngeren her, der uns entkommen sollte. Als sie dies sahen, ließen sie von Halef ab, warfen ihre Rosse herum und folgten mir. Nun war der Hadschi als der letzte hinter ihnen her.

Es gab keine Möglichkeit für sie, mich einzuholen. So kurz die Zeit gewesen war, die sie gebraucht hatten, sich von ihrem Gefährten zu trennen und gegen uns zu wenden, sie hatte für diesen doch genügt, um einen ziemlichen Vorsprung zu gewinnen. Ihn einzuholen, das war wohl mir, nicht aber ihnen möglich. Ich sah mich nach ihnen um und bemerkte, daß sie wieder gewendet hatten. Um Halef brauchte ich also keine Sorge zu haben. Ich konnte mich ruhig mit dem jungen Mann befassen, den ich vor mir hatte. Er sah mich hinter sich und trieb sein Pferd derart mit Peitsche und Sporen an, daß es zum Erbarmen war. Ich machte also kurzen Prozeß und beschloß, ihn nicht, wie ich anfangs beabsichtigt harte, mit dem Lasso, sondern lieber gleich mit der Hand festzunehmen. Ich gab für Syrr einen kurzen, scharfen Pfiff. Da beschleunigte er seinen Lauf. Wir kamen dem Flüchtigen von Sekunde zu Sekunde näher. Er sah das, denn er schaute sich öfters um. Da griff er wieder zum Bogen und sandte mir, nach rückwärts schießend, einen Pfeil zu, der so gut gezielt war, daß er mich getroffen hätte, wenn ich mich nicht hurtig im Sattel niedergebeugt härte. Um so schneller war ich dann aber bei ihm, Pferd an Pferd, Seite an Seite. Ich erfaßte ihn am Gürtel – ein leiser Sporenstoß für Syrr, der sofort einen weit ausgreifenden Satz in schräger Richtung tat – und der Reiter wurde durch diesen Sprung meines Pferdes von seinem Tier herabgerissen. Ich hielt ihn fest, gab ihm einen Schwung und ließ dann los, worauf er in einem weiten Bogen aus meiner Hand zur Erde niederflog. Syrr blieb stehen. Ich sprang ab und trat zu dem Besiegten. Er wollte schnell wieder auf, konnte aber nicht, sondern brach wieder zusammen.

»Bleib! Rühre dich nicht von der Stelle!« gebot ich ihm. »Du bist mein Gefangener!«

»Dein Gefangener?« lachte er. »Siehst du nicht, daß sie kommen?

Er deutete auf seine Gefährten, die eben heranjagten.

»Die tun mir nichts«, antwortete ich. »Weg mit den Waffen!«

Lanze und Flinte waren ihm schon entfallen, als ich ihn vom Pferd zog. Jetzt entriß ich ihm auch den Köcher samt den Pfeilen, die vergiftet sein mochten, und auch das Messer, nach welchem er griff, um nach mir zu stoßen. Ich schleuderte beides ein Stück weit fort, wo es sicher lag, weil es ihm unmöglich war, sich aufzurichten, um es zu holen. Zu untersuchen, ob er irgendwie Schaden gelitten hatte, dazu war jetzt keine Zeit, denn die beiden andern kamen jetzt heran. Ihre Gewehre während des Rittes zu laden, dazu fehlte es ihnen höchstwahrscheinlich am Geschick. Auch von Pfeil und Bogen konnten sie unter den gegenwärtigen Umständen keinen Gebrauch machen. Darum drangen sie mit den Lanzen auf mich ein. Ich parierte den Stoß des vordersten von ihnen leicht mit meinem Bärentöter. Der Angreifer schoß dabei an mir vorüber und zügelte dann sein Pferd, um es zu wenden; aber mit zwei, drei schnellen Sprüngen war ich ihm nach, griff ihm in die Zügel und riß sein Pferd auf die Hinterfüße. Es wollte augenblicklich wieder in die Höhe, aber ich drängte ihm den Kopf tief nieder. Es schnellte die Hinterhand hoch empor. Der Reiter verlor dadurch den Halt und flog aus dem Sattel. Zwar sprang er rasch wieder auf, aber noch stand er nicht fest, so traf ich ihm mit dem Kolben des Bärentöters derart auf die Schulter, daß er mit einem Schmerzenschrei zusammenbrach. Im Nu war er entwaffnet. In diesem Augenblick nahte sein Gefährte heran, der nur nach vorn, nicht aber hinter sich schaute, wo Halef ihm hart auf der Ferse war. Der zweite Angreifer hatte nur den einen Gedanken, an mich zu kommen. Die Lanze zum Stoß einlegend, spornte er sein Pferd auf mich zu. Er kam aber gar nicht zum Stoß, denn Halef trieb, das Gewehr in der Luft wirbelnd, seinen Rappen zum entscheidenden Sprung an und schlug den Gegner mit dem Kolben an den Kopf, daß der Getroffene die Lanze und die Zügel fallen ließ und mit beiden Händen nach dem turbanbedeckten Schädel fuhr. Sein Pferd tat einen Satz zur Seite, und er taumelte herab. Da warf sich Halef schnell von seinem Tier herunter und nahm den Besiegten beim Genick.

»Hamdulillah!« rief er fröhlich aus. »Nun sitzen sie alle unten! Wollen wir sie zusammentragen?«

»Ja – komm!«

Der von ihm Besiegte war stark betäubt. Halef zog ihn vom Boden auf, stieß ihn vor sich her und brachte ihn zu dem jungen Mann, der noch immer nicht von der Stelle konnte. Ich holte den andern herbei, dem mein Kolbenhieb so gut bekommen war, daß er keinen Versuch des Widerstandes machte. Als nun alle drei beisammensaßen und ihre Waffen in der Nähe auf einem Haufen lagen, setzte sich Halef mit jener wohlbekannten Miene zu ihnen hin, die er stets zu zeigen pflegte, wenn ihm der Schalk im Nacken saß. Er sah sich einen nach dem andern an, sehr lange, sehr genau und sehr freundlich. Dann sagte er:

»Es freut mich unendlich, daß wir einander wiederhaben. Ich bitte, mir zu sagen, womit wir euch so gekränkt hatten, daß es euch nicht mehr bei uns gefiel!«

»Wer bist du?« fragte der Jüngere in kurzem, bestimmten Ton, ohne sich von der Freundlichkeit des kleinen Hadschi betören zu lassen.

»Wie kommst du zu dieser Frage?« antwortete Halef. »Wie kommt es überhaupt, daß du das Wort ergreifst? Deine Gefährten sind älter und also wohl auch erfahrener als du.«

»Ich bin der Vornehmere!« fuhr der Gefragte auf.

»Vornehmer?« fragte Halef. »Was nennst du vornehmer?«

»Ich bin der Ilkewlad – der Erstgeborene –!«

Er sprach dieses Wort so aus, daß man es nicht nur im gewöhnlichen Sinn, sondern auch als Titel nehmen mußte, also in der Bedeutung, die bei uns das Wort Kronprinz hat. Darum fragte Halef:

»Also der Erstgeborene des Herrschers?«

»Ja.«

»Welches Herrschers?«

»Das geht dich nichts an!«

»Ich will es aber wissen!«

»Du wirst es nicht erfahren!«

»Du irrst. Erfahren werde ich es jedenfalls, wenn nicht von dir, so doch von den andern. Es wäre für dich aber jedenfalls vorteilhafter, wenn du aufrichtig mit uns redetest.«

»Mit Leuten, wie ihr seid, spricht man nicht vertraulich. Ihr seid unsere Feinde. Ihr seid Ussul!«

»Ussul? Wir?« fragte Halef, indem er ein lautes Gelächter aufschlug. »Sihdi, wir sind Ussul! Wer das behauptet, der muß blind und taub und alles andere sein, aber nur nicht bei Sinnen!«

»Wollt ihr es etwa leugnen?« fragte der Erstgeborene in verweisendem Ton.

Da nahm der eine seiner Begleiter das Wort, und zwar in sehr höflichem Ton:

»Sie sind kleiner als die Ussul; das haben wir bisher außer acht gelassen. Und der eine wird von dem andern Sihdi genannt. Dieses Wort ist bei den Ussul nicht gebräuchlich. Man findet es nur bei den türkischen und persischen Arabern.«

»So seid ihr wohl Türken?« fragte der Jüngere.

»Nein«, antwortete Halef.

»Oder Perser?«

»Nein.«

»Was sonst?«

»Das geht dich nichts an! Wer uns keine Auskunft gibt, der hat auch von uns keine zu erwarten. Ich will aber hier eine Ausnahme machen und meine Gnade über dir leuchten lassen, indem ich dir sage, wer wir sind. Wir sind nämlich auch ›Erstgeborene‹, er der meinige und ich der seinige. Ich bin also sein Vater, und er ist mein Vater. Folglich sind wir beide noch viel mehr als bloß nur erstgeboren, und du reichst mit deiner einfachen Erstgeburt in keiner Weise an unsere doppelte heran!«

»Narr!« rief der junge Mann beleidigend aus. »Der Witzbold ist überall der niedrigste Mensch des ganzen Stammes. Ich verachte dich! Ich mag gar nicht wissen, wer und was ihr seid. Packt euch von dannen!«

»Das werden wir allerdings tun. Euch aber packen wir zusammen und nehmen euch mit!«

»Wohin?«

»Auch das geht euch nichts an!«

»Wagt es, euch nochmals an uns zu vergreifen! Wir sind keine Ungläubigen wie die Ussul. Wir sind Moslems!«

»Meinst du, daß du dir hierauf etwas einbilden kannst? Ich sage dir: Auch ich bin Moslem; ich sogar moslemer als du; ja, ich bin hundertmal und tausendmal moslemer als ihr alle drei, als euer Stamm, als euer ganzes Volk! Du scheinst wundergroß von dir zu denken, bist aber in Wahrheit nichts als ein beispiellos dummer, unerfahrener Bursche, dem ich zeigen werde, wie solche Leute, wie ihr seid, zu behandeln sind.«

Er sprang auf, zog seine geliebte Kurbatsch aus dem Gürtel, schwippte sie hin und her und fuhr fort:

»Seht euch zunächst eure armen Pferde an! Die Sporenlöcher zu beiden Seiten! Voller Blut und Eiter! Seid ihr Menschen? Auch das Pferd ist Allahs Geschöpf, tausendmal schöner, vornehmer und edler als ihr! Bildet euch ja nicht ein, daß wir euch gefühlvoll, zart und sanft behandeln werden! Das beste Wort für euch ist nur die Peitsche!«

»Hund!« schrie der junge Unbekannte. »Du wagst es, mir mit der Peitsche zu drohen? Dafür verlange ich dein Blut und Leben! Ich werde ...«

Er sprach nicht weiter. Er hatte versucht, aufzuspringen, sank aber mit einem Schmerzensruf wieder zurück.

»Mein Blut und Leben?« lachte Halef. »Kamelmilchknabe, der du bist! Betrachtet euch doch, wie jammervoll wir euch vor uns haben! Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich die dreifache Dummheit so nahe bei mir gesehen wie jetzt! Wie dumm kamt ihr zur Stelle geritten, an der wir euch überraschten! Wie dumm war eure Flucht! Wie unendlich dumm war es von euch, beisammenzubleiben! Wie beispiellos dumm fingt ihr es an, diesem einen von euch zur Flucht zu verhelfen! Wie entsetzlich dumm seid ihr uns in die Hände gelaufen! Und wie unsagbar dumm ist es von euch, euch trotz alledem stolz aufzublasen und uns, die wir doch Herren eures Schicksals sind, zu beleidigen! Wir werden Euch ...!«

»Nichts werdet ihr!« unterbrach ihn der Ilkewlad mit brüllender Stimme. »Schweig!«

»Ja, schweig!« forderte auch ich jetzt Halef auf. »Diese Männer kehren jetzt mit uns zurück!«

»Wohin?« fragte der Erstgeborene, indem er mich mit blitzenden Augen maß.

»Wohin es uns beliebt«, antwortete ich ruhig.

Ich war bis jetzt still gewesen und hatte zwischen ihnen und ihren Waffen gestanden, damit es den beiden, die gehen konnten, nicht einfallen möge, unvermutet aufzuspringen und sich zu bewaffnen. Dem dritten war dies unmöglich, weil er sich verletzt hatte. Ich trat jetzt zu ihm und fragte:

»Wo hast du Schmerzen? Ich will nachschauen, ob etwas gebrochen ist. Wir müssen es verbinden.«

Da herrschte er mich wütend an:

»Fort von hier, Schakal, räudiger! Weißt du, wer wir sind?«

»Nein«, antwortete ich, ganz ohne Zorn.

»Bei uns ist es das größte Verbrechen, sich an dem Scheich oder seinen Söhnen zu vergreifen. Das habt ihr getan, ihr seid dem Tode verfallen. Ließe ich mich von euch berühren, so brächte euch das nach unsern Gesetzen das Recht, begnadigt zu werden.«

»Ich danke dir für diese Warnung, denn nach Gnade trachte ich allerdings nicht. Aber ich sage dir eins: Wenn du dich so vor der Berührung durch unsere Hände scheust, so scheue dich auch vor der Berührung durch unsere Peitsche!«

Er sah mich an, ich ihn auch. Es kochte in ihm. Er wollte losbrechen, doch gab mein Blick dies nicht zu. Er bezwang sich und fragte:

»Auch du wagst es, von der Peitsche zu sprechen?«

»Wagen? Pah! Wenn ich dich peitschen will, so peitsche ich dich; gewagt ist nichts dabei. Und nun paß auf, was du hörst! Ihr werdet jetzt unbedingt tun, was ich befehle, augenblicklich, ohne Weigerung. Zögert ihr, zu gehorchen, so bekommt ihr allerdings die Peitsche, und zwar alle drei. Und wer von euch es jetzt noch wagt, zu sprechen, ohne daß ich ihn dazu auffordere, der bekommt für jedes Wort einen Hieb. Merkt euch das! Ich scherze nicht!«

»Allah verfluche euch!« rief einer der beiden andern, indem er Miene machte, sich zu erheben. Da aber sauste schon die Peitsche Halefs auf ihn nieder. Ich zog meine beiden Revolver, hielt sie ihnen hin, ließ, um ihnen die Ladung zu zeigen, die Walzen spielen und sagte:

»Seht diese Pistolen! Wie ihr euch überzeugen könnt, ist jede sechsmal geladen. Ich kann euch also zwölf Kugeln geben, ohne daß ich zu laden brauche. Nehmt euch in acht! Erst die Peitsche und, wenn diese nicht hilft, dann die Kugel!«

Das wirkte. Sie verstanden die Mechanik der Revolver nicht, aber sie sahen die Kugellöcher und fühlten sich von dem Geheimnis, welches dabei waltete, gebannt. Keiner wagte mehr ein Wort, doch in ihren Gesichtern stand mit größter Deutlichkeit zu lesen, was wir zu erwarten hätten, falls sie einmal das Glück haben würden, uns in ihre Hände zu bekommen. Ich blieb mit gespannten Pistolen bei ihnen stehen, während Halef ihre Pferde zusammenbinden mußte, und zwar eines hinter das andere. Dann mußten die beiden Älteren ihren jüngeren Gefährten, der nicht von uns berührt werden durfte, nach dem vorderen Gaul schaffen, in dessen Sattel sie ihm emporhalfen. Hierauf wurden ihnen selbst die Hände nach hinten gebunden und wir halfen ihnen auf ihre Pferde. Und nun setzten wir uns in Bewegung, Halef voran und ich hinterdrein. Ihre Waffen wurden selbstverständlich mitgenommen.

Es war ein ganz eigentümliches Erlebnis. Ich hatte das Gefühl, als ob durch die Gefangennahme dieser drei Männer dem Stamm der Ussul ein großer Dienst erwiesen sei, wir aber für uns beide damit auch den Grund zu späteren Verdrießlichkeiten oder gar Gefahren gelegt hätten. Mochte dies nun sein, wie es wollte – wir trugen an der Entwicklung der Dinge keine Schuld. Hätten sich die drei Fremden anders verhalten, wären sie nicht so ohne allen sichtbaren Grund geflohen, ja, wären sie wenigstens später nicht so schroff und feindselig gewesen, so hätte sich diese Begegnung gewiß ganz anders gestaltet. Und selbst im schlimmsten Fall, daß sie nämlich zu den Todfeinden der Ussul, zu den Tschoban, gehörten, hätte sich gewiß ein Weg finden lassen, um wenigstens Feindseligkeiten zu vermeiden. Ich war gespannt darauf, ob man bei den Ussul einen von ihnen oder vielleicht gar alle drei kennen werde.

Auf demselben Weg, auf dem wir gekommen waren, kehrten wir zurück. Wir kamen da ein sehr gutes Stück über die Stelle hinaus, wo Halef mit Ben Rih gestürzt war. Noch aber hatten wir das Gefängnis Amihns nicht erreicht, so sahen wir ein halbes Dutzend Reiter uns entgegenkommen, lauter hohe, breitschulterige Gestalten auf massigen, urpferdartigen Rossen. Als sie sich genügend genähert hatten, erkannten wir sie. Es war Amihn, Taldscha und der Sahahr mit noch drei anderen Ussul! Sie wunderten sich, daß sie nicht zwei, sondern fünf Reiter sahen, und zwar im Gänsemarsch hintereinander. Sie erkannten Halef, den Vordersten von uns, sogleich und hielten an, um uns herankommen zu lassen. Natürlich war Halef es, der das erste Wort haben mußte. Er rief ihnen, noch lange bevor wir sie erreichten, zu:

»Heil, Heil und Heil! Den Mutigen ist es gelungen! Die Tapferen haben gesiegt! Der Kampf ist zu Ende! Triumph, Triumph, Heil, Heil!«

»Gekämpft habt ihr?« fragte Amihn schon von weitem.

»Ja, gekämpft«, antwortete Halef.

»Mit wem?«

»Mit drei Fremden. Wir kennen sie nicht. Sie sind unserer Macht erlegen und vor unserer Faust in den Staub gefallen. Hier sind sie! Schaut sie an!«

Er wich mit seinem Pferd etwas zur Seite, so daß die Ussul nun den vordersten unserer Gefangenen sahen.

»Allahi, wallahi!« rief Amihn aus. »Das ist Palang – der Panther –, der älteste Sohn des Scheichs der Tschoban!«

»Palang, der Ilkewlad!« fügte der Zauberpriester hinzu.

»Der Blutgierige! Der Mörder der Ussul!« beteiligte sich auch Taldscha an den Ausrufungen.

»Wo habt ihr ihn gefunden?« erkundigte sich der Scheich.

Halef öffnete schon den Mund, um eine seiner berühmten Lobreden loszulassen, ich ließ es aber nicht dazu kommen, sondern fiel ein:

»Wir sahen sie eine Strecke weit da hinten. Als sie uns erblickten, rissen sie aus. Wir eilten ihnen nach, sie zu ergreifen und zu dir zu bringen. Du siehst, daß es uns gelungen ist.«

»Heil euch! Ihr habt ein schweres und gefährliches Werk vollbracht. Kein Zweifel, es ist der Panther der Tschoban. Ich habe ihn wiederholt gesehen. Die beiden andern, die bei ihm sind, kenne ich nicht. Als wessen Gefangene sind sie zu betrachten?«

»Als die meinigen.«

»Wie lange sollen sie es bleiben?«

»So lange es mir beliebt.«

»Herr, wenn du sie an uns abtreten wolltest!«

Die andern Ussul stimmten diesem Wunsch sofort und lebhaft zu. Ich hatte die Gefangenen hierhergebracht, um sie ihnen auszuliefern, hielt es aber für besser, hiermit noch zurückzuhalten. Darum antwortete ich:

»Es ist nicht unmöglich, daß ich sie euch überlasse, doch würde ich meine Bedingungen stellen.«

»Welche?« fragte die Frau. »Sag es schnell!«

»Ihr dürftet sie nicht ohne meine Erlaubnis wieder freigeben.«

»Einverstanden! Völlig einverstanden! Dürfen wir sie uns nehmen?

Ihre Begleiter schickten sich schon an, sich an die Gefangenen heranzudrängen. Diese hatten sich bis jetzt ganz schweigsam verhalten, aus Angst vor Halefs Peitsche. Jetzt aber fragte mich Palang, der Panther:

»Darf ich jetzt wieder reden?«

»Ja«, nickte ich.

Da wendete er sich an den Scheich und dessen Frau und sagte:

»Wenn dieser Fremdling uns euch auslieferte, würdet ihr gezwungen sein, uns freizugeben.«

»Warum?« fragte Taldscha, der die Männer das Wort sehr gern zu überlassen schienen.

»Weil man nur Feinde gefangennimmt, nicht aber Freunde.«

»Du bist doch Feind!«

»Nein! Jetzt nicht, heut nicht! Ich kam als Freund hierher. Mein Vater sendet mich mit einer Friedensbotschaft zu euch. Der Überbringer solcher Botschaften ist heilig, so weit die Erde reicht. Ihr wißt, was folgen würde, wenn es euch einfiele, mich als Feind zu behandeln. Er würde euer Land mit Krieg überziehen und jeden Ussul töten, der in seine Hände fällt.«

»Ja, das würde er«, bestätigte die Frau. »Wir dürfen dich nur dann als Feind betrachten, wenn du in feindlicher Absicht kommst. Das ist aber sicher der Fall!«

»Wie willst du das beweisen?«

»Kein Tschoban kommt als Freund zu uns!«

»Diesmal doch! Ich bin sogar gesandt, ein Bündnis mit euch abzuschließen, ein Bündnis für lange Zeit, wenn möglich für immer.«

»So rufe nun ich dir zu: Wie willst du das beweisen?«

»Indem ich es abschließe. Das kann ich aber doch wohl nicht hier und auch nicht heut und morgen. Dazu gehören lange Tage und lange Verhandlungen. Und selbst wenn diese Verhandlungen nicht zum Ziel führten, dürftet ihr euch nicht an mir vergreifen und müßtet mich ruhig weiterziehen lassen, denn ich komme als Friedensbote und Freund!«

»Und hast als Friedensbote auf uns geschossen!« fiel ich ein.

»Auf euch?« fragte er wegwerfend. »Seid ihr Ussul?«

»Nein!«

»So schweig! Zu dir wurde ich nicht gesandt!«

»Das ist richtig. Darum aber habe ich auch nicht nötig, dich als Freund zu behandeln. Du bist mein Gefangener.«

»Das wird mich aber nicht hindern, mit den Ussul zu verhandeln, und ich sage dir: Sie werden mich von dir fordern. Wehe dir, wenn du mich ihnen verweigerst!«

In diesem ernsten Augenblick geschah etwas unendlich Drolliges. Der Scheich ritt natürlich seinen dicken Smihk. Dieser hatte sich, so lange die andern sprachen, sehr ruhig verhalten; als aber ich das Wort ergriff, hielt er nicht mehr still. Er strampelte von einem Bein auf das andere, schlug sich mit den Ohren um den Kopf, wirbelte den Schwanz, kurz, er tat alles, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und als ich mich gleichwohl nicht um ihn bekümmerte, kam er trotz aller Gegenwehr seines Reiters herbei, stellte sich grad vor mich hin, riß das Maul auf und ließ eine so jammervolle Klage über meine Hartherzigkeit los, daß alle Anwesenden, die Gefangenen ausgenommen, in ein lautes Gelächter ausbrachen. Dann begann er, mir die Stiefel abzulecken, eine Liebkosung, die eigentlich meiner Hand gewidmet war. Ich mußte Syrr beruhigen, der den Urgaul nicht leiden zu können schien, was auch gar kein Wunder war, wenn man sich erinnert, daß dieser sich erst kurz vorher im tiefen Schlamm gewälzt hatte, um seine geliebte Kruste zu erneuern.

Ich war durch den Urgaul verhindert, dem Panther die ihm gebührende Antwort zu erteilen. Darum wurde ich von Taldscha gefragt:

»Wie entscheidest du dich, Herr? Überläßt du ihn uns oder nicht?«

»Ich behalte ihn einstweilen noch für mich. Doch ist das nur für kurze Zeit. Denn sobald ich euch bewiesen habe, daß er sich als euer Feind in dieser Gegend befindet, trete ich ihn euch ab.«

»Diesen Beweis erbringst du nicht«, herrschte er mich an.

»Diesen Beweis erbringe ich, noch ehe der heutige Tag vorüber ist!« antwortete ich ihm. »Und nun macht vorwärts, daß wir in das Lager kommen!«

Diese letztere Aufforderung war an die Ussul gerichtet, von denen drei sich zu den Gefangenen gesellten, ohne ein Wort mit ihnen zu sprechen, während der Scheich, seine Frau und der Priester mit mir hintendrein ritten. Es war für sie ein unendlich wichtiges Ereignis, den Erstgeborenen ihrer Todfeinde in ihrer Gewalt zu haben. Sie befanden sich dadurch im Besitz einer Geisel, die mit keiner noch so großen Summe Geldes zu bezahlen war. Freilich konnte sich diese Waffe auch als zweischneidig erweisen, doch nur für den Fall, daß er wirklich als Friedenshändler gekommen war. In jedem andern Fall aber stand das Recht aller Völker und Stämme von Ardistan auf der Seite der Ussul, denen ihr Gefangener mit Leib und Leben gehörte.

Vorerst mußten sie sich an den einfachen Gedanken gewöhnen, daß sie ihn überhaupt besaßen. Ein solches Glück war ihnen während aller bisherigen Kämpfe mit den Tschoban noch nie widerfahren. Sie hielten diesen jungen Mann für einen Ausbund von Grausamkeit, List und Tapferkeit, während ich wenigstens von den beiden letzteren Eigenschaften nicht den geringsten Beweis erhalten hatte. Im Gegenteil war mir sein Verhalten gradezu als dumm und feige erschienen.

»Es ist ein großes, großes Wunder, daß ihr noch lebt!« sagte Amihn, während wir nebeneinander herritten. »Sie sind zwar nicht so groß und stark wie wir, ihr aber seid noch kleiner als sie. Auch seid ihr nur zwei, sie aber sind drei!«

»So hast du dir eben zu merken, daß es weder auf die Länge und Breite des Körpers noch auf die Zahl der Personen ankommt«, antwortete ich. »Das ganze Menschenleben beweist, daß es nicht auf diesen Körper, sondern auf die Seele, auf den Geist ankommt. Du selbst sagst, daß die Tschoban kleiner sind als ihr, und trotzdem seid ihr ihnen meist unterlegen. Ich sage dir, daß der Kleinste unter uns allen, nämlich mein wackerer Hadschi Halef Omar, es mit einer ganzen Menge dieser Leute aufnimmt, ohne sich zu fürchten. Hingegen können eure Körper noch so stark und riesig sein, wenn euch aber der Geist fehlt, den großen Vorteil, den euch der Besitz des Erstgeborenen bietet, auszunützen, so wird euer Leib euch nur von Schaden sein. Glaubt ihr, daß er in friedlicher Absicht gekommen ist?«

»Nein«, antwortete der Scheich. »Das ist er auf keinen Fall. Dennoch müssen wir, sobald du ihn uns schenkst, auf Verhandlungen mit ihm eingehen, bis seine feindlichen Absichten offen erwiesen sind. Glaubst du wirklich, dies noch heut tun zu können?«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Wer soll uns Auskunft geben?«

»Er selbst oder seine Begleiter, je nachdem.«

»Die werden sich hüten!«

»Die werden sich nicht hüten, sondern es sogar als eine Wohltat empfinden, ihre Geheimnisse ausplaudern zu können. Man muß sie scheinbar zum Schweigen zwingen und ihnen dann heimlich Gelegenheit geben, sich auszusprechen. Laßt mich nur machen. Wenn ihr mir helft, wird alles wohlgelingen. Wo kann ich meinen Gefangenen während der Nacht unterbringen, so daß er leicht zu bewachen ist?«

»Auf der Insel oder im Lager. Wir binden die drei Männer einfach an drei Bäume, wie du es mit mir getan hast. Ein einziger Mann genügt, sie zu bewachen. Die anderen können schlafen.«

»Wie einfach und wie leicht das klingt! Wenn ihr in dieser Weise zu verfahren pflegt, so ist es kein Wunder, daß die Tschoban euch stets überlistet haben. Im Lager wird während der Nacht kein Mensch bleiben.«

»Warum?«

»Glaubt ihr vielleicht, daß der Scheich der Tschoban den unverzeihlichen Fehler macht, seinen Erstgeborenen und Nachfolger mitten in euer Gebiet zu schicken, nur von zwei Männern begleitet?«

»Dieser Gedanke ist richtig, sehr richtig!« stimmte der Scheich schnell bei. »Ich würde es auch nicht tun.«

»Trägt man bei den Tschoban Säbel?« fragte ich.

»Fast jedermann!«

»Diese drei haben keine. Warum? Weil sie ihnen im Wege sein würden. Sie wollen schleichen, forschen, spüren, suchen, leise, ungehört und ungesehen. Da ist der Säbel hinderlich. Und wenn euer Gebiet durchsucht werden soll, und wenn man erfahren will, was ihr tut, wo ihr euch befindet, genügen hierzu armselige drei Männer?«

»Nein! Herr, du machst mir Angst!«

»Das will ich nicht. Aber selbst wenn es dir wirklich bange würde, so ist das jedenfalls besser als ein Überfall, dem ihr unterliegt, weil er euch völlig unvorbereitet trifft. Also, ich glaube nicht, daß diese drei Tschoban die einzigen sind, die sich jetzt bei euch herumschleichen. Darum werde ich mich hüten, unsere Gefangenen so wohlfeil hinzustellen, daß sie leicht befreit werden können. Und darum rate ich auch ab, heut im Lager zu übernachten, das vielleicht schon längst ausgekundschaftet worden ist. Die Art und Weise, wie der Ilkewlad sich näherte, läßt vermuten, daß er die Richtung kennt, in der es liegt. Vorher dachte ich anders, jetzt aber nicht mehr.«

»Es hat schon seit undenklichen Zeiten da gelegen!«

»Um so schlimmer! Und um so gefährlicher ist es, es zu einer Zeit zu beziehen, wo Feinde in der Nähe sind.«

»Welche andere Stelle schlägst du vor?«

»Jetzt noch keine. Ich kenne die Gegend nicht, werde mich aber, bevor es dunkelt, umsehen. Mag aber kommen, was da will, so könnt ihr überzeugt sein, daß euch heut ein großes Glück widerfahren ist. Der Erstgeborene ist ein Schatz, den euch die Vorsehung sendet, damit ihr ...«

»Die Vorsehung?« unterbrach mich der Zauberer. »Da hört man, daß ihr Christen Heiden seid! Gott hat ihn gesandt, nur Gott! Das Wort Vorsehung gilt nur für Leute, welche zweierlei falsche Scham besitzen. Sie schämen sich, nicht an Gott zu glauben, und sie schämen sich doch, ihn offen und ehrlich zu bekennen. Da sprachen sie von Vorsehung, Fügung und ähnlichen Dingen, die wie voll klingen und doch keinen Inhalt haben. Wir Ussul besitzen nur Gott allein. Weiter brauchen wir nichts!«

Diese Worte wurden schon in der Nähe des Lagers gesprochen. Als wir dort ankamen, erneuerte sich das Erstaunen über die drei Tschoban. Die hier zurückgebliebenen Ussul brachen in lauten Jubel aus. Mit den Begleitern des Panthers wurde wenig Federlesens gemacht. Wir banden sie einfach an zwei Bäume, doch so, daß sie nicht miteinander sprechen konnten. Ihn selbst aber mußten wir legen, denn er konnte nicht stehen. Der neugierige Zauberpriester untersuchte ihn und fand, daß sein Fuß gebrochen war und schneller Hilfe bedurfte, wenn er nicht vollständig lahm bleiben sollte. Da bekam der Tschoban Angst. Er bat, sogleich verbunden zu werden, und der Sahahr, der zugleich der Arzt seines Volkes war, machte sich, unterstützt von zwei Ussul, daran, diesen Wunsch zu erfüllen. Wie dies geschah, das kümmerte mich nicht. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Die Hauptsache für mich war, einen andern, bequemeren Lagerort zu suchen und dann nach der Insel zu rudern, um zu forschen, ob sie für meine Zwecke geeignet sei. Es galt nämlich, die Gefangenen unter sich zu einer Unterredung zu bringen, die wir zu belauschen hatten und also scheinbar verhüten mußten. Der Scheich begleitete mich. Halef wollte auch mit, mußte aber zurückbleiben, um die Gefangenen zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, daß sie weder unter sich noch mit anderen sprechen konnten. Es sollte dadurch in ihnen die Sehnsucht, sich mitteilen zu können, gesteigert werden.

Ein Platz, der sich zum Lagern während der Nacht gut eignete, war bald gefunden. Dann ging es hinüber nach der Insel. Ich hatte angenommen, daß nur das große, schwere Boot, das ich kennengelernt hatte, vorhanden sei; es gab aber, sorgfältig im Gebüsch des Ufers versteckt, noch ein kleines, leichtes Kanu aus Holzstützen und Lederbezug und zum Zerlegen eingerichtet, um überall mitgenommen werden zu können. In diesem ruderten wir uns hinüber. Vorher hatte der Scheich einen seiner Leute nach seiner »Residenz« geschickt, um den Bewohnern derselben die Freudenbotschaft zu überbringen, daß der Erstgeborene ihres Hauptfeindes gefangen worden sei, weshalb man sich für morgen auf einen feierlichen Empfang einzurichten habe. Er sprach da, jedenfalls in bedeutend beschönigender Weise, von seiner »Hauptstadt« und seinem »Schloß«, seiner »Burg«. Auch gab es einen »Tempel« zur Abhaltung des Gottesdienstes. Dies trug dazu bei, die Spannung auf den morgenden Tag in mir zu erhöhen.

Die Insel war nicht groß, ungefähr fünfzig Schritt lang und halb so breit, rundum am Wasser von dichtem Gebüsch umsäumt. Es standen mehrere Bäume da, die für meinen Zweck vorzüglich paßten. Der eine ganz nahe an einer kleinen, schmalen Einbuchtung des Wassers, die nur ganz wenig breiter war als unser Kanu.

»An diesen Baum wird der Panther gefesselt«, erklärte ich dem Scheich.

»Wann?« fragte er.

»Während der Nacht.«

»Er soll also herüber auf die Insel?«

»Ja. Doch nicht nur er, sondern auch die beiden anderen Tschoban. Mein Hadschi Halef Omar, der ein außerordentlich pfiffiger Gesell ist, wird sie mit Hilfe zweier Ruderer herüberschaffen. Vorher aber haben wir uns, du und ich, hier eingestellt. Wir kommen mit unserm Lederboot in diese Einbuchtung. Der Baum, an den der Panther gebunden werden soll, steht so nahe daran, daß wir ihn fast mit der Hand erreichen können. Aber sehen wird man uns trotzdem nicht, weil die Wasserpflanzen und Schlinggewächse des Ufers uns verbergen, die wir außerdem jetzt derart ordnen und zurichten werden, wie wir es für unsere Zwecke nur wünschen können. Es kann uns kein Wort, welches an diesem Baum gesprochen wird, entgehen. Die beiden andern werden da drüben am jenseitigen Ufer angebunden, aber nicht so fest, wie er, sondern leichter und lockerer, so daß es ihnen mit einiger Mühe möglich ist, sich loszumachen. Sie werden dies ganz sicher tun und dann zu ihrem Vorgesetzten kommen, um sich mit ihm zu beraten.«

»Schlau! Außerordentlich schlau!« lobte der Scheich. »Der Plan ist gut; aber ob er in Erfüllung gehen wird, das ist die Frage. Werden sie wirklich so unvorsichtig sein, miteinander zu sprechen? Werden sie nicht Verdacht schöpfen? Werden sie gar nicht auf den Gedanken kommen, daß man sie belauschen will?«

»Sicher nicht! Ich bin überzeugt, daß uns alles gelingen wird«, antwortete ich. »Wenn sie vom Lager fortgeschafft werden, sehen sie doch, daß wir alle dort beisammen sind ...«

»Wir alle? Wir beide sind doch fort, du und ich! Und grad das ist es, was ihnen aufzufallen hat.«

»O nein! Wir gehen doch nicht vor ihnen fort, sondern nach ihnen, wenn sie es nicht mehr sehen können. Hierzu kommt, daß sie mit dem langen, schweren Boot transportiert werden, möglichst langsam, wobei anstatt der geraden Linie ein Bogen geschlagen wird. Wir aber nehmen das leichte, schnelle Kanu und sind also viel eher hier als sie. Sie befinden sich ganz gewiß in der festen Überzeugung, daß nur Halef und die Ruderer vom Lager abwesend sind. Und wenn man sie hier angebunden hat, kann nur der Panther nichts gewahren, weil er auf der entgegengesetzten Seite ist; seine beiden Gefährten aber sehen und hören ganz bestimmt, daß die drei Männer im großen Kahn sich wirklich entfernen und nicht auf der Insel bleiben. Sie werden sich also für unbelauscht halten und in entsprechender Weise miteinander verkehren. Vorbedingung ist, daß wir uns nicht etwa selbst verraten. Bist du geübt, das Husten und Niesen zu unterdrücken?«

»Sorge dich nicht! Das übt man schon von früher Jugend an. Selbst wenn wir die ganze Nacht im Wasser stecken müßten, würdest du nicht das geringste Geräusch von mir zu hören bekommen.«

»So sind wir für jetzt hier fertig und wollen wieder an das Ufer zurück. Ich habe noch meinen Halef heimlich hierherzubringen, um ihn in unsern Plan einzuweihen und zu unterweisen. Es kommt sehr darauf an, daß er, während er die Tschoban nach der Insel bringt, ja nichts tut, was geeignet wäre, ihren Verdacht zu erregen.«

Wir verließen also die Insel und ruderten uns zurück. Dort legten wir so an, daß uns kein Mensch sah. Das geschah natürlich nicht etwa aus Mißtrauen gegen die Ussul, sondern weil ich wünschte, daß überhaupt niemand daraufkam, von dem kleinen Lederkanu zu sprechen. Die Tschoban brauchten nicht zu erfahren, daß es eines gab. Ebenso sorgte ich dafür, daß Halefs Entfernung aus dem Lager ganz unauffällig vor sich ging. Unterwegs nach der Insel erzählte ich ihm, um was es sich handelte. Er war ganz Feuer und Flamme.

»Sihdi«, versicherte er, »ich werde meine Sache so machen, daß du gezwungen bist, mich zu loben. Ich gäbe viel darum, wenn ich dann mitlauschen könnte, aber ich sehe ein, daß dies unmöglich ist. Du wirst mir die Bäume zeigen, an welche ich die Gefangenen zu fesseln habe. Ich werde das mit größter Sorgfalt und aber doch so besorgen, daß die beiden Halunken, wenn es ihnen gelungen ist, sich loszubinden, über mich lachen und spotten. Das werde ich sehr ruhig tragen, denn meine Rache kommt dann nach!«

Es handelte sich jetzt nur darum, ihm die Örtlichkeit zu zeigen, damit er dann im Dunkel des Abends genau wußte, woran er war. Ich zeigte ihm, als wir an der Insel ausgestiegen waren, die betreffenden drei Bäume, und er weihte mich in alle die kleinen und großen Finten ein, deren er sich bedienen wollte, die Tschoban so gründlich wie möglich zu täuschen. Wir verdichteten auch das Ufergesträuch in der kleinen Bucht, wo wir zu landen und uns zu verbergen hatten, derart, daß unser Kanu dann am Abend darunter verschwand und gar nicht bemerkt werden konnte. Dann kehrten wir nicht nach dem alten, sondern gleich nach dem neuen Lagerplatz zurück, den die Ussul inzwischen aufgesucht und eingenommen hatten, und wo man dürres Holz zusammensuchte, weil der Tag sich zu neigen drohte und es also nötig wurde, Feuer anzuzünden. Taldscha begann mit den Frauen, das Abendessen zu bereiten. Wir Männer setzten uns um das größte der Feuer, an dem sich sehr bald eine ganz eigenartige und sehr angeregte Unterhaltung entwickelte, in welche die drei Gefangenen absichtlich mit keinem Wort verflochten wurden. Sie waren auch hier angebunden, doch derart voneinander getrennt und abgewendet, daß ihre Augen und Blicke sich nicht treffen konnten. Aber hören mußten sie alles, jedes Wort, und so waren die Ussul alle beflissen, das Gespräch so hin und her zu leiten, daß die Tschoban nur solche Dinge zu hören bekamen, die ihnen imponierten und Angst vor dem, was sie erwartete, einflößten. Daher kam es ganz von selbst, daß die Ussul taten, als ob ich und Halef halbe Götter und außerdem auch ihre besten Freunde seien. Das Verhältnis zwischen uns und ihnen wurde in die beste und innigste Beleuchtung gestellt, und es versteht sich ganz von selbst, daß in dieser Beziehung mein kleiner Halef das allermeiste und das menschenmögliche leistete. Er behandelte die Ussul genau so ungeniert und vertraut, wie vielerprobte, gute Freunde, und sie gingen in einer Weise hierauf ein, daß es ihnen ganz unmöglich wurde, uns später dann etwa als Feinde zu behandeln. Was mich betrifft, so verhielt ich mich möglichst still. Was von unserer Seite gesprochen werden mußte, das sprach der Hadschi in mehr als reichlicher Weise, und mir lag doch alles daran, die Ussul nicht nur im allgemeinen und insgesamt, sondern auch einzeln so genau wie möglich kennenzulernen.

Das Essen bestand aus erjagtem und am Feuer gebratenem Fleisch mit einer Pflanzenzugabe, die aus wilden, aus dem Gras herausgestochenen Zwiebeln und einer gerösteten Art der Canna indica zusammengesetzt war. Es schmeckte vortrefflich. Daß auch unsere Pferde reichlich mit gutem Futter und Wasser versehen wurden, versteht sich ganz von selbst. Sie standen in unserer Nähe. Die Gäule der Ussul aber befanden sich weiter fort von uns. Sie hatten während des ganzen Tages gefaulenzt und gefressen und sich nun niederlegt, um auszuruhen. Nur einer nicht, nämlich Smihk, der Dicke. Der kam durch die Finsternis der Waldesnacht zum Lager herbeigeschlichen und suchte so lange rund um dasselbe herum, bis er mich sitzen sah. Er nahte mir, wie meist alles, was man nicht gern kommen sieht, von hinten. Das tat er so leise, wie es der pfiffigste Apache oder Komantsche nicht leiser fertiggebracht hätte, und strich mir, als sein Kopf den meinen erreicht hatte, mit der Zunge so zärtlich quer über das Gesicht, daß es schien, als ob sie daran kleben bleiben wolle. Ich langte natürlich sofort zu ihm hinauf und gab ihm eine Ohrfeige, die jedes andere Tier in den höchsten Zorn versetzt hätte; er aber nahm sie für einen überzeugenden Beweis meiner Gegenliebe und ließ ein Freudengewieher und Jubelgeheul erschallen, welche die andern dicken Ur-, Jagd- und Streitrösser so sehr entzückte, daß sie aus Leibeskräften mit einfielen und den ganzen Wald, so weit ihre Stimmen reichten, mit Wonnetönen erfüllten.

»Er hat dich in sein Herz geschlossen«, sagte der Scheich. »Nimm es ihm nicht übel!«

Dabei schlug er ihm den Spieß an den Kopf, daß beide krachten, nämlich der Spieß und auch der Kopf; aber Smihk, der Dicke, ließ sich dadurch nicht stören, sondern orgelte weiter, bis er glaubte, seine Gefühle genügend ausgesprochen zu haben, so daß nichts mehr zu sagen war. Dann legte er sich hinter mir nieder und schloß die Augen, um in dem beseligenden Gedanken zu entschlafen, daß ich nun wisse, wie teuer ich ihm sei. Als endlich auch für die Menschen die Zeit kam, sich schlafen zu legen, wurden auf meine Veranlassung hin Wachen ausgestellt, die während der Nacht dreimal abzulösen waren. Dann wurde, natürlich nur zum Schein, eine kurze Beratung abgehalten, wie wir uns während des Schlafes unserer Gefangenen am besten versichern könnten. Der Scheich machte den Vorschlag, sie nach der Insel zu schaffen und dort festzubinden, weil da kein besonderer Wächter für sie nötig sei. Wir andern stimmten bei, und Halef bot sich an, sie hinüberzuschaffen, falls man ihm zwei Ruderer mitgebe, ihm zu helfen. Das wurde in völlig unbefangener und unauffälliger Weise gesagt und vorgeschlagen. Keiner der drei Tschoban kam auf den Gedanken, daß es abgekartete Sache sei. Man band sie von den Bäumen los und führte sie fort, dem Wasser zu, wo hinter einem Ufergebüsch, durch welches sie nicht zurückschauen konnten, der große Einbaum zu ihrer Aufnahme bereitlag. Dann eilte ich mit dem Scheich nach der andern Stelle, an der das Kanu auf uns wartete. Das leichte, kleine Fahrzeug brachte uns im Uferschatten sehr schnell so weit, daß die Insel zwischen uns und dem Einbaum lag und wir, von diesem aus ungesehen, nun gerade und direkt auf sie lossteuern konnten. Das taten wir und erreichten die kleine, schmale Bucht noch rechtzeitig genug, um es uns unter den dichten Zweigen, die eine Decke über uns bildeten, bequem zu machen. Der Baumstamm, an den der Panther festgebunden werden sollte, stand uns so nahe, daß auf dieser Seite seine Wurzeln unmittelbar aus dem Wasser tranken.

Nun nahte das große Boot. Wir vernahmen die Ruderschläge, noch viel eher aber die Stimme des Hadschi, der absichtlich laut sprach, damit wir sein Kommen hören sollten. Er landete drüben an der andern Seite, dennoch unterschieden wir jedes Wort, welches er sagte, denn er sprach sehr langsam und deutlich, und die Breite der Insel war nicht beträchtlich genug, seine Worte zu verschlingen. Er hatte nicht erst jetzt begonnen, mit den Gefangenen zu sprechen, sondern dies schon während der ganzen Fahrt getan. Er besaß so eine pfiffige Art, die Leute auszufragen, und fing es nicht weniger pfiffig an, mich jetzt schon von weitem hören zu lassen, was er von ihnen erfahren hatte.

»Also ihr beide seid die Erzieher des Prinzen der Tschoban, den man Palang, den Panther nennt. Von dem einen lernt er das Regieren und von dem andern das Kriegführen. Der eine ist die Kalam el Berinz – Feder des Prinzen – und der andere das Sef el Berinz – Schwert des Prinzen –. Beide werden angebunden, und dann er selber auch. Zuerst die Kalam el Berinz! Komm! Steig aus!«

Er führte die Feder des Prinzen aus dem Boot nach dem betreffenden Baum und band ihn dort mit Riemen fest, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Diese Festigkeit war aber nur eine scheinbare. Dabei sagte er:

»Nun ich von euch gehört habe, was für ein vornehmer Herr du bist, tut es meiner Seele vom Kopf bis herunter zu den Füßen weh, daß ich gezwungen bin, dich hier an diesen Stamm zu fesseln, der nichts von deinem hohen Stande weiß. Doch wenn ich mich nachher entferne, lasse ich dir den süßen Trost zurück, daß ich morgen früh wiederkommen werde, um mich zu erkundigen, ob du gut geschlafen hast.«

Hierauf holte er das Schwert des Prinzen, um ihn nach dem andern Baum zu führen und dort anzubinden. Auch dieser bekam einige ironische Bemerkungen zu hören. Dann mußten die beiden Ruderer den Panther nach dem dritten Baum tragen, eben dem, in dessen unmittelbarer Nähe ich mit dem Scheich verborgen war. Die beiden andern waren aufrecht stehend angekoppelt worden; dieser aber durfte sich seines verletzten Fußes wegen niedersetzen und wurde nur mit dem Rücken an den Stamm gebunden. Indem Halef dieses tat, sprach er:

»Ich liebe dich, o Prinz. Du hast mein Herz gewonnen. Zwar hast du es nur heimlich gewonnen, als du vorhin leise zu mir sagtest, daß du mir eine ganze Satteltasche voll Goldstücke geben würdest, wenn ich bereit sei, euch zu euern Pferden zu bringen und mit euch zu fliehen; dafür aber sage ich es nun laut, um deine Güte zu rühmen. Deine Goldstücke gehören nicht mir, sondern meinen Freunden, den Ussul. Wenn ich jetzt hinüberkomme, werde ich ihnen und ihrem Scheich sagen, wie gern du zahlen wirst. Schlaf wohl! Ich gehe! Allah sende dir ein ganzes Dutzend glücklicher Träume aus dem Vorrat seines siebenten Paradieses!«

Er entfernte sich und stieg mit seinen beiden Ussul in den Einbaum. Man hörte die Ruder in das Wasser schlagen, und man hörte die Stimme Halefs, der sich absichtlich laut mit seinen Begleitern unterhielt, noch lange, bis sie wegen des zu großen Abstandes verscholl. Das ging alles so ungesucht und selbstverständlich, daß die drei Tschoban gar nicht auf den Gedanken gerieten, sie seien nicht allein hier, oder Halef werde heimlich zurückkehren, um sie zu belauschen. Selbst falls er diese Absicht gehabt hätte, wäre es ihm wegen der Größe des Bootes wohl schwerlich gelungen, die Insel unbemerkt wieder zu erreichen.

Nun warteten wir. Der Scheich war in hohem Grade gespannt, ob die Richtigkeit meiner Voraussetzung sich bestätigen werde; bei mir aber gab es nicht den geringsten Zweifel daran, daß die Gefangenen die Gelegenheit schleunigst benutzen würden, miteinander zu sprechen. Und richtig! Kaum hörte man Halefs Stimme nicht mehr, so rief die Feder des Prinzen den beiden andern zu:

»Gebt Achtung! Hört ihr mich?«

»Ja, ja!« lautete die Antwort von hüben und von drüben.

»Wir sind allein!«

»Weißt du das genau?« fragte der Prinz.

»Ja. Ich konnte dem Boot von hier aus nachschauen, bis es nicht mehr zu sehen war. Sie sind fort, und kein Mensch ist hier, der uns hört. Wie dumm diese Leute sind!«

»Bist du fest angebunden?«

»Es scheint so; aber ich will doch einmal versuchen.«

»Ich auch!« stimmte das Schwert des Prinzen bei. »Mir scheint, ich kann vielleicht los.«

Es wurde für kurze Zeit still; dann hörten wir gleich hintereinander zwei Freudenrufe. Beiden war es gelungen, sich von dem Riemen zu befreien, doch lag es ihnen völlig fern, hier eine Hinterlist zu vermuten. Sie jubelten laut auf und eilten herbei, um auch den Panther loszumachen und mit ihm zu besprechen, wie sie sich nun wohl befreien könnten. Hier zeigte es sich, welchen Einfluß Geburt und Erziehung auf Menschen haben, die sonst ziemlich gleichgestellt sind. Er war edler geboren als sie, und er zeigte sich trotz ihres höheren Alters und ihrer größeren Erfahrung als der Bedachtsamste und Vorsichtigste von ihnen.

»Halt! Mich nicht losbinden!« befahl er. »Wir wissen nicht, ob wir uns vielleicht nicht wieder anbinden müssen. Wäre dies der Fall, so könnten wir die Schleifen und Knoten nicht genau so wiederherstellen, wie sie waren, und das würde uns verraten, daß wir frei gewesen sind.«

»Uns wieder anbinden müssen? Das fällt uns doch wohl nicht ein!

»So? Könnt ihr schwimmen?«

»Nein. Wir sind keine Fische oder Frösche! Hätte Allah uns Flossen oder Schwimmhäute gegeben, so läge es in seinem Ratschluß, daß wir schwimmen sollen. Du hast es trotzdem gelernt, aber dein Fuß ist verletzt ...«

»Ja, dieser Fuß, dieser Fuß!« klagte der Panther. »Daß dieser fremde Hund mich vom Pferd gerissen und lahm gemacht hat, das würde ich ihm nicht vergessen, selbst wenn Allah mit Mohammed vom Himmel käme, um für ihn zu bitten! Ich hoffe, daß die Zeit erscheint, in der ich mit ihm abrechnen kann. Dann wird es keine Gnade geben – keine!«

Er knirschte das grimmig zwischen den Zähnen heraus und fuhr dann fort:

»Also, an das Ufer zu schwimmen ist unmöglich; folglich müssen wir hierbleiben. Ich bleibe also angebunden, so wie ich bin, damit man früh nicht spürt, daß ihr schlecht angebunden gewesen seid. Auf mich paßt man besser auf, als auf euch.«

»So sollen wir also auf jeden Versuch, die Flucht zu ergreifen, verzichten?« fragte das Schwert.

Der Panther sann einige Augenblicke lang nach und antwortete dann:

»Ich muß mich fügen! Wegen meines Fußes! Aber nicht ihr. Ihr könntet fliehen, sobald sich euch eine Gelegenheit dazu bietet. Aber klüger ist es, hierauf zu verzichten, um meinetwillen. Denn eure Flucht würde mir wohl sehr übel angerechnet werden. Sie würde meiner Behauptung widersprechen, daß wir in Frieden kommen und Abgesandte meines Vaters sind.«

»Aber wir können doch nicht so lange bleiben, bis sie merken, daß dies eine Lüge ist! Die beiden Fremden glauben schon jetzt nicht daran! Bedenke, daß unser Heer heut über eine Woche den Engpaß Cathar überschreiten wird! Wenn wir da noch Gefangene der Ussul sind, so ist es um uns geschehen! Die Stunde, in der sie erfahren, daß wir keinen Frieden wollen, sondern ganz im Gegenteil wieder mit einem großen Heer im Land eingefallen sind, wird unsere Todesstunde sein!«

»Das stünde allerdings mit größter Sicherheit zu erwarten«, stimmte der Panther bei. »Aber noch ist keine Gefahr. Wenn wir unsere Rolle gut spielen, so werden wir sehr bald entlassen. Wir schließen mit ihnen einen angeblichen Vertrag, den mein Vater durchzuprüfen hat, ehe er ihm sein Siegel gibt. Diesen Vertrag haben wir ihm zu bringen; also müssen wir fort von hier.«

»Aber wenn sie diesen Vertrag abweisen und gar nicht auf ihn eingehen?«

»Das ist unmöglich! Wir wissen ja, daß wir diesen Vertrag überhaupt nicht halten werden, also können wir die Sache so appetitlich für sie machen, daß sie unbedingt anbeißen werden. Diese Ussul sind Dummköpfe. Es gibt keinen einzigen Menschen unter ihnen, den man als klug bezeichnen könnte. Der Dümmste von allen aber ist der Scheich. Hätte er nicht die Frau, die sich bemüht, das bißchen Verstand, das er beinahe besitzt, zusammenzuhalten, so gäbe es auf der ganzen Erde keinen größeren Narren und Einfaltspinsel als ihn! Den nehme ich bei unserem nächsten Sieg gefangen und zeige ihn in unserem ganzen Land herum, damit man endlich einmal erfahre, wie ein Mensch aussieht, der ...«

»So sieht er aus!« erscholl hinter ihm eine donnernde Stimme, die ihn mitten in der Rede unterbrach, und zugleich erhielt er eine Ohrfeige, welche allerdings noch ganz anders klatschte als die, mit der ich meinem guten, dicken Smihk zu antworten pflegte, wenn er sich eingehender mit mir beschäftigte, als ich wünschte. Nämlich von dem Augenblick an, der uns die Gewißheit gab, daß die friedliche Sendung dieser drei Männer eine Lüge sei, hatte sich der Scheich nicht mehr zu beherrschen vermocht. Sein Atem begann hörbar zu werden. Ich faßte ihn am Arm, um ihn zur Vorsicht zu mahnen. Dies hätte vielleicht auch gefruchtet, wenn nicht die persönliche Beleidigung gefolgt wäre, die ihn in laute Wut versetzte. Er richtete sich, die Zweige, die uns verbargen, auseinanderstoßend, im Kanu auf, so lang er war, gab dem Prinzen den Schlag ins Gesicht und sprang sodann an das Ufer. Ich folgte ihm auf der Stelle.

»Allah 'l Allah!« rief das Schwert erschrocken.

»Und auch der Fremde!« fügte die Feder hinzu.

Der Panther sagte kein Wort. Wahrscheinlich nahm die Ohrfeige seinen Kopf so ganz und gar in Anspruch, daß ihm die Sprache versagte.

»Ja, der Scheich und der Fremde!« donnerte der Ussul weiter. »Der Scheich, den ihr in eurem ganzen Land sehen lassen wollt! Der Scheich, welcher der dümmste von allen Dummköpfen ist! Ihr aber habt die Klugheit schon von Kindesbeinen an euch in den Kopf geschaufelt und es mit ihrer Hilfe so himmelweit gebracht, daß man euch nur an den ersten besten Baum zu binden braucht, um alle eure Geheimnisse zu erfahren. Fort mit euch von hier! Ihr gehört an eure Bäume!«

Diese Aufforderung war an die Feder und an das Schwert gerichtet. Der Scheich nahm den einen hüben und den andern drüben beim Genick und schaffte sie von ihrem Prinzen fort. Sie wagten nicht, eine Hand zum Widerstand zu regen, was ihnen auch wohl schlecht bekommen wäre. Ich folgte. Wir banden sie wieder fest, und zwar so, daß es ihnen nicht wieder gelingen konnte, sich zu befreien. Dann begaben wir uns nochmals zum Panther hin, weil sich dort unser Kanu befand. Ich untersuchte seine Fesseln. Sie waren ihm so gut angelegt, daß ich nichts daran zu ändern hatte.

»Schurke!« giftete er mich an.

»Ich kam nur hierher, um mein Wort zu halten«, antwortete ich.

»Welches Wort?«

»Du fordertest mich auf, dir zu beweisen, daß du ein Feind der Ussul bist, und ich gab dir mein Wort, daß ich diesen Beweis erbringen werde, noch ehe der heutige Abend vorbei sei. Ich habe es getan, und es ist noch lange nicht Mitternacht. Leb wohl! Wir sehen uns am Morgen wieder.«

Wir stiegen in das Boot und verließen die Insel. Als wir uns so weit von ihr entfernt hatten, daß wir nicht gehört werden konnten, sagte der Scheich:

»Wie recht hast du gehabt, und wie gut war es, daß wir sie belauschten!«

»Und wie falsch war es, daß du so vorzeitig dazwischen fuhrst!« tadelte ich ihn. »Es ist gar nicht zu ahnen, was wir alles noch erfahren hätten, wenn du ruhig geblieben wärst!«

»Verzeih! Ich hielt es nicht länger aus. Es ist kein Spaß, sich als einen Dummkopf bezeichnen zu lassen, wenn man keiner ist! Übrigens glaube ich, daß wir genug erfahren haben. Nun wissen wir, woran wir sind. Mehr brauchen wir nicht. Wir kennen sogar den Tag, an dem das Heer der Tschoban durch den Paß von Chatar reitet.«

»Wo liegt der Paß von Chatar, und wie ist er beschaffen?«

»Er liegt an der Grenze der Wüste, welche die Steppen der Tschoban von meinem außerordentlich fruchtbaren Land trennt. Er besteht nur aus Stein. Er ist so lang, daß man fast einen halben Tag braucht, um zu Pferde von seinem Anfang an sein Ende zu kommen. Seine Breite ist gering; sie beträgt an ihrer beträchtlichsten Stelle den Ritt von nur einer Viertelstunde. Es gibt aber Punkte, wo sie so schmal ist, daß ich auf der einen Seite die Worte genau verstehe, die mir jemand von der andern herüberruft.«

»Was gibt es rechts und links? Etwa Gebirge?«

»O nein! Sondern Wasser.«

»Was für Wasser?«

»Das Meer.«

»Das Meer?« fragte ich verwundert. »So ist dein Land eine angeschwemmte Erde? So ähnlich wie das Delta des Niles? Eine Halbinsel, die mit dem Festland derart in Verbindung steht, wie zum Beispiel der griechische Peloponnes durch die Landenge von Korinth mit Hellas zusammenhängt?«

Da kratzte er sich verlegen den Bart und antwortete:

»Was Delta ist und Korinth und Hellas und Peloponnes, das weiß ich nicht; aber gelehrte Leute sollen behauptet haben, daß das Tand der Tschoban früher ein ungeheurer See gewesen sei, während im Süden davon, also da, wo wir uns jetzt befinden, das Meer gelegen habe. Beide, der See und das Meer, seien durch einen starken Felsenkamm getrennt gewesen. Ein großer Fluß habe den See gespeist und die Wasser desselben so schwer gemacht, daß der Felsenkamm endlich nicht länger widerstehen konnte. Der Druck der Wassermenge zwang ihn, sich zu öffnen. Sie rauschte in das Meer hinaus und riß die Felsenbrocken mit sich fort, um sie hüben und drüben weit in das Meer hinein aufzutürmen. So soll der jetzige Engpaß Chatar entstanden sein. Als der See hierdurch leer geworden war, zeigte es sich, daß der Boden seines südlichen Teiles nur aus unfruchtbarem Steingeröll bestand. Das ist die Wüste der Tschoban, die ich schon erwähnte. Der nördliche Teil erwies sich als nützlicher; er brachte nach und nach Gräser und Stauden hervor, wenn auch keine Bäume. Das ist die Steppe der Tschoban. Der Fluß ging durch beide hindurch, durch die Steppe und durch die Wüste. An seinen Ufern wuchsen nach und nach Büsche und Bäume; aber eben auch nur da, am Ufer, weiter nicht. Denn das fruchtbare Land, welches der Fluß aus den höher liegenden Gegenden brachte, wurde von ihm bis hinaus in das Meer getragen und dort von ihm niedergesenkt und aufgebaut. Es wuchs immer größer und größer, immer breiter und breiter. Der Fluß teilte sich in viele, in unzählige Arme und Zweige, die alle an der Entstehung des neuen Landes zu arbeiten hatten. Wahrscheinlich ist es dasselbe, was du vorhin Korinth oder Hellas oder Delta nanntest. Die Wasser und die Winde brachten Körner und Samen, die guten Boden fanden. Es entstanden Wälder, deren Größe ebenso wuchs wie die Größe des Landes selbst. Das ist das Land der Ussul, in dem du dich befindest.«

»Und der Fluß?« fragte ich. »Wo finde ich den?«

»Der ist verschwunden, fort, weg, für alle Zeit.«

»Wohin?«

»Hm! Wohin! Hierüber gibt es eine alte Sage, die zu lang ist, als daß ich sie dir jetzt erzählen könnte, weil wir sogleich das Ufer erreichen werden. In der Steppe und in der Wüste der Tschoban gibt es seitdem keinen einzigen Tropfen fließendes Wasser mehr, und so sind die Bäume und Sträucher gänzlich verschwunden, die damals am Ufer des Flusses standen. Das Land der Ussul aber ist wie ein Schwamm, welcher die Wasser des Meeres an sich saugt, um sie zu reinigen und trinkbar zu machen. Schau dieses Wasser hier, welches aus dem Meer stammt und doch keinen Tropfen Salz mehr hat! Und morgen, wenn wir in die Hauptstadt kommen, wirst du sehen, daß wir an Durst niemals zu leiden brauchen und grad an dem, was die Tschoban sich vergeblich wünschen, reicher sind als reich.«

Das Gespräch mußte abgebrochen werden, denn wir landeten. Was ich da gehört hatte, war höchst interessant. Und nicht bloß das allein, denn er hatte es auch in einer Weise gesagt, die nicht seine gewöhnliche war. Wahrscheinlich brauchte man zu der angeborenen Intelligenz der Ussul nur liebevoll hinunterzusteigen, um sie wecken und emporheben zu können. Ich freute mich schon jetzt darauf, die Sage von dem verschwundenen Fluß zu hören.

Als wir im neuen Lager ankamen, war es unser erstes, zwei Ussul nach der Insel zu schicken, um die Gefangenen zu bewachen. Ich hielt dies zwar nicht für unumgänglich notwendig, aber nach dem, was wir erfahren hatten, waren die drei Tschoban so wichtig für uns geworden, daß keine Handlung der Vorsicht als unnütz bezeichnet werden konnte. Dann wurde erzählt. Es versteht sich ganz von selbst, daß die Kunde, die wir brachten, aufregend wirkte. Die Ussul hatten zwar gehört, daß die Tschoban zu einem neuen Einfall rüsteten; aber so gewiß wie jetzt, hatten sie es doch nicht gewußt. Und ebensowenig hatten sie geahnt, daß es so bald geschehen werde. Der jetzige Jagdzug war nur zum Zweck der Verproviantierung unternommen worden, und ich erfuhr nun, daß auch noch andere Jagdgesellschaften in die Wälder geschickt worden waren, um das zu tun, was der Indianer als »Fleischmachen« bezeichnet. Man sah sich gezwungen, diesmal mehr als früher das Wild heranzuziehen, weil die zahmen Herden sich von dem Verlust, den ihnen der letzte Einfall der Tschoban bereitete, noch nicht wieder erholt hatten. Der Scheich und auch Taldscha versicherten mir, daß ihr ganzer Stamm der Hungersnot verfallen müsse, wenn es nicht gelinge, die ihnen bevorstehenden neuen Verluste abzuwehren.

»Was gedenkt ihr zu tun? Habt ihr einen Plan?« fragte ich.

»Ja«, antwortete der Scheich.

»Welchen? Darf ich ihn erfahren?«

»Der, den wir immer verfolgen.«

»Also die Belagerung?«

»Die Belagerung!« nickte er. »Wir schaffen, wenn wir den Überfall zeitig genug erfahren, unsere Herden nach der Hauptstadt. Auch alle Krieger vereinigen sich da. Die Weiber und Kinder verstecken sich, bis die Gefahr vorüber ist. Der Feind kommt und umzingelt uns; wir aber sind vom Wasser gedeckt; er kann nicht herüber und muß wieder abziehen.«

»Wie lange dauert das immer?«

»Oft mehrere Wochen.«

»Hm! Während dieser Zeit zieht der Feind raubend im Land herum! Ihr aber steckt tatenlos hinter dem schützenden Wasser und habt nicht nur die Menschen zu ernähren, sondern auch die Herden zu füttern! Das kann euch doch nur schädigen, selbst wenn der Feind schließlich gezwungen ist, abzuziehen! Ist das so oder nicht?«

»Es ist so!« antwortete Taldscha diesmal an Stelle ihres Mannes. »Auch dann, wenn die Tschoban die Belagerung aufheben mußten, ohne uns ausgeraubt zu haben, nahmen sie doch noch ganz bedeutende Beute mit, die sie sich ringsum zusammengeholt hatten. Und in unsern Herden brach dann infolge des Hungers und des Zusammengedrängtseins fast immer ein Sterben aus, das große Opfer forderte.«

»Ihr habt euch stets nur dadurch gewehrt, daß ihr euch einschließen und belagern ließet?«

»Ja.«

»Warum das?«

»Weil es so Sitte war. Unsere Vorfahren haben es stets getan, und so taten wir es auch.«

»So seid ihr niemals auf den Gedanken geraten, die Angreifer zu machen, anstatt nur immer die Angegriffenen zu sein?«

»Nie!«

»Sonderbar!«

»Ja, sonderbar, höchst sonderbar!« fiel hier Halef ein. »Die Herrin der Ussul hat es mir übelgenommen, daß ich ihr zugetraut habe, einmal nicht Wort zu halten. Ich bemerke das erst jetzt, weil sie es beharrlich vermeidet, mich anzusehen. Ist ihre Ehre so fein und so empfindlich, daß sie schon ein kleines, unbedachtes Wort so gewaltig übelnimmt, so sollte diese ihre Ehre zu anderen Zeiten nicht so grob und unempfindlich sein, daß man sie wochenlang belagern und ihre ganze große Herden rauben darf, ohne daß sie sich hiervon beleidigt zu fühlen scheint. Mich, den einzelnen, kleinen Menschen, den sie nur für einen unbedeutenden Zwerg gehalten hat, verfolgt sie mit ihrer Rache. Was hat sie getan, um sich an den Tschoban zu rächen? Mich bestraft sie eines einzigen, unschädlichen Wortes wegen. Womit hat sie die riesengroßen Missetaten der Tschoban bestraft? Reicht ihr Mut nur zur Verachtung und Bestrafung von Zwergen aus? Oder fehlen ihr die Einsicht, die Klugheit und die nötige Begabung, die dazu gehören, einen Plan abzufassen und auszuführen, nach dem man sich mutig wehrt, anstatt daß man sich, seine Krieger und seine Herden langsam abschlachten läßt? Ich sage euch: Ich, der Zwerg, der gegen euch winzige Hadschi Halef Omar, hätte mir so etwas nie gefallen lassen; ihr aber, die ihr euch Riesen nennt, sammelt in eurer Feigheit schon wieder Fleisch, um euch auf eine elende, unmännliche und furchtsame Belagerung vorzubereiten, anstatt den Feinden entgegenzuziehen und ihnen zu zeigen, daß ihr Hirn im Kopf, Blut in den Adern und Mark in den Knochen habt! Ob jemand mich ansieht oder nicht, das ist mir völlig gleich; aber wer da meint, mich verachten zu dürfen, der sollte doch wohl derart zu handeln gewohnt sein, daß ich ihm meine Achtung nicht auch zu versagen habe!«

Diese lange Rede des kleinen Hadschi kam mir wie ein Blitz aus heiterem Himmel, vollständig unerwartet. Daß die Frau des Scheichs so ganz über ihn hinwegzusehen wagte, das ärgerte ihn nicht nur, sondern das erboste ihn. Seit er bemerkt hatte, daß ihre Blicke ihn vermieden, kochte es in ihm, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er die erste beste Gelegenheit ergreifen werde, die Hiebe auszuteilen, die er für nötig fand. Und das hatte er jetzt soeben getan. Nach den Folgen pflegte er bei solchen Dingen nie zu fragen. Die Hauptsache war, daß er seine Meinung gesagt hatte, und was dann kam, das fiel dann stets auf mich. So auch hier.

Die »Dame« Taldscha hatte ihm sehr gut gefallen, darum ärgerte es ihn doppelt, daß grad sie es war, die ihn nicht sehen wollte. Ich fand es also nicht ganz unbegreiflich, daß er in diesem Fall die Rücksicht vergaß, welche man den Frauen selbst dann schuldet, wenn sie sich Mühe geben, einen gar nicht zu bemerken. Dazu kam, daß ich ihm in Beziehung auf das, was er gesagt hatte, keineswegs so unrecht geben konnte. Es schien wirklich mehr als hergebrachte Überlieferung und Bequemlichkeit zu sein, daß diese riesenhaft gebauten Menschen vor ihren bedeutend kleiner gestalteten Gegnern fortwährend zu Kreuze krochen. Jeder Psychologe weiß, daß der Riese gemütlicher zu sein pflegt als der Zwerg, aber diese Gemütlichkeit darf doch nicht in eine Passivität ausarten, die an Feigheit grenzt. Kurz und gut, mein kleiner Halef war grob, sehr grob gewesen, aber er hatte dabei auch mir mit aus dem Herzen gesprochen, und so war ich gewillt, mich seiner anzunehmen, falls sich dies als nötig herausstellen sollte.

Zunächst war man darüber, daß so etwas hatte gewagt werden können, völlig starr. Dann sprang der Scheich von seinem Sitz empor, und die anderen stießen laute Rufe des Zornes aus. Nur Taldscha blieb ruhig. Sie bewegte sich nicht und schloß die Augen, als ob sie innerlich nachschauen wollte, ob Halef berechtigt sei, in dieser Weise über sie zu sprechen. Der Scheich aber rief:

»Allahi, Tallahi, Wallahi! So hat noch niemand zu uns gesprochen, noch niemand! Soll ich dich zwischen diesen meinen Fäusten zu Pulver zerreiben oder zu Brei zerquetschen? Wähle eins von beiden, ich tue es sofort!«

Er hielt dem Hadschi die beiden ungeschlachten Hände hin. Dieser blieb ruhig sitzen, zog eine seiner Doppelpistolen aus dem Gürtel, richtete sie auf den Scheich, ließ die Hähne knacken und antwortete:

»Soll ich dich mit dem Schrot oder mit der Kugel erschießen! Wähle eins von beiden; ich tue es sofort!«

Ich nahm einen meiner Revolver zur Hand und knackte mit dem Hahn, ohne ein Wort zu sagen. Da machte Taldscha die Augen auf. Sie sah die auf ihren Mann gerichteten Waffen, ließ jene gebieterische Handbewegung schauen, die ich schon beschrieben habe, und sagte zu ihm und den anderen Ussul:

»Schweigt! Ich habe nachgesonnen, und ich fühle, daß Scheich Hadschi Halef Omar nicht unrecht hat. Doch soll er uns sagen, wie er sich unsere Gegenwehr gegen die Tschoban denkt!«

»Ich denke mir eure Gegenwehr genau so, wie ich mir ihren Angriff zu denken habe«, antwortete er, ohne einen Augenblick zu zögern.

Der Scheich gehorchte seiner Frau; er setzte sich wieder nieder. Die andern unterdrückten ihre Zornesrufe. Da steckte Halef die Pistole wieder ein, und auch mein Revolver verschwand.

»Wie meinst du das?« fragte Taldscha.

»Die Tschoban greifen euch an, indem sie in euer Land eindringen. Wer hindert euch, denselben Weg zu gehen und bei ihnen einzufallen? Das Gesetz, dem sie gehorchen, nämlich der Islam, gebietet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ihr würdet also ihr eigenes Gesetz beachten und ehren, wenn ihr an ihnen ganz dasselbe tätet, was sie an euch schon so oft getan haben!«

»Bei ihnen einfallen ...?« fragte die Frau in einem Ton, als ob ihr etwas ganz und gar Unmögliches zugemutet werde.

»Bei ihnen einfallen!« rief auch der Scheich.

»Bei ihnen einfallen! – Bei ihnen einfallen! – Bei ihnen einfallen!« rief man im Kreise auch weiterhin von Mund zu Mund.

»Warum nicht?« fragte Halef. »Was die Tschoban können, das könnt ihr doch wohl auch!«

»Das meine ich wohl!« beteuerte der Scheich.

»Wenn ihr das wißt, warum tut ihr es dann nicht? Fehlt es euch an Mut?«

»Nein, nein!« versicherte der Scheich.

»Nein, nein! Nein, nein!« klang es im Kreise weiter.

»Oder an Geschicklichkeit, an Flinkheit, an Verstand?«

»Auch nicht!« stellte der Scheich fest.

»Auch nicht!« fielen die andern rundum ein.

»So begreife ich nicht, warum ihr es nicht tut! Es gibt da nur noch einen einzigen Grund, den man sich denken kann.«

»Welchen?« erkundigte sich der Scheich.

»Daß ihr zu faul seid.«

»Zu faul?« fuhr der Scheich grimmig drein. »Wer das behaupten will, den schlage ich tot!«

Und er hob schon wieder seine beiden Fäuste empor.

»Den schlage ich tot, den schlage ich tot!« riefen die anderen gerade so wie er, indem auch sie ihre Fäuste zeigten.

»Nun, so tut es doch, so tut es doch!« warf Halef ihnen zu, indem er ungläubig lachte.

»Was aber sollen wir drüben?« fragte nun der Zauberpriester.

»Ganz dasselbe, was sie hier bei euch wollen!«

»Also sollen wir stehlen, rauben, plündern und brandschatzen?«

»Ja! Stehlen, rauben, plündern und brandschatzen! Was sie glauben, an euch tun zu dürfen, das kann euch doch nicht verboten sein, an ihnen das tun!«

»O doch!« fiel da die blonde Herrin ein, und zwar in ernstem Ton. »Kein Dieb soll mich verführen, auch zu stehlen, und kein Räuber kann mich veranlassen, ihn auch zu berauben. Zu deiner Ehre will ich annehmen, daß auch du dieser meiner Ansicht bist und nur vom Standpunkt der Tschoban aus redest, die Mohammedaner und also Heiden sind, aber ich bitte ...«

»Heiden?« unterbrach Halef sie da schnell.

»Ja, Heiden!« antwortete sie. »Oder ist es nicht heidnisch, zu stehlen, weil andere stehlen, und zu rauben, weil andere rauben?«

Der Hadschi hatte sich da in eine arge Klemme hineingeredet. Er war gewiß schwer, außerordentlich schwer in Verlegenheit zu bringen, dieses Mal aber wußte er sich keinen Rat. Er warf mir einen bittenden Blick zu, und so fiel ich nicht nur um seinetwillen, sondern auch um meinetwillen ein:

»Der Scheich der Haddedihn meint es nicht wörtlich so, wie er es sagt. Er will euch nicht verleiten, ohne Grund in das Gebiet eurer Feinde einzufallen, um dort zu sengen, zu brennen, zu plündern und zu morden. Aber wenn sie vor euch die Flucht ergreifen müßten und ihr sie bis hinüber verfolgtet, so wäre das wohl nicht gegen dein zwar menschenfreundliches, aber auch entschlossenes und tapferes Gefühl.«

»Nein, gewiß nicht!« gestand sie zu. »Ich würde sogar dazu raten.«

»Wirklich?« fragte ich, nicht ohne Absicht, sondern mit ganz besonderer Betonung.

»Wirklich!« versicherte sie, es ebenso betonend wie ich.

»So tut es doch! Schlagt sie aus eurem Reich hinaus und in das ihrige hinüber! Oder noch besser: Wartet gar nicht erst, bis sie herüberkommen, sondern fallt gleich an eurer Grenze über sie her, daß sie umwenden und zurückkehren müssen!«

»Sie hinausschlagen ...?« fragte Taldscha erstaunt.

»Über sie herfallen!« rief der Scheich.

»Daß sie umwenden! An unserer Grenze? Und zurückkehren müssen!« so sagten und fragten und wiederholten auch die anderen.

»Das erfordert Blut, viel Blut!« warnte Taldscha.

»Nein!« antwortete ich. »Vielleicht keinen Tropfen, keinen einzigen!«

»Unmöglich! Man kann doch kein ganzes Kriegsheer über die Grenze hinübertreiben, ohne daß Blut vergossen wird!«

»Das meine ich auch!« stimmte der Scheich bei. »Aber das sollte uns wohl nicht hindern, diesen Rat zu befolgen, der mir gar nicht übel gefällt. Es ist besser, einige Tote zu haben, als von den Tschoban und aller Welt als feig verschrien zu werden. Ich bitte dich, Effendi, uns deinen Plan mitzuteilen. Ist es möglich, ihn auszuführen, so daß er uns Nutzen schafft, so werden wir ihn ausführen. Ich bin überzeugt, daß Taldscha einverstanden ist.«

Sie nickte nur. Ich aber entgegnete:

»Einen Plan kann ich euch noch nicht sagen, denn ich habe noch keinen. Ich kenne euer Land noch nicht und folglich auch die Gegend nicht, um welche es sich handelt. Freilich, einen Gedanken habe ich bereits jetzt. Und der scheint gut zu sein. Aber, um ihn sich entwickeln zu lassen, muß ich Fragen tun, die ich euch heut unmöglich vorlegen kann. Dazu ist morgen Zeit. Ich halte es nämlich für sehr möglich, die Tschoban zu besiegen und für immer zurückzutreiben, ohne daß es euch einen einzigen Toten oder eine einzige Wunde kostet. Wenn ihr wollt, so könnt ihr es morgen erfahren. Für heut aber soll nun Ruhe sein. Es ist nun schon über Mitternacht. Ich gehe schlafen!«

»Ich auch!« stimmte Halef bei, der meine Absicht, nur von der Unterhaltung loszukommen, sehr wohl verstand.

Wir gingen also zu unseren Pferden, bei denen wir uns so niederlegten, daß ihre Hälse unsere Kopfkissen bildeten. Das waren sie und auch wir gewohnt. Die Ussul aber blieben noch sitzen, um das für sie unendlich wichtige, aber auch unendlich unbegreifliche Thema, welches ich ihnen gegeben hatte, weiter auszuspinnen. Das ganze Heer der Tschoban besiegen und für immer zurückzuschlagen, ohne daß es einen einzigen Toten oder auch nur eine einzige Verwundung kosten sollte! Das wollte ihnen nicht in die trägen Köpfe, ihnen, die bisher weiter nichts gewußt hatten, als auszureißen, sich zu verstecken und dann hinter den abziehenden Feinden her zu jammern und zu schimpfen. Mein Gedanke kam mir aus der Beschreibung, die der Scheich mir über den hochinteressanten Engpaß Chatar geliefert hatte. Und ich dachte dabei an eines meiner Erlebnisse bei den Haddedihn-Arabern, deren Scheich jetzt Halef war; nämlich an das erfolgreiche Zusammentreiben aller ihrer Feinde in das »Tal der Stufen«, das ich im ersten Band meiner Reiseerzählungen beschrieben habe. Vielleicht eignete sich der Engpaß noch viel besser zu so einem pfiffigen Streich als jenes Tal der Stufen, in welches die Gegner gelockt werden mußten, während die Tschoban auf alle Fälle gezwungen waren, ihren Weg durch den Paß zu nehmen, von dem ich überzeugt war, daß er ihnen sehr leicht verhängnisvoll werden könne.

Als ich Halef hierüber eine kurze Bemerkung machte, wich der Schlaf sofort von ihm. Er richtete sich halb empor und sagte:

»Sihdi, das wäre eine Wonne für mich, so etwas wieder zu erleben! Wie bist du auf diesen prachtvollen Gedanken gekommen?«

»Durch den Scheich, der mir die Örtlichkeiten beschrieb. Zwar kann man das, was dieser gute Mann behauptet, nicht als geologisch erwiesen annehmen, sondern man muß es erst prüfen; aber etwas Wahres ist doch jedenfalls daran, und man könnte viel Blutvergießen und noch anderes, ebenso Schlimmes verhindern, wenn man die Ussul veranlaßte, den Tschoban heut über eine Woche in diesem schmalen Engpaß entgegenzutreten.«

Ich erzählte ihm, was ich von dem Scheich während des Ruderns erfahren hatte. Als ich damit zu Ende war, teilte er mir mit, daß während unserer Abwesenheit das Gespräch auch unter den Ussul auf den verschwundenen Fluß gekommen sei. Auf seine Bitte habe der Sahahr ihm dann die Sage erzählt.

»So kennst du sie nun?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er. »Willst du sie hören?«

»Sehr gern.«

»Sie raubt uns nur wenig Schlaf, denn sie ist kurz. Vorher aber muß ich dir sagen, daß die Ussul nur Gott allein verehren, keinen andern bei oder neben ihm. Bei ihnen ist nur er der Inbegriff der Allmacht, Weisheit und Liebe. Nur er allein kann, was er will, und wenn die Hilfe und das Erbarmen des Himmels sich der Erde naht, so geschieht dies nur durch ihn. Das war es, was du wissen mußtest. Und nun kann ich erzählen.«

Halef machte wie immer, wenn er etwas Derartiges erzählte, vorher eine Pause, um seine Gedanken zu sammeln und den richtigen, klar hindurchführenden Faden zu finden. Dann begann er:

»Weit, weit von hier, hoch über Dschinnistan hinauf, liegt das verlorene einstige Paradies. Seine Tore sind geschlossen. Wer nach ihm sucht, der sieht es von weitem glänzen, jedoch hinein kann keiner. Sogar dem Blick ist es versagt, die himmelhohen Mauern zu übersteigen. Bei Tag in sonnengoldenen Lettern, bei Nacht in flammenheller Sternenschrift sieht man über ihm den göttlichen Ruf erstrahlen:

›Ist Friede auf Erden, dann kommt!‹

So oft ein Jahrhundert vorüber ist, springen alle Pforten und Tore des Paradieses auf, und eine unendliche Fülle durchdringenden Lichtes flutet über die Erde und über die Menschen hin, die auf ihr wohnen. Da wird alles, alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Erzengel treten vor die Tore. Ihre Scharen erscheinen zu Tausenden und zu Zehntausenden auf den Mauern. Sie schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Mord und Zank und Streit. Da erheben sie ihre Stimmen. Ein Wehschrei erschallt; er steigt vom Himmel auf die Erde nieder. Das Licht verschwindet, mit ihm das Paradies. Den Schrei aber hören nie die Mächtigen, die Reichen, die Sieger, sondern nur die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und Geknechteten, die händeringend und hilfeflehend in stiller Kammer beten, daß Gott der Herr sie von ihrem Leid, von ihrer Qual erlöse.

Diese Bitten und Gebete sind mächtiger als die mächtigsten der Menschen. Was kein Sterblicher vermag, das vermögen sie. Sie steigen unsichtbar zum Paradies empor, versammeln sich vor seinen Mauern und wachsen zu Millionen und Millionen an. Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg, dringen ein in das Paradies und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade, an die Fittiche des Erbarmens, die über dem Paradies wehen, und werden von ihnen emporgehoben zum Allbarmherzigen, um in sein Herz zu dringen und es anzufüllen, bis es überschwillt. ›Gib Frieden!‹ jammerte es über die Erde. ›Gib Frieden!‹ klagt es durch das Paradies. ›Gib Frieden!‹ bittet es in Gottes eigener Seele. Da sendet er den strengsten aller Geister, der Moses heißt, zum Sinai hernieder. Der schreibt in Stein:

›Du sollst nicht töten!
Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden!›

Kaum hat das Volk der Menschen dieses Wort vernommen, so bricht es auf vom Berg Sinai, stürzt über das Land der Kananiter und opfert ganz demselben Gott in Strömen von Menschenblut, die durch Jahrhunderte fließen und bis zum Himmel rauchen. ›Gib Frieden!‹ jammert es wieder über die Erde. ›Gib Frieden!‹ klagt es wieder durch das Paradies. Und ›Gib Frieden!‹ bittet es wieder in Gottes eigener Seele. Da sendet er den liebevollsten aller Geister, der Jesus heißt, zur Erdenwelt hinab. Der lehrt und ruft, daß man es durch alle Lande hört:

›Liebet eure Feinde! Segnet, die euch verfluchen!
Tut Gutes denen, die euch hassen! Und betet für die, welche euch verleumden und verfolgen! Denn wer zum Schwert greift, der wird durch das Schwert umkommen!‹

Dies heilige Wort der Menschen- und der Nächstenliebe ist nie verklungen. Es klingt noch heut. Man hört es wohl, doch keiner will es achten. ›Gib Frieden!‹ jammert abermals die Erde. ›Gib Frieden!‹ klagt das leere Paradies. Und ›Gib Frieden!‹ bittet Gottes eigene Seele. Da sendet er den irdischesten aller Geister, mit Namen Mohammed, der fast noch menschlich spricht und darum leicht begriffen werden kann. Doch der verirrt sich zwischen Paradies und Erde und sucht vergeblich nach dem rechten Weg, der tief hinab zum Menschenherzen führt. Da spricht der Herr: ›Wenn keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!‹ Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul – Der Friede – im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen. So wandert er, dem Fluß folgend, hinab nach Dschinnistan, um zunächst dort den Willen des Himmels zu verkünden. Doch kaum hat er sein Friedenswerk begonnen, wird er erkannt, und alles eilt herbei, ihn anzubeten. Er segnet jeden, der vor ihm erscheint, doch nur dem Mir gestattet er, in die Zeitenfernen zu schauen, in denen nicht mehr der Säbel und die Kanone, sondern nur der blanke Geist und der blitzende Gedanke die Schlachten schlagen. Dann wandert er weiter, am Strom abwärts, bis nach Ardistan. Er glaubt, er komme grad zur rechten Zeit, denn überall, wo er erscheint, ertönen Kriegstrompeten. Der Mir von Ardistan will Dschinnistan erobern und rüstet heimlich zum plötzlichen Überfall. Der Herr versucht an vielen Orten, zu Wort zu kommen, um das Verhängnis aufzuhalten, doch vergeblich. Und als er in der großen Stadt des Mirs, die glänzend wie ein Traumbild aus dem Märchenland am Strom liegt, seine Stimme zu erheben und von Friedensbruch zu sprechen wagt, wird er als Landesverräter festgenommen und vor den Mir gebracht. Der hält über ihn Gericht und spricht das Urteil aus: ›Man führe ihn auf die Brücke und stürze ihn in das Wasser, weil er sich vor dem Blut des Krieges fürchtet!‹ Da fragt der Herr: ›Ist jemand, der dies Urteil ändern kann?‹ – ›Es gibt keinen einzigen, der das vermag!‹ antwortete ihm der Mir. ›Auch Gott nicht?‹ – ›Nein! Allah ist Gott! Und der hat uns befohlen, sein Reich durch Schwert und Feuer zu verbreiten! Es werde Krieg!‹ Da hebt der Herr die Hand empor und ruft: ›Es bleibe Friede! Hoch über dem, den ihr zum Gott gemacht, steht der Erbarmer gegen den Verderber. Ich sage dir, o Mir: du bleibst daheim; kein Tropfen Blut wird fließen!‹ Da springt der Mir von seinem Sitz auf und donnert ihm zu: ›Und ich, ich sage dir, dem Feigling und Verführer meiner Krieger: So wenig, wie der Fluß, der dich ersäufen soll, vor unserer Brücke umkehrt, dich zu schonen, so wenig kehrt die Klinge, die ich zum Krieg gezogen habe, in ihre Scheide zurück! Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt!‹ Da hebt der Herr die Hand zum zweiten Male und spricht: ›So sei es, wie du sagst. Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt: Wenn Gott nicht mehr durch Worte lehren kann, so predigt er durch Taten. Der Strom floß euch zu Friedenswerken zu, nicht aber, um das Leben zu zerstören. Er werde euch genommen! Nicht eine Pfütze bleibe euch, die genug Wasser hat, auch nur einen einzigen Menschen zu ertränken! Und wehe euch, wenn ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu euch zurückzukehren! Denn alles, was da lebte, würde sterben!‹ – Ein Hohngelächter folgt diesen Worten. Man führt ihn hinaus zur Brücke, der Mir auf hohem Roß voran. Der gibt, als die tiefste Stelle erreicht ist, den Befehl, den Gefangenen zu ergreifen und hinabzuwerfen. Da hebt dieser zum dritten Male die Hand, doch ohne ein Wort zu sagen. Sofort verfinstert sich der Himmel. Blitze zucken; drohende Donner rollen. Von der Brücke abwärts fließt das Wasser weiter; von ihr aufwärts aber bleibt es stehen. Es bäumt sich auf, wächst höher und höher und bildet eine Mauer, die zum Himmel zu streben scheint. Brüllend vor Angst und Entsetzen eilen die Menschen an die Ufer zurück. Nur einer bleibt, der Gefangene. Leuchtenden Angesichtes steht er auf der Brücke, die von den steigenden Wogen von der Erde gelöst und hoch emporgetragen wird, bis sie verschwindet. Dann sinkt das Wasser zusammen und beginnt, wieder abzufließen, doch nicht abwärts, wie bisher, sondern aufwärts, nach oben, woher es gekommen ist. Der Himmel wird wieder hell. Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt, deren Trümmer heutigen Tages wasserlos in die Steppe starren, durch welche sich der dürre, ausgetrocknete Lauf in zahllosen Windungen vor Durst und Hunger krümmt, bis er in den Wäldern der Ussul verschwindet.«

Als Halef bis hierher erzählt hatte, machte er eine Pause, um eine innere Betrachtung anzustellen, die er mir dann mitteilte, indem er fortfuhr:

»Ist es nicht rührend, wie lieb die Ussul sich ihren Gort denken, Sihdi?«

»Ist er es etwa nicht?« fragte ich.

»Na, höre, was unsern Herrn Allah betrifft, so kommt er mir schon längst nicht mehr so freundlich vor wie früher. Es muß sich einer von uns beiden geändert haben, er oder ich. Der Gott der Christen ist nicht bloß Herr und Gebieter, wie Allah, sondern zugleich auch Vater und Patriarch, und zwar ein außerordentlich gerechter und guter. Das gefällt mir sehr von ihm. Das habe ich früher gar nicht gewußt, sondern erst durch dich erfahren. Und betrachte ich mir die Sage, die ich soeben erzählt habe, so erscheint mir der Gott der Ussul dem Gott der Christen viel, viel ähnlicher als unserm Allah. Nur fehlt ihnen die Lehre von Gottes Sohn, dem Erlöser. Doch glaube ich, daß nur ein wirklicher, ein wahrer, ein guter Christ hierher zu kommen und ihn zu verkünden brauchte, so würde er sehr bald und sehr viele gläubige Schüler finden. Übrigens weiß ich von dir, daß eine jede Sage eine Wahrheit enthält, die man in der Tiefe suchen muß. So ist es wohl auch mit dieser Sage von dem verschwundenen Fluß, der plötzlich umgekehrt und aufwärts gelaufen ist, um nach seiner Quelle zurückzugehen?«

»Jedenfalls.«

»Und die Wahrheit, die sich in dieser Sage verbirgt?«

»Ist wahrscheinlich eine zweifache, eine äußerliche und eine innerliche, eine geographische und eine sozialphilosophische.«

»Das verstehe ich nicht. Du kannst mir nicht zumuten, aus dem Unterbewußtsein in das Oberbewußtsein zu steigen, während ich doch jetzt, um einzuschlafen, aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein zu fallen habe. Das wäre grad der umgekehrte Weg. Also, sprich deutlicher!«

»Der äußere oder geographische Kern der Sage ist, daß es hier wirklich einen Fluß, und zwar einen bedeutenden, gegeben hat. Der ist verschwunden. Jedenfalls infolge eines Naturereignisses, welches man sich nicht erklären konnte, so daß man zur Sage griff, um es sich verständlich zu machen.«

»Aber so große Flüsse können doch nicht verschwinden, wenigstens nicht so schnell!«

»Allerdings nicht. Aber sie können ihr altes Bert verlassen, ihren bisherigen Weg verändern, sogar infolge von Entwaldungen der Berge sich nach und nach zurückziehen. Wie es sich in diesem Fall verhält, werden wir erfahren, wenn wir erst längere Zeit im Lande gewesen sind.«

»Und die andere Wahrheit der Sage, die innere?«

»Die bezieht sich darauf, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts nicht nach kriegerischen, sondern nach friedlichen, versöhnlichen Wegen zu suchen hat. Der Name der Quelle und des Flusses war Ssul, das ist Friede. Diese Quelle liegt im Paradies. Der Friede ist Himmelsgabe. Wo er fließt, da segnet er nicht nur das, was bereits besteht, sondern auch das, was er bringt und schafft. Er setzt neue Länder an, sichtbare und unsichtbare, im Handel und Gewerbe, in der Kunst und in der Wissenschaft. Und das alles geht wieder zurück, wenn der Strom des Friedens vertrocknet, und die Rüstungen alles, was er schaffte, wieder verschlingen. Oder wenn der Krieg mit einem einzigen rohen Streich die Gaben vom Tisch wirft, die der Friede dort bescherte. Dann weicht dieser letztere bis dahin zurück, woher er kam, bis ins Paradies, oder wenigstens bis Dschinnistan, wenn nicht für immer, so doch für lange, lange Zeit. Und kehrt er endlich wieder, so geschieht das nur langsam, furchtsam, zögernd; er läßt sich nicht zwingen. Darum ist es sehr richtig, was die Sage Gott in den Mund legt, indem er warnend sagt: ›Und wehe euch, wenn ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu euch zurückzukehren; denn alles, was da lebte, würde sterben!‹ Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug- und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt- und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben. Und hier gibt es in der Sage vom zurückgekehrten Fluß einen Punkt, den ich nicht sehe, oder ein Geheimnis, welches ich nicht begreife. Fast will es klingen, als ob es möglich sei, ihn mit den Waffen in der Hand zu zwingen, ganz plötzlich und unvorbereitet zurückzukehren, also eine noch gräßlichere Katastrophe, wie sein Verschwinden eine war. Eine Sage, die sich so fest gebildet und gestaltet hat wie diese hier, erzählt nie etwas Unnützes. Sie hängt wie eine schwere Drohung für Ardistan hoch über Dschinnistan, und wenn in dieser von der schauenden Volksseele gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott vor der Entladung dieser Wolke warnt, so ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden.«

»Meinst du? – Du glaubst also an Sagen?«

»An ihren eigentlichen Inhalt, ja.«

»Ich auch. Es freut mich, daß wir auch in dieser Beziehung zusammenstimmen. Nun aber lege ich mich wieder nieder. Allah gibt den Schlaf nicht, daß man ihn bewachen soll. Gute Nacht, Effendi!«

»Gute Nacht, Halef!«

Schon nach einigen Minuten war er eingeschlafen, ich aber nicht. Nach so wichtigen Tagen, wie der heutige gewesen war, ist man innerlich verpflichtet, sich das Geschehene zurechtzulegen, um das, was kommen soll, darauf zu bauen. Das war bei mir allerdings bereits geschehen. Aber nun hatte die Sage dazu zu kommen, die für mich mehr, weit mehr, als nur eine kurze, hübsche, aber nichtssagende Erzählung war. Aus solchen Dingen spricht nicht nur die Volks-, sondern auch die Menschheitsseele, deren Schritte man nur im stillen Denken und Fühlen sich nahen hört. So lag ich still und sann und sann. Über mir breiteten sich die dunkeln Wipfel der Bäume, die keinen Blick des Sternenhimmels hindurchließen. Aber wenn ich mich auf die Seite wendete, wo unweit von meiner Lagerstätte die freie Lichtung begann, da konnte ich zwischen den Stämmen hindurch zwei Sterne erkennen, die tief am Himmel standen und meine Augen auf sich zogen, weil sie die einzigen waren, die ich sah. Es war der Deneb und die Mira vom Bild des Walfisches. Die letztere ist interessant, weil ihre Helligkeit innerhalb nicht ganz eines Jahres von zweiter bis zu zehnter Größe schwankt. Heut war sie ganz beträchtlich. Die Mira steht bekanntlich am Hals und der Deneb am Schwanz des Sternbildes, also voneinander entfernt. Indem mein Auge an ihnen hängenblieb, schien sich von mir zu ihnen ein lichtglänzender Weg zu ziehen, der so breit war, wie sie scheinbar auseinander standen. Auf diesem Weg schienen die Gedanken, die mich beschäftigten, zu kommen und zu gehen. Solche Eindrücke gibt es nur während jener ungestörten, sich selbst gehörenden Stunden, in denen die Seele den Körper ganz und restlos beherrscht. Infolge der Sage befand sich die Seele jetzt unterwegs nach Dschinnistan und dem Paradies. Vor dem körperlichen Auge lagen die beiden Sterne. Die Seele bemächtigte sich ihrer. Dort, von woher die beiden leuchtenden Welten strahlten, sah meine Phantasie das Tor, aus dem der Erzengel trat, und die Mauern, auf denen seine Scharen erschienen, um nach dem Frieden auszuschauen. Ich sah dann auch Gott selber kommen. Ich sah ihn in Dschinnistan erscheinen und den Herrscher dieses Landes ihm zu Füßen anbetend niedersinken. Und ich sah ihn dann nach Ardistan wandern. Ich sah ihn in der Hauptstadt auf der Brücke. Ich sah das Wasser wie eine Mauer steigen und nach seiner Quelle zurückkehren, als der Herr verschwunden war. Ich sah die Stadt verdorren und verfallen. Ich stand dann auf ihren Trümmern. Ich suchte und forschte in ihren Ruinen, denn ich wollte den Palast des Königs finden, in dem man Gott gerichtet und zum Tode verurteilt hatte. Ich entdeckte den Weg. Er führte hügelaufwärts, durch ein riesig hohes und breites steinernes Tor hindurch, dessen Pfeiler eine alte, babylonische Sonnenuhr trugen. Nur eine kurze Strecke weiter stand der gesuchte Palast, von Mauern rings umgeben. Das Tor war geschlossen. Ich klopfte an. Der Pförtner erschien. Ich bat ihn, zu öffnen und mich einzulassen. Da schüttelte er den Kopf und antwortete: »Heut noch nicht, aber wahrscheinlich später.« – »Warum nicht jetzt?« erkundigte ich mich. »Weil du jetzt schläfst«, belehrte er mich. »Wir brauchen hier nur wachende Geister und Seelen!« Hierauf nahm er plötzlich die Gestalt, die Kleidung und das Gesicht meines kleinen Hadschi an, ergriff meinen Arm, schüttelte mich und rief: »Wach auf, wach auf, Sihdi! Wir sind schon alle munter. Man bereitet soeben das Essen. Ist dieses vorüber, dann brechen wir auf von hier!«

Ich sprang auf. Ich hatte geschlafen, und zwar tief, sehr tief. Alles, was ich gesehen hatte, war Traum, aber ein so eigenartiger und vertrauenerweckender Traum, daß ich das sofortige Bedürfnis fühlte, mir nichts, gar nichts davon wegnehmen zu lassen, sondern mir alles genau zu merken. Ich hütete mich also zu sprechen und ging, ohne ein Wort zu sagen, ein Stück in den Wald hinein, um das, was mir in dieser Nacht gezeigt worden war, in mir zu befestigen. Solange wir unsere gerühmte Psychologie nur theoretisch treiben, sind wir keine Psychologen. Praktisch sein, in das reale Leben greifen, unsere Seele und unsern Geist an uns selbst studieren, sie keinen Augenblick aus den Augen lassen! Alles, was wir fühlen, denken, wollen und tun, auf sie beziehen! Wer das nicht tut, der nenne sich ja nicht Psychologe! Was mich betrifft, so lasse ich keinen meiner Träume ohne den Versuch, ihn festzuhalten, vorüberziehen. Ich komme im späteren Verlauf der Ereignisse auch auf diesen Punkt zurück.

Ich hatte länger als alle anderen geschlafen, und Syrr, dessen Hals, wie erwähnt, mein Kopfkissen bildete, hatte ebensolange, um mich nicht aufzuwecken, ganz ohne Bewegung gelegen. Dafür hatte ihm Halef das saftigste Gras und die besten Stauden geschnitten, die es hier gab, und legte sie ihm nun jetzt als Frühstück vor. Den Scheich sah ich nicht. Er war hinüber nach der Insel, um die drei Gefangenen selbst zu holen. Sie machten, als er sie brachte, nicht etwa einen niedergeschlagenen Eindruck, sondern ihr Aussehen und Verhalten ließ deutlich den Wunsch nach Rache erkennen. Sie wurden reichlich gespeist und dann genau so wie gestern auf ihre Pferde gebunden. Hierauf wurde der Heimritt nach der Hauptstadt angetreten.

Wir hatten uns nicht mit Packpferden zu befassen, denn der Ertrag der Jagd war schon vorgestern nach demselben Ziel abgegangen. Wir ritten mit dem Scheich, seiner Frau und dem Sahahr voran; die anderen folgten weit hinterher. Die Entfernung bis zur Stadt war so bedeutend, daß wir uns sehr sputen mußten, um noch vor Abend anzukommen.

Die Gegend, durch welche wir kamen, war durchaus eben, lauter auf- und angeschwemmtes Land. Häufig trafen wir auf natürliche Kanäle, die ganz das Aussehen von plötzlich erstarrten Flüssen hatten; das Wasser bewegte sich nicht, sondern es stand. Es schien aber dennoch rein zu sein, denn die Pferde tranken es, ohne sich zu weigern. Wir kamen durch ausgedehnte Wälder, meist Laubwaldungen. Dazwischen lagen grüngoldene Triften für gezogene, freigewordene oder freigeborene Rinder- und andere Herden. Das Ganze machte den Eindruck einer jungfräulichen Natur, die mit den Menschen noch nicht in Berührung getreten ist.

Alle die kleinen, schmalen Kanäle mündeten in einen außerordentlich breiten, tiefen und mit Wasser gefüllten Kanal, der einiges Gefälle zu besitzen schien, denn das Blattwerk und anderes, was auf ihm schwamm, bewegte sich zwar langsam, aber doch in einer ganz bestimmten Richtung.

»Das ist Es Ssul, der Fluß«, sagte der Sahahr, indem er auf das Wasser deutete.

»Der aus Dschinnistan und Ardistan kommt?« fragte ich, nicht etwa, weil ich zweifelte, sondern um auf diesen Gegenstand einzugehen.

»Ja, derselbe«, nickte er.

»Der also auch durch den Engpaß Chatar geht?«

»Ja. Man kann ihn bis hinauf verfolgen.«

»Aber dort hat er kein Wasser mehr?«

»Nein, keinen Tropfen.«

»Ich vermute, daß eure Hauptstadt an ihm liegt?«

»Du vermutest richtig. Unser Land hat keine Berge, keine Felsen, keine Steine. Wir können keine Mauern bauen, um uns zu schützen. Nur unser Gottestempel und der Palast des Scheichs sind von Stein. Das Material hierzu wurde vor langer, langer Zeit aus Ardistan geholt. Damals bekam nämlich jeder Ussul, der dorthin reisen wollte, nur dann die Erlaubnis dazu, wenn er sich verpflichtete, einen so großen Stein mitzubringen, als ein Pferd ihn tragen konnte. Auf diese Weise sind wir zu dem Mauerwerk für die beiden Gebäude gekommen. Du wirst hierüber lachen.«

»O nein. Dieses Verfahren ist mir bekannt.«

»So tut man dasselbe auch bei euch?«

»Ja; jedoch auf anderem Gebiet. Jede Wissenschaft und jede Kunst holt da ihr Fundament und ihre hervorragenden Bauten aus dem nächsthöheren Gebiet. Ganz dasselbe ist auch mit jedem einzelnen Geisteswerk. Es ist ein Weltgesetz, daß überall der Ussul das, was er nicht besitzt, obgleich er es braucht, aus Ardistan oder gar aus Dschinnistan zu holen hat. Aber du wolltest von der Lage eurer Residenz sprechen! Wie heißt die Stadt?«

»Ihr Name ist Ussula. Sie ist sehr groß. Weil wir sie nicht mit Mauern decken konnten, so mußten wir sie durch das Wasser schützen. Darum wurde sie an den Strom gebaut, und darum wurde viele Jahre lang das Erdreich ausgehoben, um ihn zu zwingen, nicht nur mitten durch die Stadt, sondern auch um sie herum zu gehen. Außerdem rahmt sich jeder Besitzer das Land, das ihm gehört, durch tiefe Gräben ein. So ist fast jedes Haus eine Festung zu nennen, welche die Tschoban, wenn sie kommen, erst einzunehmen haben, ehe sie sagen können, daß sie sie besitzen. Außerdem liegt im Osten und Westen der eigentlichen Stadt je ein großer See, die beide mit in ihren Bereich gezogen sind. Da gibt es viele, viele Wohnungen, teils an das Ufer, teils in das Wasser gebaut. Die Bewohner verkehren nur schwimmend oder in Kähnen miteinander, und wenn letztere versteckt oder ganz fortgeschafft worden sind, so würde der Besitz der Stadt für die Tschoban doch unnütz sein, weil sie nicht schwimmen können. Du hast ja gehört, daß sie meinen, wenn sie schwimmen sollten, so hätte Allah ihnen Flossen und Schwimmhäute gegeben!«

Nach dieser Beschreibung mußte ich mir die Ussul als Pfahlbauern denken, und es stellte sich später allerdings heraus, daß sie es wirklich waren. Es war bei ihnen alles für den Aufenthalt am oder im Wasser eingerichtet, auch ihre Gestalt, ihre Stark- und Fettleibigkeit, ihre ganze Lebensweise. So ging es auch ihren Pferden. Zwar soll man den Menschen nicht mit dem Tier vergleichen, aber alle diese guten, unbeholfenen Menschen schienen mir sowohl innerlich wie auch äußerlich mehr oder weniger mit Smihk, dem Dicken, verwandt zu sein.

Der Ritt verlief während des ganzen Tages für mich und Halef im höchsten Grade interesselos. Es geschah nichts, was uns beschäftigen konnte. Jeder Abweg aus der Richtung, auch der kleinste, wurde vermieden und jeder Erregung wich man aus. Ich sah, wie die Ussul vor allen Dingen ihre Bequemlichkeit liebten. Solche Menschen und solche Völker pflegen aber dann, wenn sie einmal aus ihr aufgerüttelt worden sind, viel schwerer wieder zur Ruhe zurückzukehren.

Nur einmal gab es eine Art von Szene, aber auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich. Das war, als man sich bemühte, mir eine Beschreibung der Stadt zu geben. Man schilderte den Tempel, den Palast, die Straßen und Gassen, die freien Plätze und die wichtigsten Gebäude. Unter diesen letzteren wurde auch das Syndan – Gefängnis – genannt und mir beschrieben. Gegenwärtig war der gefährlichste unter den Gefangenen ein Wahnsinniger, der zugleich auch räudig war und der Ansteckungsgefahr wegen von allen Menschen abgesondert gehalten werden mußte. Der Wahnsinn fordert auf alle Fälle unser ganzes Mitgefühl heraus, und von einer derartigen Räude, die kein Aussatz war, harte ich noch nie etwas gehört. Daher erkundigte ich mich nach diesem Gefangenen mit viel größerem Interesse, als ich den übrigen Gegenständen der Unterhaltung gewidmet hätte.

»Gibt es bei euch einen Arzt, der es versteht, derartige Krankheiten richtig zu behandeln?« fragte ich, indem ich mich unbefangener stellte, als ich war.

»Natürlich gibt es ihn!« antwortete der Sahahr in selbstbewußtem Ton.

»Den muß ich kennenlernen!« sagte ich.

»Du kennst ihn schon!« versicherte er.

»Wieso?«

»Ich selber bin's!«

»Glaubst du, ihm helfen zu können?«

»Nein. Diesem Dschirbani – dem Räudigen – kann nicht geholfen werden. Er wird an der Räude sterben. Und auch sein Wahnsinn ist unheilbar. Sein Wahnsinn wächst, und die Räude frißt ihn auf. Man hat weiter nichts zu tun, als ihn streng abzusondern, damit seine Krankheit nicht auf andere übergeht.«

»In welcher Weise äußert sich sein geistiges Leiden?«

»Darin, daß er alles anders macht, als wir.«

»Hm!« brummte ich, und Halef lächelte. Da konnte man wohl sehr vieles anders machen, ohne grad irr im Kopf zu sein!

»Auch denkt er ganz anders als wir«, fuhr der Sahahr fort. »Er sagt es zwar nicht, aber man sieht es ihm an, daß er sich einbildet, klüger zu sein, als andere Leute. In der Religion, in der Geographie, in der Weltgeschichte, in der Kunst, ein Land und den darin wohnenden Menschenstamm zu regieren, hat er seine eigenen Ansichten. Er spricht nicht davon, aber er lehrt sie, indem er sie befolgt, indem er nach ihnen lebt und handelt. Das ist das Gefährlichste, das Allergefährlichste, was es gibt! Darum sperren wir ihn ein! Denn wer ihn sieht und ihn beobachtet, der läßt sich von ihm täuschen, gewinnt ihn lieb und handelt so wie er. Und das ist die schlimmste Art des Wahnsinns, weil er ansteckend wirkt!«

»Weißt du, woher er solche Gedanken nimmt? Hatte er einen Lehrer?«

Bei dieser Frage wurde er verlegen.

»Einen Lehrer hatte er eigentlich nicht«, antwortete er. »Weißt du, was ein Hamail ist?«

»Ja. Das ist ein Koran, der aus Mekka stammt und den man als Andenken an die Pilgerfahrt nach dieser heiligen Stadt an einer Schnur am Hals trägt.« Daß ich selbst einen hatte, sagte ich ihm nicht.

»Das ist richtig«, fuhr er fort. »Ein solches Hamail hat der Dschirbani. Aber dieses Buch an seinem Hals ist kein Koran. Ich habe ihn einmal gebeten, hineinschauen zu dürfen, und er erlaubte es mir. Da stand die Überschrift:

›Werde Mensch; du bist noch keiner!‹

Ist das nicht wahnsinnig? Ist das nicht verrückt? Und als ich ihn fragte, in wiefern wir noch keine Menschen seien, wollte er mir weißmachen, daß in jedem Menschen gleich von Geburt an ein Tier stecke, welches man entweder totschlagen oder verhungern lassen müsse, wobei der von ihm befreite, gute, edle Mensch dann übrig bleibe. Wenn das kein Wahnsinn ist, so gibt es überhaupt keinen!«

»Könnte es nicht doch etwas anderes sein?« fragte Halef.

»Nein! Unmöglich! Ein Tier im Menschen! Bedenke doch! Ich will es dir an einem Beispiel erläutern: Du bist Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheich der Haddedin, und man sagt von dir, daß du einen Vogel, einen Hund, einen Affen in deinem Innern habest. Wie würdest du dich dazu verhalten?«

»Sehr ruhig. Es würde mir ganz und gar nicht einfallen, es in Abrede zu stellen, denn unmöglich ist es nicht. Ich sehe vielmehr, daß noch ganz andere, viel größere Wunder geschehen.«

»Welche?«

»Das nächstliegende ist, daß Smihk, der Dicke, in deinem Kopf herumzurennen scheint. Wenn er nicht bald verhungert oder totgeschlagen wird, wird man dich nie zu den Menschen rechnen können! Das ist es doch, was der Dschirbani meint?«

Der Sahahr schaute den Hadschi mißtrauisch von der Seite her an. Er wußte nicht, ob er die Worte des Kleinen als scherzhaft, als ernst oder gar als beleidigend betrachten solle. Darum gab er lieber keine Antwort und fuhr in seinem vorigen Thema fort:

»Der Dschirbani ist also körperlich und geistig ansteckend. Das ist aber nicht alles. Es kommt noch hinzu, daß er so schwer festzuhalten ist. Er hat schon alle Arten des Gefängnisses durchgemacht, doch gelang es ihm stets zu entkommen. Darum haben wir ihn nun endlich an den Ort gebracht, von wo aus eine Flucht völlig ausgeschlossen ist. Er steckt im Stachelzwinger und wird von Bärenhunden bewacht, die bei jedem Fluchtversuch ihn oder den, der ihn befreien wollte, sofort in Stücke reißen würden.«

Bei diesen Worten schauderte mich. Es wollte eine Ahnung in mir aufsteigen, daß es mit diesem angeblichen Wahnsinnigen eine ganz eigene und besondere Bewandtnis habe und daß es infolge meines Naturells und Temperaments ganz und gar nicht ausgeschlossen sei, ihm einen Dienst und Hilfe zu erweisen. Darum erkundigte ich mich nach ihm und fragte:«

»Wie alt ist er?«

»Nicht viel über zwanzig Jahre.«

»Noch so jung und schon so unglücklich? Wie traurig! – Von wem hat er das Buch, von dem du sprachst?«

»Von seinem Vater.«

»Wer war sein Vater? Natürlich ein Ussul?«

»O nein. Er war ein Fremder; aber seine – seine – seine – Mutter war eine Ussul!«

Er sagte das stockend. Es schien ihm nicht über die Lippen zu wollen. Schließlich drückte er es förmlich heraus. Sein bärtiges Gesicht nahm einen mehr tierischen als menschlichen Ausdruck an; seine Zähne knirschten, und er fuhr fort:

»Warum soll ich es euch nicht sagen! Ihr werdet es doch erfahren und hören! Sie war – war – war meine Tochter!«

»So ist er dein Enkel?« entfuhr es mir in der Überraschung.

»Ja.«

»Und du sperrst ihn ein?«

»Ja, ich sperre ihn ein!« antwortete er in unendlich gehässigem Ton.

»Zu den Hunden! Die ihn zerreißen, wenn er zu fliehen wagt!«

Da flammten seine zorneslodernden Augen zu mir herüber, und er rief, als ob man es in weite Ferne hören solle:

»Sie mögen ihn zerreißen – zerreißen! So wie der Zorn, der Grimm und der Kummer mich zerrissen haben, als ich vergeblich mit seinem Vater rang, mein Kind vor ihm und seinem Wahn zu retten! Ich habe nichts mit diesem Räudigen gemein. Er war der Sohn meiner Tochter, also Fleisch von meinem Fleische und Blut von meinem Blute. Aber dieses Fleisch und Blut ist gestorben; es lebt nicht mehr. Er ist mir also fremd, ja fremder noch als jeder andere Mensch, den ich nie gesehen habe. Die Hunde mögen ihn zerreißen – zerreißen – zerreißen!«

Er gab seinem Pferd einen Hieb, daß es vor Schreck zusammenzuckte und dann vorwärts stürzte. Er versuchte gar nicht, es zu zügeln; er kam uns weit voraus. Wir schauten ihm nach. Der Scheich sagte:

»Nun ist er wieder ganz in Wut getaucht, doch hat er recht. Es gilt die Bewahrung der Religion vor wahnsinnig falschen Gedanken. Denke nicht, Effendi, daß es sich um eine körperliche Räude handelt! Der Ausschlag, wegen dem man diesen jungen Mann als Dschirbani bezeichnet, frißt nicht an seinem Leib, sondern an seiner Seele, an seinen Gedanken und Gefühlen. Er hat diese Krankheit von seinem Vater geerbt. Sie ist ansteckend, ungeheuer ansteckend. Er hat sie schon auf Hunderte übertragen, die nun ebenso unheilbar sind wie er. Darum muß man ihn einsperren! Wenn die Religion verpflichtet werden soll, zu lehren, daß wir Tiere im Leib haben, die abzutöten sind, so wird die Erde sehr bald zu einem einzigen, großen Irrenhaus geworden sein! Dennoch spreche ich nur von dem Unheil, welches der Dschirbani mir in der Gemeinde und im Stamm anrichtet, indem er Gedanken verbreitet, die gegen alle Gesetze und Gewohnheiten sind, die wir von unsern Vorfahren ererbt haben. Von den Verwüstungen, die er in der Religion anrichten kann, will ich nicht reden, weil dies Sache des Sahahr ist, der die Verpflichtung übernommen hat, alles, was mit dem Gottesdienst zusammenhängt, vor der Beschmutzung und Verfälschung zu bewahren.«

»Aber es ist sein Enkel, gegen den er wütet! Das Kind seines eigenen Kindes!« klagte Taldscha, von Mitleid bewegt.

»Um so höher ist es ihm anzurechnen!« versuchte er, sie zu widerlegen. »Einen besseren Beweis von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit kann es gar nicht geben!«

Er wandte sich zu mir und fuhr fort, auf sie deutend:

»Wir sind immer einig, sie und ich, in allen Stücken, nur in diesem einen nicht. Ich behaupte mit dem Sahahr, daß der Dschirbani unschädlich zu machen sei, sie aber nimmt ihn stets in Schutz. Man hat sie sogar im Verdacht, daß ihm die Flucht nicht so oft gelungen wäre, wenn sie ihn nicht dabei unterstützt härte.«

Da machte Taldscha eine ihrer gebieterischen, zum Schweigen auffordernden Armbewegungen und sprach:

»Seine Mutter war meine Freundin von ihrer frühesten Jugend an und ist es geblieben, bis sie starb. Sie war jünger als ich, und ich betrachtete sie ebenso als Schützling wie als Freundin. Ich hatte sie lieb, sehr lieb, und nahm mich ihrer an, als sie verstoßen wurde. Sie starb vor Sehnsucht und vor Herzeleid, und nun sie tot ist, lenke ich meine Liebe auf den über, den sie uns hinterlassen hat. Interessierst du dich für solche Dinge, Effendi?«

»Sogar sehr!« antwortete ich. »Fast möchte ich dich bitten, mir noch mehr von diesem Dschirbani zu erzählen.«

»Es gibt keine lange Erzählung, mit der ich dich da ermüden könnte. Die Sache ist sehr kurz und sehr einfach. Es kam ein fremder Mann in unser Land, der aus Dschinnistan stammte und gar nicht die Absicht hatte, bei uns zu bleiben. Der sah meine Freundin und gewann sie lieb, sie ihn ebenso. Ihretwegen beschloß er, bei uns zu bleiben. Um Ussul werden zu können, mußte er, wie du weißt, mit einem Ussul kämpfen und ihn besiegen. Dies geschah, und zwar sehr leicht, denn der Dschinnistani war zwar von kleinerer Körpergestalt als wir, aber so stark, gewandt und geschickt, daß ihm die rohe Kraft seines Gegners nicht widerstehen konnte. Sobald er Ussul geworden war, begehrte er meine Freundin von ihrem Vater zur Frau. Dieser verweigerte sie ihm, und zwar aus körperlichen und aus geistigen Gründen. Der Sahahr schien ihm an sich schon nicht geneigt zu sein. Sodann behauptete er, als Sahahr der Ussul verpflichtet zu sein, einer körperlichen Entartung des Stammes in jedem, also auch in diesem Fall entgegenzutreten. Und schließlich war er mit den Menschheitszielen, von denen der Dschinnistani nicht nur sprach, sondern förmlich schwärmte, nicht einverstanden. Der letztere versicherte, daß die Menschheit nur durch Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit, durch Liebe und Güte, vorwärts kommen könne. Der Sahahr aber haßte das; er haßt es auch noch heut. Er bezeichnet es als Feigheit, als Dummheit, als Verweichlichung, und ist der Ansicht, daß die Ussul an dieser Menschheitsliebe, falls sie bei uns überhand nähme, unbedingt zugrunde gehen würden. Er fiel, so oft er konnte, über den Dschinnistani her; er hielt ihn nicht nur für allgemein schädlich, sondern auch für seinen persönlichen Feind, der ihm die Tochter rauben und verführen wolle. Er erklärte, daß er lieber sterben als sein Kind einem Mann aus Dschinnistan zum Weibe geben werde. Darum kam die Sache vor den großen Rat der Stammesältesten, und dieser entschied genau so, wie er nach den Gesetzen der Ussul zu entscheiden hatte: der Sahahr und der Dschinnistani hatten miteinander zu kämpfen; dem Sieger fiel die Tochter des ersteren zu. Dieser war so ergrimmt und seines Sieges so gewiß, daß er die Bedingungen bis auf Leben und Tod verschärfen ließ. Aber es kam ganz anders, als er dachte, und er unterlag; der Dschinnistani aber schonte ihn und schenkte ihm das Leben. Die Ehe ist eine außerordentlich glückliche gewesen, obgleich sie dadurch getrübt wurde, daß der Sahahr seine Tochter für immer verstieß und seinen Schwiegersohn unausgesetzt und bis zur Unversöhnlichkeit verfolgte. Es wurde ein Sohn geboren, der sich äußerlich zum Ussul, innerlich aber zum Dschinnistani entwickelte und in jeder Beziehung der Stolz und die Freude seiner Eltern war. Seine Mutter gab ihm den riesenstarken Körper und die reine liebenswerte Seele. Sein Vater aber schenkte ihm den Geist von Dschinnistan, wurde sein Lehrer und Führer, sein Vorbild und Ideal, dem der Sohn ähnlich zu werden strebte. Ich habe oft dabeigesessen, wenn dieser Geist aus diesem Mann zu seinem Weib und zu seinem Kind sprach. Was ich da hörte, ist tief in mich gedrungen und hat sich festgesetzt, um niemals mehr zu weichen. Darum gleiche ich nicht ganz den anderen Frauen der Ussul, und darum nehme ich mich dieses Dschirbani an, den ich weder für wahnsinnig noch für krank oder gar gefährlich halte.«

»Ich habe den Sahahr für einen sehr gutmütigen Mann gehalten!« warf ich ein.

»Das ist er auch; das ist er«, antwortete sie. »Aber mit seiner Tochter, die Oberpriesterin geworden wäre, verfolgte er Pläne, die weit über das, was er uns hierüber mitzuteilen pflegt, hinausgegangen sind. Diese Pläne sind ihm durch den Dschinnistani vollständig vernichtet worden, und das kann er nie und nie vergessen. Der Sahahr ist nicht imstande, einen Wurm zu töten. Er hat nie und nie einen Menschen gehaßt. Aber den Dschinnistani haßte er aus vollster Seele, und diesen Haß hat er auf dessen Sohn, den Dschirbani übertragen, obgleich dieser sein eigener Enkel ist. Er verfolgt ihn unbarmherzig, und niemand wagt es, ihm zu widerstehen, weil er der Oberzauberer und der höchste männliche Priester des ganzen Landes ist. Für jeden Ausspruch, der dem Sahahr nicht gefiel, wurde der Unglückliche eingesperrt. Jetzt steckt er gar im Stachelzwinger und wird von Blut- und Bärenhunden bewacht. Da gibt es kein Entrinnen, so lange er überhaupt lebt!«

»Oho!« rief da der kleine Hadschi aus.

»Was?« fragte sie ihn. »Wozu dieser Ruf?«

»Ich glaube nicht, daß es keine Hilfe gibt.«

»Wer sollte da helfen?«

»Mein Effendi! Es gibt weder einen Blut-, noch einen Bärenhund, vor dem er sich fürchten würde. Wenn er den Dschirbani aus dem Stachelzwinger heraus haben will, so holt er ihn heraus; darauf kannst du dich verlassen!«

»Wirklich?« fragte sie.

»Ja, wirklich!« nickte er. »Auch ist mein Sihdi doch nicht allein da, sondern ich stehe an seiner Seite und helfe ihm. Du willst mich zwar verachten, aber wenn es darauf ankommt, diesem armen Enkel eines rachsüchtigen Zauberers Hilfe zu bringen, so glaube ich, wohl imstande zu sein, mir Achtung zu verschaffen.«

Da reichte sie ihm schnell und in herzlicher Weise die Hand und sagte:

»Verzeihe mir! Es war falsch von mir, dich verachten zu wollen.«

Der Sahahr war in seinem Zorn weit vorausgeritten. Der Scheich harte den Schritt seines Pferdes beschleunigt, um ihm zu folgen. Darum waren wir beide jetzt mit Taldscha allein, und so kam es, daß wir einige Worte mit ihr wechseln konnten, ohne daß Amihn sie hörte. Sie hielt ihr Pferd an. Wir folgten also diesem ihrem Beispiel.

»Ich will euch bekennen, daß ich stets auf der Seite des Dschirbani gestanden habe und auch heut noch stehe«, sagte sie.

»Doch hat der Sahahr in diesem Fall die größere Macht in den Händen, weil er so klug gewesen ist, diese Angelegenheit auf das religiöse Gebiet hinüberzuspielen, wo es nicht geraten ist, sich ihn zum Feind zu machen. Wie dankbar würde ich euch sein, wenn ihr mir helfen könntet – mir und ihm!«

»Wir helfen dir!« rief da Halef, von ihrer jetzigen Freundlichkeit begeistert, aus. »Selbst wenn mein Effendi nicht damit einverstanden wäre, so könntest du dich doch auf mich verlassen. Ich brächte es ganz allein fertig, den Dschirbani aus dem Stachelgefängnis herauszuholen und gegen alle seine Feinde in Schutz zu nehmen!«

Er versicherte das in seinem überzeugungsvollsten Ton. Da schaute sie lächelnd auf den kleinen Kerl hernieder und antwortete:

»Du ganz allein! Gegen die Stachelwände? Gegen die Bärenhunde? Gegen den Willen des Scheichs? Gegen die Macht des Sahahr? Und gegen die vielen Menschen alle, die an ihn glauben und auf ihn schwören? Du, der Fremde, der heute erst zu uns gekommen ist und uns also noch gar nicht kennt! Ja, der sich eigentlich als unsern Gefangenen zu betrachten hat! Und du sprichst davon, ehe du unsere Stadt auch nur gesehen hast, einen Gefangenen von dort zu befreien!«

Da lachte Halef fröhlich und sagte:

»Wir eure Gefangenen? Es ist gewiß nicht höflich, eine Frau deines Ranges auszulachen, aber wenn du diese Worte wiederholtest, würdest du mich zwingen, diese Unhöflichkeit dennoch zu begehen. Ich habe es weder mit den Stacheln und Bluthunden, noch mit dem Scheich und den Ussul, die an ihren Zauberer glauben, zu tun, sondern ganz allein nur mit diesem Zauberer selbst. Sage mir, Herrin der Ussul, ob der Sahahr den Tod verachtet?«

»Das tut er keineswegs; er liebt im Gegenteil das Leben sehr«, antwortete sie.

»Ah! Hast du gesehen, was für einen Eindruck es auf ihn machte, als ich ihm sagte, daß ich mit keinem anderen kämpfen wolle, als nur mit ihm?«

»Ich habe es gesehen.«

»Es schien ihm gar nicht angenehm zu sein?«

»Gewiß nicht. Er ist überhaupt niemals ein Held im Kampf gewesen, und seit er trotz seiner überlegenen Körperstärke damals von dem Dschinnistani besiegt worden ist, hat sich seine Vorsicht gesteigert. Er hat die Wirkung eurer Waffen kennengelernt, und es konnte ihm nicht entgehen, daß ihr alles anders, besser und erfolgreicher als wir in die Hand zu nehmen wißt. Ich zweifle gar nicht daran, daß er sich vor einem Kampf mit dir fürchtet.«

»Und dieser Kampf ist unvermeidlich?«

»Eigentlich ja. Aber es wurde schon davon gesprochen, ihn euch zu erlassen, da ihr ja genugsam bewiesen habt, daß ihr würdig seid, Freunde und Verbündete der Ussul zu sein.«

»Wie gütig! Wie freundlich!« scherzte Halef. »Aber die Sache liegt für uns ganz anders, als für euch. Wir beanspruchen dieselben Rechte wie ihr. Das heißt, daß der Sahahr zu beweisen hat, daß er würdig ist, unser Freund und Verbündeter zu sein. Wenn er so furchtsam ist, uns den Kampf schenken zu wollen, so sind dagegen wir mutig genug, ihn zu bestehen!«

»Welch ein Gedanke!« wunderte sie sich. »Aber du hast ganz recht.«

»Und höre mich weiter! Es ist Allahs Gebot, daß der Mensch in genau derselben Weise bestraft wird, in der er gesündigt hat. Als der Sahahr damals mit dem Dschinnistani kämpfte, wagte er es, den Kampf bis auf Leben und Tod zu treiben. Er wußte, daß seine Körperkräfte größer waren, als die des anderen, und war so töricht, die Kräfte der Seele und des Geistes nicht in Berechnung zu ziehen. Darum wurde er besiegt. Das war die einfache Folge, aber noch nicht Strafe. Diese eigentliche Strafe kommt erst jetzt, wo er einen ganz ähnlichen Kampf bestehen soll. Ich verlange nämlich genau so wie damals er, daß es um Tod oder Leben gehe. Was daraus folgt, kannst du dir denken!«

»Was?« fragte sie in hohem Grade gespannt.

Halef antwortete:

»Entweder bittet mich der Sahahr, von diesem Verlangen abzustehen, dann werde ich es nur unter der einen Bedingung tun, daß er dem Dschirbani die Freiheit gibt. Oder er schämt sich, so feig zu sein, und geht dann auf meine Forderung ein. Nun, so kommt es eben zu einer Entscheidung auf Leben und Tod, und mein Effendi wird mir gern bezeugen, daß da nur ein einziger Ausgang möglich ist, nämlich der, daß der Sahahr stirbt. Ist der aber tot, dann wird wohl niemand den Dschirbani länger quälen wollen.«

»Diese deine Gedanken sind nicht übel«, erklärte sie, »aber der letzte ist falsch. Nämlich der Dschirbani würde auch nach dem Tode des Sahahr für innerlich räudig gelten. Man glaubt daran, und was sich im Kopf solcher Menschen festgesetzt hat, das ist nur schwer zu beseitigen. Ich spreche mit euch noch weiter über diese Sache. Jetzt müssen wir dem Scheich nacheilen, er wartet.«

»Noch eines möchte ich gern wissen«, bat Halef.

»Und das ist?«

»Was ist aus dem Dschinnistani, dem Vater des Dschirbani geworden?«

Im Weiterreiten antwortete sie:

»Er ritt jährlich einmal, genau zur Zeit der Sonnenwende, hinauf nach Dschinnistan zu denen, die ihn liebten. Dort holte er Bücher, die er las und aus denen er Weib und Kind unterrichtete. Von dort brachte er nach und nach auch jene weißen Steine mit dunklen Worten mit, die heut auf der Insel der Heiden zu sehen und zu lesen sind. Der Sahahr war ganz dagegen, daß diese Steine aufgerichtet würden. Er bezeichnete ihre Inschrift als die größte Verrücktheit, die es geben kann; aber weil die Insel Eigentum des Dschinnistani geworden war und seinem Sohn heute noch gehört, hatte er das Recht, dort zu tun, was ihm beliebte. Er stellte die Schriftsäule in die Nähe seines Lotosweihers und beschattete sie mit duftenden Nelken- und Magnolienbäumen.«

»Warum hast du diesen Ort die Insel der Heiden genannt?«

»Weil es eine Insel ist und weil der Dschinnistani nach unsern Begriffen ein Heide war, denn wer nicht an den Gott der Ussul glaubt, der ist ein Heide.«

»So ist also auch sein Sohn, der Dschirbani, nach deiner Ansicht ein Heide?«

»Ja.«

»Und dennoch liebst du ihn?«

»Ganz gewiß! Ist es bei euch wohl anders? Haßt und verfolgt ihr eure Heiden? Haltet ihr sie vielleicht gar für schlechtere, für minderwertige Menschen?«

»Ja, das tut der Islam allerdings.«

»Wie falsch!«

»Falsch? Ist es wohl richtiger, sie für räudig oder für verrückt zu erklären?«

Die Frau des Scheichs ging in echter Frauenweise über diese Frage hinweg, als hätte sie sie gar nicht gehört, und sagte:

»Du wolltest wissen, was aus dem Dschinnistani geworden ist, und ich teilte dir mit, daß er jährlich hinauf nach seiner Heimat geritten ist. Einst kehrte er nicht mehr zurück. Man hat ihn nie wieder gesehen. Alle Nachforschungen sind vergeblich gewesen. So war man gezwungen, anzunehmen, daß er unterwegs in die Hände der Tschoban gefallen ist, die ihn ermordet haben. Hierüber ist seine Witwe, meine Freundin, vor Schmerz und Gram zugrunde gegangen. Ihr Sohn hat sie auf der Insel der Heiden bestattet und ihr mitten unter Blumen einen Stein gesetzt, auf dem geschrieben steht:

›Das Erdenleben ist ein Läuterungsfeuer, aus dem dich nur der Glaube befreien und zum wahren Menschen erheben kann!‹

Wenn ihr es wünschet, werde ich euch nach dieser Insel führen, um euch das Grab und die Schriftsäule zu zeigen. Jetzt aber sprechen wir nicht mehr davon; der Scheich hört es nicht gern.«

Wir hatten diesen nämlich jetzt eingeholt und erreichten bald hernach auch den Sahahr, der sich inzwischen beruhigt hatte und nun über die Raschheit seines Temperaments verlegen zu sein schien. Die sich jetzt entspinnende Unterhaltung vermied den bisherigen Gegenstand. Ich beteiligte mich fast gar nicht an ihr, denn was ich über den Dschirbani gehört hatte, beschäftigte meine Gedanken und Empfindungen vollständig. Ich begann zu ahnen, daß sich mir hier bei den Ussul eine Welt erschließen werde, welche bis jetzt der meinigen größtenteils fremd gewesen war.

Etwas über die Mitte des Nachmittags kam uns eine Menge Reiter entgegen, die uns von der Stadt aus zu begrüßen hatten. Es waren die Ältesten und allerlei Beamte oder sonstwie Leute, die irgendeine nicht ganz gewöhnliche Stelle innehatten. Sie waren über uns unterrichtet, denn sie hatten die gestrige Botschaft ihres Scheichs erhalten. Daß der Erstgeborene der Tschoban ergriffen worden sei, war für sie eine Neuigkeit von allergrößter Wichtigkeit. Sie waren uns entgegengeritten, um ihn so bald wie möglich zu sehen. Und nicht minder groß war ihr Interesse für die beiden Fremden, denen sie diesen Fang zu verdanken hatten. Sie sahen uns wie Wunderwesen an, und als ich während des Weitermarsches gelegentlich einige gutgezielte Schüsse abfeuerte, wuchs ihre Bewunderung ins Riesenhafte. Ich meinerseits verhielt mich zurückhaltend gegen sie; ich brachte ihnen zunächst nur ein allgemeines, wissenschaftliches Interesse entgegen. Sie zeichneten sich alle durch ungewöhnliche Körpergröße aus. In ihrer Kleidung und Bewaffnung glichen sie dem Scheich. Die ganze Truppe, die über vierzig Personen stark war, zählte nur fünf schlechte Gewehre. Ihre Gäule glichen Smihk, dem Dicken, doch muß ich aufrichtig gestehen, daß dieser noch der schönste und edelste von allen war.

Der kleine Hadschi verhielt sich ganz anders als ich. Kaum hatte er sie gesehen, so wurde er auch schon vertraulich mit ihnen. Die Achtung, mit der sie ihn trotz seiner geringen Körpergröße behandelten, gefiel ihm ungemein. Als sie den Wunsch äußerten, die drei Tschoban zu sehen, erklärte er sich sofort bereit, mit ihnen zurückzubleiben, um sie ihnen zu zeigen und hierbei zu erzählen, wie es uns gelungen sei, sie zu besiegen und festzunehmen. Ich hütete mich, ihn hiervon abzuhalten, denn daß er nur bestrebt sein werde, ihre Hochachtung zu vermehren, anstatt sie zu vermindern, das wußte ich ganz genau. Er wartete also mit ihnen, um unsern eigentlichen Trupp mit den Gefangenen herankommen zu lassen. Nur die Ältesten, fast lauter hochbejahrte Leute, blieben bei uns und kehrten um, um mit uns zu reiten.

Die Einsamkeit, die uns bisher begleitet hatte, minderte sich. Schon tauchten hier und da Leute aus dem Volk auf, und es zeigten sich kleinere und größere Herden von Pferden, Rindern, Schafen, sogar von Ziegen. Hirten standen dabei. Auch etwas Ähnliches wie Felder trat auf. Bei uns in Deutschland würde man freilich derartige Stellen für vollständig verwahrlost und verwildert halten. Der Wald begann zurückzuweichen. Wo Bäume standen, waren es entweder Überreste des Waldes, oder man hatte sie aus Nützlichkeitsrücksichten neu gepflanzt. Wir erreichten ein Netz von Kanälen, an deren Ufern man zuweilen eine Hütte liegen sah. Manches Häuschen war auf Pfählen im Wasser errichtet und bestand ausschließlich aus zusammengefügten Stämmen, Hölzern und Knüppeln, deren Zwischenräume zugestopft und verschmiert worden waren. Die Türen und Fenster waren, zumal für Ussulgestalten, fast lächerlich niedrig, schmal, eng und klein. Diese Pfahlbauten lagen anfangs weit auseinander; erst allmählich näherten sie sich, und die eigentliche Stadt begann. Nun hielten auch wir an, um die Zurückgebliebenen mit den Gefangenen zu erwarten, denn es war ein »großer Einzug« geplant.

Noch ehe diese zu uns gestoßen waren, erschienen vor uns Leute, denn das Gerücht von unserer Ankunft hatte sich rasch verbreitet. Diese Leute wurde zahlreicher, aber keineswegs in der lauten, energischen und frohen Weise, in welcher der Deutsche einen derartigen Auflauf zu veranstalten pflegt, sondern still, langsam und schwerfällig, als ob es in der Seele gar nichts gebe, was die Arme und Beine zwingen könne, sich auch einmal etwas lebhafter zu bewegen als gewöhnlich. Diese Menschen glichen ganz und gar dem geräuschlosen, stauenden Wasser ihres Landes. In dieser innerlichen und äußerlichen Schwere lag es auch, daß man im Krieg lieber hier sitzenblieb und sich von den heranziehenden Tschoban belagern und aushungern ließ, als daß man ihnen entschieden und schnell zuvorkam, um sie schon gleich an der Grenze zurückzuschlagen. Wenn ich hoffte, sie zu diesem letzteren Verhalten begeistern zu können, so unterlag es keinem Zweifel, daß dies nur unter Anwendung ganz besonderer Mittel zu erreichen sei.

Endlich holten die Zurückgebliebenen uns ein. Halef nickte mir schon von weitem zu. Er lächelte beinahe übermütig und zeigte überhaupt ein sehr befriedigtes Gesicht. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, ritten wir beide nebeneinander, und da sagte er:

»Sihdi, es steht alles gut, sehr gut! Ich habe es vortrefflich eingeleitet!«

»Was?« fragte ich.

»Den Kriegszug nach dem Engpaß Chatar. Ich habe erzählt, was damals in dem Tal der Stufen geschah. Ich habe berichtet, was du damals ganz allein ausgerichtet und vollendet hast. Ich habe geschildert, wie die feindlichen Stämme der Dschowari, der Abu Hammed und der Obeide damals von dir an ihren langen Nasen in die Gefangenschaft geführt worden sind. Ich habe ihnen versichert, daß es uns ganz gewiß nicht schwerfallen wird, so Ähnliches auch hier zu tun. Sie wissen schon alles. Sie kennen sogar schon die Länge, Breite, Höhe und Schwere des Löwen, den du damals in der Nacht geschossen hast, ganz allein, während Hunderte in den Zelten steckten und sich fürchteten. Sie staunen über dich, alle, alle! Über deine Klugheit und Bedachtsamkeit, über deinen Mut und deine Stärke! Sie werden dir gern gehorsam sein und alle tun, was du von ihnen verlangst.«

Das klang wohl sehr befriedigend, nur kannte ich leider meinen kleinen Hadschi Halef Omar allzugut, als daß ich seine Rede wörtlich genommen hätte. Wenn er sagte »deinen« Mut und »deine« Klugheit, so war dieses »deine« sicherlich in »meine« umzuwandeln. So stille und sinnende Leute, wie die Ussul waren, pflegen ein scharfes Auge und Ohr für Übertreibungen zu haben. Ich hütete mich also, mich an der Begeisterung Halefs zu erwärmen, und tat, als ob die Umgebung, durch die wir kamen, mich vollauf beschäftigte, so daß ich für seine Worte keine Aufmerksamkeit mehr übrig habe.

Die Stadt lag auf einer ebenen Fläche, die nicht die geringste Erhebung zeigte und durch unzählige Kanäle und kleinere Gräben in Vierecke eingeteilt wurde. Zuweilen bildete sich auch, wenn mehrere Gräben zusammenstießen, entweder ein Drei- oder Mehreck. An den Außenseiten der Stadt hatte jede derartige Landfigur nur ein einziges Gebäude zu tragen; im Innern der Stadt aber rückten die Wohnungen einander näher. Da standen oftmals zwei, drei oder auch mehrere zusammen. Stets aber bestanden die Häuser und Hütten aus dem schon beschriebenen Material und glichen einander vollkommen in der Bauart. Mauern waren unmöglich; auch trennende Zäune gab es nicht, weil ja Gräben vorhanden waren. Wer nicht ganz und gar offen vor den Augen des Nachbars wohnen wollte, der schützte sich durch Büsche und Sträucher, die alle den wasserliebenden Pflanzenarten zugehörten. Der Baumschlag war sehr spärlich. Obstbäume nach unseren Begriffen sah man nicht. So sich ein Baum oder Busch mit Früchten zeigte, schien er mir unmittelbares Naturerzeugnis, nicht aber Veredlung zu sein. Weil der Verkehr der Einwohner unter sich nur auf dem Wasserwege bewerkstelligt werden konnte, nahmen wir alle möglichen Arten primitiver Ruderfahrzeuge wahr, vom großen Einbaum im Fluß bis zu dem kleinen, aus zusammengebunden Weidenruten bestehenden Floß im seichten Graben. Brücken waren auffallend wenige zu sehen. Jedenfalls liebte man diese Art der Verbindung nicht. Was man nicht einfach überspringen konnte, das wurde durch Rudern oder Schwimmen überwunden. Wir sahen nicht nur Kinder, die wie die Fische schwammen und tauchten, sondern auch Erwachsene, die ganz dasselbe taten. Daß dabei ihre allerdings spärliche Bekleidung naß wurde, das galt ihnen offenbar nichts.


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